e-Portfolio von Michael Lausberg
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Wende 1989/1990

Von Margarete Lausberg

Am 7.10.1949 konstituierte sich nach der BRD der zweite deutsche Staat durch die Inkraftsetzung der "Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik". Name sowie erste Verfassung der DDR gingen auf einen Verfassungsentwurf der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED, PDS-SED) vom 14.11.1946 zurück, der 1948/49 den Verfassungsberatungen im Rahmen der Volkskongressbewegung zugrunde lag. Der Name des neuen Staates war ein deutschland- und innenpolitisches Programm. In demokratietheoretischer und staatsorganisatorischer Hinsicht wurden die ostdeutschen Verfassungsdiskussionen von einer radikaldemokratischen und -parlamentarischen Interpretation der Maxime der Demokratie geprägt. Unter Ablehnung aller Konzeptionen von horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung wurde unter Demokratie die uneingeschränkte Ausübung der Volkssouveränität durch die vom Volk nach dem Verhältniswahlrecht gewählte Volkskammer verstanden. Die Verwirklichung der Demokratie setzte außerdem nach Ansicht der sowjetischen Besatzungsmacht, die damals von allen ostdeutschen Parteien geteilt wurde, die Beseitigung der sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen des Faschismus voraus. Entsprechend wurde 1945/46 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) eine rigorose Entnazifizierung in Justiz, Verwaltung und Erziehungswesen durchgeführt, durch die Bodenreform der agrarische Großgrundbesitz von "Junkern, Kriegsverbrechern und aktiven Nazis" an Neubauern verteilt und das Industrievermögen von "Militaristen und Imperialisten" enteignet. Die SED und die Sowjetische Militäradministration (SMAD) beriefen sich bei diesen Maßnahmen auf die von den drei Siegermächten während der Potsdamer Konferenz im August 1945 für alle Besatzungszonen beschlossenen politischen und wirtschaftlichen Grundsätze. Ihre Politik richtete sich verbal und zunächst auch real auf Gesamtdeutschland. Die Sowjetunion erhoffte sich davon größere Zugriffsmöglichkeiten auf das deutsche Wirtschaftspotential (Reparationsfrage). Die SED strebte als sozialistische Massenpartei aus Kommunisten und Sozialdemokraten (Vereinigungsparteitag von SPD und KPD am 21./22.4.1946 in Berlin) die politische Führungsstellung in D an und formulierte zu diesem Zweck ihr Gründungsprogramm eines demokratischen und nichtrevolutionären "besonderen deutschen Weges zum Sozialismus" (A. Ackermann). Diesen gesamtdeutschen Erwartungen entzog die weltpolitische Entwicklung die Basis. Die Interessengegensätze der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs verschärften sich ab 1947 zum "Kalten Krieg". An die Stelle vager gesamtdeutscher Perspektiven trat in Ost- und Westdeutschland die Sicherung des eigenen Herrschaftsgebietes. In der SBZ wurde im Juni 1947 mit der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) ein zentraler Verwaltungsapparat geschaffen, im Juni 1948 nach dem Vorangehen der Westzonen eine separate Wirtschaftsreform durchgeführt, im Monat darauf der erste Zweijahresplan verkündet und in der zweiten Hälfte des Jahres 1948 die SED zu einer marxistisch-leninistischen Kaderpartei "neuen Typus" transformiert. So wurde am 7.10.1949 dem Anspruch nach die Verfassung eines gesamtdeutschen Staates in Kraft gesetzt (Art. 1: "Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik"), faktisch aber waren die Weichen für die Errichtung einer separaten politischen und wirtschaftlichen Ordnung nach sowjetischem Vorbild in Ostdeutschland - wie entsprechend in Westdeutschland nach dem Vorbild der West-Alliierten - längst zuvor gestellt worden. W. Pieck (SED, früher KPD) wurde der erste Präsident, O. Grotewohl (SED, früher SPD) der erste Ministerpräsident der DDR. Der führende Politiker in der SBZ bzw. der DDR war seit dem Kurswechsel 1947/48 der Altkommunist W. Ulbricht. Nach dem III. Parteitag der SED im Juli 1950 wurde er zum Generalsekretär der Einheitspartei gewählt und hatte dieses wichtigste Amt im politischen System der DDR - nach dem 17.6. 1953 als "Erster Sekretär des ZK der SED" - bis 1971 inne. Unter Ulbrichts Führung wurde die Umgestaltung der politischen und wirtschaftlichen Ordnung der DDR nach dem Vorbild der Sowjetunion zum Programm. Schon im Februar 1950 wurde ein Ministerium für Staatssicherheit etabliert, das sich seitdem als "Schwert und Schild der Partei" im Dienste der Überwachung aller DDR-Bürger und insbesondere die Unterdrückung jeglicher oppositioneller Regungen immer mehr ausdehnte. Auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 wurde der "Aufbau des Sozialismus" auch offiziell verkündet. Der Anteil des "volkseigenen" Sektors an Produktion und Handel wuchs, die Schwerindustrie wurde bevorzugt gefördert und die Kollektivierung der Landwirtschaft eingeleitet. Die Staatsorganisation wurde nach den Maximen der Volksdemokratie und des demokratischen Zentralismus zu einem gefügigen Instrument der politischen Herrschaft und planwirtschaftlichen Lenkung der Einheitspartei umgeformt: Einheitslisten zu den ersten Volkskammerwahlen (15.10. 1950), Säuberungen und Anpassung in den bürgerlichen Parteien, Einsatz der Strafjustiz als Mittel politischer Abschreckung, Ausschaltung und Beseitigung der Selbstverwaltung durch Auflösung der fünf Länder und Neugliederung in 14 Bezirke (25.7.1952), zu denen (Ost-)Berlin als "Hauptstadt der DDR" hinzukam. Diese rigorose Transformationspolitik geriet mit Stalins Tod (5.3.1953) in eine Krise. Die neue sowjetische Führung befahl der SED einen "Neuen Kurs" größerer politischer und wirtschaftlicher Rücksichtnahme auf die Bevölkerung. Da dennoch die kurz zuvor erhöhten Arbeitsnormen nicht zurückgenommen wurden, kam es am 16.6.1953 zum Streik von Ostberliner Bauarbeitern, der sich am folgenden Tag zu einer Protestbewegung für verbesserte Arbeitsbedingungen, freie Wahlen und die Ablösung der Regierung in der DDR ausweitete. Angesichts der Ohnmacht von ostdeutscher Partei- und Staatsführung konnte der Aufstand nur durch sowjetische Besatzungstruppen niedergeschlagen werden. Die Ereignisse des 17.6.1953 ließen die sowjetische Führung an Ulbricht, dessen Ablösung zuvor erwogen worden war, als Garanten von Sicherheit und Ordnung festhalten. Die folgenden Jahre brachten eine relative Festigung der internationalen Position der DDR und der innenpolitischen Herrschaft der SED. 1955 übertrug die Sowjetunion, nach dem endgültigen Scheitern ihrer Bemühungen, auf diplomatischem Wege die politische und militärische Westintegration der BRD (Außenpolitik) zu verhindern (Stalin-Note vom 10.3. 1952), der DDR die "volle Souveränität". Der Aufbau der "Nationalen Volksarmee" und die Aufnahme der DDR in den Warschauer Pakt wurden beschlossen. Innenpolitisch verbesserte sich die allgemeine Lebenslage der Bevölkerung, und die SED-Führung um Ulbricht konnte 1956 intellektuelle Kritiker wie W. Harich und 1958 die letzten parteiinternen Konkurrenten wir K. Schirdewan und E. Wollweber ausschalten. Nach dem Tode Piecks trat 1960 an die Stelle des Staatspräsidenten der Staatsrat als kollektives Staatsoberhaupt. Mit der Übernahme des Staatsratsvorsitzes identifizierte sich Ulbricht selbst als Symbolfigur der DDR. Doch Ende der 50er Jahre erhöhten überspannte Wirtschaftspläne, die Forcierung der Kollektivierung der Landwirtschaft und die durch Drohungen N. S. Chruschtschows verschärfte Berlin-Krise die Labilität der DDR wieder dramatisch. Die Flüchtlingswelle von Ost- nach Westdeutschland (1949-1961: 2,7 Mio.) schwoll erneut dramatisch an und das SED-Regime meinte der damit verbundenen personellen und wirtschaftlichen Ausblutung ihres Staates nur durch die Schließung der Grenzen am 13.8.1961 Einhalt bieten zu können. Der Bau der Berliner Mauer, im Westen als Eingeständnis der totalen Schwäche und Unmenschlichkeit des DDR-Regimes angeprangert, wurde zum Ausgangspunkt seiner zeitweisen Konsolidierung. Arbeitende Bevölkerung und herrschende Partei mussten nun zu einem wechselseitigen Arrangement finden. Auf ihrem VI. Parteitag im Januar 1963 beschloss die SED nicht nur ihr (erstes) Parteiprogramm, sondern verkündete mit dem "Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL)" auch ein flexibleres Wirtschaftssystem. Es zielte durch den Einbau marktwirtschaftlicher Elemente in die Planwirtschaft auf eine stärkere Beteiligung der Betriebe und Arbeiter und damit auf eine höhere Produktivität. Mit der Modernisierung des ökonomischem Systems gingen Reformen im gesellschaftlichen Bereich (z.B. durch das Bildungsgesetz von 1965) einher. Die DDR nahm Züge einer "sozialistischen Leistungsgesellschaft" an, in der nicht mehr nur politische Rechtgläubigkeit, sondern auch fachliche Qualifikationen über berufliche und damit gesellschaftliche Stellung entschied. Fachleute, wie Ökonomen und Techniker, rückten in politische Führungsstellungen auf. Verfassungsrechtlich festgeschrieben wurden die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen 1968 in einer neuen, der zweiten Verfassung der DDR. Auf organisatorischem Gebiet trug sie dem einschneidenden staatsrechtlichen Wandel seit 1949 Rechnung, fixierte die politische Dominanz der SED, die Allgemeingültigkeit des Marxismus-Leninismus als herrschender Ideologie und die staatliche Führungsrolle des Staatsrates. Mit Hinweis auf die unbestreitbaren wirtschaftlichen Erfolge propagierte Ulbricht Ende der 60er Jahre das "Modell DDR" als Vorbild aller entwickelten realsozialistischen Industriegesellschaften und geriet darüber in ideologische Konflikte mit der KPdSU. Als er sich dann auch noch den deutschlandpolitischen Entspannungsbemühungen zwischen der neuen sozialliberalen Bundesregierung und der Sowjetunion widersetzte, war der Zeitpunkt seiner Ablösung gekommen. Am 3.5.1971 wurde Ulbricht zum Rücktritt von seinem Amt als Erster Sekretär des ZK der SED gedrängt. Die mit dem Abtritt Ulbrichts verbundenen einschneidenden Veränderungen auf ideologischem und politischem Gebiet traten im Gefolge des VIII. Parteitages der SED (Juni 1971) offen zutage. In personalpolitischer Hinsicht allerdings herrschte das Prinzip der Kontinuität. E. Honecker, der das Amt des Ersten Sekretärs von Ulbricht übernahm, war schon in dem vorangegangenen Jahrzehnt dessen "Kronprinz" gewesen. Es kam zu keinen dramatischen Umbesetzungen in den Führungsgremien, der Einfluss der Technokraten wurde jedoch zurückgedrängt. Der Primat der Politik gegenüber der Technik und der Ideologie gegenüber der Wissenschaft wurde eindeutig wiederhergestellt. Die Partei- und Staatsführung beschwor die "ewige Freundschaft" mit der KPdSU und der UdSSR. Diese Kurskorrekturen gegenüber der Spätphase Ulbrichts, zu denen auch die Aufgabe jeden Bezugs auf eine gesamt-"deutsche Nation" gehörte, wurden im Oktober 1974 in einer Änderung der Verfassung und im Mai 1976 in einem neuen Parteiprogramm festgeschrieben. In der Zwischenzeit erreichte die DDR unter Führung Honeckers jenes existentielle Ziel erreicht, um das der ostdeutsche Staat unter Ulbricht über Jahrzehnte fast ohne Erfolg gekämpft hatte: die weltweite völkerrechtliche Anerkennung. Nachdem die beiden deutschen Staaten im Dezember 1972 durch den Grundlagenvertrag zu einem ersten, wenn auch fragilen "modus vivendi" gefunden hatten, wurden sie beide im September 1973 in die Vereinten Nationen aufgenommen (Deutschland und die UNO). Bis Ende 1974 nahmen fast alle Staaten der Welt diplomatische Beziehungen zur DDR auf. Der zwischendeutsche Ausgleich und die internationale Anerkennung werteten die DDR auf, brachten aber auch Pflichten und Probleme mit sich. Auf internationalem Gebiet begab sich die DDR in das komplizierte Konkurrenz- und Konfliktverhältnis aller Staaten und musste internationalen Abmachungen, wie denen der Konferenz von Helsinki über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (August 1975), zu genügen suchen. In zwischendeutscher Hinsicht war sie mit den Begleiterscheinungen der wachsenden Zahl von westdeutschen Besuchern und dem Anspruch ihrer Bevölkerung, aus der staatlichen Anerkennung individuellen Nutzen zu ziehen, konfrontiert. Die Führung der DDR suchte diese Konsequenzen durch eine ideologische Abgrenzung gegenüber dem Westen und seinen Ideen sowie entsprechende Unterdrückungsmaßnahmen im eigenen Lande zu kompensieren. Sie war bemüht, gerade im Kontrast zum östlichen Nachbarn Polen, sich als Hort der Kontinuität und Stabilität darzustellen. Diesem Ziel diente vor allem der Versuch, die "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" zu realisieren, wie es der IX. Parteitag der SED 1976 postulierte. Die Folgen der internationalen Energie- und Rohstoffkrise waren in der DDR, aufgrund ihrer unterdurchschnittlichen Ressourcenausstattung besonders spürbar. Diesen verschlechterten Rahmenbedingungen zum Trotz musste die DDR in den 70er Jahren versuchen, genügend Produktivität sowohl für die technische Innovation als auch für die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse ihrer Bürger bereitzustellen. In der Konsum- und Sozialpolitik hat die SED seit dem Bau der Mauer (1961) und verstärkt seit Beginn der "Ära Honecker" das zentrale Instrument zur Stabilisierung und Legitimierung ihrer Herrschaft erkannt, doch die - auch durch den innerdeutschen Vergleich - wachsenden Ansprüche der DDR-Bürger schienen den Möglichkeiten ihrer Befriedigung davonzulaufen. Der Erfolg bzw. die Vermeidung des Mißerfolges auf wirtschafts- und sozialpolitischem Gebiet hatte immense Bedeutung für die Stabilität eines Regimes, das weitgehend der direkten Zustimmung seiner Bürger entbehren mußte.

Seit Beginn der 80er Jahre setzte die politische und wirtschaftliche Führung der DDR alles daran, nicht nur an der Spitze des technischen Fortschritts im Ostblock zu bleiben, sondern auch auf dem Weltmarkt jene Devisen zu verdienen, die für den Import sowohl von modernen Investitionsgütern für die Industrie als auch von Konsumwaren für die eigene Bevölkerung notwendig waren. Diese Ambitionen überforderten unter der Bedingung einer weltweiten Wirtschaftsrezession und angesichts der beschränkten Ressourcen das starre ökonomische Planungssystem der DDR. Die Löcher mussten durch westdeutsche Milliardenkredite gestopft werden. Damit honorierte die BRD die wachsende internationale Eigenständigkeit der DDR-Führung, die Anfang der 80er Jahre die Verschärfung des Kalten Krieges durch die sowjetische Führung im Rahmen der Nachrüstungskrise nicht mitmachte. Außenpolitisch konnte sich E. Honecker auf dem Zenit seines Ansehens fühlen, wurde er doch in zahlreiche westliche Länder eingeladen und konnte Staatsmänner aus aller Welt in der DDR begrüßen. Höhepunkt dieses internationalen Reputationsgewinns war der oftmals verschobene Besuch des Partei- und Staatschefs der DDR in der BRD im September 1987. Hinter der Fassade internationaler Anerkennung bröckelte allerdings die innere Stabilität des Regimes. 1985 hatte M. Gorbatschow die sowjetische Führung übernommen und setzte mit der Propagierung seines Reformkurses von Glasnost und Perestroika die kommunistische Führung der DDR immer mehr unter Druck. Die SED behauptete, man brauche im Gegensatz zur Sowjetunion keine politischen und wirtschaftlichen Reformen, weil man diese in der DDR bereits vollzogen habe. Die ostdeutschen Kommunisten setzten sich, wie in den letzten Jahren der Herrschaft Ulbrichts, wieder ideologisch von dem "Vaterland aller Werktätigen" ab und propagierten einen eigenständigen "Sozialismus in den Farben der DDR". Die ostdeutsche Bevölkerung hatte jedoch ein wachsendes Gefühl der Stagnation in ihrem Lande. Ökonomisch lebte das System immer mehr von der Substanz, sozialpolitisch wurden, zumal im Vergleich mit Westdeutschland, nur die notwendigsten Bedürfnisse erfüllt, auf ökologischer Ebene mehrten sich die Zeichen des industriellen Raubbaus, in der Kulturpolitik herrschten Gängelung und Repression. Während in der Bevölkerung die Unzufriedenheit wuchs, wurde sie noch zusätzlich von der Führung durch Ablehnung des sowjetischen Reformkurses, pauschale Verteidigung der Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung, rüdes Beharren auf dem Fortbestehen der Mauer für weitere 100 Jahre und offene Fälschungen, z.B. bei den Kommunalwahlen im Mai 1989, provoziert. Obwohl sich seit 1986 die Anzeichen für Dissens und Widerstand in der DDR mehrten, wurden die Herrschaft der SED und die Existenz ihres Staates erst durch die gesamteuropäischen Veränderungen des Jahres 1989 in Frage gestellt. Mit dem Schwinden und schließlichen Ende des Ost-West-Konfliktes verlor die DDR nicht nur ihre Schutzmacht Sowjetunion, sondern büßte auch die Blocksolidarität der osteuropäischen Staaten ein. Im Sommer 1989 füllten in Budapest, Prag und Warschau ostdeutsche Flüchtlinge zu Tausenden die bundesdeutschen Botschaften und wurden nicht zurückgeschickt. Ungarn öffnete am 11.9.1989 seine Grenzen und erlaubte den ostdeutschen Ausreisewilligen die Weiterfahrt durch Österreich in die BRD. Diese Fluchtwelle führte in der DDR selbst zu offenen Protestdemonstrationen, in denen sich Hunderttausende vor allem in den Leipziger "Montagsdemonstrationen" für ein Verbleiben in einer wirklich freiheitlichen und demokratischen DDR einsetzten. In dieser Situation allgemeiner Unzufriedenheit und wachsenden Widerstandes beharrte die Parteiführung bei der Feier des 40. Jahrestages ihres Staates am 7.10.1989 darauf, dass mit ihrem Regime alles in Ordnung sei. Das brachte das Fass zum Überlaufen, nicht nur bei dem sowjetischen Ehrengast Gorbatschow, sondern auch unter den DDR-Bürgern. Der Staatssicherheitsapparat erkannte, dass er die Protestbewegung nur mit dem Risiko eines großen Blutbades niederhalten konnte, und verzichtete auf die Anwendung seines Schwertes. Schon zehn Tage nach dem Jubiläum traten Honecker als Partei- und Staatschef, G. Mittag als Wirtschaftschef und J. Hermann als Pressechef der SED ab. Innerhalb weniger Wochen zerfiel die Parteidiktatur der SED in der DDR, die nicht von außen überwältigt wurde, sondern nach innen implodierte. Die Diktatur der SED hatte in den 40 Jahren der DDR viele Krisen durchgemacht und überstanden. Doch im Jahr 1989 kamen wirtschaftliche, bündnispolitische, außenpolitische, ideologische und legitimatorische Krise zusammen. Damit war eine immobile und vergreiste Führung völlig überfordert, der zum Schluss jede Lern- und Wandlungsfähigkeit abging. Nach dem Abtritt Honeckers und seiner engsten Gefolgsleute am 18.10.1989 versuchte die SED, durch eine neue Partei- und Staatsführung das Heft in der Hand zu halten, scheiterte aber an der Halbherzigkeit ihrer Reformbemühungen. Der neue Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzende E. Krenz war schon zuvor der auserwählte Nachfolger Honeckers gewesen. Er konnte sich nur 50 Tage im Amt halten, weil die von ihm proklamierte Wende der DDR-Politik unglaubwürdig blieb. Am 8.11.1989 trat W. Stoph als der langjährige Vorsitzende des Ministerrates der DDR zurück, sein Nachfolger wurde der Dresdner SED-Parteichef H. Modrow, zuvor ein moderater Hoffnungsträger der Einheitspartei. Die Regierung Modrow bemühte sich in den folgenden Monaten, durch inhaltliche Reformmaßnahmen und personelle Öffnung gegenüber den oppositionellen Kräften die Initiative wiederzuerlangen, scheiterte aber letzten Endes an der mangelnden demokratischen Legitimität des ganzen politischen Systems. Auch die überraschende Öffnung der Grenzen der DDR mit dem dramatischen "Fall der Mauer" in Berlin in der Nacht des 9.11.1989 beschleunigte eher noch den endgültigen Zerfall der SED-Herrschaft und das Ende der DDR als deutschem Teilstaat, da nun die Möglichkeit der legalen und ungehinderten Übersiedlung von Ost- nach Westdeutschland, die Hunderttausende wahrnahmen, den politischen Druck auf radikalere Veränderungen verstärkte. Die politische Initiative in der DDR ging in den letzten Wochen des Jahres 1989 immer mehr von der SED-geführten Regierung auf die andauernden Massendemonstrationen, insbesondere die Leipziger Montagsdemonstrationen, und die dahinterstehenden Bürgerrechts- und Oppositionsbewegungen über. Diese hatten sich seit Beginn der 80er Jahre zunächst unter dem Dach der Evangelischen Kirche gebildet und waren ab 1987 in offene Auseinandersetzung mit der SED und ihrem Staatssicherheitssystem getreten. An der Spitze dieser Bewegung standen das Neue Forum, der Demokratische Aufbruch, aber auch die Anfang September 1989 noch in der Illegalität gegründete Sozialdemokratische Partei der DDR (SDP). Am 6.12.1989 wurde Krenz durch die anhaltende Aufdeckung der Verstrickung der SED-Führung in Machtmissbrauch, Korruption und Unterdrückung zum Rücktritt von seinen Partei- und Staatsämtern gezwungen. Am Tag darauf trat in Berlin erstmals der "Runde Tisch" zusammen, dem neben den etablierten und sich um Reform bemühenden Parteien, unter Moderation von Vertretern beider Kirchen, die verschiedensten Oppositionsgruppen angehörten. In diesen Monaten des Systemwandels wurden die zentralen und lokalen "Runden Tische" zu neuen Repräsentations- und Legitimationsformen, die das durch den Zerfall der Herrschaft der SED und ihrer Blockparteien entstehende Machtvakuum zu füllen suchten. Der zentrale Runde Tisch der DDR leitete die Auflösung des berüchtigten Staatssicherheitsdienstes ein und konzipierte Anfang 1990 eine Verfassung für eine nun wirklich demokratische, unabhängige, sozialstaatlich wie ökologisch orientierte DDR. Doch zu diesem Zeitpunkt war die politische Revolution in der DDR bereits über solche Reformpositionen hinweggegangen. So blieb dem Runden Tisch nur noch die Aufgabe, die ersten freien Wahlen in der DDR zu organisieren, die vom Mai 1990 auf den 18.3.1990 vorgezogen wurden. Seit Dezember 1989 mehrten sich in der ostdeutschen Bevölkerung die Stimmen, die nicht mehr, wie die Bürgerrechtsbewegungen sowie die intellektuelle und künstlerische Elite, die demokratische Revolution der DDR, sondern die Vereinigung des zweiten deutschen Staates mit der BRD forderten. Auf den großen Demonstrationen waren nicht mehr "Wir sind das Volk", sondern "Wir sind ein Volk" und "Deutschland einig Vaterland" die Parolen, und die deutschen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold ohne das Emblem der DDR bestimmten das öffentliche Erscheinungsbild (Staatssymbole). In der ersten freien Volkskammerwahl am 18.3.1990 errang die "Allianz für Deutschland", ein kurz zuvor auf energischen Druck von Bundeskanzler H. Kohl gebildetes Wahlbündnis aus CDU, Demokratischer Aufbruch und Deutsche Soziale Union, 47% der Stimmen, während die lange Zeit auch in Meinungsumfragen favorisierte Sozialdemokratische Partei, die inzwischen den Traditionsnamen SPD wieder aufgenommen hatte, sich mit enttäuschenden 21,9% begnügen musste. Die SED, die sich inzwischen zur Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) umbenannt hatte, wurde mit 16,4% noch drittstärkste Partei. Das von den Bürgerrechtsbewegungen als den Trägern der demokratischen Revolution vom Herbst 1989 gebildete Bündnis 90 war mit 2,9% der Stimmen weit abgeschlagen. Der Ausgang dieser Wahl war ein nationales Plebiszit der Mehrheit der Ostdeutschen für Bundeskanzler Kohl und die von ihm verkörperte Wiedervereinigungspolitik, von der man sich eine schnelle und umfassende Besserung der Lebensverhältnisse erwartete. Nach dieser ersten freien Volkskammerwahl in 40 Jahren DDR-Geschichte bildete sich unter L. de Maizière (CDU) eine neue DDR-Regierung der großen Koalition, die aber nur noch das staatliche Ende der DDR "abzuwickeln" hatte. Sie vereinbarte Ende April mit der Bundesregierung die Einführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 und Ende August den "Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands". Aufgrund dieses Einigungsvertrages traten die fünf Länder der DDR, die zuvor wieder an die Stelle der Bezirke getreten waren, und Ostberlin am 3.10.1990 als dem neuen "Tag der Deutschen Einheit" der BRD und dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Damit hörte die DDR nach fast 41 Jahren auf als Staat zu existieren; ihre Geschichte wird jedoch noch lange Zeit in D nachwirken. Nicht nur die verbrecherische Vergangenheit des SED-Regimes sowie die ökonomischen und ökologischen Erblasten seiner Herrschaft werden die Deutschen noch viele Jahre beschäftigen. Auch die Erfahrungen und Prägungen durch mehr als 40 Jahre realsozialistischer Diktatur und, wenn man das Dritte Reich hinzuzählt, mehr als 56 Jahre diktatorischer Systeme werden noch lange Zeit zu Spannungen und Verwerfungen insbesondere in der politischen Kultur des vereinigten D führen. Die 40jährige Geschichte der DDR ist seit der Vereinigung nicht nur Thema umfangreicher zeitgeschichtswissenschaftlicher Forschungen, sondern auch Gegenstand kontroverser politischer Auseinandersetzungen zwischen den Parteien geworden. So hat der Deutsche Bundestag vom Frühjahr 1992 bis Sommer 1994 der "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" eine eigene Enquete-Kommission gewidmet, die in der darauffolgenden Legislaturperiode ihre Arbeit unter dem Titel "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" fortgesetzt hat. An deren Stelle ist nach der Bundestagswahl vom 27.9.98 eine "Bundesstiftung zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur" getreten, die Opfer des SED-Regimes beraten und Initiativen zur wissenschaftlichen Erforschung der DDR-Geschichte fördern soll. Auch wenn die historische Auseinandersetzung mit der DDR nicht frei von parteipolitischen Rechthabereien und Missverständnissen zwischen Ost- und Westdeutschen ist, so verfolgt sie doch viel aktiver und offener als noch in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik die Bemühungen, die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen aufzuarbeiten. Wer die Gegenwart und Zukunftsaufgaben des vereinigten Deutschland verstehen will, der muss auch die Geschichte der DDR berücksichtigen.

Walter Ulbricht, der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED , war die treibende Kraft hinter der Grenzschließung und dem Mauerbau in Berlin  vor fünfzig Jahren. Acht Jahre lang hatte er sich um Zustimmung der Sowjetunion  bemüht, die Grenze abzuriegeln, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen, aber die Sowjets hatten sich widersetzt. Die führenden Köpfe im Kreml wussten, dass die Grenzschließung einer Kapitulation gleichkäme und ihnen selbst und der sozialistischen Sache erheblich schaden würde. Im März 1953, kurz nach Stalins Tod, teilten dessen Nachfolger im Kreml Ulbricht mit, die Abriegelung der Sektorengrenze sei "politisch unannehmbar und allzu einfach". Ein solcher Schritt würde "zur Störung der vorhandenen Ordnung des städtischen Lebens führen, die Wirtschaft der Stadt in Unordnung bringen" und "bei den Berlinern Bitterkeit und Unzufriedenheit hinsichtlich der Regierung der DDR und der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland hervorrufen". Außerdem würde er "die Beziehungen der Sowjetunion zu den USA, England und Frankreich (...) nur komplizieren, was wir vermeiden können und müssen". Die Sowjets übten Druck auf Ulbricht aus, dass er sich in seinem unnachgiebigen innenpolitischen Kurs mäßigen und das Leben in der DDR für ihre Bürger lebenswerter gestalten solle. Ulbricht hatte jedoch nicht im Sinn, in der DDR notwendige Reformen durchzuführen. Sein Argument lautete: "Wir stehen an der vordersten Stelle. Wir sind das am weitesten im Westen befindliche Land des sozialistischen Lagers. Wir können uns solche Dinge nicht erlauben. Wahrscheinlich konnte er nüchterner als Nikita Chruschtschow die Gefahr eines persönlichen Machtverlusts einschätzen, und nichts lag ihm näher als der Erhalt seiner Macht. Ulbrichts Persönlichkeit und die Beziehungen zwischen ihm und Chruschtschow sind sehr aufschlussreich, wenn man die Entscheidung, die Grenze zu schließen, verstehen will. Bei der Lektüre der Akten in den Archiven von Moskau und Berlin springt Ulbrichts Selbstbewusstsein, seine Arroganz, seine Rechthaberei im Umgang mit Chruschtschow ins Auge. Das läuft der weit verbreiteten Annahme zuwider, Ostdeutschland sei nur ein Satellitenstaat Moskaus gewesen. Ganz sicher verhielt sich Ulbricht nicht so, und er wurde von Chruschtschow auch nicht so behandelt. Chruschtschow beklagte sich oft über Ulbricht, aber er enthob ihn nicht seines Postens. Überhaupt tangierte die Tatsache der Stationierung von fast 500000 Sowjetsoldaten in der DDR nicht die politischen und persönlichen Beziehungen zwischen Chruschtschow und Ulbricht. Welche Bedeutung Chruschtschow der DDR und der Person Ulbrichts für die Sowjetunion und den gesamten Ostblock beimaß, zeigt sich anschaulich in Bemerkungen von Anastas Mikojan, seines engsten Mitstreiters und stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats, gegenüber ostdeutschen Kadern im Juni 1961. Mikojan erklärte: "In der DDR wird sich unsere Weltanschauung, unsere marxistisch-leninistische Theorie beweisen müssen (...). (G)egenüber Westdeutschland können und dürfen wir uns einen Bankrott nicht leisten. Wenn der Sozialismus in der DDR nicht siegt, wenn der Kommunismus sich nicht als überlegen und lebensfähig erweist, dann haben wir nicht gesiegt. So grundsätzlich steht für uns die Frage. Deshalb können wir auch bei keinem anderen Land so herangehen. Und das ist auch der Grund, dass die DDR bei Verhandlungen oder bei Krediten an erster Stelle kommt." Ulbricht gelang es, dem Kreml zusätzliche Hilfen abzunötigen und eine Änderung seiner eigenen Politik zu vermeiden. Ulbricht meinte die Bedürfnisse der DDR weitaus besser zu verstehen als die Sowjets. Er war stolz darauf, Lenin noch persönlich kennengelernt zu haben, im Unterschied zu Chruschtschow. Der ostdeutsche Machthaber war davon überzeugt, Lenins und Stalins treuer Gefolgsmann zu sein, nicht aber Chruschtschows, der es in seinen Augen mit der Kritik an Stalin zu weit trieb. Ulbricht schien zu meinen, dass Chruschtschow letztlich ein Bauerntölpel war, der weder eine Ahnung davon hatte, wie man ein sozialistisches Land führen musste, noch davon, was für die DDR das Beste war. Zudem war Chruschtschow in Ulbrichts Augen zu verständnisvoll gegenüber den Westmächten. In den Beziehungen zwischen den ostdeutschen und den sowjetischen Spitzenfunktionären gibt es viele Beispiele für Ulbrichts selbstsicheres, zuweilen herrisches Verhalten gegenüber Chruschtschow. Als erstes sei genannt, dass Ulbricht im Herbst 1960 im Alleingang die Prozeduren an der Berliner Sektorengrenze änderte. Er setzte durch, dass westliche Amtsträger beim Außenministerium der DDR eine Genehmigung zur Einreise nach Ost-Berlin und in die DDR beantragen mussten, statt sich auf den Vier-Mächte-Status von Berlin verlassen zu können und es dabei nur mit sowjetischen Repräsentanten zu tun zu haben. Die Sowjets waren "erstaunt" über diese ostdeutsche Maßnahme und "sehr besorgt", dass die Westmächte kontern würden, indem sie sowjetischen Amtsträgern den Zugang zu West-Berlin erschweren In einem Brief an Chruschtschow tat Ulbricht diese Besorgnis ab. Er formulierte in aller Deutlichkeit, er finde, die Sowjetunion verhalte sich zu nachsichtig - "unnötig duldsam" - gegenüber dem Widerstreben der Westmächte, die DDR anzuerkennen; er, Ulbricht, wolle ihnen da keine Ruhe geben. Ein zweites Beispiel. Bei einem Treffen mit Chruschtschow im November 1960 in Moskau geriet Ulbricht mit Außenminister Andrej Gromyko und mit Chruschtschow in Streit darüber, ob die Bundesrepublik ein souveräner Staat sei. Ulbricht sagte, er sehe die Bundesrepublik nicht als einen von Rechts wegen souveränen Staat an; Gromyko beharrte darauf, dass die Sowjets das sehr wohl täten. Schließlich schaltete sich Chruschtschow ein: "Wie die DDR diese Frage intern sieht, ist ihre innere Angelegenheit. Wir werden bei unserer Position zu diesem Thema bleiben. Wir sind nicht verpflichtet, uns Ihrer Position anzuschließen. Wir unterhalten diplomatische Beziehungen zu beiden deutschen Staaten und denken, dass sie beide souverän sind." Dass Chruschtschow betonte, er sei nicht verpflichtet, die ostdeutsche Position zu übernehmen, belegt, wie weit er sich durch Ulbrichts Auftreten in die Defensive gedrängt fühlte, und der angespannte, unnachgiebige Ton dieses Wortwechsels war der einer Unterredung auf Augenhöhe: Ulbricht demonstrierte selbstsicher sein Recht, die ostdeutsche Politik zu bestimmen und die Sowjets auf einen Weg zu drängen, den er für richtig hielt, und die Sowjets wiesen ihn nicht nachdrücklich in die Schranken. Ein fünfzehnseitiger Brief an Chruschtschow im Januar 1961 kann als drittes Beispiel dienen. Darin stellte Ulbricht eine Reihe von Maximalforderungen auf, insbesondere jene nach "Beseitigung des Besatzungsregimes in Westberlin". Der Ton des Schreibens ist sehr beeindruckend. Wie üblich bat Ulbricht den Ersten Sekretär auch um mehr wirtschaftliche Unterstützung. Diesmal jedoch formulierte er die Anfrage anders als sonst, indem er das Argument vorbrachte, dass die Sowjetunion auf Grund ihrer harschen Wiedergutmachungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg den Ostdeutschen Wirtschaftshilfe schuldig sei: "Während wir in den ersten zehn Nachkriegsjahren die Wiedergutmachung leisteten durch Entnahme aus den bestehenden Anlagen und aus der laufenden Produktion, leistete Westdeutschland keine Wiedergutmachung aus der laufenden Produktion, sondern erhielt obendrein von den USA größere Kredite, (...) Milliardenhilfe (...). Das ist der Hauptgrund dafür, dass wir in der Arbeitsproduktivität und im Lebensstandard so weit hinter Westdeutschland zurückgeblieben sind. Der konjunkturelle Aufschwung in Westdeutschland, der für jeden Einwohner der DDR sichtbar war, ist der Hauptgrund dafür, dass im Verlaufe von zehn Jahren rund zwei Millionen Menschen unsere Republik verlassen haben." Im Grunde machte Ulbricht die Sowjets für die aktuelle Krise einschließlich der Massenflucht verantwortlich. Der Brief entspricht dem, was Chruschtschows ehemaliger Berater Oleg Trojanowski im Sinn hatte, als er sagte: "Es gab Zeiten, in denen Moskau buchstäblich mit Mitteilungen und Telefonanrufen aus Ostberlin bombardiert wurde." In einem Gespräch am 1. August 1961, das als letztes Beispiel genannt werden soll, erörterten Ulbricht und Chruschtschow wieder einmal wirtschaftliche Fragen sowie die Abriegelung der Grenze in Berlin. Chruschtschow bedauerte, dass die DDR sich nicht an einen Vertrag hielt, demzufolge sie der UdSSR Schiffe verkaufen sollte: "Im Vertrag wird vereinbart, was Ihr zu machen habt, und was wir. Ihr verpflichtet euch, den Schiffsmotor in England oder der BRD zu kaufen. Aber Ihr tut es nicht." Ulbrichts Antwort: "Dann heißt es, ich sei antisowjetisch." Dieser spitze und sarkastische Ton spricht Bände über die Beziehung zwischen den beiden Spitzenfunktionären. Im Laufe der Jahre wurde Ulbricht wiederholt von den Sowjets gerügt, weil er die "Republikflucht" auf die leichte Schulter nehme und sich allzu sehr auf "administrative und repressive Maßnahmen" stütze, um dem Ausbluten der DDR entgegenzuwirken. Chruschtschow wurde dessen überdrüssig und konzentrierte sich nun darauf, die Westmächte aus West-Berlin hinauszudrängen und/oder einen Friedensvertrag mit beiden Teilen Deutschlands zu unterzeichnen. Mit Chruschtschows Note vom 27. November 1958 begann die Zweite Berlin-Krise (die erste bestand in der Blockade der Westsektoren Berlins 1948/1949 durch Stalin). Darin drohte er den Westmächten, dass, falls diese nicht binnen sechs Monaten mit den Sowjets und den Ostdeutschen in Verhandlung über Berlin als neutrale "Freie Stadt" sowie über einen Friedensvertrag träten, die Sowjetunion einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abschließen und der ostdeutschen Führung uneingeschränkte Souveränitt über ihr Territorium garantieren würde[10 ] Die allgemeine Erwartung war, dass damit die DDR dem Flüchtlingsstrom Einhalt gebieten würde. Ulbricht war indes nie davon überzeugt, dass es zu einer Vereinbarung der Westmächte mit Chruschtschow oder gar zu einem Friedensvertrag kommen würde. Er glaubte, Chruschtschow verschwende seine Zeit, eine Ansicht, die er mit dem chinesischen Führer Mao Zedong teilte Während sich Ulbrichts politischer Kurs in der DDR mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ab 1960 verschärfte und sich die Ost-West-Krise in Berlin zuspitzte, schwoll der Flüchtlingsstrom aus Ost-Berlin weiter an. Im letzten Jahr vor dem Mauerbau legte es Ulbricht zunehmend darauf an, an der Sektorengrenze das Heft selbst in die Hand zu nehmen. Sowjetische Diplomaten in der Botschaft in Ost-Berlin schickten unzählige Warnsignale nach Moskau, Ulbricht habe vor, auf eigene Faust die Grenze zu schließen. Die Ost-West-Krise in Bezug auf Berlin fand ihr Gegenstück in einer Krise zwischen den Verbündeten im Ostblock. Im Zuge von Ulbrichts Maßnahmen an der Sektorengrenze im September 1960 informierte Michail Perwuchin, der sowjetische Botschafter in Ost-Berlin, die Führung in Moskau in seinem Jahresbericht, dass die Politik der DDR in Bezug auf West-Berlin "in der Regel einseitig" und "in erster Linie administrativer Art" sei und "alle möglichen Beschränkungen des Verkehrs zwischen beiden Teilen der Stadt" zur Folge habe. Der zweite Sekretär der sowjetischen Botschaft berichtete, die SED wünsche "die Aufhebung der Bewegungsfreiheit über die Sektorengrenze". Sein Ratschlag lautete, "es wäre angebracht, auf entsprechender Ebene mit unseren Freunden über die Frage des Regimes an der Sektorengrenze in Berlin zu sprechen". Daraufhin forderte Chruschtschow von Ulbricht, dass "keine Maßnahmen durchgeführt werden, welche die Situation an der Grenze von Westberlin ändern würden". Der sowjetische Parteichef strebte ein Gipfeltreffen mit dem neu gewählten amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy an, bei dem er diesen dazu zu bewegen hoffte, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen und West-Berlin in eine "Freie Stadt" umzuwandeln. Chruschtschow bestand darauf, dass Ulbricht bis zum Gipfeltreffen "keine einseitigen Schritte (...) unternimmt (...). Dies betrifft vor allem das Kontrollregime für die Überquerung der Sektorengrenze in Berlin." Dessen ungeachtet forcierte Ulbricht Pläne, die Abwanderung der ostdeutschen Flüchtlinge über die "offene Grenze" nach West-Berlin zu unterbinden. Im Januar 1961 ernannte er eine Politbüro-Kommission, bestehend aus dem Sicherheitschef der SED Erich Honecker, dem Innenminister Karl Maron und dem Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, "die eine Reihe Vorschläge macht, wie die Republikflucht entschieden eingedämmt wird (...). Sie muss zum großen Teil abgestoppt werden."[16 ] Im März legte Ulbricht bei einem Treffen der Staaten des Warschauer Paktes in Moskau seinen Genossen dar: "Westberlin stellt (...) ein großes Loch inmitten unserer Republik dar, das uns jährlich mehr als eine Milliarde Mark kostet." Ungeachtet Chruschtschows Mahnung, vor seinem Treffen mit Kennedy Anfang Juni 1961 in Wien keine weiteren Maßnahmen zu ergreifen, wurde der auf Ulbricht lastende Handlungsdruck immer größer. Am 19. Mai teilte Perwuchin Außenminister Gromyko mit, dass die Ostdeutschen eine sofortige Schließung der Sektorengrenze verlangten: "Unsere Freunde würden gerne jetzt eine Kontrolle an der Sektorengrenze (...) einführen, (um) 'die Tür in den Westen' zu schließen und so die Abwanderung der Bevölkerung aus der Republik zu verringern (...). (U)nsere deutschen Freunde (sind) manchmal ungeduldig und nehmen eine einseitige Haltung zu diesem Problem ein (...)."Als Chruschtschow auf dem Wiener Gipfel mit Kennedy zusammentraf, stimmte der US-Präsident, ganz wie es Ulbricht vermutet hatte, weder Chruschtschows Forderungen nach einer "Freien Stadt" West-Berlin noch einem Friedensvertrag innerhalb von sechs Monaten zu. Der Gipfel endete damit, dass Chruschtschow seine Forderungen erneuerte. In Laufe der sich nach diesem fehlgeschlagenen Gipfeltreffen verschärfenden Berlin-Krise machte sich Torschlusspanik breit, was den Druck auf Ulbricht verstärkte. Waren im Mai 17791 Ostdeutsche geflohen, so stieg diese Zahl im Juni auf 19198.[20 ] Im ersten Halbjahr 1961 waren über 100000 Menschen aus der DDR geflohen. In der Folge des Wiener Gipfels wollte sich Ulbricht rückversichern, dass Chruschtschow tatsächlich in Berlin aktiv werden würde. Chruschtschow hatte die Westmächte unter Druck gesetzt und Ulbricht versprochen, dass er einen separaten Friedensvertrag mit der DDR unterzeichnen und ihm die Kontrolle über die Verkehrswege zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin sowie die uneingeschränkte Herrschaft über das Territorium der DDR einschließlich aller Zufahrtswege nach West-Berlin übertragen würde. Doch Ulbricht war noch immer skeptisch. Folglich musste er weiter auf ihn einwirken und die Souveränität der DDR immer wieder auf den Tisch bringen. Zu diesem Zweck startete die SED-Spitze eine groß angelegte Öffentlichkeitskampagne. Kaum war der Gipfel vorüber, legte die Politbürokommission für Agitation am 5. Juni einen Plan "über die Behandlung wichtiger politischer und außenpolitischer Fragen (...) durch die Redaktionen der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens" vor. Die Kampagne zielte auf West-Berlin und die Landeshoheit der DDR. Die internationale Pressekonferenz am 15. Juni gehörte zu Ulbrichts Plan, den Westmächten und der Sowjetunion vorzuführen, dass es sein Recht war, über alle Teile seines Territoriums einschließlich der Grenzen der DDR zu West-Berlin die Herrschaft auszuüben. Das wird nicht nur deutlich in seiner weithin bekannten Erklärung zu einer "Mauer". Auf die Frage, ob "die Bildung einer Freien Stadt (West Berlin) Ihrer Meinung nach bedeutet, daß die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird", erwiderte Ulbricht: "Ich verstehe Ihre Frage so, daß es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, daß wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, daß eine solche Absicht besteht (...). Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." Der Staatsratsvorsitzende ließ indes keinen Zweifel daran, dass es seiner Meinung nach sein gutes Recht sei, die Grenzen zu kontrollieren, und dass dieser Punkt in einem Vertrag geregelt werden könne. Seine Verlautbarungen bei der Pressekonferenz ebenso wie sein vorheriger Austausch mit Chruschtschow belegen, was er vorhatte, um die Grenzen auch ohne Zustimmung der Westmächte zu kontrollieren. Seine Entschlossenheit, dem Flüchtlingsstrom einen Riegel vorzuschieben, lässt sich auch aus anderen Äußerungen gegenüber den Journalisten herauslesen. So nannte er die Notwendigkeit, "die sogenannten Flüchtlingslager in Westberlin" zu schließen. Zwingen müsse man auch "die Personen, die sich mit dem Menschenhandel beschäftigen, West Berlin (zu) verlassen". Ferner verteidigte er seinen Anspruch, den "Organen der DDR" die alleinige Befugnis zuzusprechen, "die Erlaubnis (...) die DDR zu verlassen" zu erteilen oder eben zu verweigern. Ulbricht pochte bei der Pressekonferenz darauf, dass die DDR die Kontrolle über ihr souveränes Staatsgebiet ausüben werde. Er hatte definitiv die Absicht, die Grenze nach West-Berlin zu schließen.

Ende der achtziger Jahre gaben die kommunistischen Herrschaftssysteme in Europa ihre Macht ab und lösten sich in atemberaubender Geschwindigkeit auf. Zu diesem Fiasko hatten die Dauerkrise des Staatssozialismus sowie die Entspannungspolitik des KSZE-Prozesses beigetragen. Die Reformbestrebungen unter Michail Gorbatschow in der Sowjetunion verliehen den Andersdenkenden in den sozialistischen "Bruderstaaten" politische Motivation und moralische Legitimation. Das "Umbruchjahr" 1989 war Ergebnis der "'erfolgreich gescheiterten' Revolution der kommunistischen Selbstüberwindung". Die deutschen Ereignisse stehen in der Mitte, aber nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Die Deutschen machten bei den Umsturzbewegungen nicht den Anfang, sondern sie folgten den Polen und Ungarn. Der Fall der Mauer in Berlin am 9.November 1989 entwickelte Schubkraft für die Umwälzungen in der Tschechoslowakei und Rumänien.

In Polen sollte die erste organisierte Massenopposition ihren reformpolitischen Anfang nehmen. Die siebziger Jahre standen im Zeichen von Preiserhöhungen, Versorgungsengpässen und Repressionen. 1976 gründeten Jacek Kuron und Adam Michnik das "Komitee zum Schutz der Arbeiter" (KOR) für inhaftierte Dissidenten und erreichten eine Amnestie. Die Wahl des Krakauer Kardinals Karol Wojtyla zum Papst Johannes Paul II. 1978 und sein Besuch in Polen im Jahr darauf stimulierten eine religiöse Erneuerungsbewegung.

Im Zuge einer erneuten Preis- und Inflationswelle seit Sommer 1980 folgten Streiks. Die Regierung antwortete mit der Zulassung freier und unabhängiger Gewerkschaften. Am 17. September 1980 gründete sich Solidarnosc. Unter dem Ministerpräsidenten (1981 - 1985) und Ersten Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) (1981 - 1989) General Wojciech Jaruzelski hielten die Krisenerscheinungen an. Wachsender Druck der Solidarnosc mit ihrem populären Führer Lech Walesa, fortgesetzte Streiks, die zunehmende Paralyse des ökonomischen Systems und eine drohende militärische Intervention der UdSSR führten am 13. Dezember 1981 zur Ausrufung des Kriegsrechts. Ein "Militärrat der Nationalen Rettung" unter Vorsitz Jaruzelskis übernahm die Kontrolle. Streiks wurden untersagt, Tausende interniert, betrieblicher Widerstand unterdrückt und die Solidarnosc am 8. Oktober 1982 aufgelöst. Am 31. Dezember 1982 wurde das Kriegsrecht ausgesetzt und am 21. Juli 1983 aufgehoben. Zwar wurden alle Internierten freigelassen, doch blieben Einschränkungen wie das Solidarnosc-Verbot bestehen. Walesa erhielt den Friedensnobelpreis, den er aufgrund eines Ausreiseverbots jedoch nicht annehmen konnte. Die Entführung und Ermordung des Warschauer Priesters Jerzy Popieluszko durch den Staatssicherheitsdienst am 19. Oktober 1984 löste neue Demonstrationen aus. Ministerpräsident Zbigniew Messner konnte die Krise nicht überwinden. Seine marktorientierte Reform wurde durch ein Referendum im November 1987 abgelehnt. Im August 1988 brachen erneut landesweite Streiks aus, die erst eingestellt wurden, nachdem die Wiederzulassung der Solidarnosc zugesichert worden war.

Von Februar bis April 1989 fanden am "Runden Tisch" Gespräche zwischen der neuen Regierung Mieczyslaw Rakowski (1989 - 1990), Kirche und Opposition statt, an dem die Kommunisten die Macht teilen und dann abgeben mussten. Die Kapitulation der PVAP führte zur Legalisierung von Solidarnosc und der Bildung einer zweiten Parlamentskammer. Im Juni 1989 fanden halbfreie Parlamentswahlen statt. Sie führten zu einem großen Sieg der Opposition: Das Bürgerkomitee Solidarnosc bildete mit der Vereinigten Bauernpartei und der Demokratischen Partei eine Koalition. Am 24. August 1989 wurde der katholische Publizist Tadeusz Mazowiecki als Nachfolger des Generals Czeslaw Kiszczak erster nichtkommunistischer Regierungschef in Osteuropa seit vierzig Jahren.

Am 6. November 1989 schlug das ZK der PVAP vor, die Begriffe "Diktatur des Proletariats" und "proletarischer Internationalismus" zu eliminieren und die parlamentarische Demokratie als Staatsform zu etablieren. Parallel konstituierten sich neue Parteien. Antisowjetische Gewaltakte nahmen zu. Am 29. Dezember wurde die "führende Rolle" der PVAP bei einer Gegenstimme aus der Verfassung gestrichen und die Staatsbezeichnung "Republik" eingeführt. Im Januar 1990 löste sich die PVAP auf. Teile ihrer Mitglieder gründeten die "Sozialdemokratie der Republik Polen" (SdRP). Im Mai folgten freie Kommunalwahlen. Am 7. Dezember 1990 wurde Walesa zum Staatspräsidenten gewählt. Die Begriffe "links" und "rechts" blieben unklar, wodurch die Entstehung eines bipolaren Parteienspektrums erschwert wurde. Unter Mazowiecki herrschte noch relative Einmütigkeit: Die Reformen wurden allseits unterstützt. Der Zusammenhalt schwand, und Solidarnosc spaltete sich.

Dem raschen Systemwechsel 1989 folgte in den neunziger Jahren ein lang anhaltender Systemwandel ohne durchgreifende Erfolge. Es blieb das Dauerproblem ökonomischer Reformen. Weil Staats- und Ministerpräsident mit ähnlichen Kompetenzen ausgestattet waren, agierten quasi zwei Regierungen. Das Zweikammersystem mit Sejm (Volksvertretung) und Senat (Oberhaus) schuf eine "Institutionenkonkurrenz". Aufgrund der Instabilität und der Unbeweglichkeit des politischen Systems trat eine wirtschaftliche Besserung nur äußerst schleppend ein. Der neue Ministerpräsident Jan Krzysztof Bielecki (1991) hielt zwar am Reformkurs fest, doch Unbeholfenheit und Untätigkeit der Bürokratie wie die ökonomische Systemkrise blieben bestehen. Solidarnosc verlor infolge ihrer Einbindung in die Regierungspolitik an Ansehen und Einfluss.

Die ersten freien und demokratischen Parlamentswahlen am 27. Oktober 1991 - die letzten in einem ehemaligen sowjetsozialistischen Staat Europas - brachten bei einer Beteiligung von 43,2 % keine klare Mehrheit. 29 Parteien und Gruppierungen zogen in den Sejm ein. Die verspätete Wahl und die komplexe Parteienkonstellation bremsten das Reformtempo. Demokratische Union (DU), Solidarnosc und die Bürgerallianz Zentrum (POC) zählten zu den Verlierern, das postkommunistische Bündnis der Demokratischen Linken (SLD), die nationale Katholische Wahlaktion (WAK) und die eher antireformerische Konföderation des Unabhängigen Polens (KPN) zu den Gewinnern. Das Ergebnis spiegelte die Unentschiedenheit zwischen Systemreform und Rückkehr zum alten Regime. Ministerpräsident einer Mehrparteienkoalition wurde Jan Olszewski, der einerseits die marktwirtschaftlichen Reformen des Finanzministers Leszek Balcerowicz zu mildern, andererseits die Beseitigung des alten Staatsapparats einzuleiten versuchte. Nach Olszewskis Abberufung im Juni 1992 wurde Hanna Suchocka (Demokratische Union) im Juli Ministerpräsidentin einer Koalition von sieben aus der Solidarnos'c' hervorgegangenen Parteien.

Ein Regierungsprogramm zur "Allgemeinen Privatisierung" von circa 600 Staatsbetrieben mit der Ausgabe von Volksaktien wurde im April 1993 vom Sejm gebilligt. Nach einem Misstrauensantrag der Solidarnosc-Fraktion gegen die Regierung Suchocka erklärte diese im Mai 1993 ihren Rücktritt. Die Wahlen vom September gewannen ein Linksbündnis und die Polnische Bauernpartei. Der neue Ministerpräsident Waldemar Pawlak trat aufgrund von Differenzen mit Walesa und infolge eines erneuten Misstrauensantrags bald zurück. Sein Nachfolger Józef Oleksy (SRP) gab auf, nachdem gegen ihn der Verdacht der Spionage für den sowjetischen Geheimdienst aufkam. Der neue Ministerpräsident W|lodzimierz Cimoszewicz führte ein Koalitionskabinett aus Linksbündnis und Bauernpartei an. Bei der Präsidentenwahl im November 1995 setzte sich der Vertreter der Linksallianz Aleksander Kwasniewski gegen Walesa durch, sah sich jedoch nach der Parlamentswahl vom 21. September 1997 im Sejm einer konservativ-liberalen Mehrheit gegenüber.

Außenpolitisch orientierte sich Polen nach Westen. Die im Osten Deutschlands stationierten 300 000 Sowjetsoldaten erzeugten Unsicherheit. Im November 1990 wurde der Deutsch-Polnische Grenzvertrag unterzeichnet, der die Oder-Neiße-Linie als definitive Grenze bestimmte. Im Juni 1991 folgte ein Nachbarschaftsvertrag mit der Bundesrepublik. Eine Aktivierung der Nachbarschaftspolitik führte zur Beteiligung an der Viségrad-Gruppe (gemeinsam mit Tschechien, der Slowakei und Ungarn). 1991 trat Polen dem Europarat bei und schloss ein EG-Assoziationsabkommen. 1994 stellte es den EU-Beitrittsantrag und wurde 1999 NATO-Mitglied. Im Mai 2004 folgte der EU-Beitritt.

Nach dem niedergeschlagenen Volksaufstand 1956 wurde Janos Kádár, gestützt auf die Rote Armee, Erster Sekretär des ZK der neu begründeten Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP). Er leitete zunächst eine scharfe Verfolgungswelle ein. Ab 1962/63 setzte ein Kurs der inneren Versöhnung mit dem Ziel der Integration in die "sozialistische Staatengemeinschaft", eine Politik der "erfolgreichen Depolitisierung und der gelegentlichen Zugeständnisse" ein. Unter Gewährung wirtschaftlicher Eigeninitiativen verbesserte sich in den siebziger Jahren die sozioökonomische Lage. Es kam auch zu einer geistig-kulturellen Liberalisierung mit entpolitisierender konsumtiver Wirkung und dezentralisiertem und pseudopluralistischem Profil ("Gulaschkommunismus"). Das reformierte Wirtschaftssystem avancierte zum erfolgreichsten der Comecon-Länder.

Bereits vor Gorbatschows Amtsantritt existierten in Ungarn reformkommunistische Bestrebungen. Sie führten zur Anpassung der Preispolitik an das Weltmarktniveau (1980), zur Aufnahme des Landes in den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank (1982), zur Gründung einer ungarisch-dänischen Joint Venture (1984) und zur Reform des Bankwesens (1987). Unter Ministerpräsident Károly Grósz kam es zu einer Steuerreform und zur Öffnung des politischen Systems. Parallel zur Reformpolitik von oben entwickelte sich die Reformbewegung von unten. Aufgrund der schrittweisen Reformen seit 1987/88 konnte der Transformationsprozess zwischen Regime und Opposition paktiert, der Systemwechsel friedlich und rasch durchgeführt, gesetzlich und verfassungsmäßig mit Menschenrechten, Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit abgesichert sowie daraus entstehende wirtschaftliche Probleme reduziert werden. Der Weg zu einer "gemischten Ökonomie" aus Plan- und Marktwirtschaft wurde durch Rezsö Nyers, dem Reformer und Staatsminister der ersten postkadaristischen Regierung, geebnet. Nach dem erzwungenen Rücktritt Kádárs als Generalsekretär der USAP am 22. Mai 1988 übernahm Grósz die Parteiführung, musste jedoch aufgrund seiner mangelnden Reformbereitschaft sein Amt an Miklós Németh abtreten.

Bereits am 27. September 1987 war das Ungarische Demokratische Forum (UDF) gegründet worden. Weitere Parteien entstanden: der Bund der Freien Demokraten (BFD) am 13., die Partei der Kleinen Landwirte (FKgP) am 18. November 1988 und die Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP) am 11. Mai 1989. Im Januar 1989 verzichtete die USAP auf ihre Führungsrolle in Staat und Gesellschaft. Ihre Machtstellung war vorher bereits gebrochen. Der Oppositionelle Runde Tisch löste das Regime ab. Der Nationale Runde Tisch führte Opposition und Kommunisten zusammen, um am 18. September 1989 die Republik zu proklamieren sowie die gesetzlichen Grundlagen für ein Mehrparteiensystem zu schaffen. Der Kompromiss ermöglichte die Direktwahl eines interimistischen Präsidenten, des Reformsozialisten Imre Pozsgay.

Neue Institutionen waren Ausdruck der Transition. Am 13. Juni 1989 begannen Verhandlungen am Nationalen Runden Tisch über Verfassungsänderungen, die ein Verfassungsgericht, einen Rechnungshof, eine Nationalbank sowie ein Wahlgesetz hervorbrachten. Die Legalisierung der Demokratie erfolgte durch Elitenübereinkünfte. Der Übergang zum Verfassungsstaat verlief auf parlamentarischem Wege so geräuschlos, dass von einer "stillen Revolution" gesprochen wird. Am 16. Juni 1988 war es zu einer verbotenen Demonstration zum Gedächtnis des 1958 hingerichteten Imre Nagy gekommen. Parallel zum politischen Wandel vollzog sich die offizielle Revision des Geschichtsbildes von 1956. Das Verhältnis der USAP zur sowjetischen Intervention stellte sich neu. Sie bekannte sich im Februar 1989 zum Mehrparteiensystem, verzichtete im April auf den demokratischen Zentralismus, schaffte im Mai das System der Nomenklatura ab, rehabilitierte im Juni die 1956er Revolutionäre, gestattete das Begräbnis von Nagy als Staatsakt und unterzeichnete am 13. September mit der Opposition eine Vereinbarung über freie Parlamentswahlen. Die USAP trug damit selbst zu ihrer Delegitimierung bei.

Vor dem Hintergrund des zerfallenden Ostblocks orientierte sich Ungarn stärker nach Westen. Ab 2. Mai 1989 setzte der Abbau der Sperranlagen an der Grenze zu Österreich ein. Am 27. Juni folgte die symbolische Öffnung des Eisernen Vorhangs durch die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, die vor laufenden Kameras den Zaun durchschnitten. Das Bild wurde zur Ikone des ausklingenden Kalten Kriegs. Die Vorgänge führten im Sommer und im Frühherbst 1989 zur Fluchtwelle von DDR-Bürgern. Horn ließ am 10./11. September 1989 offiziell die Grenze zur freien Ausreise öffnen, was binnen weniger Stunden rund 12 000 Ostdeutschen die Ausreise ermöglichte und den politischen Zusammenbruch der DDR einleitete.

Nach der Selbstauflösung der USAP am 7./8. Oktober 1989 entstand die Ungarische Sozialdemokratische Partei (USP) unter Vorsitz von Nyers. Am 23. Oktober erfolgte die Namensänderung zur "Republik Ungarn". Am 10. März 1990 wurde der vollständige Abzug der sowjetischen Truppen vereinbart, der am 17. Juni 1991 beendet war. Die ersten freien Wahlen seit 1947 fanden im März und April 1990 mit 65 bzw. 44 Prozent Beteiligung statt. Das UDF gewann mit 47,7 Prozent der Stimmen und erhielt 164 Abgeordnete. Ministerpräsident einer Koalitionsregierung von UDF, FKgP und KDNP wurde am 23. Mai der Christdemokrat Joszef Antall (UDF), der am 21. Dezember von Péter Boross abgelöst wurde. Am 2. März 1990 wählte das Parlament den Liberalen Arpad Göncz (BFD) zu seinem Präsidenten und am 3. August zum Staatspräsidenten.

Neben einem Minderheitengesetz vom 7. Juli 1993 wurde ab 1994 auf gemeindepolitischer und gesamtstaatlicher Ebene ein Selbstverwaltungssystem für nationale und ethnische Minoritäten eingerichtet. Bei der Parlamentswahl im Mai 1994 gewann die oppositionelle USP die absolute Mehrheit, gefolgt vom BFD, während das UDF auf den dritten Platz abrutschte. Eine Koalition aus sozialistischen und liberalen Politikern (USP und BFD) machte Horn (USP) am 15. Juli 1994 zum Ministerpräsidenten, der eine Phase der innenpolitischen Beruhigung und der wirtschaftlichen Stabilisierung einleitete. Die Gesellschaft teilte sich in bürgerliche und postkommunistische Kräfte, Menschen mit zwei Vergangenheiten, zwei Wertesystemen und zwei Zukunftsbildern. Die Wirtschaftsleistung erfuhr im Vergleich zu den Vorwendezeiten eine erhebliche Steigerung. Obwohl die Marktwirtschaft funktionierte, verschlechterten sich die Lebensverhältnisse für viele.

Parallel zur innenpolitischen Entwicklung erfolgte eine institutionelle West- und Europaorientierung. 1990 wurde Ungarn in den Europarat aufgenommen, 1991 schloss es Assoziierungsabkommen mit der EG und 1992 den ungarisch-deutschen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit. Außenpolitisch war Ungarn bestrebt, die aufgrund von Minderheitenproblemen belasteten Beziehungen zu den Nachbarstaaten zu verbessern, was durch einen Grundlagenvertrag mit der Ukraine 1992, mit der Slowakischen Republik und Kroatien 1995 gelang. 1994 trat Ungarn dem Partnerschaftsprogramm (PfP) der NATO bei, und 1997 wurde das Beitrittsprotokoll für den NATO-Beitritt 1999 unterzeichnet. Nach dem Antrag auf Vollmitgliedschaft 1994 begannen 1998 Beitrittsverhandlungen, die am 1. Mai

Ab Mitte der achtziger Jahre sah sich das SED-Regime im Zuge des KSZE-Nachfolgeprozesses und internationalen und inneren Drucks zu Zugeständnissen an Regimekritiker gezwungen. Durch Beschluss des Staatsrats wurde 1987 die Todesstrafe abgeschafft. Ein Gesetz ermöglichte 1988 die gerichtliche Nachprüfung von bestimmten Verwaltungsentscheidungen. Diese Konzessionen reichten jedoch nicht mehr aus. Der "Gorbi-Effekt" und die Verweigerung durchgreifender Reformen stimulierten den Widerstand. Systemdefizite wurden immer deutlicher.

Die gesellschaftlichen Spannungen verstärkten sich. Im Mai 1989 wiesen Bürgerrechtler massive Fälschungen bei der Kommunalwahl nach. Die Unzufriedenheit mit dem sozialistischen Alltag, der wirtschaftliche Niedergang und der Unmut gegen zusätzliche Beschränkungen der Reisefreiheit zählten zu den Auslösern des Protests, der sich zu einer breiten und gewaltlosen Bewegung auswuchs. Neue Parteien und demokratische Organisationen bildeten sich: Demokratie Jetzt am 12., das Neue Forum am 19. September, der Demokratische Aufbruch am 2. und die Sozialdemokratische Partei der DDR am 7. Oktober 1989. Bestärkt durch die Veränderungen in den sozialistischen Nachbarstaaten führten Massendemonstrationen zur Demontage der SED.

Vorentscheidend war die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze für DDR-Bürger sowie der Exodus zehntausender DDR-Flüchtlinge über Ungarn und die CSSR, die ihre Ausreise in die Bundesrepublik erzwangen. Flankiert wurden diese Vorgänge durch den disziplinierten Massenprotest bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Städten. Die "Urlaubsrevolution" außerhalb war begleitet von der "Feierabendrevolution" innerhalb der DDR. Die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Staatsgründung in Berlin am 8. und 9. Oktober 1989 waren gekennzeichnet von vehementen Protestaktionen und brutalem Polizeieinsatz. Erich Honecker trat am 18. Oktober zurück. Sein Nachfolger Egon Krenz kündigte eine "Wende" an; es gelang jedoch keine Stabilisierung der Verhältnisse. Am 23. Oktober demonstrierten in Leipzig 250000, am 4. November auf dem Alexanderplatz in Berlin 500 000 Menschen. Die Staatssicherheit war nicht mehr in der Lage, die Proteste einzudämmen. Am 7. November trat die Regierung Stoph zurück.

Die Maueröffnung am 9. November bedeutete die "unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates". Sie führte zwar zu einer Entlastung des massiv unter Druck geratenen Regimes, nahm aber gleichzeitig die staatliche Einheit mit der Bundesrepublik vorweg. Der Ruf nach Bürgerrechten und freien Wahlen sowie die Forderung nach Auflösung des SED-Regimes ("Wir sind das Volk") wurden nach dem 9. November von den Leitsprüchen "Deutschland einig Vaterland" und "Wir sind ein Volk" abgelöst. Die politischen Forderungen wurden zunehmend von nationalen Motiven überlagert - eine Parallele zum 17. Juni 1953. Weder die seit dem 13. November amtierende Übergangsregierung unter Hans Modrow noch die vorsichtig agierende Regierung in Bonn konnten sich der nationalen Sogwirkung entziehen. Bundeskanzler Helmut Kohl schlug am 28. November in einem "Zehn-Punkte-Plan" eine Konföderation vor, die in zehn bis 15 Jahren die Wiedervereinigung ermöglichen sollte. Doch die Initiative zur deutschen Einheit ging von den Menschen im Osten aus, die Umsetzung erfolgte durch die Politik der Bundesrepublik.

Am 3. Dezember 1989 trat das ZK der SED geschlossen zurück. Zwölf Mitglieder (u.a. Honecker und Stoph) wurden aus der Partei ausgeschlossen, vier wegen Amtsmissbrauchs verhaftet. Drei Tage später erklärte Krenz seinen Rücktritt als Staatsratsvorsitzender. Die Blockparteien beendeten ihre Mitarbeit in der Nationalen Front. Auf einem Sonderparteitag der Ost-CDU sprach sich ihr Vorsitzender Lothar de Maizière gegen den Sozialismus und für die deutsche Einheit aus. Zur selben Zeit benannte sich die SED unter ihrem neuen Vorsitzenden Gregor Gysi zur Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) um. Der seit Dezember tagende Zentrale Runde Tisch in Berlin förderte unter Moderation der Evangelischen und Katholischen Kirche den friedlichen Übergang. Die führende Rolle der SED wurde aus der Verfassung gestrichen, das Verbot von Privateigentum an ausgewählten Produktionsmitteln aufgehoben sowie ein Bündel von Gesetzen zur Demokratisierung und Einführung freier Wahlen erlassen, die zur ersten frei gewählten Volkskammer führten und den raschen Beitritt zur Bundesrepublik und zum Grundgesetz gestatteten. Die Wahl vom 18. März 1990 brachte einen überraschend klaren Sieg der konservativen Allianz für Deutschland aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch (48,1 Prozent), während die SPD nur 21,8 Prozent und die PDS 16,3 Prozent erzielten. Die Koalitionsregierung unter Ministerpräsident de Maizière verfolgte das Ziel eines föderativen Staatsaufbaus und der raschen deutschen Einheit auf der Basis von Artikel 23 des Grundgesetzes.

Die am 1. Juli 1990 in Kraft getretene Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion laut Staatsvertrag vom 18. Mai war der erste Schritt zur Implementierung der Marktwirtschaft und der politischen Einigung. Die Gründung der Treuhandanstalt wurde von den Ostdeutschen jedoch rasch als Inbegriff des Kapitalismus erfahren, begünstigte sie doch den Ausverkauf der DDR-Wirtschaft und führte ihren raschen Zusammenbruch herbei. Die Volkskammer erklärte am 23. August den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, was im Einigungsvertrag vom 31. August besiegelt wurde. Am 3. Oktober 1990 vollzog sich die staatliche Einheit.

Die Ablehnung der Staats- und Regierungschefs der EG wich allmählicher Akzeptanz, die ihren Ausdruck im Zwei-plus-Vier-Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland am 12. September 1990 fand. Die UdSSR, die noch im Frühjahr die Neutralität Deutschlands angestrebt hatte, gab ihren Widerstand gegen eine Einbeziehung des ehemaligen DDR-Territoriums in den NATO-Geltungsbereich auf. Es folgte die Suspendierungserklärung der Alliierten bezüglich Berlins und Deutschlands als Ganzes vom 1. Oktober 1990 und der Deutsch-Polnische Grenzvertrag vom 14. November 1990. Der äußeren Einigung im Kontext der europäischen Integration stand der weit beschwerlichere Weg zur inneren Einheit gegenüber. Erst in den Folgejahren sollte deutlich werden, welche Verwerfungen die Jahrzehnte der Teilung angerichtet hatten. In der öffentlichen Debatte überwogen die "Kosten der Einheit" ihre Vorteile.

Im Zuge der KSZE-Schlussakte entwickelte sich in der CSSR die insbesondere von Tschechen getragene Bürgerrechtsbewegung Charta 77. In der Slowakei blieb sie ohne größeren Widerhall. Ihre Sprecher waren Jiri Hájek und Václav Havel. Das Regime unter Gustav Husák reagierte mit Verhaftungen. Den Reformkurs von Gorbatschow lehnte die KPC unter Generalsekretär Milos Jakes ab. Im Oktober 1988 trat Ministerpräsident Lubomir Strougal zurück. Reformversuche von oben blieben wirkungslos.

Seit Ende Oktober 1989 kam es in Prag und Brünn zu Demonstrationen. Höhepunkt war die Kundgebung am 17. November 1989 zum Gedenken des 50. Jahrestages der Ermordung des Prager Studenten Jan Opletal durch die Nationalsozialisten, bei der die Freilassung politischer Gefangener, die Entlassung Jakes' und ein Ende der kommunistischen Herrschaft gefordert wurden. Die Polizei knüppelte die Kundgebung nieder. Dies steigerte die Studentendemonstration zum Massenprotest, was zum Generalstreik und schließlich zum Einlenken der Regierung führte. Am 19. November sprach sich das ZK der KPC für den "Dialog" aus. Die "sanfte" oder "samtene Revolution" bewirkte die rasche Umgestaltung des politischen Systems. Die Revolution in der CSSR, so manche Beobachter, sei eine Art Volksfest und dann ein "Umsturz als Beginn einer langfristigen, komplizierten, sogar schmerzhaften Transformationsperiode" gewesen.

Das am 19. November 1989 gegründete Bürgerforum (OF) mit Vertretern der Charta 77 um Havel und die slowakische Partnervereinigung "Öffentlichkeit gegen Gewalt" (VPN) wurden zu Plattformen der demokratischen Protestbewegung. Am 20. November trat das Politbüro, am 24. November das gesamte ZK mit Jakes zurück. Das OF begann mit dem als "Reformer" geltenden Ladislaw Adamec (KPC), dem Ministerpräsidenten der Föderalregierung, zu verhandeln, der versprach, weder Gewalt anzuwenden noch den Ausnahmezustand zu verhängen. Sein Vorschlag vom 3. Dezember einer Regierungszusammensetzung von Kommunisten und Vertretern der Opposition im Verhältnis von 15:5 wurde abgelehnt. OF und VPN forderten Neuwahlen bis Juli 1990. Unter dem Druck der Öffentlichkeit trat Adamec am 7. Dezember zurück. Die Machtbasis der KPC zerfiel. Der Reformkommunist Márián Calfa formte am 10. Dezember als Ministerpräsident erstmals eine nichtkommunistisch dominierte Koalitionsregierung der "nationalen Verständigung". Nach der Reorganisation der nationalen Regierungen ging die Verantwortung auf das OF über. Während die Legislative unangetastet blieb, kam es im Bereich der Exekutive zu Veränderungen. Kompromittierten Abgeordneten wurden ihre Mandate entzogen, führende KPCler wie Jakes, Jan Fojtík oder Vasil Bilák von ihren Funktionen entbunden. Am 29. Dezember strich das Parlament den Führungsanspruch der KPC aus der Verfassung. OF-Sprecher Havel wurde nach dem Rücktritt von Staatspräsident Husák am gleichen Tag vom Parlament einstimmig zu dessen Nachfolger gewählt. Alexander Dubcek war am 28. Dezember 1989 zum Parlamentspräsidenten gewählt worden.

Der Prager Runde Tisch beschloss Wahlen noch vor dem Juli 1990. Am 20. April folgte die Umwandlung der CSSR in einen föderativen Staat und die Umbenennung in Tschechische und Slowakische Föderative Republik (CSFR), um die Gleichberechtigung beider Volksgruppen zu betonen. Nach den freien Wahlen zum Bundesparlament (der Volks- und Nationenkammer) im Juni 1990 formten OF und VPN unter Vladimir Meciar (Austritt am 6. März 1991) eine Koalition mit der slowakischen Christlich-Demokratischen Bewegung (KDH) aus dem tschechoslowakischen Wahlbündnis Christdemokratische Union (KDU). Die neue Regierung unter Calfa (seit 1990 VPN) legte den Schwerpunkt auf Wirtschaftsreformen, Föderalisierung und kommunaler Selbstverwaltung. Wie in Polen kam es zur Zersplitterung der Oppositionsbewegung. Im März und April 1991 spalteten sich OF und VPN in verschiedene Parteien, darunter die Bewegung für die demokratische Slowakei (HZDS) unter Meciar und die rechtsliberale Demokratische Bürgerunion.

Mit der Selbstauflösung des Warschauer Pakts und des RGW (1991) orientierte sich die CSFR nach Westeuropa. Der Nachbarschaftsvertrag mit der Bundesrepublik am 27. Februar 1992 leitete die Normalisierung der Beziehungen ein. Es blieb bei der ethnischen Asymmetrie von neun Millionen Tschechen und vier Millionen Slowaken, während die 400 000 Ungarn, 500 000 Roma und Sinti sowie die polnischen, rumänischen und deutschen Minoritäten vergessen blieben. Der Kompetenzstreit zwischen Tschechen und Slowaken blockierte die rasche Lösung von Fragen der Wirtschaftsgesetzgebung. Durch Restitutionsforderungen wurde der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft belastet.

Seit 1991 formierten sich in der Slowakei separatistische und nationalistische Gruppierungen. Bei den Wahlen im Juni 1992 siegte die HZDS. Meciar wurde Ministerpräsident und forcierte die Unabhängigkeit. Mit dem neuen tschechischen Ministerpräsidenten Václav Klaus konnte er sich nicht auf die Weiterexistenz der CSFR einigen. Die Slowakei, die bereits seit 1969 als sozialistische Republik "Autonomie" besessen hatte, proklamierte am 17. Juli 1992 ihre Selbständigkeit. Daraufhin trat Havel als Staatspräsident der CSFR am 20. Juli 1992 zurück. Ohne Volksabstimmung trat die Auflösung der Konföderation am 1. Januar 1993 in Kraft. Obwohl die Slowakei bemüht war, Anschluss an die westliche Staatengemeinschaft zu finden, war ihr Ansehen durch innenpolitische Turbulenzen, die populistische Politik Meciars und die schlechte Lage der ungarischen Minderheit beeinträchtigt. Im Zuge veränderter Konstellationen traten Tschechien und die Slowakei am 1. Mai 2004 der EU bei.

Das rumänische Regime unter Nicolae Ceausescu lehnte Gorbatschows Reformen kategorisch ab. Gestützt auf den Geheimdienst Securitate hatte er seit den siebziger Jahren eine Diktatur mit Nepotismus und Personenkult aufgebaut. Außenpolitisch stilisierte sich Ceausescu als Rebell im sozialistischen Lager und praktizierte einen Kurs der "Öffnung nach allen Seiten". Die miserable ökonomische Lage, die neostalinistische Herrschaftspraxis und Menschenrechtsverletzungen steigerten den Unmut. Die Einebnung von ca. 7 000 Dörfern und die Umsiedlung von Rumäniendeutschen und -ungarn zur besseren Kontrolle, Landgewinnung und zum Aufbau von "Agrozentren" führten zu internationaler Kritik. Regimekritiker formierten eine oppositionelle Bürgerbewegung.

Studenten und Arbeiter protestierten am 15. November 1987 in Kronstadt. Das Regime schlug die Unruhen mit eiserner Faust nieder. Im Zuge der Umsturzbewegungen in Mittel- und Osteuropa lösten die von der ungarischen Minderheit getragenen und blutig erstickten Aufstände in Temesvar und Arad am 16./17. Dezember 1989 eine Massenerhebung aus. Ceausescu wurde bei einer Kundgebung ausgepfiffen und mit offenem Aufruhr bedroht. Große Teile der Armee stellten sich auf die Seite der Protestierenden. Am 21. Dezember kam es in Bukarest zu Straßenkämpfen mit der Securitate. Tags darauf wurde Ceausescu von einer parteiinternen Gegenelite im Zuge einer Palastrevolte gestürzt, mit seiner Frau Elena am 23. Dezember auf der Flucht verhaftet und am 25. Dezember in Târgoviste von einem Militärgericht verurteilt und hingerichtet. Als neue Regierung fungierte die Front der Nationalen Rettung (FSN), die am 26. Dezember den Putschistenführer und Reformkommunisten Ion Iliescu zum provisorischen Staatspräsidenten ernannte. Die Opfer der Aufstände beliefen sich auf über 1000 Personen.

Iliescu hob die Umsiedlungsgesetze auf und kündigte freie Wahlen an. Der Staat hieß fortan "Republik". Ende 1989 wurde die Nationale Bauernpartei-Christdemokraten (PNTCD) neu begründet. Massenproteste und eine Resolution des Runden Tisches führten zur Einsetzung eines Provisorischen Rats der Nationalen Einheit mit 30 Parteien und Gruppierungen. Doch Kämpfe in Siebenbürgen zwischen Rumänen und Rumänenungarn im März sowie zwischen antikommunistischen Demonstranten und Sicherheitskräften im Juni 1990 verdeutlichten die explosive Lage. Im Mai wurde Iliescu als Kandidat der FSN zum Staatspräsidenten gewählt; die FSN wurde stärkste Fraktion im Parlament. Die neue Verfassung von 1991 bedeutete zwar die formelle Beseitigung der Diktatur; Politik und Ökonomie blieben aber weiter in Händen ex-kommunistischer Eliten, während die im Bündnis Demokratische Konvention zusammengeschlossene Bürgeropposition unterdrückt wurde. Der Wechsel von Ministerpräsident Petre Roman zu Theodor Stolojan verdeutlichte die instabile Situation, die von ökonomischer Misere, politischen Gegensätzen und ethnischen Konflikten gekennzeichnet war.

Am 24. Juni 1991 verurteilte das Parlament einstimmig die Annexion Bessarabiens durch die UdSSR (1940) und erkannte die Unabhängigkeit Moldawiens an (27. August). Im April 1992 spaltete sich die FSN. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom Herbst 1992 gewann Iliescu. Die Regierung Nicolae Vacaroiu war mit einer rasanten Inflation konfrontiert, die 1993 ihren Höhepunkt erreichte. Von April bis Sommer 1995 folgten Streiks und Massendemonstrationen. Bei der Präsidentschaftswahl im November 1996 gewann der Kandidat der Demokratischen Konvention, Constantinescu, der erstmals nach 1989 demokratisch legitimierte Macht ausübte. Insgesamt entsteht das Bild einer "unvollendeten Revolution zwischen Diktatur und Demokratie".

1993 unterzeichnete Rumänien ein EG-Assoziationsabkommen (in Kraft 1995). Es wurde Mitglied des PfP-Programms der NATO (1994) und des Europarats (1995). Am 15. Januar 2000 begannen EU-Beitrittsverhandlungen. 2004 wurde es Mitglied der NATO, 2007 soll die Aufnahme in die EU erfolgen.

Hintergründe und Folgen der Umsturzbewegungen in Mittel- und Osteuropa waren komplex; Gemeinsamkeiten in den Ursachen mischen sich mit Unterschieden der Merkmale, des Verlaufs und der Ergebnisse. Die sich abzeichnende Niederlage der UdSSR in Afghanistan, die Entlassung der alten Garde Breschnews, der ideologische Erosionsprozess, das Entstehen von Schattenwirtschaften, die verstärkte Integration Mittel- und Osteuropas in das westlich-kapitalistische Wirtschaftssystem mit Zunahme des Handels und der Auslandsschulden, die Unmöglichkeit, die von der "dritten industriellen Revolution" ausgehenden Innovationen der Mikroelektronik nachzuvollziehen sowie das Anwachsen einer Zivilgesellschaft führten zu einem Problemstau, der sich in politischen Umstürzen äußerte.

Eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden fallen auf. Ohne Gorbatschows Politik, die mit der Breschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränität gebrochen hatte, wären die Umsturzbewegungen nicht möglich gewesen. Gorbatschow war Motor des Wandels, wenngleich er diesen weder steuern konnte noch dessen Resultate beabsichtigt hatte. Die deutsche Einigung, das Ende der Sowjetunion und die NATO-Mitgliedschaft der ehemaligen Verbündeten in Mittel- und Osteuropa sind Beispiele für die unbeabsichtigten Wirkungen seiner Politik. Angesichts notwendiger Reformen stellte sich für die Sowjetunion und ihre Satelliten die Frage ihrer Existenzfähigkeit und Überlebensmöglichkeit. 1989 zeigte sich die Wettbewerbsunfähigkeit der gestürzten Regime und der Unabhängigkeitswille der beherrschten Völker.

Die Ereignisse von 1989 sind im historischen Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 in der DDR, dem polnischen Oktober und dem Ungarn-Aufstand 1956, dem Prager Frühling 1968 und der polnischen Gewerkschaftsbewegung seit 1981 zu sehen. Die unterschiedliche vorrevolutionäre Erfahrung und das gemeinsame kollektive Erlebnis der Niederwerfung der Volksbewegungen durch den sowjetischen Totalitarismus prägten in den geschilderten Umbruchszeiten sowohl das Handeln der Opposition als auch das Reagieren der Regime. In Rumänien vollzog sich die Preisgabe der kommunistischen Staatsmacht nicht gewaltfrei. Eine echte Chance auf Regeneration der sozialistischen Einparteiensysteme und Kommandowirtschaften gab es nicht. Die kommunistischen Diktaturen waren von "Selbsterneuerungsunfähigkeit" gekennzeichnet: Mit den permanenten Systemdefiziten waren mittelfristig Systemkrisen und langfristig Systemzerfall verbunden.

Timothy Garton Ash hat auf Polen und Ungarn bezogen von "Refolutionen" gesprochen, einem Mischungsverhältnis von "Revolutionen" als Druck der Straße ("von unten") und "Reformen" der Systeme ("von oben"). Pointierter nannte er den Zusammenbruch der DDR eine Kombination "aus gesundem Menschenverstand und Schlamperei der neuen Parteiführung". Daneben agierte das Fernsehen als Produzent und Multiplikator. Ben Fowkes hat die "so genannten Revolutionen" als "Kettenreaktion" bezeichnet. Die Gewerkschaftsbewegung in Polen und die sozioökonomische Liberalisierung in Ungarn bildeten Vorläufer und Pioniere der Umsturzbewegungen; die Opposition in der DDR und der CSSR profitierte davon. Rumänien eilte der Entwicklung gewaltsam hinterher. Die DDR und CSSR erlebten demokratische Revolutionen mit einer starken nationalen Dimension: In der DDR hatte sie die Vereinigung mit der Bundesrepublik, in der CSFR den Zerfall der Föderation zur Folge.

Die Forderung nach Freiheit und Volkssouveränität war ein zentrales Anliegen der Protestbewegungen. Sie manifestierte sich durch Runde Tische, kommunistische pseudo- oder semidemokratisch legitimierte Parlamente. Über die transitorischen Artikulationsforen führte der Prozess unaufhaltsam zu pluralistischen Erscheinungen westlich-demokratischer Ausprägung. Die Erringung der Freiheit bedeutete allerdings nicht automatisch die Sicherung von Demokratie und Rechtsstaat. So ergaben sich neue Spannungsfelder: einerseits die Diskrepanz zwischen politischer Veränderung und wirtschaftlicher Neugestaltung, andererseits das Dilemma zwischen rascher institutioneller Reform im staatlichen Bereich und zäher Demokratisierung des politischen Lebens.

Die Anciens Régimes gaben - mit Ausnahme des rumänischen - ohne größeren Widerstand auf und teilten die Macht mit der Opposition. Im Wandel von postkommunistischen zu neudemokratischen Herrschaftsverhältnissen mischte sich Altes mit Neuem. Fast überall zeigten sich alsbald Spannungen und Rivalitäten innerhalb der Opposition. Ihre starke Pluralisierung war nicht immer förderlich für die Demokratisierung der politischen Systeme. Wie Polen befreite sich Ungarn selbst, ohne dass durch die Machtverschiebungen schon demokratiepolitische Stabilität erzielt worden wäre. Im Vergleich zu Polen (Walesa) und der CSSR (Havel) gab es in der DDR keine herausragende Führungspersönlichkeit des Widerstands. Personen, die sich dafür geeignet hätten, verweilten entweder in innerer Emigration oder befanden sich bereits in der Bundesrepublik. In der DDR gab es weder eine gewachsene organisierte Massenopposition wie die polnische Gewerkschaftsbewegung noch eine Plattform der Intellektuellen wie die tschechische Charta 77. Es waren vor allem Friedens-, Umwelt- und Dritte-Welt-Gruppen unter dem Dach der Evangelischen Kirche, die zu den Akteuren des Herbstes 1989 wurden.

Im Unterschied zu Ungarn hatte die KPC-Führung unter Husák weder einen Kurs der nationalen Versöhnung eingeschlagen, noch sich von der Politik der Rache gegenüber den Exponenten des Prager Frühlings lösen können. Ohne Integration führte dies zu ihrer internen wie internationalen Isolation. Die Neubewertung des sowjetischen Einmarsches 1968 markierte den Klimasturz. Der Versuch einer Achsenbildung Berlin-Prag-Bukarest konnte nicht mehr gelingen. Im Unterschied zu anderen Ländern war die Kommunistische Partei der CSSR gleich am Anfang des Transformationsprozesses als politischer Faktor ausgeschaltet und kam als Verhandlungspartner mit der Opposition nicht mehr in Frage.

Ein Prinzip traf auf alle Umsturzbewegungen zu: Die "Refolution" fraß in Polen, der CSSR und der DDR ihre Kinder. Solidarnos'c' zerbrach in Einzelparteien, das Bürgerforum zerfiel noch vor der Sezession der Slowaken von den Tschechen, und das Neue Forum war im Frühjahr 1990 nur mehr eine Marginalie. Die Macht der Aufbegehrenden 1989 bestand demnach in der Beseitigung alter, nicht aber in der Herstellung neuer Machtverhältnisse: In der Delegitimierung des alten Regimes bestand ihre Stärke, in der ausgebliebenen Konstituierung neuer Ordnungen ihre Schwäche.

Aus der "Augenblicks-" und "Freiheitsrevolution", einer Ereignisverdichtung mit "Folgen einer unerhörten Begebenheit", wurde ein Transitorium mit unkalkulierbaren Folgen. Verbindlich war nur das Ende der russischen Hegemonie über Mittel- und Osteuropa. Insofern wurde ein "Jahrhundert abgewählt". Der Kalte Krieg ging zu Ende, der Friede brach aber nicht aus: An Stelle des Kommunismus trat ein neuer Nationalismus, der scheinbar vom sozialistischen Sowjetuniversalismus befriedet worden war. Nach dem Ausbleiben rascher Freiheitserfolge mündete vieles in die ebenfalls nicht schnell einlösbare Gleichheitsforderung. Diese doppelte Enttäuschung führte viele Menschen in den postkommunistischen Gesellschaften zu neuer politischer Gleichgültigkeit und Agonie sowie zur Wiederentdeckung der Nische des Privaten oder sozialistischer Nostalgie. 1989 bedeutete eine scheinbare Wiederkehr der Ereignisgeschichte. Tatsächlich fanden in den Folgen der Geschehnisse unterschiedliche Strukturen ihren Ausdruck. Die rasche Demokratisierung der postkommunistischen Gesellschaften reichte nicht aus, um im real existierenden Sozialismus entstandene Gewohnheiten und Mentalitäten zu überwinden, die Legitimation neuer Institutionen zu gewährleisten und die konstitutionelle Balance zu halten. Daraus resultierten Stabilisierungs-, Konsolidierungs- und Identitätskrisen.

Vor einer Mythologisierung der "Revolutionen" von 1989 ist daher zu warnen: Es waren weder gewaltsame Umwälzungen, noch gab es substanziellen Widerstand der kommunistischen Regime. Dem Systemwechsel folgte nicht zwingend ein Elitenwechsel. Es gab aber auch keinen "weißen Terror": Eine Rückkehr des alten Regimes fand nirgendwo statt. Es waren Umsturzbewegungen, die Übergänge ermöglichten, die über Jahre andauern sollten. In sehr kurzer Zeit waren die neuen Staatsformen gezwungen, Jahrzehnte zurückreichende Entwicklungen der westlichen Demokratien nachzuvollziehen. Die Umorganisation des ökonomischen Systems von einer Kommandowirtschaft zum kruden Kapitalismus legte ideologische und mentalitätsspezifische Probleme auf beiden Seiten, in Ost wie West, offen. Zwar wurde der Wandel 1989/90 durch Repräsentation bewirkt, doch "Repräsentation" als unbestrittenes Prinzip war noch nicht gesichert, wie der demokratiepolitische Problemfall Slowakei und rechtspopulistische Strömungen in Polen, Tschechien und Ungarn zeigten. Das einmalige Experiment eines Transformationsprozesses der europäischen Geschichte verlief weitgehend friedvoll, ist aber noch nicht abgeschlossen.

"1989" war gleichzeitig die Wiederentdeckung Mitteleuropas, "Rückkehr nach Europa" und "Beginn einer gesamteuropäischen Neufindung". Westeuropa reagierte neben dem Integrationsprogramm der Vertiefung der EU (durch Binnenmarkt und Wirtschafts- und Währungsunion) vor einer Erweiterung desorientiert, distanziert und hilflos. Der zweifache Ratschlag zur Einführung der Demokratie und zum Aufbau der Marktwirtschaft sollte sich als vordergründig und problematisch erweisen. Der Transformationsprozess war von einem schwerwiegenden ökonomischen Niedergang begleitet. Dem annus mirabilis 1989 folgten anni miserabiles. Demokratie und Marktwirtschaft liefen Gefahr, zur realitätsfernen Empfehlung zu gerinnen und damit das Ende der Machbarkeitsideologien zu signalisieren. Daher ist im Jahr 1989 auch die Entzauberung der demokratischen Fortschrittsidee zu sehen. Die Grenzen desParteien- und Sozialstaates sind deutlicher denn je. Eine systematisch angelegte bilanzierende Untersuchung der Gewinner und Verlierer der Umsturzbewegungen und die Beantwortung damit zusammenhängender Fragen des Schutzes und der Entschädigung der Verlierer stehen noch aus.Als Chruschtschow drohte, er werde einen separaten Friedensvertrag mit Ulbricht abschließen, falls Kennedy einem Friedensvertrag und der Umwandlung West-Berlins in eine neutrale, "Freie Stadt" nicht zustimmte, erwiderte Kennedy, er werde es nicht zulassen, dass die Three Essentials angetastet würden: die Freiheit der West-Berliner Bürger, das Recht der westlichen Alliierten, sich in West-Berlin aufzuhalten, sowie der freie Zugang der Westmächte nach West-Berlin. Kennedy unterstrich, dass jede Beeinträchtigung dieser drei Grundsätze einer Kriegserklärung gleichkäme. Zu den Bevölkerungsbewegungen zwischen Ost- und West-Berlin äußerte er sich nicht. Chruschtschow hatte kein Bedürfnis, einen Krieg mit den USA heraufzubeschwören. Also wendete er eine Verzögerungstaktik an und erwog die Optionen. Auch Anfang Juli war sich der sowjetische Machthaber noch nicht sicher, wie er die Flüchtlingskrise in den Griff bekommen sollte. In einem ausführlichen Bericht an Gromyko legte Botschafter Perwuchin die Möglichkeiten dar. Man könne "entweder eine wirksame Kontrolle des Verkehrs der deutschen Bevölkerung zwischen Westberlin und der BRD in allen Verkehrsmitteln, einschließlich des Luftverkehrs, einführen oder die Sektorengrenze in Berlin schließen". Perwuchin gab ersterem den Vorzug, wobei er aber klarstellte, "der Westen werde sich wahrscheinlich nicht stillschweigend mit der Kontrolle der Luftkorridore durch die DDR abfinden", weshalb der DDR eine Möglichkeit eingeräumt werden müsse, "um den Luftraum verletzende Flugzeuge zum Landen zwingen zu können". Mit dem Bild von DDR-Militärmaschinen, die westliche Flugzeuge zum Landen zwingen, dürfte Perwuchin erreicht haben, dass Chruschtschow, der einen Krieg vermeiden wollte, die Kontrolle über die Luftkorridore keinesfalls der DDR übergeben würde. Perwuchin führte an, dass "bei einer Zuspitzung der politischen Lage geschlossene Grenzen notwendig werden könnten. Deshalb ist es notwendig, auch einen Maßnahmeplan für den Fall der Einführung eines Staatsgrenzregimes an der Sektorengrenze auszuarbeiten." Er befürchtete, "dass wir im äußersten Fall die Sektorengrenze in Berlin schließen müssen. Es ist offensichtlich, dass wir (...) politische Schwierigkeiten zu erwarten hätten." Die Schließung der Sektorengrenze würde "alle Berliner und Deutschen gegen die Sowjetunion und das ostdeutsche Regime aufbringen". Perwuchin erwähnte auch die technischen Probleme: "Es wäre erforderlich, auf der gesamten Länge der innerstädtischen Grenze (46km) bauliche Hindernisse zu errichten, eine große Zahl von zusätzlichen Polizeiposten hinzuzufügen und permanente Polizeikontrollen an Stellen einzuführen, wo S-und U-Bahn die Grenze überqueren." Perwuchin hatte möglicherweise Kenntnis davon, dass die DDR-Organe bereits daran arbeiteten. Da Ulbricht nicht locker ließ, die Flüchtlingskrise eskalierte und Chruschtschow keinen Krieg mit den Westmächten vom Zaun brechen wollte, ging er schließlich auf Ulbrichts Appelle ein und befahl, die Grenze zu schließen. Später erklärte Chruschtschow dem westdeutschen Botschafter Hans Kroll in Moskau: "Die Mauer ist auf dringenden Wunsch Ulbrichts von mir angeordnet worden." Ähnlich äußerte sich in einem Interview kürzlich Anatolij Grigorjewitsch Mereschko, stellvertretender Leiter der Operationsabteilung der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und einer der für das Unternehmen der Grenzschließung zuständigen sowjetischen Militärbeamten: "Die Lösung der Aufgabe wurde dadurch erleichtert, dass Ulbricht schon früher diese Frage nach der Einführung der Grenzkontrolle Chruschtschow mehrmals gestellt hatte. Chruschtschow aber wollte diesen Schritt lange nicht tun. Aber die Vorbereitungsarbeiten in den Organen der DDR waren deutlich im vollen Gang." Chruschtschow sicherte schon drei Wochen vor dem 13. August die Vorbereitungen der DDR zur Schließung der Grenze rings um West-Berlin militärisch ab. Die sowjetischen und die ostdeutschen Drahtzieher in Militär und Politik arbeiteten eng zusammen, um dafür gewappnet zu sein, die Pläne in der Nacht vom 12. zum 13. August 1961 auszuführen. Hochrangigen Stasi-Offizieren schärfte Erich Mielke ein: "Gegen die Republikflucht werden Maßnahmen getroffen (...). Die gesamte Aktion erhält die Bezeichnung 'Rose.'" Chruschtschow befand sich nun in der Situation, die Perwuchin umrissen hatte: "(I)m äußersten Fall müssen wir die Sektorengrenze in Berlin schließen." Acht Jahre lang hatten sich der sowjetische Staatschef und seine Genossen dieses Vorhabens erwehrt - in der Hoffnung, dass Ulbricht andere Wege finden würde, es den ostdeutschen Bürgern schmackhaft zu machen, in der DDR zu bleiben. In seinen Memoiren schrieb Chruschtschow: "Hätte es die DDR geschafft, das moralische und materielle Potential (ihrer Bürger) zu erschließen, dann wäre der Übergang zwischen Ost- und West-Berlin in beide Richtungen uneingeschränkt durchlässig geblieben." Für ihn stand fest: Es war Ulbrichts Schuld, dass dieser Fall nicht eintrat. Die ostdeutsche wie die sowjetische Führung brüsteten sich damit, dass die Grenzschließung so erfolgreich und ohne nennenswerten Widerstand der Westmächte über die Bühne gegangen war. Ulbricht berichtete im September: "Die Durchführung des Beschlusses über die Schließung der Grenze um Westberlin ist planmäßig erfolgt (...). Man muss sagen, dass der Gegner weniger Gegenmaßnahmen unternommen hat, als zu erwarten war." Chruschtschow stimmte ihm zu: "Sie haben es alles großartig durchgeführt - schnell und unter strikter Geheimhaltung." Aus diesem Wortwechsel ergibt sich die Frage, welchen Krisenplan Chruschtschow und Ulbricht in der Hinterhand hatten für den Fall, dass die Westmächte eingegriffen hätten, wenn sie zum Beispiel die Stacheldrähte entfernt oder die Mauer in ihrem Anfangsstadium mit Baggern abgetragen hätten, wie es US-General Lucius D. Clay vorhatte. Leider sind die Militärarchive in Moskau weiter unter Verschluss, und wir haben keine Informationen darüber, ob es Krisenpläne gab. Was wir jedoch wissen, ist, dass Kennedy nicht gewillt war, bei der Schließung der Grenze einzugreifen. Eher war er erleichtert, dass auf diese Weise die Flüchtlingskrise ohne einen militärischen Konflikt beendet war. Kennedys Politik in Bezug auf die Geschehnisse in Berlin wird in jüngsten Untersuchungen sehr kritisch beurteilt, denn er verhielt sich allzu zaghaft und sandte den Sowjets etliche Signale, dass sie nach Belieben in Ost-Berlin und an der Grenze schalten und walten könnten, solange sie nicht den Alliierten in West-Berlin in die Quere kamen. Anders als seine Vorgänger beharrte Kennedy nicht auf den Rechten der Alliierten in allen Teilen Berlins. Im Sommer 1961 äußerte Kennedy vertraulich gegenüber seinen Beratern: "Man kann es Chruschtschow nicht zum Vorwurf machen, dass er aufgebracht ist" über den Flüchtlingsstrom aus Ostdeutschland. "Er wird etwas unternehmen müssen, um den Exodus zu stoppen. Möglicherweise durch eine Mauer. Wir werden es nicht verhindern können." In Kennedys Augen handelte es sich bei der Grenzschließung um einen defensiven Schritt, um die DDR zu retten, nicht um einen aggressiven Akt gegenüber dem Westen. So äußerte er seinem Freund Kenneth O'Donnell gegenüber: "Warum sollte Chruschtschow eine Mauer errichten wollen, wenn er tatsächlich vorhätte, sich West-Berlins zu bemächtigen? (...) Es ist zwar keine feine Lösung, aber eine Mauer ist immerhin verdammt besser als ein Krieg." Kennedy war der tiefen Überzeugung gewesen, dass die Verhinderung der Grenzschließung es nicht wert gewesen wäre, einen Krieg zu riskieren. Bei einer Fernsehansprache am 25. Juli, die als verspätete Erwiderung auf Chruschtschows Wiener Drohgebärden bezüglich West-Berlin gedacht war, fügte er Gedanken zum Krieg im Atomzeitalter an. "Dreimal in meinem bisherigen Leben waren mein Land und Europa in Kriege verwickelt, und jedes Mal wurden auf beiden Seiten schwerwiegende Fehleinschätzungen getroffen, die Zerstörungen zur Folge hatten. Jetzt aber könnte durch irgendeine erneute Fehleinschätzung (...) innerhalb weniger Stunden mehr Vernichtung auf uns niederkommen, als wir es je in unserer Geschichte erlebt haben." Chruschtschow nahm diese Botschaft zur Kenntnis. So sagte er zu seinen Genossen beim Treffen der Staaten des Warschauer Paktes Anfang August, der Westen habe sich "als weniger hart erwiesen als (...) angenommen (...). (D)ie bislang stärkste Einschüchterung, das ist die Rede Kennedys (vom 25. Juli)." Andererseits räumte er ein, "dass niemand die Garantie dafür geben kann, dass es keinen Krieg geben wird". Man solle besser "vom Schlimmsten ausgehen". Auch noch nach Schließung der Grenze beklagten sich Funktionäre wie Marschall Iwan S. Konew, Außenminister Gromyko und Verteidigungsminister Rodion J. Malinowski, dass die ostdeutsche Führung zu eilig und zu häufig auf Menschen schießen lasse, die versuchten, illegal die Grenze zu überqueren; außerdem verweigere man in unangemessenem Maße den westlichen Alliierten den Zugang zu Ost-Berlin. Beides, so fürchteten die Sowjets, könne "unerwünschte und gravierende Folgen haben". Tatsächlich schrieb Kennedy zwei Monate nach der Grenzschließung an Chruschtschow und äußerte seine Besorgnis darüber, dass Ulbricht noch mehr Macht über die Grenze zugestanden werden würde: "Dieses Gebiet würde (...) weniger friedlich werden, wenn die Wahrung der Interessen der Westmächte zum Spielball eines kapriziösen ostdeutschen Regimes würde. Einige der Ulbricht'schen Äußerungen zu dieser Frage stimmen nicht mit Ihren Zusicherungen, ja nicht einmal mit seinen eigenen überein, und ich glaube nicht, dass einer von uns beiden einen Dauerzustand von Zweifel, Spannung und lauernden Krisen herbeisehnt, der dann ein noch umfangreicheres Aufrüsten auf beiden Seiten nach sich ziehen würde." Seit dem Mauerfall 1989 ist immer wieder versucht worden, die Verantwortung der ostdeutschen Führung für die Mauer in Frage zu stellen. Egon Krenz, der letzte SED-Chef, gab beim Prozess um die Toten an der Grenze den Sowjets die Schuld an dem tödlichen Grenzregime. Er versicherte, dass die DDR-Führung keinerlei Kontrolle über die Grenze hatte, die seiner Ansicht nach weniger eine ostdeutsche Grenze als vielmehr eine "zwischen zwei Welten" im Kalten Krieg gewesen sei. Zu seiner Verteidigung erinnerte Krenz an die Worte Ronald Reagans, der 1987 vor dem Brandenburger Tor eben "nicht gerufen (hatte), 'Honecker oder Krenz, öffnen Sie die Mauer!' Er hat gesagt: 'Gorbatschow, öffnen Sie die Mauer!'" Doch selbst wenn der Befehl, die Grenze abzuriegeln, aus Moskau kam, wie Krenz versicherte und einige Wissenschaftler und hohe Militärs der DDR bestätigten, gibt es doch hinreichende Belege in den Archiven, dass nicht die gesamte Verantwortung der ostdeutschen Befehlshaber für den Mauerbau den Moskauer Machthabern zugewiesen werden kann. Da Ulbricht nicht genügend militärische Rückendeckung hatte, um die geschlossene Grenze allein abzusichern, und ihm klar wurde, dass er die Sowjetunion dafür brauchte, war er es selbst, der die Grenzschließung auf die Tagesordnung setzte und zäh dafür kämpfte. Immer wieder führte er Chruschtschow vor Augen, welche Probleme die offene Grenze verursache, und mehrere Male, wenn er befürchtete, Chruschtschow handle zu zögerlich, agierte er in eigener Regie. Die Ost-West-Krise über Berlin ging mit einer Krise in den Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR im Zusammenhang mit dem Vorgehen in Berlin einher. Die Sowjetunion widersetzte sich lange der Grenzschließung. "Die Mauer ist auf dringenden Wunsch Ulbrichts von mir angeordnet worden": Aus diesen Worten Chruschtschows geht hervor, dass die Politik und Persönlichkeit von Ulbricht von entscheidender Bedeutung bei der Errichtung der Berliner Mauer waren.

Der Zusammenbruch des SED-Regimes bereitete sich somit langfristig vor. Die mangelnde Legitimität des politischen Systems, die bereits von Anfang an ein Problem gewesen war, die wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten, die vor allem im Vergleich zur Bundesrepublik immer deutlicher hervortraten, und schließlich das Reformdefizit der DDR innerhalb des Ostblocks seit Gorbatschows Machtantritt 1985 waren die maßgeblichen Ursachen für die Krise, aus der es seit dem Frühjahr 1989 kaum noch einen Ausweg gab. Eine steigende Zahl von Ausreiseanträgen, aber auch die zunehmende Fluchtbewegung aus der DDR dokumentierten am Ende der achtziger Jahre den inneren Zustand eines Regimes, das seit 1945 primär von außen - durch die Sowjetunion - stabilisiert bzw. überhaupt erst am Leben erhalten worden war und sich nun in einer veränderten Umwelt plötzlich alleine behaupten sollte. Auch wenn nur wenige dies am Beginn des Wendejahres erkannten oder wahrhaben wollten: Die DDR stand kurz vor ihrem Kollaps.Als Walter Ulbricht (1893–1973) am 3. Mai 1971 offiziell den Rücktritt von seinem Amt als Erster Sekretär der SED erklärte, vollzog sich in der DDR nicht nur ein Macht-, sondern auch ein Generationswechsel, der unter seinem Nachfolger Erich Honecker zu einer gravierenden Änderung der bisherigen Wirtschafts- und Sozialpolitik führen sollte. Allerdings hatte sich Ulbrichts Ablösung keineswegs so glatt und reibungslos vollzogen, wie es die Propaganda vorgab. Vielmehr waren ihr mehrjährige Konflikte in der Parteispitze, insbesondere um die Wirtschafts- und Sozial-, aber auch um die Deutschlandpolitik vorausgegangen, die schließlich in den Jahren 1969 bis 1971 kulminierten (vgl. auch "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 258 zum Thema "Zeiten des Wandels. Deutschland 1961–1974"). Grund war vor allem das Scheitern der Wirtschaftsreformen in den sechziger Jahren gewesen (1963 Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft/NÖSPL, ab 1968 "Ökonomisches System des Sozialismus"/ÖSS), die Ulbricht energisch vorangetrieben hatte, ohne jedoch die erwünschte Effizienzsteigerung der sozialistischen Planwirtschaft zu erzielen. Auch seine Auffassung, trotz weiterbestehender fundamentaler Unterschiede in der Deutschlandpolitik zwischen Bonn und Ost-Berlin am deutsch-deutschen Dialog festzuhalten, obwohl die neue sozialliberale Ostpolitik die DDR in die Defensive zu drängen begann, wurde in der Parteispitze mehrheitlich abgelehnt. Und schließlich war die sowjetische Führung auch über den zunehmend selbstherrlichen Führungsstil Ulbrichts innerhalb des Ostblocks indigniert, sodass sie schließlich bei dessen Entmachtung entscheidend mitgewirkt und Erich Honecker (1912–1994), dem Anführer einer Gruppe von Gegnern Ulbrichts in der SED-Spitze, die Machtübernahme zugesichert hatte. Nach seiner Ablösung wurde der einst "starke Mann" der DDR systematisch aus allen Positionen und Funktionen herausgedrängt. Bereits Mitte der siebziger Jahre, nur kurze Zeit nach seinem Tod am 1. August 1973, schien es, als hätte es Walter Ulbricht in der DDR nie gegeben. Die weiterhin bestehenden und durchaus gravierenden Probleme der DDR, vor allem in Bezug auf die Wirtschaft und die Deutschlandpolitik, wurden jedoch durch den Wechsel an der Führungsspitze nicht gelöst. Vielmehr musste der zukünftigen Ausrichtung der Politik "nach Ulbricht" essenzielle, weil existenzielle Bedeutung für die Zukunft des SED-Staates zukommen. Obwohl selbst kein Wirtschaftsfachmann, sondern ein Spezialist für ideologische Erziehung, Kaderausbildung und innere Sicherheit, hielt Honecker die Verbesserung der Versorgungslage sowie die Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung für unerlässlich, insbesondere nach den Mangelerscheinungen und Engpässen der letzten Ulbricht-Jahre, die noch jüngst im harten Winter von 1970/71 beispielsweise in zeitweisen Stromabschaltungen kulminiert waren. Tatsächlich verknüpfte sich mit einer Steigerung sozialpolitischer Leistungen durchaus die Chance, sich weiterhin zumindest die Loyalität einer Bevölkerungsmehrheit sichern zu können. Wesentlich stärker als zuvor wurde daher das Konsumbedürfnis breiter Bevölkerungsschichten ernst genommen. Es fand ausdrückliche Berücksichtigung im Programm der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik", das Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 verkündete. Kernpunkt war die "weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität" (Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands – SED –, 15.–19. Juni 1971 in Berlin). Ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen wurde beschlossen und als "Kernstück" die Verbesserung der Wohnbedingungen durch ein umfassendes Bau-, Renovierungs- und Sanierungsprogramm vorgesehen. Weiterhin gehörten dazu: die Erhöhung der Mindestlöhne und Mindestrenten; die Arbeitszeitverkürzung für Frauen, besonders für solche mit Kindern, einschließlich verlängertem Mutterschaftsurlaub und Geburtenbeihilfe, um Berufstätigkeit und Mutterschaft besser zu vereinbaren; großzügige, zum Teil zinslose Kredite sowie bevorzugte Wohnungszuteilung bei Eheschließungen; die Verbesserung der medizinischen Versorgung und Betreuung sowie schließlich Ausbau und Ausweitung des Erholungswesens. Hinter diesen umfangreichen sozialpolitischen Maßnahmen verbargen sich indes auch bevölkerungspolitische Absichten. Seit 1965 war die Geburtenentwicklung in der DDR vor allem infolge der bis 1961 erfolgten massenhaften Abwanderung in die Bundesrepublik rückläufig und drohte das ohnehin knappe Arbeitskräftepotential weiter auszudünnen. Im Hinblick darauf sollte das weitgefächerte Sozialprogramm deshalb eine Wende herbeiführen. Doch mussten die darin enthaltenen Leistungen auch finanziert werden können. Und genau hierin lag die entscheidende Problematik. Denn das Konzept, durch Intensivierung des Arbeitseinsatzes und des Produktionsprozesses – "sozialistische Rationalisierung" genannt – den erhöhten Finanzbedarf abzudecken, war mit einem enormen Risiko behaftet. Bereits im Herbst 1971, nur ein halbes Jahr nach der Machtübernahme Honeckers, musste die Staatliche Plankommission feststellen, dass der geplante Warenexport in westliche, devisenbringende Länder aller Voraussicht nach um circa 390 Millionen Mark verfehlt werden würde, Importe in die DDR hingegen um 100 Millionen Valutamark, also in westlichen Devisen, über dem Plan lägen. Dies war ein erstes Alarmsignal, das allerdings kaum Beachtung fand. Stattdessen deckte man vorderhand das entstandene und zudem anwachsende Defizit durch Kredite aus westlichen Staaten ab. Dass Honecker mehr Ideologe als Wirtschaftsfachmann war, erwies sich auch ein Jahr nach seiner Machtübernahme im Frühjahr 1972, als die Verstaatlichung der in der DDR noch bestehenden rund 11.400 mittelständischen Betriebe durchgeführt wurde. Zwar besaßen diese, unter ihnen circa 6.500 halbstaatliche Betriebe, nur noch etwa 10 Prozent Anteil an der Gesamtproduktion, aber in der Textil- und Bekleidungsindustrie, mithin bei Erzeugnissen, die vor allem für die breite Bevölkerung wichtig waren, nahmen sie mit circa 30 Prozent der Produktion noch immer eine beachtliche Position ein. Das galt auch für Dienstleistungen. Das Ziel einer verbesserten Versorgung durch Unterstellung dieser Betriebe unter die staatliche Planung wurde indes nicht erreicht; denn fast durchweg kam es bei den häufig in kurzer Zeit verstaatlichten und in größere Volkseigene Betriebe (VEB) integrierten Betrieben zu Produktionsrückgängen sowie einem erheblichen Zuwachs an Bürokratie. Ebenfalls vornehmlich ideologisch motiviert waren neue Bestimmungen im Bildungs- und Schulbereich. "Richtiger" sozialer Herkunft und gesellschaftlichem Einsatz wurden nun wieder, vor allem beim Übergang in die Erweiterte Oberschule (EOS), als Voraussetzung für ein akademisches Studium stärkeres Gewicht beigemessen. Das bedeutete die erneute Bevorzugung von "Arbeiterkindern" und die Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern aus anderen, insbesondere "bürgerlichen" Schichten bzw. christlichen Familien oder solchen, die eine Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) abgelehnt hatten. Zudem wurde der Stellenwert einer umfassenden polytechnischen, zehnklassigen (Aus-)Bildung verstärkt. "Hervorragend ausgebildete Facharbeiter [...] und kluge Sozialisten mit den Eigenschaften revolutionärer Kämpfer" sollten aus ihr hervorgehen, wie es Margot Honecker, die Ehefrau des neuen Parteivorsitzenden, als Ministerin für Volksbildung in klassischem Propagandastil formulierte. In diesen ideo- logisch-pädagogischen Zielvorstellungen kam deutlich zum Ausdruck, was die SED wünschte: einen möglichst frühen, qualifizierten Arbeitseinsatz sowie den "ideologisch gefestigten Klassenstandpunkt" der nachwachsenden Generation. Die Frage indes, ob und inwieweit sich das mit den Vorstellungen, Wünschen und Zielen der Jugend in der DDR selbst deckte, wurde kaum gestellt. Honeckers wirtschafts- und sozialpolitischer Kurskorrektur folgten in der Tat zunächst die "goldenen Jahre" der DDR, zumindest in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Der Lebensstandard der Bevölkerung erhöhte sich spürbar und mit ihr auch die Akzeptanz des sozialistischen Systems. Dennoch blieb die DDR auch in den siebziger Jahren von unübersehbaren Widersprüchen geprägt. Eine zweifellos verbesserte Versorgung – wenngleich Warteschlangen nach wie vor zum Alltag gehörten – fand ihre Kehrseite in einer steil ansteigenden Verschuldung bei den westlichen Industriestaaten, über deren tatsächliches Ausmaß die Bevölkerung nicht die geringste Kenntnis besaß. Gleichwohl blieb der westdeutsche Konkurrenzstaat, trotz permanenter politisch-ideologischer Verteufelung durch die Propaganda, für die Bevölkerung sowie für die Staatsführung der DDR selbst die entscheidende Richtgröße. Denn nicht der Vergleich mit den übrigen sozialistischen "Bruderstaaten" bildete den Maßstab, zumal die DDR hinsichtlich industrieller Entwicklung und erreichtem Wohlstand hier ohnehin an der Spitze stand, sondern der Vergleich mit der Bundesrepublik, der im nun nicht mehr verbotenen "Westfernsehen" täglich gezogen werden konnte. Durch die neue Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition in Bonn wurde die SED zudem erstmals zunehmend in die Defensive gedrängt. Sie konnte nicht völlig ignorieren, dass einer breiten Mehrheit von DDR-Bürgern die nationale Frage noch keineswegs durch die "Klassenfrage" gelöst erschien. Tatsächlich war es gerade die hinhaltende Politik der SED in der Deutschlandfrage, die gegenüber den ost- und deutschlandpolitischen Initiativen der neuen Bundesregierung von der Mehrheit der DDR-Bevölkerung als hinderlich, kompromisslos und defensiv angesehen wurde. Doch gerade vor diesem innenpolitischen und psychologisch keineswegs unwirksamen Hintergrund im eigenen Staat selbst sah sich die SED gezwungen, die Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik stärker zu forcieren. Dieser Zielsetzung standen indes nicht nur die in Bewegung geratene internationale Lage vor allem auf dem Gebiet der Ost-West-Beziehungen entgegen, sondern auch die Interessen der sozialistischen Vormacht Sowjetunion. Das hatte der Versuch Ulbrichts, eine (DDR-)eigene Deutschlandpolitik zu betreiben, deutlich vor Augen geführt. Nachdem es Bonn drei Monate nach Kassel gelungen war, mit der UdSSR am 12. August 1970 einen Vertrag über gegenseitigen Gewaltverzicht abzuschließen, war damit der entscheidende Durchbruch erzielt worden. Im Dezember desselben Jahres folgte ein Vertrag mit Polen. Daraufhin sah sich die SED-Führung gezwungen, mit der Bundesregierung in bilaterale Verhandlungen einzutreten, wollte sie nicht Gefahr laufen, als "Bremserin" der Entspannungspolitik angesehen und isoliert zu werden. Somit hatte sich die Führung der DDR nicht nur der durch die neue Ost- und Deutschlandpolitik in Bewegung geratenen internationalen Lage anzupassen, sie musste auch essenzielle eigene Interessen denen der Sowjetunion unterordnen. Erschwerend kam hinzu, dass das vorrangige deutschlandpolitische Ziel der SED, die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik zu erhalten, von der sowjetischen Vormacht keineswegs in der Weise unterstützt wurde, wie man dies erwartet hatte. Vielmehr musste die DDR mit der Bundesregierung nun in intensive Verhandlungen treten, ohne dass sich Bonn der gewünschten Vorbedingung beugen musste, sie auch als völkerrechtlich souveränen Staat anzuerkennen. Nachdem schließlich die Westmächte und die Sowjetunion am 3. September 1971 das Berlin-Abkommen unterzeichnet und damit ihre gemeinsame und zugleich übergeordnete Verantwortung für Deutschland und Berlin bekräftigt hatten, konnte zwischen beiden deutschen Staaten als erste bilaterale Vereinbarung am 17. Dezember 1971 das "Transitabkommen" geschlossen werden, mit dem der Verkehr zwischen Berlin (West) und dem Bundesgebiet geregelt wurde. Im Mai 1972 folgte ein umfassendes Verkehrsabkommen zwischen beiden deutschen Staaten. Schließlich wurde im Dezember 1972 der "Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen" geschlossen, in dem sich beide Staaten dazu verpflichteten, "gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung" zu pflegen. Der Abschluss dieses Vertrages war allerdings nur möglich geworden, weil sich Bonn und Ost-Berlin zu weitreichenden Kompromissen durchgerungen hatten. So erkannte die Bundesregierung zwar die staatliche Existenz der DDR an, versagte ihr aber jedwede völkerrechtliche Anerkennung, da sie an der Auffassung festhielt, dass die beiden deutschen Staaten füreinander kein Ausland darstellen könnten, wie dies bei allen anderen nichtdeutschen Staaten der Fall sei. Diese Haltung, zusammen mit dem Ziel, die Wiederherstellung der Einheit auf friedlichem Wege zu erreichen, brachte sie im "Brief zur deutschen Einheit" zum Ausdruck, der dem "Grundlagenvertrag" beigegeben wurde. Die DDR wiederum hatte durch diesen deutsch-deutschen Vertrag die internationale Anerkennung erhalten; bis Ende der siebziger Jahre nahmen fast alle Staaten der Welt offizielle diplomatische Beziehungen mit ihr auf. Zudem wurden beide deutsche Staaten am 18. September 1973 in die UNO aufgenommen. Insgesamt schuf der "Grundlagenvertrag" die Basis dafür, dass trotz nach wie vor bestehender Teilung menschliche Erleichterungen ermöglicht wurden und der Besuchsverkehr zwischen beiden deutschen Staaten ausgebaut werden konnte. Die jetzt durch internationale sowie bilaterale Verträge erreichte Öffnung der DDR war allerdings für den SED-Staat selbst keineswegs unproblematisch. Vielmehr musste die Führung in Ost-Berlin nicht zu Unrecht eine beträchtliche, existenzielle Gefährdung gerade in dem Umstand erblicken, dass mit dieser Öffnung unweigerlich politische, ideologische und kulturelle Sickereinflüsse des "Klassenfeindes" verbunden waren. Zwar war letztlich die durch die "Ostpolitik" erzwungene Öffnung auf Seiten der DDR marginal, weil, abgesehen von Rentnerinnen und Rentnern, bis zum Jahr 1980 nur 42.000 jüngere Menschen aus der DDR die Erlaubnis erhielten, in die Bundesrepublik zu reisen. Aber bereits Ende 1973 hatten nahezu vier Millionen Bürgerinnen und Bürger aus der Bundesrepublik einschließlich West-Berlin die DDR besucht.

Innenpolitische Probleme ergaben sich für die DDR vor allem aus den Folgewirkungen der Fülle von Vereinbarungen, die in den Jahren 1971 bis 1973 zwischen den beiden deutschen Staaten geschlossen wurden. So willkommen die internationale Anerkennung war, die sich damit für die DDR verband - innerhalb eines Jahres nach Abschluss des Grundlagenvertrages nahmen 68 Länder diplomatische Beziehungen mit Ostberlin auf, außerdem wurden beide deutschen Staaten Mitglieder der UNO -, so problematisch erschienen aus der Sicht der DDR-Führung deren innenpolitische Konsequenzen: Während beispielsweise 1970 nur etwa zwei Millionen Menschen aus der Bundesrepublik und Westberlin die DDR und Ostberlin besucht hatten, stieg diese Zahl bereits 1973 auf über acht Millionen an. Und die Zahl der Telefongespräche zwischen Ost und West, die 1970 lediglich 700.000 betragen hatte, explodierte bis 1980 förmlich auf über 23 Millionen jährlich. Angesichts der Tatsache, dass die DDR bereits durch die westlichen Medien - vor allem durch das westdeutsche Fernsehen, das abgesehen vom Raum Dresden und dem nordöstlichen Teil von Mecklenburg-Vorpommern überall in der DDR empfangen werden konnte - starker Beeinflussung ausgesetzt war, wuchs daher die Sorge der DDR-Führung, dass die Zunahme der persönlichen Kontakte sich negativ auf den inneren Zusammenhalt der DDR auswirken könnte. "Abgrenzung" zwischen den beiden deutschen Staaten hieß daher die Devise, mit der das SED-Regime der neuen Herausforderung zu begegnen suchte. Schon am 13. September 1970, kurz nach den ersten zwei Begegnungen zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph in Kassel und Erfurt, erklärte in diesem Zusammenhang das für die Außenpolitik zuständige Mitglied des SED-Politbüros, Hermann Axen, die DDR habe "die Pflicht, sich weiterhin in allen Bereichen von der imperialistischen Bundesrepublik abzugrenzen". Wenige Tage später, am 6. Oktober, wies Stoph selbst die "Fiktion der so genannten Einheit der Nation" zurück und behauptete, "angesichts des Gegensatzes der Systeme, des Staates und der Gesellschaft" sei "ein objektiver Prozess der Abgrenzung, nicht dagegen der Annäherung, unausweichlich". Schlüsselgruppen, wie etwa Partei- und Staatsfunktionären sowie Wehrpflichtigen, war es künftig untersagt, Kontakte zu Ausländern, zu denen auch die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik gerechnet wurden, zu unterhalten. In einem "Besucherbuch" waren die Namen derjenigen zu notieren, die nicht aus der DDR stammten und DDR-Bürger in ihren Wohnungen aufsuchten. Auf einem Parteitag der SED 1971 vertrat Honecker zudem die Auffassung, dass sich in Deutschland zwei getrennte Nationen entwickelten: die "sozialistische Nation" in der DDR und die "kapitalistische Nation" in der Bundesrepublik. Historiker und Parteiideologen wurden beauftragt, den Standpunkt der Bonner Regierung, wonach die deutsche Nation aufgrund der gemeinsamen Geschichte und des weiter vorhandenen Zusammengehörigkeitsgefühls fortbestehe, zurückzuweisen. Daher war es auch kein Zufall, dass das SED-Politbüro einen Tag vor der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages als des wichtigsten innerdeutschen Vertragswerks der Nachkriegsära am 8. November 1972 neue Prinzipien für Agitation und Propaganda beschloss. Knapp zehn Tage später fand zudem eine "Agitationskonferenz" statt, auf der das Politbüromitglied Werner Lambertz erklärte, dass es "an der ideologischen Front keinen Waffenstillstand, sondern verschärften Kampf" gebe und dass "friedliche Koexistenz nicht ideologische Ko- existenz" bedeute. Schließlich unternahm die DDR-Führung auch Schritte, um die Verwendung des offensichtlich als problematisch empfundenen Wortes "deutsch" einzuschränken. So wurde die DDR in ihrer neuen Verfassung aus dem Jahre 1974 nur mehr als "sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern" und nicht mehr, wie in der Verfassung von 1968, als "sozialistischer Staat deutscher Nation" bezeichnet. Der von dem Schriftsteller Johannes R. Becher 1943 geschriebene Text der späteren DDR-Nationalhymne "Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland" durfte nicht mehr gesungen werden. Die bedenklichste Form der Abgrenzung vollzog sich jedoch auf dem Gebiet des Staatssicherheitsapparates, der seit der neuen Ostpolitik immer weiter ausgebaut wurde und sich bald zu einem Instrument der flächendeckenden Kontrolle der DDR-Bevölkerung entwickelte. Der Etat des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der 1968 eine Summe von 5,8 Milliarden DDR-Mark aufgewiesen hatte, wuchs bis 1989 um etwa 400 Prozent auf 22,4 Milliarden. Die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter, die beim Amtsantritt Erich Mielkes 1957 erst 17.400 betragen hatte, stieg bis 1989 auf 91.000. Noch bemerkenswerter ist, dass sich deren Zahl allein in den Jahren der Entspannung von 1972 bis 1989 verdoppelte, wobei die größten Zuwachsraten in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu verzeichnen waren. Nicht eingerechnet sind dabei die zuletzt 173.000 "Inoffiziellen Mitarbeiter", die ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zur Bespitzelung der DDR-Bevölkerung leisteten. Alle Anstrengungen der Staatssicherheit (Stasi) konnten indessen nicht verhindern, dass die Bürgerinnen und Bürger der DDR das Klima der Entspannung zum Anlass nahmen, auch im eigenen Lande eine Lockerung der strengen Zensur und Überwachung zu fordern. In den ersten zwei Jahrzehnten der DDR, von 1949 bis in die frühen siebziger Jahre, hatte es für Schriftsteller, Künstler und Oppositionsgruppen kaum Entfaltungsmöglichkeiten gegeben. Mochten auch der Philosoph und Journalist Wolfgang Harich in den fünfziger Jahren und so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie Stefan Heym, Stephan Hermlin und Christa Wolf in den sechziger Jahren gelegentlich gegen die DDR-Kulturpolitik protestieren, so boten sich doch wenig Möglichkeiten der Veränderung. Staatliche Repressionen unterschiedlichen Grades gegen Kritiker wie Wolf Biermann, Stefan Heym und den zeitweise unter Hausarrest gestellten Professor Robert Havemann trugen zusätzlich dazu bei, das Ausmaß kontroverser öffentlicherDiskussionen einzudämmen. Nach Beginn der Entspannungspolitik gestand SED-Parteichef Erich Honecker zwar im Mai 1973 den Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern "ein weites Feld für künstlerische Kreativität" zu. Doch die Grenzen der Autonomie wurden erneut sichtbar, als Wolf Biermann 1976 nach einer Konzerttournee in der Bundesrepublik nicht wieder in die DDR zurückkehren durfte, sondern ausgewiesen wurde. Freunde und Bekannte, die gegen diese Maßnahme der DDR-Führung protestierten, wurden ebenfalls verfolgt. Gleiches galt für zahlreiche andere prominente DDR-Schriftsteller, Musiker und Künstler, die entweder ausgebürgert wurden oder langfristige Ausreisegenehmigungen erhielten. Der Exodus prominenter DDR-Intellektueller bedeutete nicht nur einen großen geistigen Verlust für die DDR, sondern war auch ein bezeichnender Ausdruck für die Problematik der DDR-Kulturpolitik, die sich angesichts der Entspannungsfolgen nicht anders zu helfen wusste, als unliebsame Geister abzuschieben, um die Stabilität des Regimes zu sichern. Unruhe und Opposition gab es in den siebziger Jahren in der DDR aber auch in anderen Bereichen. So begannen Pastoren damit, sich gegen die Diskriminierung ihrer Kirchen aufzulehnen und jungen Menschen unter dem Dach der Gotteshäuser ein Forum zu bieten. Von den Kirchen veranstaltete Diskussionen über Sexualität, Alkoholismus, Rock-Musik, das Leben in der DDR und sogar über die Militarisierung der Gesellschaft waren nun keine Seltenheit mehr. Sie führten dazu, dass die Gottesdienste oft überfüllt waren und dass sich vor allem die evangelischen Kirchen zu einem Sammelbecken der Opposition entwickelten. Die Selbstverbrennungen der Pastoren Oskar Brüsewitz aus Zeitz 1976, Rolf Günther aus Falkenstein und Gerhard Fischer aus Schwanewitz 1978 trugen zusätzlich dazu bei, dass viele das bisherige Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR sowie die Rolle der Kirchen als Teil der Oppositionsbewegung überdachten. Mit der Ruhe, die zwei Jahrzehnte lang geherrscht hatte, war es nun vorbei. Daran änderte auch der am 6. März 1978 auf einem Treffen zwischen Honecker und den Kirchenführern der DDR unter Bischof Albrecht Schönherr geschlossene informelle Pakt nichts, welcher der Kirche bescheinigte, "eine autonome Organisation von sozialer Bedeutung" zu sein. Die Beruhigung, die sich die SED-Führung von diesem Treffen erhofft hatte, trat jedenfalls nicht ein. Die Kirchen blieben vielmehr ein wichtiger Angelpunkt der Opposition in der DDR. Beispiele dafür waren die 1979/80 öffentlich geübte Kritik am Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan und im Januar 1982 die Übersendung des von mehreren hundert Ostdeutschen unterzeichneten so genannten Berliner Appells an Honecker durch den Ostberliner Pastor Rainer Eppelmann, in dem die Militarisierung der Kindererziehung in der DDR angeprangert wurde. Etwa zur selben Zeit gewann die Friedensbewegung, die in Westeuropa bereits seit 1980 sehr aktiv war, auch in der DDR an Bedeutung. Zehntausende von zumeist jungen Ostdeutschen nahmen unter dem Slogan "Schwerter zu Pflugscharen" an einer Vielzahl von Veranstaltungen teil, ehe die SED-Führung nach dem Scheitern der Kampagne gegen die NATO-Nachrüstung 1983 offen gegen die Friedensbewegung in der DDR vorging und Ausweisungen sowie Verhaftungen vornehmen ließ. Aber mit der Ausweisung einzelner Oppositioneller war es jetzt nicht mehr getan. Anfang 1984 beschloss die DDR-Regierung daher, 31.000 Bürgerinnen und Bürgern die Ausreise zu erlauben. Verglichen mit den 7729 Personen, die 1983 die DDR verlassen hatten, war dies eine bemerkenswerte Steigerung. Dass sich die Stimmungslage in der DDR grundsätzlich zu ändern begann, zeigte sich auch, als es im Juli 1984 zur ersten "Botschaftsbesetzung" kam, bei der 50 Ostdeutsche in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin Zuflucht suchten, um die Genehmigung zur Ausreise aus der DDR zu erhalten. Nachdem die ökonomischen Rahmenbedingungen aufgrund der Ölkrisen von 1973 und 1979 ungünstiger geworden waren und die DDR im direkten, auch optisch sichtbaren Vergleich mit der Bundesrepublik entgegen der staatlichen Propaganda immer schlechter abschnitt, schien die Unzufriedenheit der Menschen mit den Verhältnissen in der DDR zuzunehmen. Die Zuversicht, die zu Beginn der Honecker-Ära 1971 noch geherrscht hatte, war verflogen. Eine Besserung war nicht in Sicht. Die Frustration der ostdeutschen Bevölkerung über den Mangel an Reformen in der DDR wurde noch verstärkt durch Beispiele des Wandels in Polen, Ungarn und der Sowjetunion. Obwohl die meisten DDR-Bürger anfänglich ihren relativen wirtschaftlichen Wohlstand dem vermeintlichen polnischen Chaos, der ungarischen Schaukelpolitik und der sowjetischen Unbeweglichkeit vorzogen, wäre es verfehlt anzunehmen, dass diese Reformbewegungen nur einen marginalen Einfluss auf die innere Entwicklung der DDR gehabt hätten. Im Gegenteil, die Weigerung der SED-Führung, ähnliche Reformen einzuleiten, trug erheblich dazu bei, dass viele Ostdeutsche die Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse aufgaben und entweder resigniert Fluchtpläne schmiedeten oder nach Alternativen innerhalb der eigenen Grenzen Ausschau hielten. Die ostdeutsche Revolution des Jahres 1989 bereitete sich somit längerfristig vor. Im Sommer 1980 eskalierten Arbeiterunruhen auf den Werften von Danzig und Gdingen und brachten die unabhängige Gewerkschaftsbewegung "Solidarność" (Solidarität) hervor, aus der heraus im September 1980 der gleichnamige unabhängige Gewerkschaftsverband gegründet wurde. Diese Entwicklungen bedeuteten eine Herausforderung der etablierten kommunistischen Parteiherrschaft, die auch die innere Stabilität der DDR bedrohte. Diese war eine Vorbedingung der traditionellen Entspannungspolitik seit den siebziger Jahren gewesen. Streiks und Arbeiterproteste waren in der DDR zwar nicht in gleicher Weise wahrscheinlich, aber auch nicht - wie die Erinnerung an den 17. Juni 1953 zeigte - unmöglich, zumal die DDR gerade begann, sich westlichen Ideen und Einflüssen zu öffnen. Manche SED-Funktionäre fragten sich daher, ob die innere Ruhe, die trotz der Anzeichen einer gewissen Opposition bisher hatte gewahrt werden können, auch weiterhin aufrechtzuerhalten sei. Die Regierung in Ostberlin entschied sich deshalb am 30. Oktober 1980 zu einer ersten Vorsichtsmaßnahme, indem sie den visafreien Verkehr zwischen der DDR und Polen aufhob und für den Reiseverkehr zwischen den beiden Staaten strenge Auflagen erließ. Die Abschirmung gegenüber dem Westen wurde nun ergänzt durch Abgrenzung gegenüber dem Osten. Der Prozess der Selbstisolierung der DDR begann. Die Maßnahmen der Staatssicherheit wurden auf Drängen Erich Mielkes, des DDR-Ministers für Staatssicherheit, nochmals drastisch verschärft, um, wie er mit Blick auf Polen erklärte, die "inhumanen und antisozialistischen Pläne und Machenschaften der Kräfte der Konterrevolution" zu bekämpfen, die von "imperialistischen Kräften im Westen" geschürt würden. Tatsächlich waren die Auswirkungen der polnischen Ereignisse auf die DDR geringer als erwartet. Bis zum Sommer 1981 hatten sich die Ostdeutschen als unempfänglich für die polnischen Entwicklungen erwiesen. Es gab sogar Anzeichen für Ressentiments gegenüber den Polen, wobei alte Vorurteile - auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze - neu aufbrachen, so dass die Abgrenzungsmaßnahmen des SED-Regimes von der Bevölkerung der DDR zumindest partiell begrüßt wurden. Aber die Erleichterung der SED-Führung, die noch zunahm, als mit der Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981 auch jede Tätigkeit der Gewerkschaft "Solidarität" untersagt wurde, war nur von kurzer Dauer. Denn General Wojciech Jaruzelski, der das Kriegsrecht verhängt hatte, erwies sich als weit weniger konsequent im Sinne der kommunistischen Orthodoxie, als man in Ostberlin gehofft hatte. Nach der Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1983 ließ Jaruzelski den Polen - einschließlich der Solidarität-Bewegung - ohne viel Aufhebens ein Maß an Freiheit und politischem Pluralismus, das in anderen kommunistischen Ländern noch unbekannt war. Ein Jahr später war das Übergreifen der polnischen Reformen auf andere Länder des Ostblocks nicht mehr zu übersehen und wurde auch von der DDR-Führung wahrgenommen. So kam es in Ungarn bereits zwischen 1982 und 1984 zu einer intensiven Diskussion über die wirtschaftliche und politische Zukunft des Landes, nachdem der seit 1956 vom langjährigen Chef der Kommunistischen Partei in Ungarn, János Kádár, praktizierte "ungarische Weg" - das heißt die Strategie, ökonomische Reformen von politischer Liberalisierung zu trennen - sich als ungeeignet erwiesen hatte, den erhofften Fortschritt herbeizuführen. Obwohl diese Debatte - anders als in Polen - nicht von Streiks und sozialen Unruhen ausgelöst worden war, wurde Kádár dadurch schließlich doch gezwungen, Maßnahmen zur Verstärkung der unternehmerischen Freiheit, dem Prinzip der persönlichen Verantwortung für ökonomische Leistung und einer Liberalisierung des Wahlgesetzes zuzustimmen. Unterstützung für das Streben Ungarns nach mehr Eigenständigkeit kam überraschenderweise zunächst aus der DDR, wo Honecker sich bemühte, den Schaden zu begrenzen, der für die DDR aus der seit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan zu beobachtenden Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen entstanden war. Da die DDR aus wirtschaftlichen Gründen auf die in der Ära der Entspannung geknüpften Kontakte nicht mehr verzichten konnte, war sie wie Ungarn auf weitere Kooperation mit dem Westen angewiesen. Die Situation war nicht ohne Ironie: Honecker verbündete sich mit Ungarn zu einer Zeit, als man in Budapest soeben daran ging, einen Kurs innerer Reformen und der Öffnung nach außen einzuschlagen, der später wesentlich dazu beitrug, das Regime der SED zu stürzen. Dabei behielt Honeckers politische Formel, die er seit den siebziger Jahren stets vertreten hatte, jedoch weiterhin Gültigkeit: Ausbau der Westkontakte bei gleichzeitigem Bemühen, das Eindringen demokratischer Ideen in die DDR zu verhindern. Auch als Michail Gorbatschow im Frühjahr 1985 zum neuen Generalsekretär der KPdSU ernannt wurde, blieb Honecker bei dieser Unterscheidung: Im selben Maße, in dem er Gorbatschows Anstrengungen zur Erneuerung der Ost-West-Entspannung befürwortete, wies er zugleich dessen Forderung nach größerer Offenheit sowie ökonomischen und politischen Umstrukturierungen im Innern zurück. Bis zu diesem Zeitpunkt war die UdSSR trotz gelegentlicher Veränderungen in der Taktik und Akzentuierung der sowjetischen Politik unter Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Andropow und Tschernenko stets eine Bastion leninistischer Einparteiherrschaft und einer staatlich gelenkten Planwirtschaft geblieben. Für die DDR bedeutete dies Existenzsicherung und Stabilität. Die konservative Kremlführung, revolutionärem Wandel und demokratischem Aufruhr zutiefst abgeneigt, sicherte durch die bloße Anwesenheit sowjetischer Truppen, aber auch durch psychologischen Druck und militärische Macht den Einfluss der SED als bestimmende Kraft in Ostdeutschland. Tatsächlich bestand vierzig Jahre lang eine stille Übereinstimmung zwischen den Regierungen in Moskau und Ostberlin, dass die sowjetische Präsenz ein grundlegendes Element der inneren Stabilität der DDR darstellte. Die 380.000 in der DDR stationierten sowjetischen Soldaten dienten mindestens ebenso dem Zweck, die SED an der Macht zu halten, wie dazu, die äußere Sicherheit der DDR zu garantieren. Solange das sowjetische Verhalten an der disziplinierenden Funktion der Präsenz der Roten Armee keinen Zweifel ließ - was stets die Bereitschaft zur Gewaltanwendung und Niederschlagung oppositioneller Bewegungen einschloss -, waren weder die Stabilität der DDR noch der Zusammenhalt des sowjetischen Imperiums in Osteuropa ernstlich in Gefahr. Alles dies änderte sich - wenn auch nicht über Nacht - mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows am 10. März 1985. Der neue Generalsekretär der KPdSU besaß zwar über die Eckpfeiler seiner Politik Glasnost und Perestroika hinaus noch kein endgültiges Gesamtkonzept für Reformen, so dass seine Politik oft widersprüchlich und wenig homogen wirkte. Aber die Stoßrichtung seiner grundsätzlichen Abkehr vom Stil und von den Denkweisen seiner Vorgänger war nicht zu übersehen. Dabei ging es im Kern nicht um die Beseitigung, sondern um die Stärkung des Sozialismus. Wie Gorbatschow und seine Mitstreiter erkannt hatten, war das sowjetische System in seiner bisherigen Form zwar durchaus geeignet gewesen, der Industrialisierung im rückständigen Russland und den angrenzenden Gebieten zum Durchbruch zu verhelfen und Massengüter zu produzieren. An der Schwelle zu einer modernen Kommunikationsgesellschaft waren jedoch neue Anforderungen entstanden, denen das bürokratisch verkrustete sowjetische System kaum gewachsen war. Die neue Welt basierte auf Computern, auf der weitgehenden Vernetzung aller relevanten Informationsträger sowie auf Kreativität und Verantwortungsbereitschaft und -fähigkeit aller Ebenen - das heißt auf einer Struktur, die in einer abgeschotteten Gesellschaft undenkbar war. Die Verwirklichung von Glasnost im Sinne einer Öffnung der sowjetischen Gesellschaft war daher ein primäres Anliegen der Gorbatschowschen Politik. Durch größere Offenheit und Transparenz sollte die UdSSR auf die Ansprüche und Bedürfnisse der modernen Kommunikationsgesellschaft vorbereitet werden. Dies war allerdings nur möglich, wenn zugleich eine grundlegende Umgestaltung des politischen, ökonomischen und sozialen Systems der Sowjetunion (Perestroika) erfolgte, bei der vor allem der wirtschaftliche Bereich durch eine Neustrukturierung und personalpolitische Wechsel auf vielen Ebenen reformiert und flexibilisiert wurde. Denn das sowjetische System war in seinen Fundamenten von der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei geprägt, die ihre diktatorischen Einflüsse in alle Bereiche ausgedehnt hatte und nicht nur die Politik und das Militär, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft bestimmte. Aus dieser Tatsache resultierte eine Inflexibilität, die den Anforderungen der modernen Zeit nicht mehr entsprach. Perestroika sollte deshalb die Möglichkeit eröffnen, der diktatorischen Einengung zu entkommen und eine Differenzierung und Regionalisierung der Entscheidungen und Handlungsabläufe zu ermöglichen. Zugleich sollte mit dieser Abwendung von der bisherigen Parteidiktatur die Kooperation des Westens zurückgewonnen werden, die unter Staatschef Breschnew und seinen Nachfolgern Andropow und Tschernenko verloren gegangen war. Ein "neues Denken" war angesagt, das eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft im Blick hatte. Entscheidend für die DDR war indessen die Tatsache, dass eine solche Politik der Reformen, die Gorbatschow selbst vieldeutig und prophetisch als "zweite Revolution" bezeichnete, aus zwei Gründen in höchstem Maße bedrohlich war: Zum einen gefährdeten innere Reformen, die auf eine Schwächung der repressiven Macht des Partei- und Staatsapparates hinausliefen, den inneren Zusammenhalt der DDR, die sich noch nie auf politische Legitimität durch freie Wahlen hatte stützen können. Zum anderen war spätestens seit 1987 absehbar, dass die Umsetzung dieser Politik auf außenpolitischer Ebene zu einer Revision der "Breschnew-Doktrin" führen würde. Diese war nach dem Einmarsch von Truppen aus fünf Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei zur Beendigung des "Prager Frühlings" im August 1968 von sowjetischen Parteiideologen entwickelt und danach von Generalsekretär Breschnew zur nachträglichen Rechtfertigung der Intervention verkündet worden. Die Doktrin erhob mit der Begründung einer "begrenzten Souveränität sozialistischer Länder" und einem "beschränkten Selbstbestimmungsrecht" einen militärischen Interventionsanspruch für die Sowjetunion, falls die kommunistische Herrschaftsordnung in einem Land ihres Machtbereichs bedroht schien. Gorbatschow glaubte offenbar nicht, dass die Aufhebung der Breschnew-Doktrin und damit die Rücknahme der sowjetischen Bestandsgarantie für die sozialistischen Systeme in den osteuropäischen Ländern zu schwerwiegenden Konsequenzen führen werde. Er hielt die These von der "beschränkten Souveränität" und dem "beschränkten Selbstbestimmungsrecht" sozialistischer Staaten für ein entbehrliches Instrument aus der Vergangenheit. Auch im Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern, so meinte Gorbatschow, seien Reformen - vor allem aus wirtschaftlichen Gründen - dringend notwendig. Die damit verbundene Neugestaltung des Verhältnisses der sozialistischen Länder unterei- nander werde sogar zu einem weiteren Aufschwung des Sozialismus beitragen. In den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit blieben die Konturen von Gorbatschows Politik gegenüber Osteuropa allerdings noch vage und widersprüchlich. Bekenntnisse zu größerer nationaler Eigenständigkeit wechselten mit Forderungen nach Aufrechterhaltung der Einheit, wobei der Akzent zumeist auf der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Integration als Mittel zur Stärkung der "sozialistischen Gemeinschaft" lag. Doch am 10. April 1987 deutete sich erstmals in der Öffentlichkeit eine Positionsveränderung an, als Gorbatschow in einer Rede in Prag erklärte: "Wir sind weit davon entfernt, von jedem zu erwarten, uns zu kopieren. Jedes sozialistische Land hat seine spezielle Gestalt, und jede Bruderpartei entscheidet vor dem Hintergrund der jeweiligen nationalen Bedingungen selbst über ihre politische Linie [...]. Niemand hat das Recht, einen Sonderstatus in der sozialistischen Welt für sich zu beanspruchen. Die Unabhängigkeit jeder Partei, ihre Verantwortung für ihrVolk und das Recht, die Probleme der Entwicklung ihres Landes auf souveräne Weise zu lösen - das sind für uns unumstößliche Prinzipien." Eine ähnliche Auffassung vertrat Gorbatschow auch bei anderen Gelegenheiten in den folgenden Jahren noch mehrfach. So bemerkte er etwa in einer Rede vor dem Europarat in Straßburg am 7. Juli 1989 unter direkter Bezugnahme auf die Breschnew-Doktrin, "jede Einmischung in innere Angelegenheiten, alle Versuche, die Souveränität von Staaten - sowohl von Freunden und Verbündeten als auch von jedem sonst - zu beeinträchtigen", seien "unzulässig". Die "Philosophie des gemeinsamen europäischen Hauses" schließe die Möglichkeit eines bewaffneten Zusammenstoßes und "die Anwendung von Gewalt, vor allem militärischer Gewalt, zwischen den Bündnissen, innerhalb der Bündnisse oder wo auch immer" aus. Im Oktober 1989 schließlich verkündete der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gennadi Gerassimow, am Rande eines Besuches von Gorbatschow in Finnland gut gelaunt, die Breschnew-Doktrin werde durch die "Sinatra-Doktrin" ersetzt. Er spielte damit auf den amerikanischen Sänger Frank Sinatra an, der sich mit seinem in aller Welt populären Song "My Way" auf sehr persönliche Weise zu einem "eigenen Weg" - also zur Selbstbestimmung - bekannte. Der Hinweis auf dieses Lied war mithin eine indirekte Aufforderung an die Länder im bisherigen sowjetischen Machtbereich, nunmehr ohne Furcht vor sowjetischer Intervention eigene politische, wirtschaftliche und soziale Reformen einzuleiten.Bei der DDR-Spitze riefen diese Entwicklungen große Besorgnis hervor. Zwar war die Regierung in Ostberlin mehr als ein Jahrzehnt lang in der Lage gewesen, durch ihre Politik der Abgrenzung die Kontakte der DDR-Bürgerinnen und -Bürger mit dem Westen zu begrenzen und die destabilisierenden Folgen der Entspannung durch eine Mischung aus sozialer Bedürfnisbefriedigung und Kontrolle abzufangen, so dass Beobachter schon dazu verleitet wurden, die innere Stabilität und den relativen Erfolg der DDR viel zu hoch zu veranschlagen. Aber nachdem die Sowjetunion, die für die Rückendeckung des SED-Regimes in jeder Hinsicht unverzichtbar war, nun selbst eine "Revolution von oben" forderte und andere Ostblockstaaten wie Polen, Ungarn und selbst die Tschechoslowakei bereits Auflösungserscheinungen zeigten, wurde die Lage für die DDR kritisch. Natürlich sah sich die DDR-Führung durch diese "reformistische Einkreisung" bedroht. Aber sie reagierte darauf nicht mit eigenen Reformen, sondern mit Selbstisolierung: Das SED-Regime wurde zu einer Insel der Orthodoxie in einem Meer politischer, ökonomischer und ideologischer Strukturveränderungen. Honecker bestand sogar ausdrücklich darauf, dass die DDR nicht gezwungen werden dürfe, dem sowjetischen Modell zu folgen, sondern dass es ihr erlaubt sein müsse, einen Sozialismus "in den Farben der DDR" zu entwickeln. Kurt Hager, Mitglied des Politbüros der SED und Chefideologe der Partei, stellte in diesem Zusammenhang in einem Interview mit der Zeitschrift "Der Stern" vom 9. April 1987 die vielzitierte rhetorische Frage, ob man sich denn verpflichtet fühlen müsse, seinem Nachbarn zu folgen, wenn dieser beschließe, in seinem Haus die Wände neu zu tapezieren. Die DDR-Führung jedenfalls - so ließ sich den Äußerungen Honeckers und Hagers entnehmen - verspürte keineVerpflichtung zu inneren Reformen. Im Gegenteil, man hielt sie für höchst überflüssig und schädlich, ja gefährlich. Aus der begrenzten Sicht einer kommunistischen Kaderpartei war diese Einschätzung sogar zutreffend. Denn vor allem die improvisierten Bemühungen Gorbatschows, Glasnost und Perestroika in die Tat umzusetzen, ermutigten Reformer in anderen Ländern Osteuropas, weiter voranzuschreiten, zumal man ein militärisches Eingreifen der Sowjetunion immer weniger befürchten musste. Im April und Mai 1988 kam es deshalb in Polen zu neuen Streiks der Stahl- und Werftarbeiter, die sich zunächst zu einer Kraftprobe zwischen der offiziell immer noch verbotenen Gewerkschaft "Solidarität" und dem Regime von General Jaruzelski entwickelten, dann aber im Februar 1989 - ganz auf der Linie Gorbatschows - zu Gesprächen zwischen Innenminister Ceslaw Kiszczak, Vertretern des offiziellen Gewerkschaftsbundes und dem Führer der "Solidarität", Lech Walesa, führten, um die Situation zu entschärfen. Um schon von der Atmosphäre her keine Frontenbildung aufkommen zu lassen, wurden die Verhandlungen an einem "Runden Tisch" geführt, der bald symbolische Bedeutung erlangen sollte. Wichtigste Ergebnisse waren im April 1989 eine Verfassungsreform und die Wiederzulassung der "Solidarität" sowie im Juni 1989 die ersten Parlamentswahlen in Polen nach dem Kriege mit teilweise freier Kandidatenaufstellung. In Ungarn wurde Ministerpräsident Károly Grósz am 22. Mai 1988 als Verfechter weitreichender politischer und wirtschaftlicher Reformen zum neuen Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei ernannt, während der langjährige Partei- und Staatschef János Kádár zunächst auf das neu geschaffene Amt eines Ehrenpräsidenten abgeschoben wurde, ehe man ihn im Mai 1989 aller Ämter enthob. Zugleich wurde - auch dies ein Affront für alle überzeugten Kommunisten - Imre Nagy, der 1958 in einem Geheimprozess zum Tode verurteilte und hingerichtete Führer des ungarischen Volksaufstandes von 1956, rehabilitiert und feierlich neu bestattet. In der Tschechoslowakei war die Auflösung noch nicht so weit fortgeschritten wie in Polen und Ungarn. Aber auch hier wurde Staats- und Parteichef Gustav Husák im Dezember 1987 durch den jüngeren und flexibleren Miló? Jaké? ersetzt. Selbst wenn dies noch keine unmittelbare Liberalisierung des Regimes bedeutete, bewirkte der wachsende Ruf nach Demokratie und Freiheit auch hier eine Beschleunigung des Reformprozesses. 1987/88 war es daher schon fraglich geworden, wie lange sich das SED-Regime noch gegen die Öffnungs- und Liberalisierungstendenzen, die auch im eigenen Lande immer deutlicher wurden, würde abschirmen können. Immerhin verriet die DDR-Regierung ihre wachsende Nervosität, als sie im November 1988 fünf sowjetische Filme und den Vertrieb der sowjetischen Zeitschrift "Sputnik" in der DDR verbot, die von vielen reformorientierten Ostdeutschen als Ausdruck sowjetischer Offenheit gern gelesen wurde. ext. Referenz 

Die Selbstisolierung der DDR, die auch in diesen Maßnahmen wieder zum Ausdruck kam, sowie der antireformistische Kurs Honeckers waren innerhalb der SED-Führung nicht unumstritten. Doch die meisten Funktionäre zogen es vor zu schweigen, auch wenn sie vielfach insgeheim mit der offiziellen Politik ihrer Regierung nicht mehr übereinstimmten. Auf westlicher Seite blieb man in den achtziger Jahren bei der Ausnutzung der Chancen, die sich durch die Reformprozesse in den osteuropäischen Ländern zu bieten schienen, bis zum Zusammenbruch der dortigen Regime außerordentlich vorsichtig. Da grundlegende Strukturveränderungen in Osteuropa unmöglich waren, solange die sowjetischen Streitkräfte an Elbe und Werra standen, und man sich andererseits nicht vorzustellen vermochte, dass die Westgruppe der Roten Armee in absehbarer Zeit friedlich abziehen würde, hätte eine Aufheizung der Situation von außen leicht zu einer Katastrophe führen können. Die Westmächte betrieben daher eine behutsame Politik des Status quo, die sich an den Bedingungen der Entspannung orientierte und sich auf dieser Grundlage weiter um Fortschritte bemühte. So hieß es im Bericht zur Lage der Nation, den Bundeskanzler Helmut Kohl im März 1984 - ein Jahr vor Gorbatschows Amtsantritt, aber lange nach Beginn der Liberalisierungsbestrebungen in Polen und Ungarn - vor dem Deutschen Bundestag abgab, wörtlich: "Wir wollen das Erreichte bewahren und ausbauen, wir wollen die Chancen des Grundlagenvertrages und der anderen innerdeutschen Verträge und Vereinbarungen nutzen. Wir sind bereit, die Beziehungen zur DDR auf der Basis von Ausgewogenheit, Vertragstreue und Berechenbarkeit und mit dem Ziel praktischer, für die Menschen unmittelbar nützlicher Ergebnisse weiterzuentwickeln. Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR stehen in einer Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden und die Sicherheit in Europa, beide müssen sich um eine Entschärfung der internationalen Lage bemühen." In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als die inneren Schwierigkeiten und die Isolation der DDR innerhalb des eigenen Lagers erheblich zugenommen hatten, wurde die Bereitschaft zu weiterer Zusammenarbeit der Bundesregierung mit der DDR-Führung keineswegs geringer. So konnte auch der Besuch von SED-Generalsekretär Honecker, der bereits 1980 geplant gewesen war und nach der Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen im Gefolge des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan und nach dem Streit um die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa immer wieder hatte verschoben werden müssen, 1987 schließlich noch stattfinden. Im gemeinsamen Kommuniqué von Honecker und Kohl wurde erneut betont, dass das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander ein "stabilisierender Faktor für konstruktive Ost-West-Beziehungen" bleiben müsse. Die Wiedervereinigung Deutschlands war überhaupt kein Thema. Zwar wurden "Unterschiede in den Auffassungen zu grundsätzlichen Fragen, darunter der nationalen Frage", festgestellt. Im Anschluss daran wurde allerdings sogleich hervorgehoben, "dass beide Staaten die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten respektieren". Verständigungswille und Realismus sollten Richtschnur für eine konstruktive, auf praktische Ergebnisse gerichtete Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten sein. Einen wie immer gearteten Wunsch nach Veränderung oder auch nur die Andeutung von Wiedervereinigungshoffnungen angesichts wachsender innerer Schwierigkeiten der DDR ließ sich diesen Ausführungen kaum entnehmen. Vielmehr bewies die Bundesrepublik ein hohes Maß an Verantwortungsbereitschaft, indem sie zugunsten der Vermeidung unnötiger Komplikationen in den osteuropäischen Reformprozessen auf die Propagierung und unmittelbare Durchsetzung langfristiger eigener politischer Ziele verzichtete, die sich beispielsweise aus dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes ergaben. Die Liberalisierung der kommunistischen Regime - darüber herrschte in den achtziger Jahren in Bonn, wie in den westlichen Hauptstädten überhaupt, weitgehend Einigkeit - musste von innen erfolgen und konnte von außen höchstens gefährdet, aber kaum gefördert werden. Dies galt in besonderem Maße für die DDR, wo nicht nur das Schicksal des SED-Regimes, sondern auch die sowjetische Präsenz im Herzen Europas auf dem Spiel standen. Das hieß allerdings keineswegs, dass man die bestehenden Verhältnisse billigte. Das Dilemma der Bundesregierung bestand vielmehr darin, im Augenblick für den Status quo eintreten zu müssen, um längerfristig angestrebte Änderungen zu erreichen. Dies war bereits das Grundprinzip der neuen Ostpolitik Willy Brandts nach 1969 gewesen ("Wandel durch Annäherung" - also schrittweise Reformen, ausgehend vom Bestehenden) und hatte damals zu harten innenpolitischen Auseinandersetzungen geführt, weil die CDU/CSU-Opposition seinerzeit den Erfolg eines solchen Kurses bezweifelt hatte. Inzwischen war das Prinzip jedoch weithin als einzig mögliche Veränderungsstrategie akzeptiert und wurde jetzt auch von der Regierung Kohl aus innerer Überzeugung vertreten.Wirksame Abgrenzung wurde für den SED-Staat daher zur existenzsichernden Maxime. Ein massiver, personeller und struktureller Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sowie verbesserte, präventive Überwachungs- und Einwirkungsmethoden waren die Reaktion des Honecker-Regimes. Bis Mitte der siebziger Jahre stieg die Zahl der "Inoffiziellen Mitarbeiter" (IM) auf 180.000 (1968 noch knapp 100.000). Gleichzeitig wurden zunehmend subtile, "weiche" Repressionsmechanismen angewandt, die auch Formen ausgeklügelten Psychoterrors – in der Sprache der Staatssicherheit "Zersetzungsmethoden" – einschlossen. In diesen Jahren entwickelte sich die DDR zum Staat mit der höchsten Dichte an Geheimpolizisten. Wie sehr die Ost- und Deutschlandpolitik der Regierung Brandt/Scheel die DDR unter Honecker heraus- und dementsprechend "erhöhte Wachsamkeit" erforderte, illustrierte eine für die Bevölkerung völlig überraschend vorgenommene, erneute Verfassungsänderung im September 1974, obwohl erst sechs Jahre zuvor eine neue Verfassung die noch aus dem Jahre 1949 stammende ersetzt hatte. Im revidierten Verfassungstext wurde nunmehr jegliche Bezugnahme auf Deutschland und eine gemeinsame deutsche Nation getilgt, doch stattdessen in Artikel 6 eigens festgeschrieben, dass die DDR "für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet" bleibe. Die Unterscheidung zwischen "Staatsbürgerschaft – DDR, Nationalität deutsch" fußte auf der Behauptung, die deutsche Frage sei durch die angeblich so unterschiedliche "soziale Existenzform" der Menschen in beiden deutschen Staaten aufgrund der gegensätzlichen Herrschafts-, Staats- und Gesellschaftssysteme in beiden deutschen Staaten nicht mehr existent. In finanzieller Hinsicht indessen konnte die DDR aus den deutsch-deutschen Verträgen und Abkommen beträchtliche Vorteile ziehen. Bis zum Herbst 1989 nahm der SED-Staat durch die Transitpauschale knapp acht Milliarden DM ein, für die Erneuerung bzw. den Ausbau von Autobahnen von der Bundesrepublik nach West-Berlin wurden der DDR zwei Milliarden DM überwiesen. Auch sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass die Bundesrepublik seit 1963 für den "Freikauf" von über 33.000 in der DDR inhaftierten politischen Häftlingen bis Ende 1989 circa 3,4 Milliarden DM aufgewendet hat, die dem SED-Staat in der begehrten westlichen Valuta ausgezahlt wurden. Zudem befand sich das SED-Regime aufgrund der Tatsache, dass es letztendlich über die Kontrolle der "Transitwege" verfügte, in einer politisch durchweg vorteilhafteren Position. Trotz aller bundesdeutschen Versuche zur "Normalisierung" der innerdeutschen Beziehungen blieb die Deutschlandpolitik jedoch ein für beide Staaten brisantes, hochsensibles Feld. Das lag zunächst in den gegensätzlichen Zielsetzungen begründet. Während die Politik aller Bundesregierungen darauf gerichtet war, letztlich die Wiedervereinigung herbeizuführen, musste das SED-Regime, schon aus Gründen des Machterhalts, dies mit allen Mitteln verhindern. Dabei schreckte Ost-Berlin auch nicht vor Maßnahmen zurück, die die in-nersten Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik tangierten. So stellte die Enttarnung des persönlichen Referenten von Bundeskanzler Willy Brandt, Günter Guillaume, der im April 1974 als Spion der DDR verhaftet wurde, eine schwere Belastung der deutsch-deutschen Beziehungen dar, die am 6. Mai 1974 zum Rücktritt Brandts, des Architekten und Promotors der "Ostpolitik", führte (vgl. auch "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 258 zum Thema "Zeiten des Wandels. Deutschland 1961–1974"). Dennoch trug der schwer wiegende Vorfall nicht zu einem Abbruch der von westdeutscher Seite aus fortgesetzten Entspannungspolitik bei. Zu groß war das beidseitige Interesse, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven heraus, die Vorteile zu erhalten, die aus den Verträgen resultierten. Der Abgrenzungspolitik der SED-Führung war angesichts der erzwungenen Öffnung der DDR auf Dauer kein durchschlagender Erfolg beschieden. Vielmehr ergab sich aus dem innerdeutschen Vertragswerk ein allmählich wachsender Austausch vielfältiger, gegenseitiger Kontakte, der wiederum in seiner subtilen Einwirkung auf die Bevölkerung in der DDR auch durch den massiven Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nie völlig unterdrückt oder gar ausgeschaltet werden konnte. Somit befand sich die DDR auch in dieser Hinsicht in einer ambivalenten Situation. Ohne Frage bedeutete die Unterzeichnung der Schlussakte der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) am 1. August 1975 in Helsinki nicht nur für die Parteiführung, sondern auch für viele Menschen in der DDR ein sichtbares Zeichen internationaler Anerkennung. Honeckers Präsenz unter den führenden Staatsmännern der Welt schien ein Stück endlich errungener, staatlicher Normalität widerzuspiegeln. Allerdings wurde die vor allem von der sowjetischen Führung und dem SED-Regime gewünschte und von den westlichen Staaten auch bestätigte Anerkennung der "territorialen Integrität", nämlich die Akzeptanz der nach dem Zweiten Weltkrieg – insbesondere in Mittel- und Osteuropa – entstandenen Grenzen, zugleich an die weltweite "Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit" gekoppelt. Mit seiner Unterschrift hatte sich der SED-Chef somit auch zur Anerkennung der "universellen Bedeutung" der verbrieften Rechtsgarantien verpflichtet und gelobt, "die universelle und wirksame Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern" (Dieter Blumenwitz). Ihm schien diese Verpflichtung allerdings, wie den übrigen sozialistischen Staaten auch, nur Beiwerk. Für die innere Entwicklung der DDR sah man in diesem Vertragsabschnitt keine Gefahr. Daher wurde der Vertragstext von Helsinki auch im SED-Organ "Neues Deutschland" in voller Länge veröffentlicht und konnte somit von allen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern gelesen werden. Zweifellos stand Honecker in außen- wie in innenpolitischer Hinsicht Mitte der siebziger Jahre auf dem Höhepunkt seiner Macht: Nur ein dreiviertel Jahr nach der KSZE-Konferenz bestätigte der IX. Parteitag der SED im Mai 1976 seine unangefochtene Führungsposition, die in der Ernennung zum SED-Generalsekretär ihren Ausdruck fand. Im Oktober desselben Jahres wurde er Staatsratsvorsitzender und übernahm zusätzlich das Amt des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Das ökonomische und sozialpolitische Konzept, das er seit seinem Machtantritt mit der Losung von der "untrennbaren Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik" verfolgt hatte, wurde sogar ins neue Parteiprogramm aufgenommen. Auch in der Sicht nicht weniger Bundesbürger schien der SED-Staat, zumal die meisten ihn nur von außen kannten, einen Hort der Stabilität und der sozialen Sicherheit zu verkörpern. Dennoch ist um die Mitte der siebziger Jahre zugleich auch der Wendepunkt anzusetzen, welcher der weiteren Entwicklung der DDR die entscheidende Prägung geben sollte. Noch im Jahr des KSZE-Vertragsabschlusses hatten 13.000, im Folgejahr 1976 20.000 DDR-Bürgerinnen und -Bürger einen Ausreiseantrag gestellt. Als "rechtswidrige Übersiedlungsersucher" diffamiert, beriefen sie sich trotz meist massiver persönlicher, familiärer und beruflicher Repressalien ausdrücklich auf das von Honecker unterzeichnete und in der KSZE-Schlussakte zugesicherte Recht auf Freizügigkeit. Partei und Staatssicherheit gelang es nicht, den anschwellenden Strom von Ausreisewilligen zu stoppen, die hartnäckig auf dieses Recht pochten. Die Aufsehen erregende Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz auf dem Marktplatz von Zeitz am 18. August 1976, der nach jahrelanger Schikanierung durch die Behörden und innerkirchlichen Konflikten mit seinem verzweifelten Akt darauf aufmerksam machen wollte, dass die freie Ausübung religiöser Überzeugung in der DDR fast durchweg mit persönlichen und beruflichen Nachteilen verbunden war, demonstrierte ebenfalls drastisch, dass die "Achtung von Religions- oder Überzeugungsfreiheit" im Sinne der KSZE-Schlussakte vom SED-Staat keineswegs gewährleistet wurde. Doch vor allem die Ausbürgerung des überzeugten Sozialisten, Regimekritikers, Dichters und Liedermachers Wolf Biermann nach einem Konzert in Köln im November 1976 markierte mehr als nur eine bloße Wende in der Kulturpolitik. Ihr folgte die Anordnung permanenten Hausarrests für den bekannten reformkommunistischen Systemkritiker, den Naturwissenschaftler Robert Havemann, der mit Biermann eng befreundet war. Die Maßnahme erfolgte ohne Rücksicht darauf, dass diese Zwangsausbürgerung notwendigerweise zum deutsch-deutschen Medienereignis werden musste. Ihr eigentlicher Zweck, "Kulturschaffende" wieder auf linientreuen Kurs zu bringen und Kritik am SED-Staat so weit wie möglich zu unterbinden, zog nicht nur innen- und kulturpolitisch schwere Konflikte nach sich, der die Partei nur mit Mühe Herr wurde. Sie trug auch zu einem markanten Stimmungsumschwung in der DDR bei. Binnen weniger Jahre führte die Solidarisierung namhafter Autorinnen und Autoren sowie Kunstschaffender mit Biermann zu massiven Gegenmaßnahmen der Partei. So wurden unter anderem Sarah Kirsch und Jurek Becker aus der Partei ausgeschlossen, Jürgen Fuchs, Christian Kunert und Gerulf Pannach wurden in die Bundesrepublik abgeschoben. Kritisch eingestellte Intellektuelle werteten das Vorgehen der SED zu Recht als Symptom einer allgemeinen politisch-ideologischen Verhärtung, zumal die Kette solcher Vorfälle nicht abriss. Als der Marxist Rudolf Bahro im Frühjahr 1977 sein Buch "Die Alternative", eine fundierte, systemkritische Analyse des SED-Staates in der Bundesrepublik veröffentlichte, wurde er noch im August desselben Jahres verhaftet und im Juni 1978 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Ebensolches Aufsehen erregte die Veröffentlichung eines "Manifests der Opposition" im westdeutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im Januar 1978. Die hier geäußerte massive Kritik am existierenden "Realsozialismus" in der DDR prophezeite dessen ökonomischen Ruin und forderte eine tatsächlich und nicht nur propagandistisch auf Wiedervereinigung abzielende Politik. Alle diese Vorgänge illustrierten, dass sich hinter der permanent geschönten Fassade der DDR tief greifende Konflikte in nahezu allen Bereichen verbargen. Auch wenn die breite Masse der Bevölkerung in der DDR häufig nur in unterschiedlichem Maße über derartige Vorfälle im Einzelnen informiert war bzw. dafür Interesse zeigte, wurde jedoch von allen sozialen Schichten sehr wohl registriert, dass sich die Versorgungslage in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wieder spürbar zu verschlechtern begann.

ext. Referenz 

Der wirtschafts- und sozialpolitische Kurswechsel von 1971 hatte es nicht vermocht, die DDR auf ein solides ökonomisches Fundament zu stellen. Vielmehr hatte die seither erfolgte Zurücknahme von Investitionen in der Industrie zugunsten erhöhter, sozialpolitischer Leistungen für die Bevölkerung zu Einbrüchen in der Produktion hochwertiger Industrieprodukte geführt. Zugleich hatte sich der Abstand zu westlicher Hochtechnologie nicht verringert, sondern erhöht. Ebenso war das Konzept, wirtschaftliches Wachstum vornehmlich durch Intensivierung, Effizienzsteigerung und Einsparungen zu erzielen, einerseits an der veralteten Industrieausrüstung, andererseits an den weltweit sprunghaft gestiegenen Rohöl- und Rohstoffpreisen gescheitert. Die überstürzt eingeleitete Förderung der Mikroelektronik und Datenverarbeitung ab Juni 1977 entzog der Leistungssteigerung anderer Industriezweige weitere, dringend benötigte Investitionen. Die volkswirtschaftlich notwendige Reduzierung der erheblichen Subventionen für Grundnahrungsmittel, Mieten und Sozialleistungen, die Mitte der achtziger Jahre bereits mehr als ein Viertel des Staatshaushaltes ausmachen sollten, aber auch des kostspieligen Wohnungsbauprogramms, war aus sozialpolitischen Gründen kaum möglich. Honecker lehnte sie jedenfalls aufgrund der letztlich zutreffenden Befürchtung ab, eine spürbare Reduzierung der sozialpolitischen Leistungen könne zu Unruhen in der Bevölkerung und damit eventuell zur Gefährdung der eigenen Machtposition führen. Ein so aufmerksamer Beobachter wie der DDR-Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski notierte daher im November 1979 in sein Tagebuch: "Auf keinem Gebiet haben wir eine Konzeption. Wir leben von der verwelkten Hand in den zahnlosen Mund". Tatsächlich hatte sich die wirtschaftliche Lage der DDR zu Beginn der achtziger Jahre erneut verschärft. Die Ursachen hierfür ergaben sich teils systembedingt aus der ineffizienten Planwirtschaft selbst, teils waren sie Folge des verfehlten wirtschaftspolitischen Kurses seit 1971, teils resultierten sie aus der allgemeinen Verteuerung der Rohstoff- und Energiepreise auf dem Weltmarkt. Das Konzept, durch Kredite von westlichen Staaten die eigene Wirtschaft mit gezielten Investitionen zu modernisieren, war nicht aufgegangen. Die strikte Verfolgung der "Hauptaufgabe", nämlich die "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" zu realisieren, hatte weniger zu dringend benötigten Investitionen in die eigene Industrie als zum Import von Rohstoffen und Nahrungs- bis hin zu Futtermitteln geführt. Das begann sich zu Beginn der achtziger Jahre erstmals negativ auszuwirken. Binnen einer Dekade waren die Verbindlichkeiten der DDR gegenüber westlichen Banken auf 24,2 Milliarden DM (1981) gestiegen. Mangelnde Investitionen zur umfassenden Modernisierung der eigenen Industrie wiederum ließen die Arbeitsproduktivität stagnieren. 1983 belief sie sich bereits auf weniger als die Hälfte (47 Prozent) im direkten Vergleich mit der Bundesrepublik. Auch der seit Mitte der siebziger Jahre forcierte Export vor allem in den "nichtsozialistischen Wirtschaftsbereich" mit der Zielsetzung, westliche Devisen um jeden Preis hereinzubringen, hatte das Anwachsen der Verschuldung bei westlichen Gläubigerstaaten nicht verhindern können. Stattdessen waren damit ebenfalls negative Entwicklungen einhergegangen: Der Export hatte vor allem bei hochwertigen Produkten zu einer für die Bevölkerung spürbaren Verschlechterung der Versorgungslage geführt. Die Palette der Mangelwaren reichte dabei von Motorrädern, Durchlauferhitzern, Heißwasserspeichern und Schreibmaschinen bis hin zu Lederschuhen. Die "Werktätigen" in den Betrieben frustrierte es, dass die von ihnen hergestellten und benötigten Industriewaren von vornherein für den Export in den "Westen" bestimmt waren und nicht für den eigenen Bedarf zur Verfügung standen. Ebenso registrierten Arbeiter und Angestellte zunehmend, dass Produktionsanlagen und Maschinen allmählich veralteten und verschlissen – eine Folge ungenügender oder gänzlich ausbleibender Investitionen. Häufig konnte nur mit geschickter Improvisation dem drohenden Totalausfall begegnet werden. Aus der unüberbrückbaren Kluft zwischen der ständig propagierten Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsordnung und den konkreten Erfahrungen im Betriebsalltag erwuchsen Frustration und Zynismus, was wiederum der Arbeitsmotivation abträglich war. Wie sehr die Staatsführung inzwischen unter dem Druck stand, buchstäblich um jeden Preis westliche Devisen hereinzubringen (die zum Teil sogleich wieder für die Schuldentilgung ausgegeben werden mussten), zeigte sich auch am forcierten Ausbau der bereits 1966 gegründeten "Kommerziellen Koordinierung" (KoKo), die unter der Leitung des Staatssekretärs im Außenhandelsministerium und zugleich Offiziers im besonderen Einsatz (OibE) des MfS, Alexander Schalck-Golodkowski, stand. Über diese rein marktwirtschaftlich(!) operierende Institution im real existierenden Sozialismus wurden unter anderem Verkäufe von zumeist aus Enteignungen stammenden Antiquitäten und Kunstgegenständen ins westliche Ausland organisiert – ebenso wie von Waffen und Blutkonserven. Immerhin gelang es mit dieser teilweise illegal und kriminell agierenden Institution bis 1989, insgesamt circa 25 Milliarden DM zu "erwirtschaften" (Rainer Eppelmann). Der "Verkauf" politischer Häftlinge an die Bundesrepublik, der in der Honecker-Ära ebenfalls zu einer finanziell keineswegs unbedeutenden Möglichkeit der Devisenbeschaffung ausgebaut wurde, ist in dieser Summe nicht einmal enthalten. Hinzu kamen "legale" Erlöse in westlicher Hartwährung aus dem innerdeutschen Transithandel und dem Zwangsumtausch für Besucher aus der Bundesrepublik bzw. West-Berlin. Auch durch den Ausbau der Intershop-Läden und den Genex-Versandhandel, über die westliche Industrieprodukte von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern gegen West-Valuta erworben werden konnten, versuchte das Regime, hochwertige Konsumgüter ins Land zu schaffen und Devisenbestände bei der eigenen Bevölkerung abzuschöpfen. Allerdings führte auch dies zu kontraproduktiven Effekten. Wer "West-Verwandtschaft" besaß oder sonst irgendwie an "West-Geld" herankam, war eindeutig besser gestellt als jene DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die nicht über diese Möglichkeiten verfügten. Zur tatsächlich vorherrschenden inneren Spaltung der angeblich klassenlosen Gesellschaft in der DDR zwischen der Minderheit, die über Macht und Privilegien verfügte und der Mehrheit, die daran keinen Anteil hatte, kam somit eine weitere Teilung: Eine "Zwei-Klassen-Gesellschaft" mit und ohne westliche Devisen. Zu welchen Absurditäten das Preissystem der DDR tatsächlich führen konnte, hat der damalige Chef der zentralen staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, an zwei Beispielen nach der "Wende" deutlich gemacht: "Lieferte ein Züchter ein Kaninchen an den Staat, erhielt er dafür 60 Mark. Kaufte er es danach geschlachtet und ausgenommen bei der Staatlichen Handelsorganisation (HO) zurück, kostete es trotz der aufgewendeten Arbeit nur 15 Mark." Analoges galt für Hightech-Produkte, etwa für die Entwicklung und Herstellung eines in der DDR selbst produzierten Mikrochips: "Die Selbstkosten für einen Chip betrugen 536 Mark. Der Verkaufspreis war in der DDR auf 16 Mark festgelegt." (Der Spiegel vom 15. November 1999) Eine grundlegende Änderung der sich zuspitzenden Wirtschaftsmisere war aber kaum möglich. Zum einen gelang es der DDR immer weniger, hochwertige Industriegüter herzustellen und in den "Nichtsozialistischen Wirtschaftsbereich" zu exportieren; zum anderen war sie aufgrund vielfältiger und meist langfristiger ökonomischer Vertragsverpflichtungen fest in den "Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW) eingebunden. Als die Sowjetunion aufgrund massiver eigener ökonomischer Schwierigkeiten im Jahre 1981 ihre Erdöllieferungen von jährlich 19 auf 17 Millionen Tonnen reduzierte, verringerte sich dadurch auch die Möglichkeit der DDR, durch Veredelung von Rohölprodukten westliche Devisen zu erwirtschaften, dramatisch. Honecker war sich der kritischen wirtschaftlichen wie politischen Lage voll bewusst, als er bei Breschnew anfragen ließ, "ob es zwei Millionen Tonnen Erdöl wert sind, die DDR zu destabilisieren"? Doch die Sowjetunion beließ es bei dieser Entscheidung. Nur ein Jahr später reagierte die Bank für internationalen Zahlungsausgleich, als nach den Zahlungsunfähigkeitserklärungen Polens und Rumäniens gegenüber der DDR ebenfalls ein Kreditstopp verhängt wurde, auch wenn dies gleichzeitig eine politisch motivierte Vorsichtsmaßnahme darstellte. Der Kreditstopp durch westliche Gläubigerbanken war die Folge. Die erneut forcierte Erhöhung von Westexporten bei gleichzeitiger rigider Drosselung von Westimporten bedeutete jedoch keine Abhilfe. Vielmehr wurden die dringend modernisierungsbedürftige Industriestruktur und das Produktionspotenzial weiter geschwächt. Erst zwei vom bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß vermittelte Kredite in den Jahren 1983 und 1984 in Höhe von insgesamt 1,95 Milliarden DM, für welche die Bundesrepublik Deutschland eine Garantie übernahm, stellten – ohne dass sich die weiter bestehenden gravierenden Wirtschafts- und Finanzprobleme grundlegend änderten – die Kreditwürdigkeit der DDR wieder her. Dennoch war die aufgelaufene Verschuldung in westlicher Valuta nicht mehr abzugleichen. Seit 1981 pendelte das Schuldenvolumen bis zur "Wende" von 1989/90 zwischen 15 und 25 Milliarden DM. Auch die kleinste noch bestehende Chance auf Besserung der katastrophalen Wirtschaftssituation schwand 1986, als ein rascher Einbruch der Rohölpreise und somit auch der Preise für Erdölprodukte erfolgte. 1989 vermochten Devisenerlöse der DDR-Ökonomie nur noch zu 35 Prozent Westimporte, Zinsen und Tilgung abzudecken. Gleichwohl propagierte die SED-Führung weiterhin unentwegt die Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft, obwohl sie ihre Unzulänglichkeit längst sichtbar unter Beweis gestellt hatte. Dabei schreckte das Regime auch nicht vor Fälschungen zurück. Als Erich Honecker am 12. Oktober 1988 im Rahmen des Wohnungsbauprogramms, des "Kernstücks der Sozialpolitik der SED", die angeblich dreimillionste Wohnung in Ost-Berlin an ein junges Ehepaar mit Kind offiziell übergab, handelte es sich tatsächlich erst um die zweimillionste seit seinem Machtantritt 1971. Auch wenn die DDR-Bevölkerung sehr wohl die Verschlechterung der ökonomischen Lage am eigenen Leib verspürte, so hatten doch solche gezielten Täuschungen durchaus den Effekt, dass der bevorstehende Bankrott des SED-Staates um die Jahreswende 1989/90 vielen völlig unglaubhaft erschien, ja einen Schock bedeutete. Erwies sich somit Ende der siebziger Jahre die ökonomische Lage der DDR für die SED zunehmend als schwierig, so zeigten sich parallel dazu auch in der Gesellschaft vermehrt Krisensymptome. In diesem Zeitraum kamen allmählich kleine Zirkel und Gruppen auf, die im Umkreis und unter dem Schutz der Kirchen als einzige nichtsozialistische und staatsfreie Großorganisationen zu wirken begannen. Ihr Zustandekommen entsprang unterschiedlichsten Motiven. Die Tatsache, dass öffentliche Diskussionen über Probleme in Staat und Gesellschaft nicht möglich waren, stellte eine wichtige, vielleicht die wichtigste Ursache dar. Auch die sich wieder verschärfende internationale Lage trug zu ihrer Entstehung bei: Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Jahr 1979, die sowjetische Stationierung von Mittelstreckenraketen in Osteuropa und der DDR, die Androhung der Stationierung analoger Waffensysteme in Westeuropa und der Bundesrepublik infolge des NATO-Doppelbeschlusses, sowie schließlich das Aufbrechen der langangestauten Krise in Polen 1981 – dies alles ließ den Wunsch nach Frieden durch Abrüstung laut werden. Indirekte Unterstützung erfuhr die Entstehung solcher Gruppen in der DDR auch durch die Friedensbewegung in der Bundesrepublik. Vornehmlich stellte die Bildung solcher Gruppen indes eine Reaktion auf bestehende Probleme und Unstimmigkeiten des SED-Staates dar. Sie drückten sich in der permanenten Selbststilisierung der DDR als Friedensstaat aus, die im krassen Widerspruch zur ständig forcierten Militarisierung von Staat und Gesellschaft stand. Das wachsende Engagement für eine sauberere Umwelt ergab sich wiederum aus den zunehmenden, täglich erfahrbaren Belastungen von Erde, Luft und Wasser, hervorgerufen durch die extensive Wirtschaftspolitik seit Mitte der siebziger Jahre. Das Eintreten für Menschen- und Bürgerrechte schließlich resultierte aus der im SED-Staat in diesem Bereich tatsächlich defizitären Situation. Es war bestärkt worden durch die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte und die von tschechischen Oppositionellen formulierte Charta '77. Trotz eines umfassenden Meinungsaustausches zwischen Staat und Kirchen am 6. März 1978 blieb das beiderseitige Verhältnis problematisch. Dies zeigte sich, nur ein halbes Jahr später, bei der Einführung des Wehrkundeunterrichts als Pflichtschulfach der Polytechnischen Oberschulen zum 1. September 1978. Der Erlass hierzu war bereits fünf Wochen vor dem Gespräch mit den Kirchen durch das Ministerium für Volksbildung am 1. Februar 1978 ergangen und sah zudem eine verstärkte vormilitärische Erziehung vor. Wenngleich erfolglos, so kam es dennoch in zahlreichen Schulen zu Unterschriftenlisten gegen die "Sozialistische Wehrkunde". Die Kirchenleitungen ihrerseits beschlossen ein Studien- und Aktionsprogramm "Erziehung zum Frieden" mit einem jährlichen Veranstaltungskalender. Schon im November 1981 konnten 100.000 der vom sächsischen Jugendpfarrer Harald Brettschneider entworfenen Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" verteilt werden. Massive Versuche, die meist jugendlichen Träger des Abzeichens von staatlicher Seite zu drangsalieren und zu gängeln, setzten deren Engagement genauso wenig ein Ende wie die von der FDJ organisierte Gegenbewegung unter dem Motto "Der Frieden muss verteidigt werden – der Frieden muss bewaffnet sein!" Dennoch führten die vornehmlich, aber nicht ausschließlich im kirchlichen Umkreis entstehenden Gruppen nach wie vor ein Randdasein in der Gesellschaft. Denn "die Opposition" hat es auch angesichts der sich verschärfenden politischen und ökonomischen Dauerkrise in den achtziger Jahren in der DDR nicht gegeben. Die Masse der Bevölkerung blieb, wie dies Friedrich Schorlemmer charakterisiert hat, "stimmlos-stumm" (vgl. Gisela Helwig, Rückblicke auf die DDR). Das war die millionenfache, durchaus "natürliche" Abwehrreaktion auf ein totalitäres Herrschaftssystem, das beanspruchte, bis in das Privatleben seiner Bürgerinnen und Bürger hineinzuwirken und bei dissidentem oder oppositionellem Verhalten nicht vor Repression und Gewalt zurückschreckte.

ext. Referenz 

Sehr wohl nahm die Bevölkerung allerdings die so genannten "Antragsteller" wahr, deren Zahl sich zwischen 1980 (21.500) und 1989 (125.000) versechsfachte, zumal sie häufig nicht nur Arbeits- und Berufskollegen, sondern auch Nachbarn und Freunde waren. Die ihnen gegenüber sehr oft praktizierte Isolierung und Diskriminierung, hatten sie einmal den Antrag auf Ausreise gestellt, erlebte man oft aus nächster Nähe mit und wurde Zeuge ihres Leidensweges, der sich manchmal über Jahre hinzog. Die angestrebte Übersiedelung in die Bundesrepublik, die zugleich ja auch das Verlassen der Heimat bedeutete, war indes keineswegs nur politisch motiviert. Eine Befragung unmittelbar nach der "Wende" ergab, dass die Unzufriedenheit mit den politischen Bedingungen in der DDR zwar den Hauptgrund darstellte, der niedrige Lebensstandard jedoch gleich an nächster Stelle rangierte. Hierzu gehörte auch der Unmut über die desolate Wirtschaftslage, die wachsende Umweltproblematik, die unbefriedigenden Wohnbedingungen und nicht zuletzt über die Beschränkung der Reisefreiheit. Auch das indoktrinäre Erziehungs- und Bildungssystem sowie mangelnde Freizeitmöglichkeiten, ungenügende Verkehrs- und Kommunikationsverhältnisse und eine unzureichende Gesundheitsversorgung wurden als Gründe für den Ausreisewunsch genannt. Ein weiteres Motiv für die Ausreise stellten die schlechten und zum Teil gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen dar. Im Unterschied zu den oppositionellen Gruppen wuchs die Gruppe der Antragsteller im Verlauf der achtziger Jahre allmählich zu einer Massenbewegung an, auch wenn bis 1983 jedes Übersiedlungsersuchen als rechtswidrig eingestuft wurde und bis 1989 keine rechtlich wirksame Anerkennung dieses Grundrechts erfolgte. Aufgrund des rapiden Ansteigens der Zahlen entschlossen sich die Behörden, 1984 erstmals circa 30.000 Antragstellern die Übersiedelung zu gestatten, 1988 folgte eine zweite Welle mit 25.300 Genehmigungen. Während solche Maßnahmen extern gleichzeitig Bestandteil deutsch-deutscher Verhandlungen – etwa über Kreditwünsche der DDR – waren, verfolgten sie intern vor allem den Zweck, ein Unruhepotenzial zu beseitigen. Doch dieses Ziel wurde letztlich nur vordergründig erreicht, da die erteilten Ausreisegenehmigungen viele weitere DDR-Bürgerinnen und -Bürger ermutigten, jetzt ihrerseits einen Antrag zu stellen. Das Problem ließ sich jedenfalls nicht grundlegend lösen. Zudem sorgten Ausreisewillige immer wieder spektakulär für Aufsehen. So kam es 1983 in Jena und 1988 in Leipzig, Dresden und Berlin zu Demonstrationen von Selbsthilfegruppen, und 1984 gelang einigen von ihnen über die amerikanische Botschaft und die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin die Übersiedelung in die Bundesrepublik. Der Konflikt zwischen den oppositionellen Gruppen und Antragstellern ergab sich gleichsam zwangsläufig aus den gegensätzlichen politischen und individuellen Lebensvorstellungen. Denn während die Gruppenmitglieder fast durchweg eine Reform des "real existierenden Sozialismus" anstrebten, zumindest mehrheitlich einen besseren, tatsächlich "demokratischen" Sozialismus verwirklichen wollten, hatten die Antragsteller jegliche Hoffnung auf einen solchen aufgegeben. Sie zogen es trotz der massiven Hindernisse und Widrigkeiten vor, dem SED-Staat den Rücken zu kehren, um in der Bundesrepublik endlich die erhofften Lebens- und Arbeitsbedingungen zu finden. Von Seiten der Gruppen traf sie daher zumeist ein doppelter Vorwurf: Sie waren nicht nur nach dem Verlassen der DDR für die Opposition unwiderruflich verloren und schwächten dadurch das Widerstandspotenzial, sondern verfolgten nach Meinung der Zurückbleibenden rein egoistische, "unpolitische" Ziele. Entsprechend kam es selten zu engerer Zusammenarbeit. Gleichwohl haben die Antragsteller zum Zusammenbruch des SED-Staates mindestens so viel beigetragen wie die oppositionellen Gruppen; denn letztlich konnte die DDR-Führung dieses Dauerproblem nicht lösen. Das enorme Anschwellen der Ausreiseanträge im Jahr 1989, zusammen mit der Massenflucht über Ungarn bzw. die Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Warschau, ihre Sogwirkung auf weitere Menschen in der DDR, und nicht zuletzt die weltweite Übertragung dieser Bilder in den Medien sollten zur völligen internationalen Diskreditierung des SED-Regimes führen und seinen Kollaps einleiten. Doch ein so rasches Ende der DDR schien in den achtziger Jahren noch völlig irreal und wurde von niemandem erwartet. Stattdessen demonstrierte die "Staatsmacht" immer wieder ihre Stärke, indem es ihr wiederholt gelang, die meist im Umkreis der Kirchen angesiedelten Gruppen zu zerschlagen oder in ihrer Wirkungstätigkeit stark einzuschränken. Mundtot machen konnte sie diese Opposition jedoch nicht. Die Gruppen fuhren fort, Alternativen zu politisch wie ideologisch vorgegebenen Auffassungen zu artikulieren. Darin lag ihre eigentliche Attraktivität besonders für die junge Generation. Vor diesem Hintergrund hatten der Reformkommunist Robert Havemann (1910–1982) und der systemkritische Pfarrer und Bürgerrechtler Rainer Eppelmann am 25. Januar 1982 gemeinsam ihren "Berliner Appell verfasst. ext. Referenz 

Im selben Jahr bildete sich in Reaktion auf das Gesetz über den Wehrdienst vom März 1982 und die darin enthaltene Bestimmung, dass bei Mobilmachung sowie im Verteidigungsfall künftig auch Frauen der Wehrpflicht unterworfen sein sollten, die von Bärbel Bohley und Ulrike Poppe gegründete Gruppe "Frauen für den Frieden". Der "Friedensgemeinschaft Jena" wiederum gelang es, bis zu ihrer späteren, brutalen Zerschlagung, mit gewaltlosem Widerstand, öffentlichen Demonstrationen und bewusster Aufnahme von Kontakten zu westlichen Medien, neue Methoden in der Auseinandersetzung mit SED, MfS und den Sicherheitsorganen zu entwickeln. Schon Ende der siebziger, vermehrt aber Anfang der achtziger Jahre, waren, ebenfalls im Schutze der Kirchen, "sozialethische Gruppen" entstanden; so zum Beispiel in Berlin, Leipzig und Schwerin, die sich vornehmlich mit Umweltfragen, aber auch mit Problemen der Entwicklungsländer befassten. Besonders der 1983 in Berlin-Lichtenberg gegründete "Friedens- und Umweltkreis" gewann an Bedeutung. Durch ihn entstand 1986 die Umweltbibliothek in der Zionskirche, welche die Untergrundzeitschrift "Umweltblätter" herausgab und dadurch zu einem Kristallisationspunkt vor allem der Berliner Gruppen wurde, der Ausstrahlung auf die gesamte DDR hatte. Insbesondere die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl im April 1986 und die nachfolgende Desinformationskampagne der DDR-Behörden verschafften der Bewegung weiteren Zulauf. Einen bewussten politischen Schritt, der für die nach wie vor im Schutz der Kirchen agierenden Gruppen ein völlig neues Vorgehen bedeutete, leitete die im Januar 1986 gegründete "Initiative Frieden und Menschenrechte" (IFM) ein, welche erstmals öffentlich auftrat und dabei namentlich unterzeichnete Appelle herausgab, unter anderem mit der Forderung nach umfassenden demokratischen Reformen. Die Gruppen existierten trotz gelegentlicher Unterstützung durch prominente Politiker der "Grünen" aus der Bundesrepublik am Rande der DDR-Gesellschaft und wurden von dieser auch nur marginal wahrgenommen. Sie rückten jedoch insbesondere in Berlin ab der zweiten Jahreshälfte 1987 nicht zuletzt durch die Berichterstattung westdeutscher Medien stärker in den Blickpunkt einer größeren Öffentlichkeit. Im zeitlichen Kontext mit dem gemeinsam von der SPD und SED erstellten Papier "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" im August 1987, besonders aber mit dem Honecker-Besuch in Bonn einen Monat später, konnten diese Gruppen von einer vorübergehenden deutschlandpolitisch motivierten Zurückhaltung der "staatlichen Organe" profitieren. Wenig später jedoch legte das Regime wieder eine härtere Gangart ein und spitzte damit die latent weiter bestehende Konfliktsituation zu. Mit der Stürmung der Berliner Umweltbibliothek durch das MfS in der Nacht vom 24./25. November 1987 und der Verhaftung ihrer Mitarbeitenden wurde eine neue Eskalationsstufe auf beiden Seiten erreicht; denn die Mitglieder und Sympathisanten der Gruppen begegneten diesem Vorgehen im Schutze der kirchlichen Bannmeile mit öffentlichen Mahnwachen und Protestkundgebungen, um die Freilassung der Verhafteten zu erzwingen. Als diese tatsächlich drei Tage später erfolgte, um einen internationalen Imageverlust zu vermeiden, bedeutete dies eine Niederlage der "Staatsmacht".

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Als sich Mitglieder der 1987 gegründeten "Arbeitsgemeinschaft Staatsbürgerschaft", ein Zusammenschluss von Oppositionellen und Ausreisewilligen, mit eigenen Transparenten und Plakaten an der offiziellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17. Januar 1988 beteiligten, nahmen sie bewusst den Konflikt mit dem Regime in Kauf. Trotz Behinderungen durch die Stasi gelang es westdeutschen Fernsehteams, entscheidende Szenen festzuhalten und die Nachricht darüber zu einer erstrangigen Meldung zu machen. Besonders das große Medieninteresse, das die unterschiedlichen Protestveranstaltungen in vielen Kirchen Berlins, aber auch anderswo fanden, ließ die Gruppen erstmals stärker aus ihrem gesellschaftlichen Randdasein herauswachsen und machte sie einer breiteren Öffentlichkeit in Ost und West bekannt. Die Existenz oppositioneller Gruppen in der DDR ließ sich damit nicht mehr länger leugnen. Gleichzeitig kam unter ihnen allmählich eine engere Vernetzung zustande. In die ab Mitte der achtziger Jahre um sich greifende Frustration über die spürbare Erstarrung des "Systems", die auch in Teilen der SED virulent wurde, fiel der überraschende Machtwechsel in der Sowjetunion im Frühjahr 1985. Der neue Parteivorsitzende der KPdSU, Michail Gorbatschow, verkündete ein Reformprogramm mit den Schlagworten "Glasnost" und "Perestroika" (Offenheit und Umgestaltung), mit dem eine tief greifende Modernisierung des "real existierenden Sozialismus" in der Sowjetunion durchgeführt werden sollte. Diese Initiative wurde von vielen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern wie ein unerwarteter Lichtschein in tiefer Dunkelheit empfunden. Besondere Überraschung rief hervor, dass nach der unübersehbaren Stagnation, die das Breschnew-Regime und seine Epigonen hinterlassen hatten, ausgerechnet aus den Reihen der KPdSU selbst ein Reformansatz kam. Das breite, zum Teil euphorische Interesse an Gorbatschows Politik und Persönlichkeit wurde verstärkt durch die Reaktionen der SED-Führung selbst. Diese sah instinktiv und zugleich durchaus realistisch die fundamentalen Konsequenzen einer sozialistischen Reformpolitik für die eigene Machtposition voraus. Entsprechend distanzierte sie sich vorsichtig, geriet aber dadurch in eine nach jahrzehntelanger Verkündung unverbrüchlicher Freundschaft mit der Sowjetunion ("Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!") unglaubwürdige Verteidigungsposition. Die defensive, ablehnende Haltung der Parteispitze kam symptomatisch in der berühmt gewordenen Formulierung Kurt Hagers vom April 1987 zum Ausdruck, der in einem "Stern"-Interview sagte: "Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" Diese Äußerung verstärkte auch bei einigen SED-Mitgliedern eine bisweilen schon früher eingetretene innerliche Distanzierung von der Partei und ihrer Führung. Tatsächlich hatte sich auch in der SED infolge der immer spürbarer werdenden Mängel des Systems seit Mitte der achtziger Jahre ein Teil von Funktionären und Mitgliedern in eine Art innerer Opposition begeben, ohne allerdings selbst konkrete Reformvorstellungen zu entwickeln bzw. diese offen zu äußern. Häufig mit den Problemen und Frustrationen der Menschen in Alltag und Betrieb persönlich konfrontiert, hatten sie Positionen zu vertreten, die angesichts der Realität unhaltbar waren. Allenfalls waren sie nach Aussage eines Parteimitglieds Ausdruck "der systemisch bedingten Verknöcherung, Innovationsfeindlichkeit, Reformverweigerung und damit fehlenden Überlebensfähigkeit des Realsozialismus" (Rainer Land/Ralf Possekel). Damit schwand, von der Bevölkerung sensibel registriert, die Geschlossenheit der Partei. Die Reformwilligen vermissten jedoch einen "DDR-Gorbatschow", der – und das war die vorherrschende Auffassung – den erforderlichen, umfassenden Reformprozess durch eine "Revolution von oben" hätte herbeiführen können, zumal eine grundlegende, gar revolutionäre Transformation des "real existierenden Sozialismus" von unten ohnehin undenkbar erschien. Der politische Dissens zwischen der SED-Führung und dem Reformkurs Gorbatschows kam offen zum Ausbruch, als die Parteiführung die sowjetische Monatszeitschrift "Sputnik" im November 1988 von der Bezugsliste strich. In ihr waren erstmals bisherige Tabuthemen sowjetischer Politik und Geschichte, wie zum Beispiel der deutsch-sowjetische Nicht-Angriffspakt von 1939, der "Hitler-Stalin-Pakt", aufgegriffen und breit diskutiert worden. Diese über eine Zensur weit hinausgehende Maßnahme stieß in der Bevölkerung, aber auch unter vielen Parteimitgliedern auf Unverständnis und Entrüstung und verstärkte die Kritik an der Parteiführung, insbesondere an den als vergreist empfundenen Politbüro-Mitgliedern. Einer wachsenden Mehrheit von Menschen in der DDR wurde zunehmend bewusst, dass die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse langfristig so nicht bleiben konnten und der SED-Staat auf eine Krise zusteuerte. Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander und der in ihnen lebenden Menschen in diesem Zeitraum war von beträchtlicher Ambivalenz gekennzeichnet. Auf der obersten Ebene der Deutschlandpolitik lagen völlig unterschiedliche Positionen und Zielsetzungen vor. Während die SED-Führung daran interessiert war, durch strikte Abgrenzungspolitik die deutsch-deutschen Beziehungen auf allen Gebieten, abgesehen von den ökonomischen und finanziellen, möglichst zu begrenzen, war es das Ziel der Bundesregierungen, die Kontakte zwischen beiden deutschen Staaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern auf allen Ebenen zu fördern und zu intensivieren. Grundlage dieser Politik war die 1969 von dem sozialliberalen Regierungsbündnis Brandt/Scheel begonnene "Ost- und Deutschlandpolitik", die im Rahmen internationaler Verträge und Abkommen die SED-Führung zu einer begrenzten Öffnung zwang. Dennoch erreichte die DDR nie die völkerrechtliche Anerkennung seitens der Bundesrepublik Deutschland. Das galt auch für die DDR-Staatsbürgerschaft – eine Forderung, die Honecker bei einer Rede in Gera am 13. Oktober 1980 neben weiteren noch einmal massiv erhoben hatte. Immerhin entwickelte sich trotz internationaler Krisen und Konflikte zwischen Bonn und Ost-Berlin so etwas wie eine informelle Sicherheitspartnerschaft, zumal man sich in dem Bestreben einig war, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Die weitgehend unveränderte Fortsetzung dieser Politik nach dem Regierungswechsel von 1982 durch Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher bis zur "Wende" von 1989/90 führte auf Seiten der DDR nicht nur zu einer stetig steigenden Zahl von Begegnungen (1972: 1,09 zu 1987: 5,09 Millionen Reisen aus der DDR in die Bundesrepublik). Das persönliche Kennenlernen der Bundesrepublik durch eine wachsende Anzahl von Menschen aus der DDR trug auch zu verstärkter Skepsis gegenüber dem eigenen Staat bei. Insofern wirkten sich die von der SED-Führung und dem MfS befürchteten "westlichen Sickereinflüsse" tatsächlich negativ auf das sozialistische Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem aus und haben zweifelsohne ebenfalls zu dessen Destabilisierung beigetragen. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die jahrzehntelange Trennung und die unterschiedlichen Sozialisationsprozesse, welche die Deutschen in beiden deutschen Staaten zwangsläufig durchliefen, auch zu gegenseitiger Entfremdung sowie Miss- und Unverständnissen führten. Das vielzitierte Klischee vom arroganten, reichen Westdeutschen und vom verschüchterten, armen Ostdeutschen ist keineswegs nur ein bloßes Stereotyp. Auch dürfen die millionenfachen Besuche und Begegnungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das gegenseitige Interesse unterschiedlich intensiv war und sich in den siebziger und achtziger Jahren zunehmend auseinanderentwickelte; das zeigen auch die nachlassenden Besucherzahlen von westdeutscher Seite aus (1972: 6,26 zu 1987: 5,50 Millionen Reisen aus der Bundesrepublik und West-Berlin in die DDR). Während in der Bundesrepublik, vor allem unter der jüngeren Generation, das Interesse an der DDR auch und nicht zuletzt deshalb zunehmend schwand, weil Reisen in westliche Länder interessanter als in den "Polizeistaat DDR" erschienen und zudem preiswerter waren, blieb die DDR-Bevölkerung wie im Übrigen auch die SED unverändert auf den "Westen" fixiert. Bei genauerer Kenntnis des DDR-Alltags, konstatiert Stefan Wolle, sind "der westliche Konsum, die Freizügigkeit, der politische Pluralismus [...] für die DDR-Bürger immer der Maßstab ihres eigenen Lebens gewesen". Es waren vor allem das westdeutsche Fernsehen und der Rundfunk, die von den Menschen in der DDR regelmäßig gesehen und gehört worden sind und damit täglich den weiterbestehenden Zusammenhang der Nation wie kein anderes Medium unter Beweis stellten. Da die Einfuhr von Zeitungen und Zeitschriften aus dem "Westen" weitgehend unterbunden werden konnte, präsentierten Rundfunk und Fernsehen eine ständige Alternative und zugleich einen primären Vergleichsmaßstab auf allen Ebenen. Und dies, obwohl es bis in die siebziger Jahre hinein Versuche gab, den Empfang westdeutscher Fernsehsender in der DDR zu unterbinden und obwohl die Bundesrepublik in der Propaganda durchweg negativ als "Gegner" oder "Feind" kolportiert wurde.Für diejenigen DDR-Bürgerinnen und -Bürger – und das war die Mehrheit –, die "den Westen" aus eigener Anschauung nicht kannten, blieb das Bild der Bundesrepublik jedoch letztlich eindimensional und ohne Tiefenschärfe, weil der Fernsehschirm nicht die konkrete Realität widerspiegelte und es an persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen mit dieser Welt fehlte. Der "Westschock" nach der Maueröffnung belegt dies eindrucksvoll. So verkörperte der westdeutsche Konkurrenz- und Vergleichsstaat ein Wunsch- wie Zerrbild zugleich. Darüber hinaus hat es bei einer Mehrheit der DDR-Bevölkerung durchaus auch eine Bindung an den Staat der SED gegeben. "Solche Werte wie Arbeitsplatzsicherheit, niedrige Preise des Grundbedarfs und Unentgeltlichkeit des Gesundheitswesens haben die Loyalitätsbereitschaft großer Kreise der Bevölkerung viel stärker getragen, als es der Glaube an die parteiliche Wahrheit der ideologischen Doktrin jemals vermochte. Je länger, um so mehr waren es gerade solche sozialpolitischen Stützbalken, auf denen die Last des Legitimationsanspruches der zweiten deutschen Diktatur beruhte. Die mangelnde Legitimität der politischen Grundordnung, die schwache ökonomische Effizienz der SED-Herrschaft, das Wohlstandsgefälle beim Blick auf die westdeutsche Vergleichsgesellschaft verstärkten zusammen die kompensatorische Last, welche die 'sozialen Errungenschaften' – als die wirksamste und zuletzt wohl einzige Loyalitätsstütze – zu tragen hatten" Die DDR, der Staat der SED, ist aus mehreren, unterschiedlichen Gründen zusammengebrochen. Hier muss zwischen äußeren und inneren Faktoren differenziert werden. Tatsächlich veränderten sich die Existenzbedingungen der DDR durch die Politik Gorbatschows grundlegend. Der von ihm eingeschlagene Weg zu einer Reform des "real existierenden Sozialismus" im Zeichen von Perestrojka und Glasnost stieß bei der Führungsspitze der SED auf Ablehnung und damit zu einer auch für die DDR-Bevölkerung unübersehbaren Distanzierung von der Sowjetunion, die bis dahin, zumindest in der Propaganda, den primären Maßstab und Bezugspunkt gebildet hatte. Die Betonung der Eigenständigkeit der DDR und damit des "Sozialismus in den Farben der DDR" (Erich Honecker auf dem 7. Plenum des ZK der SED) ließ den SED-Staat aber auch gegenüber den reformbereiten "sozialistischen Bruderstaaten" Polen und Ungarn auf Distanz gehen. Damit zeigte er nur um so krasser die eigene Erstarrung und Reformunfähigkeit auf. Noch entscheidender war aber, dass mit dem fundamentalen Politikwechsel in der UdSSR durch Gorbatschow die bis dahin existente Bestandsgarantie der DDR durch die Sowjetunion aufgegeben wurde; damit stand erstmals ihre eigenstaatliche Existenz zur Disposition. Das Nichteingreifen sowjetischer Streitkräfte während der Revolution von 1989/90 in der DDR besiegelte faktisch ihr Ende. Die internen Gründe des Zusammenbruchs des SED-Staats sind noch vielfältiger. Zu keiner Zeit war das mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht von der KPD/SED errichtete Herrschaftssystem demokratisch legitimiert. Zudem war und blieb die DDR immer nur ein Teilstaat einer Nation und stand mit dem anderen deutschen Teilstaat Bundesrepublik Deutschland in fortwährender Konkurrenz, der wiederum für die Partei wie für die Bevölkerung auf allen Ebenen Vergleichsmaßstab blieb. Ebenso wenig gelang es, ein leistungsfähiges Wirtschaftssystem zu errichten, das international wettbewerbsfähig war und mehr als nur die Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen konnte. Aus dieser ökonomischen Ineffizienz resultierte spätestens ab Mitte der siebziger Jahre eine gleich bleibend hohe Verschuldung, die mit eigener Kraft nicht mehr zu bewältigen war, auch und nicht zuletzt deshalb, weil die zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr finanzierbaren sozialpolitischen Leistungen beibehalten wurden. Mit den wachsenden Wirtschafts- und Versorgungsproblemen nahm auch der innenpolitische Druck zu. Ab Mitte der achtziger Jahre klafften Anspruch und Wirklichkeit des real existierenden Sozialismus in der DDR immer mehr auseinander, die Ideologie des Marxismus-Leninismus verlor rapide an Überzeugungskraft. Die spürbare Erstarrung des Systems wurde in allen Bevölkerungsschichten bis in die SED hinein registriert. Die Zahl oppositioneller Gruppen im Schutz der Kirchen wuchs, noch mehr nahm die Zahl der Ausreisewilligen zu. Mit dem massenhaften Exodus von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern, die ihr Land im Spätsommer 1989 verließen und verlassen wollten, war letztlich das Ende des SED-Staats besiegelt – ein Staat, dem die eigenen Menschen davonliefen, besaß keine Existenzgrundlage mehr.Wesentlichen Anteil an der Zuspitzung der Situation hatte Ungarn, das im Ostblock mit seinen Wirtschaftsreformen schon seit den sechziger Jahren stets eine Sonderrolle gespielt hatte und sich seit Mitte der achtziger Jahre immer mehr nach Westen öffnete. Anfang 1989 erreichten die ungarischen Reformen schließlich ein Stadium, in dem offen eine enge Zusammenarbeit mit den westlichen Ländern angestrebt wurde. Dazu gehörte, dass die Regierung in Budapest versprach, internationale Vereinbarungen wie die UN-Menschenrechtskonvention nach Geist und Buchstaben einzuhalten und sie nicht länger auf einseitig östliche Weise zu interpretieren. Als ungarische Soldaten am 2. Mai 1989 nahe der Ortschaft Köszeg an der Grenze zu Österreich mit dem Abbau der elektronischen Sicherungsanlagen und des Stacheldrahtverhaus begannen, war dies ein revolutionärer Vorgang: Ungarn kündigte damit die Solidarität der Ostblockstaaten bei der Abriegelung des kommunistischen Herrschaftsbereichs gegenüber dem Westen auf. Zum ersten Mal seit 1945 wurde das Prinzip des "Eisernen Vorhangs" grundsätzlich in Frage gestellt. Die Versicherung von DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler gegenüber dem SED-Politbüro am 4. Mai, dass es sich dabei nach Mitteilung aus Budapest lediglich um "technische Maßnahmen" handele, von denen die eigentlichen Grenzkontrollen nicht betroffen seien, wurde daher der wahren Bedeutung des Ereignisses nicht gerecht. Obwohl man, wie Politbüromitglied Günter Schabowski berichtet, im Politbüro durchaus ahnte, welche Sprengkraft in dem Vorgang lag, zog man es vor, sich selbst zu beschwichtigen. Und Keßler lieferte dabei das Alibi mit seiner aufmunternden Behauptung, dass Bürger der DDR, die über Ungarn in den Westen zu fliehen versuchten, auch künftig von ungarischen Grenzern daran gehindert würden. Sorgen bereitete in Ostberlin jedoch die Tatsache, dass es sich bei der Grenzöffnung gegenüber Österreich um eine alleinige ungarische Entscheidung gehandelt hatte. Die DDR-Führung war nicht konsultiert worden und wurde auch über mögliche weitere Schritte im Unklaren gelassen. "Erschrocken und hilflos", so Schabowski, habe man beobachtet, "wie der sozialistische Block in die Brüche ging". Die Flüchtlingszahlen stiegen. Aus Einzelfällen wurde langsam ein Rinnsal und bald ein Strom. Beim Verfall der SED-Macht wirkte Ungarn als Katalysator.Dennoch hielt die SED-Führung weiter an ihrem starren Kurs der Reformverweigerung fest, wie sowohl ihre Manipulation der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 als auch die demonstrative Unterstützung der chinesischen Regierung nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz (Platz des Himmlischen Friedens) in Peking am 4. Juni 1989 zeigten. Dort war eine Studentenrebellion gegen das totalitäre Regime von der chinesischen Volksbefreiungsarmee blutig niedergeschlagen worden. Während die durch die Wahlfälschung erzielten Resultate die Zustimmung der Bevölkerung zum SED-Regime unterstreichen sollten, war der Schulterschluss mit den repressiven Kräften in China offenbar ein Signal an innenpolitische Gegner, wie man auch in der DDR mit umstürzlerischen Elementen umzugehen gedachte, wenn diese zu einer ernsthaften Bedrohung für die Regierung werden sollten. Im Vorfeld der Kommunalwahl war man sich im Politbüro einig gewesen, dass die "Superprozentsätze" früherer Wahlen - 99-Prozent-Zustimmung - diesmal kaum erreichbar seien, da das Übergreifen des Demokratisierungsprozesses aus Osteuropa und das Anwachsen der Opposition in der DDR ihren Tribut fordern würden. Sogar fünf Prozent Gegenstimmen gegen die Kandidaten der Nationalen Front wurden für möglich gehalten. Doch als die Stimmen am 7. Mai ausgezählt waren, schwelgte die SED-Führung wieder in Euphorie. Egon Krenz, der Vorsitzende der Wahlkommission, gab bekannt, dass erneut 95,98 Prozent der Stimmen auf die Kandidaten der Nationalen Front entfallen waren. Im gesamten Land habe es nur 142.301 Gegenstimmen gegeben. Erich Honecker nannte das Ergebnis "ein eindrucksvolles Bekenntnis zu der auf Frieden und Sozialismus gerichteten Politik der SED". Kaum jemand in der SED-Führung bezweifelte, dass die Wahlen wie eh und je manipuliert worden waren. Schabowski bekannte später, dass diese Wahl sich in keiner Weise von früheren Wahlen unterschieden habe und dass in der DDR in der Vergangenheit jede Wahl manipuliert worden sei. Sie seien "nun einmal in dieser Art organisiert (gewesen), ohne besondere Anweisungen, automatisch, wie die großen Demonstrationen". Doch diesmal wurde das Ergebnis, das die Regierung verkündet hatte, nicht mehr einfach hingenommen. Viele erhoben amtlich Einspruch. Gerüchte, dass die Regierung die Wahldokumente gefälscht habe, um die erwünschten Resultate zu erhalten, machten die Runde. Oppositionsgruppen gingen daran, die Manipulationen aufzudecken. Der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, wurde mit Berichten über "Aktivitäten feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte", die versuchten, "Beweise über eine angebliche Fälschung der Wahlergebnisse" zu erbringen, regelrecht bombardiert. Mielke wies deshalb die Sicherheitsorgane an, jeden Bürger, der sich über die Inkorrektheit des Wahlverfahrens beschwere, darüber zu informieren, dass "keine Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen".

ext. Referenz 

Tatsächlich waren die Wahlmanipulationen am 7. Mai 1989 kaum gravierender als bei früheren "Wahlen" in der DDR. Aber das innen- und außenpolitische Umfeld hatte sich verändert: Die wichtigsten ehemaligen Verbündeten der DDR befanden sich jetzt auf Reformkurs, und viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger hielten ihre Regierung inzwischen nicht mehr nur für reformunwillig, sondern auch für reformunfähig. Die SED-Spitze um Honecker hatte den Rückhalt verloren, den sie früher in der UdSSR und bei den anderen "Bruderländern" besessen hatte, und verfügte daher kaum noch über Autorität. Sie war weithin isoliert. Ihr Verhalten stieß nahezu überall auf Kritik, ja Verständnislosigkeit. Auch die zustimmende Reaktion Ostberlins auf die brutale Niederschlagung der Studentenrebellion in Peking am 4. Juni 1989 rief weithin Empörung hervor. Während in der ganzen Welt heftig gegen das Massaker auf dem Tiananmen-Platz protestiert wurde, entschied das SED-Politbüro, dass man dem "hartgeprüften chinesischen Volk" zu Hilfe kommen müsse: Die Volkskammer verabschiedete eine Resolution, in der die DDR ihre Unterstützung für die Niederschlagung der "konterrevolutionären Unruhen" in der chinesischen Hauptstadt bekundete. DDR-Außenminister Oskar Fischer rühmte bei einem Besuch seines chinesischen Amtskollegen Qian Qichen in Ostberlin eine Woche nach den Ereignissen in Peking die engen Bindungen zwischen der DDR und China. Und prominente DDR-Politiker starteten zu Solidaritätsmissionen in die chinesische Hauptstadt: Hans Modrow machte, noch im Juni, den Anfang, Egon Krenz folgte im September. Die damit signalisierte politische Hilfestellung für ein undemokratisches, totalitäres Regime war zwar ebenfalls kaum etwas Neues in der Geschichte der DDR. Aber in der sensiblen Situation des Sommers 1989 war es gewiss ein falsches Signal, das die SED-Führung der Situation unangemessener nicht hätte setzen können. Vor diesem Hintergrund fassten immer mehr DDR-Bewohner den Entschluss, ihrem Land so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Allein 120.000 stellten im Sommer 1989 einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Im Juli und August versuchten darüber hinaus Hunderte, die mit ihrer Geduld am Ende waren, ihre Ausreise durch die Besetzung westlicher - vor allem westdeutscher - diplomatischer Vertretungen in Budapest, Warschau, Ostberlin und Prag zu erzwingen. Die Prager Botschaft der Bundesrepublik musste sogar binnen zwei Wochen wegen Überfüllung geschlossen werden.

Am Rande einer UNO-Vollversammlung erreichte Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in Verhandlungen mit seinem DDR-Amtskollegen Oskar Fischer, dem es um eine Entschärfung der instabilen Lage im Vorfeld der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung ging, die Ausreise aller Prager und Warschauer Flüchtlinge. Sie gelangten in Sonderzügen Anfang Oktober in die Bundesrepublik. Egon Krenz, der SED-Generalsekretär Honecker zu dieser Zeit vertrat, weil der Parteichef sich einer Operation unterziehen musste, die ihn für den Rest des Sommers von seinen Amtsgeschäften fernhielt, wusste um die Motive, die die Ostdeutschen dazu brachten, die DDR zu verlassen. Ein enger Mitarbeiter, der Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen im ZK der SED, Wolfgang Herger, war der Frage nachgegangen und hatte die Ergebnisse in einem vertraulichen Bericht für Krenz zusammengefasst. Vom "Verlust an Perspektive als Massenprotest" war darin die Rede, von "Resignation als Massenphänomen" sowie von einer alarmierend zunehmenden Rate der Abwendung von der DDR, besonders unter Jugendlichen, einschließlich der Funktionäre der Freien Deutschen Jugend (FDJ).

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Krenz erhielt den Bericht nur einen Tag vor Antritt eines vierwöchigen Urlaubs an der Ostsee, von wo aus er nichts mehr unternehmen konnte. Honecker hatte Krenz offenbar bewusst in den Urlaub entlassen und statt dessen seinen Vertrauten, Politbüromitglied Günter Mittag, mit der Wahrnehmung der Amtsgeschäfte des Generalsekretärs beauftragt. Doch Mittag erwies sich bald als unfähig, der Lage gerecht zu werden. Der Flüchtlingsstrom, der sich aus der DDR über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik ergoss, schwoll immer mehr an. Der "Eiserne Vorhang", der schon am 2. Mai durch Ungarn prinzipiell in Frage gestellt worden war, bestand praktisch nicht mehr. Täglich trafen nun zwischen 100 und 200 Ostdeutsche von Ungarn aus in den Aufnahmelagern in der Bundesrepublik ein. Und nachdem die ungarische Regierung es DDR-Bürgern ab dem 11. September gestattete, die Grenze nach Österreich legal zu überschreiten, flohen nicht nur Hunderte, sondern Tausende täglich. Bis Ende September waren es insgesamt bereits 32.500.Im SED-Politbüro beschuldigte Mittag die Ungarn des "Verrats am Sozialismus" und konnte dennoch nur resigniert den Rapport eines Abgesandten entgegennehmen, der nach Budapest geschickt worden war, um "die Dinge zu verlangsamen", und von dort mit leeren Händen zurückkehrte: Die Ungarn hatten die Kontrolle verloren und, für die SED noch schlimmer, beabsichtigten offenbar gar nicht, sie zurückzuerlangen. Außenminister Gyula Horn, so berichtete der Emissär, sei die "treibende Kraft" hinter dieser Entwicklung. Das ungarische Militär stehe den "Erwartungen der DDR" zwar loyal gegenüber, sei jedoch nicht mehr einig. Ähnliches verlautete aus Moskau: Auf die Bitte von DDR-Außenminister Fischer, ein Warschauer-Pakt-Treffen einzuberufen, um die Ungarn zur Räson zu bringen, antwortete Gorbatschow, die Zeit sei vorüber, in der eine Abweichung von der allgemeinen Linie durch den Druck der Mehrheit habe korrigiert werden können. Die DDR stand allein.

Währenddessen nahm der Umfang der Proteste und Demonstrationen innerhalb der DDR zu. Seit Juni 1989 wurden am 7. jeden Monats Protestaktionen veranstaltet, um an die Manipulation der Kommunalwahl vom 7. Mai zu erinnern. Darüber hinaus begannen am 4. September in Leipzig nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche etwa 1200 Menschen mit den "Montagsdemonstrationen", auf denen Forderungen nach Reise- und Versammlungsfreiheit laut wurden. Bis zum 25. September war die Teilnehmerzahl auf 5000 angewachsen. Am 2. Oktober belief sie sich bereits auf etwa 20.000. Ermutigt durch den Erfolg dieser Aktionen wurden nun auch politische Organisationen gegründet, die sich zum Teil als Parteien, zum Teil als Bürgerbewegungen verstanden: am 10. September das Neue Forum, am 12. September Demokratie Jetzt, am 7. Oktober die Sozialdemokratische Partei in der DDR und am 29. Oktober der Demokratische Aufbruch. Die SED-Führung sah sich damit jetzt nicht nur den Liberalisierungstendenzen in Osteuropa und der Fluchtbewegung aus der DDR, sondern auch einer wachsenden und sich zunehmend organisierenden Opposition in der DDR gegenüber.

In dieser Situation kam das festliche Ereignis des 40. Jahrestages der DDR am 6. Oktober 1989 durchaus ungelegen. Die öffentlichen Demonstrationen und Aktivitäten der Oppositionsgruppen erreichten am Vorabend dieses Tages einen neuen Höhepunkt. Besonders Dresden, wo die Durchfahrt eines Zuges mit DDR-Flüchtlingen aus der Bonner Botschaft in Prag am 4. Oktober Unruhen ausgelöst hatte, die immer noch andauerten, war Schauplatz schwerer Auseinandersetzungen. Die Proteste, die zunächst auf Berlin, Leipzig und Dresden konzentriert gewesen waren, breiteten sich rasch aus. Aus Magdeburg wurde am 5. Oktober eine Aktion mit 800 Demonstranten gemeldet, von denen nicht weniger als 250 durch Polizei und Staatssicherheitsdienst verhaftet wurden. Aber auch aus vielen anderen Orten der DDR trafen Berichte über Demonstrationen und Protestaktionen ein, die kaum noch beherrschbar schienen.Währenddessen bereitete Erich Honecker sich in Ostberlin darauf vor, mehr als 4000 geladene Gäste aus der DDR und über 70 ausländische Delegationen zu empfangen, unter ihnen auch eine sowjetische Abordnung mit Michail Gorbatschow an der Spitze. Die SED-Führung hoffte, vom Glanz des mit großem internationalen Renommee ausgestatteten Generalsekretärs der KPdSU zu profitieren. Doch Gorbatschow war auch ein Hoffnungsträger für die ostdeutschen Dissidenten, die fühlten, dass nur er dem Reformprozess in der DDR zum Erfolg verhelfen konnte. Am ersten Tag der Feierlichkeiten, dem 6. Oktober, beschränkten sich Honecker und Gorbatschow noch auf den Austausch von Nettigkeiten, die dem festlichen Anlass angemessen waren. Auffällig war nur die Tatsache, dass Honeckers Festrede am Nachmittag im Palast der Republik jeglichen Hinweis auf die prekäre Lage im Lande vermissen ließ: kein Wort über die Flüchtlinge, kein Satz über die internen Probleme. Bei einem Fackelzug durch Ostberlin gab es am Abend allerdings bereits spontane öffentliche Ovationen für Gorbatschow. Erst am folgenden Tag wurde Gorbatschow bei einem persönlichen Gespräch mit Honecker und in einer Unterredung mit den Mitgliedern des SED-Politbüros im Schloss Niederschönhausen deutlicher: "Kühne Entscheidungen" seien notwendig, jede Verzögerung werde zur Niederlage führen. Wörtlich erklärte der Generalsekretär der KPdSU vor den Politbüromitgliedern: "Ich halte es für sehr wichtig, den Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chancezu vertun [...]. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort [...]. Wir sind in einer Etappe sehr wichtiger Beschlüsse. Es müssen weitreichende Beschlüsse sein, sie müssen gut durchdacht sein, damit sie reiche Früchte tragen. Unsere Erfahrungen und die Erfahrungen von Polen und Ungarn haben uns überzeugt: Wenn die Partei nicht auf das Leben reagiert, ist sie verurteilt [...]. Wir haben nur eine Wahl: entschieden voranzugehen." Nachdem Gorbatschow mit seinem Plädoyer für politische und ökonomische Reformen geendet hatte, pries Honecker aufs Neue den Erfolg des Sozialismus in der DDR. Wiederum keine Erwähnung der Flüchtlinge, kein Satz über die Krise in seinem Lande, die er gar nicht wahrzunehmen schien.Auch andere führende Politiker der DDR, wie Kurt Hager, Gerhard Schürer, Werner Krolikowski und Werner Eberlein, die danach sprachen, vermieden jede Kritik oder Selbstkritik. Schließlich ergriff Gorbatschow noch einmal das Wort, ging zunächst auf die schwierige Situation bei den Bergarbeitern im ukrainischen Donezk ein und kritisierte die eigenen Funktionäre, um dann verallgemeinernd hinzuzufügen: "Wir sehen also, wenn jemand schlecht arbeitet, die Sache nicht im Griff hat, und wir schützen ihn, dann ufern diese Probleme aus. Es gibt viele Signale für die Partei." Anschließend erhob sich der sowjetische Generalsekretär abrupt, um anzudeuten, dass man das Treffen beenden möge. Offenbar gab es nichts mehr zu sagen. Der Tag klang aus mit einem Empfang im Palast der Republik, bei dem Krenz und Schabowski gegenüber Valentin Falin - Moskaus Botschafter in Bonn von 1971 bis 1978 und danach Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU - ihre Meinung kundtaten, dass Honeckers Äußerungen entmutigend gewesen seien und dass die sowjetischen Genossen sicher sein könnten, dass bald etwas geschehen werde.Währenddessen hatten sich auf dem Alexanderplatz, unweit des Palastes der Republik, etwa 15.000 bis 20.000 Menschen versammelt, wo sie von "Agitatoren" der Partei in Diskussionen verwickelt wurden. Die Strategie der SED-Bezirksleitung erwies sich zunächst als erfolgreich: Niemand wurde geschlagen oder verhaftet. Erst als die Menge sich bereits zu zerstreuen begann, starteten einige Demonstranten am Ufer der Spree wieder mit "Gorbi, Gorbi"-Rufen und dem Slogan "Wir sind das Volk". Kurze Zeit später war die Situation völlig verändert: Einheiten der Polizei und der Staatssicherheit, die auf dem Alexanderplatz so große Zurückhaltung geübt hatten, erwarteten die auf dem Heimweg befindlichen Demonstranten in den Straßen des Stadtteils Prenzlauer Berg. Die Gewalt, die in der Stadtmitte angesichts der dortigen internationalen Medienpräsenz vermieden worden war, wurde nun abseits des Rampenlichts der Öffentlichkeit angewandt. Für die SED-Spitze waren die Ereignisse während der Jahrestagsfeierlichkeiten ein weiterer schwerer Misserfolg. Vor allem Erich Honecker hatte bewiesen, dass er ohne Einsicht war und völlig den politischen Instinkt verloren hatte, der ihn früher einmal ausgezeichnet hatte. Zwei Tage nach dem Jubiläum, am 8. Oktober, ergriff daher Egon Krenz am Rande eines Treffens, auf dem Erich Mielke vor leitenden Sicherheitskadern über die Vorgänge berichtete, die Initiative und erörterte mit Günter Schabowski ein fünfseitiges, in Ansätzen kritisches Papier. Es sollte vom Politbüro verabschiedet und als Proklamation der Parteiführung veröffentlicht werden. Allerdings lehnte Honecker, der allein das Recht hatte, Vorlagen im Politbüro zur Diskussion zu stellen, wie nicht anders zu erwarten, eine Erörterung des Papiers ab. Doch diesmal erklärte Krenz, dass die Parteiführung nicht länger schweigen dürfe, und kam schließlich telefonisch mit Honecker überein, die Angelegenheit am folgenden Tag nochmals zu besprechen. Dieser Tag, der 9. Oktober 1989, war besonders spannungsgeladen, weil bei der anstehenden Montagsdemonstration in Leipzig das Schlimmste befürchtet wurde. Man erwartete nach den vorangegangenen Ereignissen nicht nur einen weiteren Anstieg der Teilnehmerzahlen, sondern rechnete nach dem Ende der Feierlichkeiten auch mit einem besonders harten Vorgehen der Staatsmacht.In den Kirchen der Stadt und über den Leipziger Stadtfunk wurde daher ein Aufruf verlesen, der die Unterschriften so unterschiedlicher Personen wie des Kapellmeisters des Gewandhausorchesters, Kurt Masur, des Pfarrers Peter Zimmermann, des Kabarettisten Bernd-Lutz Lange und der drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung Leipzig trug und zu einem freien und friedlichen Dialog aufforderte. In Ostberlin bemühte sich Krenz, die örtlichen Sicherheitsorgane von der Zentrale aus zum Stillhalten zu verpflichten. Tatsächlich blieb alles ruhig. Und Krenz erreichte bei Honecker sein Ziel, seine Proklamation im Politbüro beraten zu lassen, auch wenn die unwirsche Reaktion seines politischen Ziehvaters ihn in der Überzeugung bestärkte, dass dessen baldige Ablösung unvermeidlich sei.

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Als der Text schließlich am 12. Oktober in leicht veränderter Form im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" veröffentlicht wurde, war das Ergebnis enttäuschend: Die erhoffte positive Resonanz blieb aus. Zu wenig war zu spät vom Politbüro geäußert worden. Die Glaubwürdigkeit war so nicht wiederherzustellen. Allerdings war auch der Sturz Honeckers inzwischen kaum noch aufzuhalten. Am selben Tag, als die Proklamation des Politbüros im "Neuen Deutschland" erschien, wurde der Generalsekretär in einer Sitzung mit den Bezirkschefs der SED derart scharf kritisiert, wie es im Politbüro noch nie vorgekommen war. Vor allem Hans Modrow aus Dresden, der durch die Flüchtlingszüge aus Prag und die damit zusammenhängenden Zusammenstöße schwer in Bedrängnis geraten war, tat sich hervor. Krenz fühlte sich dadurch ermutigt, in der folgenden Politbürositzung am 17. Oktober den Coup zu wagen. Gemeinsam mit Schabowski und dem Vorsitzenden des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Harry Tisch, verabredete er am 15. Oktober, dass Honecker gleich zu Beginn der Sitzung von Ministerpräsident Willi Stoph zum Rücktritt aufgefordert werden solle. Tisch wurde beauftragt, am folgenden Tag anlässlich eines seit langem terminierten Besuchs bei seinem sowjetischen Amtskollegen Stepan Schalajew in Moskau Gorbatschow über die geplante Aktion zu informieren. Da die Situation in den Bezirken eindeutig zu sein schien und auch aus Moskau keine Einwände kamen, brachte Stoph am 17. Oktober die Rücktrittsforderung vor, die sich ebenfalls auf Mittag und den im ZK der SED für Agitation und Propaganda zuständigen Joachim Herrmann erstreckte. Honecker leistete kaum Widerstand. Alle Politbüromitglieder, auch Günter Mittag und Erich Mielke, plädierten für die Annahme der Rücktrittsforderungen. Diese wurden einstimmig beschlossen. Honecker, Mittag und Herrmann votierten gegen sich selbst. Bereits am folgenden Tag wurde Egon Krenz auf Vorschlag des Politbüros vom Zentralkomitee der SED zum neuen Generalsekretär der Partei gewählt. Die vorangehende Aussprache war kurz, emotional und ziemlich zusammenhanglos. Während Hans Modrow eine umfassende Debatte über den künftigen Kurs der Partei forderte, waren die meisten ZK-Mitglieder nur daran interessiert, so rasch wie möglich in ihre lokalen Organisationen zurückzukehren, um dort über die dramatischen Veränderungen in Berlin zu berichten. Zugleich wurde Krenz von den Delegierten aufgefordert, im Fernsehen zu sprechen, weil sie ein öffentliches Wort des neuen Parteivorsitzenden für wichtiger hielten als endlose interne Diskussionen. Als Krenz daraufhin am Abend auf dem Bildschirm erschien, wiederholte er lediglich, was er tagsüber vor den ZK-Mitgliedern erklärt hatte - so als ob er zu einem zahlenmäßig vergrößerten Zentralkomitee spräche. Die Wirkung war verheerend: Krenz, der ohnehin bereits für seine Rolle bei der Manipulation der Kommunalwahl und seine China-Reise kritisiert worden war und überdies in dem Ruf stand, das Musterbeispiel eines steifen Parteifunktionärs zu sein, vermittelte das typische Negativ-Image der alten SED-Elite, die gerade abgewirtschaftet hatte. Die "Reformer", die glaubten, mit Honeckers Absetzung die Voraussetzung für einen Neuanfang geschaffen zu haben, hatten ihre erste - und vielleicht einzige - Chance vertan, ihren Versuch zur Erneuerung der Partei und ihrer Politik glaubwürdig darzustellen. Tatsächlich war mit dem Sturz Honeckers keines der Probleme gelöst, die den Anlass zu seiner Ablösung gegeben hatten. Nur substanzielle Reformen konnten dazu beitragen, die Lage zu verbessern. Die neue Führung unter Krenz versprach deshalb rasch, künftig Demonstrationen als Teil der politischen Kultur der DDR zu tolerieren. Neue Reisegesetze wurden angekündigt. Die Berichterstattung in den Medien änderte sich. Eine Debatte über Wahlen begann. Und früher ungekannte kritische Äußerungen SED-gelenkter Organisationen waren nun an der Tagesordnung. Außerdem wurde am 27. Oktober eine Amnestie für Ausgereiste bzw. Flüchtlinge und Demonstranten erlassen. Die Proteste gegen das SED-Regime setzten sich dennoch fort. So gingen während der ersten Montagsdemonstration nach der Ernennung von Krenz zum Generalsekretär allein in Leipzig mehr als 300.000 Menschen auf die Straße - viele von ihnen mit Anti-Krenz-Parolen unter den Stichworten "Demokratie unbekrenzt" und "Sozialismus krenzenlos". Überall im Lande gab es weitere Großdemonstrationen: in Plauen, Dresden, Halle, Zwickau, Neubrandenburg und Jena, um nur einige zu nennen - und natürlich auch in Ostberlin, wo sich 5000 Demonstranten vor dem Palast der Republik versammelten, deren Losung lautete: "Demokratie - jetzt oder nie". Als Krenz am 1. November in Moskau mit Michail Gorbatschow zusammentraf, war allerdings von einer Krise der DDR kaum die Rede. In Moskau hielt man den SED-Staat offenbar wieder für stabil, nachdem Honecker gestürzt und der Weg für Perestroika und das von Gorbatschow proklamierte neue Denken in der DDR frei geworden war. Doch das Gegenteil war der Fall. Als in derNacht zum 1. November die Anfang Oktober von den DDR-Behörden verhängten Beschränkungen im Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei wieder aufgehoben wurden, überquerten binnen weniger Stunden mehr als 8000 DDR-Bürger die Grenze zur CSSR. Ehe der Tag zu Ende war, hatten bereits wieder 1200 Ostdeutsche in der Bonner Botschaft in Prag Zuflucht gesucht, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. In der ersten Novemberwoche erreichte auch die Demonstrationsbewegung ihren Höhepunkt, als sich am 4. November mehr als eine halbe Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz versammelten und am 6. November ebenfalls wieder eine halbe Million in Leipzig, 60.000 in Halle, 50.000 in Karl-Marx-Stadt, 10.000 in Cottbus und 25.000 in Schwerin. Daraufhin traten am 7. November zunächst die Regierung der DDR (der Ministerrat) und am 8. November auch das Politbüro geschlossen zurück, um einer neuen Führung zu weichen, die im Wesentlichen aus Anti-Honecker-Leuten bestand - unter ihnen Krenz, Modrow, Schabowski und Herger. Hans Modrow wurde zum neuen Ministerpräsidenten der DDR bestimmt. Anders als Krenz, der keinen Ruf als Reformer besaß, schien er für manche eine glaubwürdige Alternative zur alten Garde der Partei zu verkörpern, auch wenn er kaum als Dissident oder gar als Oppositioneller zu bezeichnen war. Immerhin war es in seinem Parteibezirk Dresden zu den schwersten Übergriffen der Staatsmacht gegen Demonstranten gekommen. Der 61-jährige Modrow hatte außerdem schon früh in der SED Karriere gemacht. Im Alter von 39 Jahren war er in das Zentralkomitee der Partei gewählt worden und hatte von 1971 bis 1973 die Abteilung für Agitation und Propaganda geleitet, ehe Honecker ihn nach Dresden abgeschoben hatte - offenbar um ihn von mächtigeren Positionen in der Hauptstadt fernzuhalten. In Dresden hatte Modrow sich jedoch durch seinen unideologischen Pragmatismus eine gewisse Popularität verschafft. Nun glaubten manche in der SED gar - auch wenn es dafür kaum Belege gab -, er habe das Zeug, der "Gorbatschow der DDR" zu werden. Im Übrigen war es ein offenes Geheimnis, dass Modrow das Vertrauen Moskaus besaß.

Ehe Modrow am 13. November von der Volkskammer offiziell zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, überschlugen sich die Ereignisse an den Grenzen der DDR. Nach Aufhebung der Reisebeschränkungen gegenüber der Tschechoslowakei am 1. November und der Erklärung der DDR-Regierung, dass ihre Bürger direkt von der CSSR in die Bundesrepublik fahren könnten - ein Schritt, der die Mauer praktisch irrelevant werden ließ -, machten innerhalb einer Woche nicht weniger als 48.177 DDR-Bürger von dieser Möglichkeit Gebrauch. Der Massenexodus, der nach der ungarischen Grenzöffnung am 2. Mai 1989 begonnen hatte, setzte sich nun mit immer neuen Rekordzahlen über die Tschechoslowakei fort. Das Ausmaß der Ausreisen war inzwischen so groß, dass selbst die wohlhabende Bundesrepublik in Schwierigkeiten geriet. Bis zum Ende der ersten Novemberwoche hatten allein 1989 über 225.000 Ostdeutsche ihren Weg nach Westdeutschland gefunden, zu denen noch etwa 300.000 deutschstämmige Immigranten aus Osteuropa hinzukamen. Innenminister Wolfgang Schäuble warnte daher, die Bundesrepublik werde zwar weiterhin alle Übersiedler aufnehmen, doch müssten diese damit rechnen, für längere Zeit in relativ bescheidenen Verhältnissen zu leben. Bundeskanzler Kohl erklärte in seinem "Bericht zur Lage der Nation" am 8. November vor dem Bundestag, Bonn sei bereit, der neuen DDR-Führung bei der Umsetzung ihrer Reformen zu helfen. Wenn es einen wirklichen Reformprozess gebe, werde man sogar "eine neue Dimension wirtschaftlicher Unterstützung" für die DDR erwägen. Auch der Kanzler plädierte also für Hilfen vor Ort statt für eine Übersiedlung in die Bundesrepublik. Aber er verknüpfte sein Hilfsversprechen für die DDR mit klaren Bedingungen und sprach von einer "nationalen Verpflichtung" seiner Regierung, das "Recht auf Selbstbestimmung für alle Deutschen" zu fordern. Doch während Kohl im Bundestag sprach, war die Zahl der Flüchtlinge aus der DDR auf nicht weniger als 500 pro Stunde angeschwollen. Innerhalb eines Tages, vom 8. zum 9. November, flohen mehr als 11.000 Ostdeutsche über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. Es musste daher dringend etwas geschehen. Krenz und die neue SED-Führung waren sich von Anfang an darüber im Klaren gewesen, dass die Frage der Reisefreiheit von größter Bedeutung, ja entscheidend sein werde, wenn die Erneuerung des Regimes auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg haben sollte. Ministerpräsident Stoph hatte daher Innenminister Friedrich Dickel bereits am 19. Oktober - nur zwei Tage nach Honeckers Sturz - beauftragt, ein neues Reisegesetz zu erarbeiten. Weitere fünf Tage später hatte das Politbüro verlauten lassen, dass es "in der Zukunft allen DDR-Bürgern erlaubt sein wird, ohne Behinderungen zu reisen". Der erste Entwurf eines neuen Reisegesetzes lag am 31. Oktober vor und zirkulierte zunächst in der Spitze von Partei und Regierung. Er sah vor, dass alle Bürger der DDR das Recht haben sollten, ohne harte Währung für einen Monat im Jahr ins Ausland zu reisen, vorausgesetzt dass sie einen gültigen Reisepass und ein Visum besaßen, das von der Polizei innerhalb von dreißig Tagen nach Antragstellung zu erteilen sei. Obwohl der Entwurf noch einige Ungereimtheiten enthielt - vor allem hinsichtlich der Notwendigkeit einer Visumserteilung -, wurde er am 6. November veröffentlicht. Die Regierung erwartete, dass die Diskussion darüber bis Ende November abgeschlossen sein werde, so dass die neuen Verfahren irgendwann im Dezember in Kraft treten könnten. Doch die vorgesehenen Bestimmungen stießen auf massive Kritik. Noch am Tage der Veröffentlichung forderten mehrere Hunderttausend Menschen auf einer Massendemonstration in Leipzig "ein Reisegesetz ohne Einschränkungen". Vertretern der SED wurde nicht mehr erlaubt, auf der Versammlung zu sprechen. "Zu spät, zu spät", erscholl es aus der Menge. Und zum ersten Mal: "Wir brauchen keine Gesetze - die Mauer muss weg!" Auch in anderen Städten der DDR gab es Protestaktionen gegen den Entwurf. Sogar das zensierte Fernsehen brachte kritische Stimmen von DDR-Bürgern. Und in Fabriken im ganzen Land kam es zu spontanen Warnstreiks von Arbeitern, die sich durch das geplante Gesetz diskriminiert fühlten, weil es für sie keine Devisen vorsah, die für Reisen ins Ausland unabdingbar waren. Der Entwurf wurde daraufhin am folgenden Tag vom Rechtsausschuss der Volkskammer als "unzureichend" verworfen. Schlechte Nachrichten kamen ebenfalls aus der Tschechoslowakei, von wo Parteichef Milóš Jakéš SED-Generalsekretär Krenz mitteilte, dass seine Regierung nicht länger bereit sei, DDR-Bürgern zu gestatten, die westdeutsche Botschaft in Prag zu betreten oder ohne Verzug über die Grenze nach Bayern in die Bundesrepublik einzureisen, weil dies Wasser auf die Mühlen der eigenen tschechoslowakischen Opposition sei. Wenn die Regierung in Ostberlin nicht umgehend Maßnahmen ergreife, um das Problem zu lösen, werde die CSSR ihre Grenze zur DDR schließen. Das SED-Politbüro war daher unter großem Druck von innen und außen, als es am 7. November die Beratungen über die Gewährung der Reisefreiheit fortsetzte. Düster malte man sich aus, dass Tausende von DDR-Familien entlang der geschlossenen tschechoslowakischen Grenze kampieren oder gewaltsam versuchen würden, die andere Seite zu erreichen. Niemand würde einer solchen Situation standhalten können. Deshalb schien es notwendig, die ersehnte Reisefreiheit in einem Schritt vorab zu gewähren und das erforderliche Reisegesetz später vom Parlament nachträglich beschließen zu lassen. Ministerpräsident Stoph, der an diesem Tage zurücktrat, aber noch im Amt blieb, bis das neue Kabinett unter Hans Modrow am 17. November gebildet war, wurde beauftragt, eine entsprechende Entscheidung der Regierung herbeizuführen. Am Nachmittag des 9. November informierte Krenz das Zentralkomitee der SED - nach der späteren Erinnerung von Sitzungsteilnehmern eher beiläufig - von der soeben getroffenen Entscheidung der Regierung über die neuen Reisebestimmungen. Gegen 18 Uhr übergab Krenz dem neuen ZK-Sekretär für Information, Günter Schabowski, der gerade auf dem Wege war, die im Internationalen Pressezentrum versammelten Journalisten über die Ergebnisse der ZK-Tagung zu unterrichten, ein zweiseitiges Papier, das die neuen Bestimmungen enthielt. Dieses Papier war lediglich eine Vorlage der Regierung, kein gültiger Beschluss, der immer noch ausstand (was Schabowski aber, wie er heute erklärt, damals nicht wusste). Bei der Aushändigung des Textes bemerkte Krenz nur knapp: "Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns." Natürlich hoffte er, dass das Einlenken der neuen DDR-Führung in dieser wichtigen Frage die Lage entspannen werde. Entsprechend groß war die Aufregung, als Schabowski wenig später mit bemühter Routinemäßigkeit die Nachricht bekannt gab, dass die DDR ihre Grenzen geöffnet habe. "Bedeutet dies", fragte ein Reporter, "dass jeder DDR-Bürger jetzt frei in den Westen reisen kann?" Schabowski zitierte daraufhin aus dem Text, dass Anträge auf Reisen ins Ausland ohne Vorbedingungen gestellt werden könnten, dass jeder DDR-Bürger ab dem kommenden Morgen um 8 Uhr ein Visum erhalten könne und dass die Behörden angewiesen seien, Pässe und Visa "schnell und unbürokratisch" auszustellen. Die Regelung trete "sofort" in Kraft.

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Damit waren die Grenzen praktisch offen - auch wenn Schabowskis "sofort" eine aus dem Augenblick heraus entstandene unzulässige Erklärung war, die außer Acht ließ, dass die von ihm verkündete Reiseregelung bisher nur im Entwurf vorlag und im Übrigen an die Voraussetzung gebunden war, dass die Bürger vor dem Überschreiten der Grenzen noch den Gang zu den Passdienststellen antreten mussten. Tatsächlich gab es noch gar keinen amtlichen Beschluss, sondern nur eine Regierungsvorlage über die vorgezogene Grenzregelung, die Krenz von Innenminister Dickel während der ZK-Tagung erhalten hatte, um sie zu begutachten und abzusegnen. Nach der Zustimmung des Politbüros sollte sie dann im Umlaufverfahren von den Mitgliedern der noch amtierenden Regierung verabschiedet werden. Erst nach dieser Runde im Ministerrat, so das Verfahren, würden auch die entsprechenden Ausführungsbestimmungen erlassen. Dies brauchte jedoch Zeit, die nun nicht mehr zur Verfügung stand, weil die auf Öffentlichkeitswirkung angelegte Aktion von Krenz den Terminplan durchkreuzt hatte. Noch in der Nacht machten sich Tausende von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern auf den Weg zur Grenze, um sich an Ort und Stelle einen Eindruck von der neuen Lage zu verschaffen. Schabowskis missverständliche Äußerungen hatten bei ihnen die spontane Eingebung geweckt, dass sie "sofort" den Westen besuchen könnten. An den Grenzübergängen - vor allem in Berlin - war die Verwirrung allerdings groß, denn die Grenzposten hatten von der angeblichen Grenzöffnung ebenfalls erst aus den Medien erfahren. Sie konnten deshalb am Abend des 9. November noch gar keine neuen Weisungen erhalten haben und mussten improvisieren. Als der Druck immer mehr anschwoll, entschieden sie nach längerem Zögern und verschiedentlichem Taktieren sowie nach einer ebenso eiligen wie provisorischen Konsultation ihrer Zentrale, die Grenzen aufzumachen. Auch Krenz, der gegen 21 Uhr von Mielke telefonisch unterrichtet wurde, dass "mehrere Hundert" Menschen an der Grenze die sofortige Ausreise verlangten, plädierte dafür, sie "durchzulassen", da die Öffnung ohnehin beabsichtigt und jetzt nicht mehr zu vermeiden sei. Damit war die Mauer, 28 Jahre nach ihrer Errichtung, gefallen. Der Jubel und das Chaos, die in den folgenden Tagen herrschten, ließen eine nüchterne politische Bestandsaufnahme der Entwicklung nur schwer zu. Vor allem war unklar, ob die Verwirklichung der so lange geforderten Reisefreiheit nur den Druck beseitigen würde, unter dem die DDR-Führung so lange gestanden hatte, so dass sogar eine Stabilisierung des SED-Regimes wieder möglich schien, oder ob die Beseitigung der Mauer die Schleusen für den Massenexodus noch weiter öffnete und die DDR damit ökonomisch auszubluten drohte.

Von den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis nach dem Zweiten Weltkrieg galt Deutschland für viele ausländische Politiker und Beobachter als die eigentliche Bedrohung für Europa und die Welt. Das vorherrschende Bild von den Deutschen war geprägt von Militarismus, zeitweiser politischer Zügellosigkeit und dem Mangel an Gespür für die Ängste und Bedürfnisse anderer.Diese Sichtweise wurde maßgeblich bestimmt durch den Verlauf der Geschichte zwischen 1871 und 1945, als Deutschland zunächst unter Führung Bismarcks zu einem einheitlichen Reich heranwuchs und schließlich unter Hitler nahezu ganz Europa in die Katastrophe stürzte. Die Geschichte des Deutschen Reiches schien zu beweisen, dass Größe und Dynamik eines geeinten Deutschlands mit einem stabilen europäischen Staatensystem nicht verträglich waren. Die deutsche Neigung zu politischer Aggressivität wurde vielfach nicht nur als Ausdruck der legitimen Verfolgung nationaler Interessen, sondern auch als eine typische Eigenart des deutschen Nationalcharakters angesehen. Vor dem Hintergrund von 74 Jahren deutscher Einheit zwischen 1871 und 1945, zweier Weltkriege, der NS-Herrschaft und nahezu 65 Millionen Menschen, die durch die Kriegshandlungen ums Leben gekommen oder in Konzentrationslagern ermordet worden waren, wurde behauptet, dass Deutschlands politische, wirtschaftliche und militärische Macht unausweichlich die Unabhängigkeit und das Wohlergehen seiner Nachbarn bedrohe. Überdies habe das verbreitete Obrigkeitsdenken seiner Bewohner Deutschland nicht nur aggressiv nach außen, sondern auch empfänglich für den Totalitarismus im Innern gemacht.Nach dem Zweiten Weltkrieg sah es so aus, als hätten die Teilung Deutschlands und die amerikanisch-sowjetische Vorherrschaft in Europa diese Bedrohung gebannt: Durch die Teilung und damit die Eindämmung deutscher Macht schienen Europa und die Welt sicher vor den Deutschen - und die Deutschen sicher vor sich selbst. Die Wende von 1989 stellte aus Sicht vieler Nachbarn diesen "Lösungsansatz" wieder in Frage: Das vereinte Deutschland und Europa mussten aufs Neue lernen, miteinander zu leben. Unter diesem Blickwinkel lässt sich die Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90 nicht als isoliertes Ereignis der Gegenwart begreifen, sondern muss im Zusammenhang mit der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gesehen werden.

Die Frage, ob ein vereintes Deutschland mit dem europäischen Gleichgewicht in Einklang zu bringen ist, stellt sich in der genannten Form erst seit der Gründung des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck im Jahr 1871.Deutschlands neue Gestalt warf die Frage nach künftigen Gefährdungen für das europäische Gleichgewicht auf. Seine geographische Lage in der Mitte Europas und seine Bevölkerungszahl, vor allem aber seine Wirtschaftskraft und politisch-militärische Macht wurden von den Nachbarn als Bedrohung empfunden. Bismarck selbst erkannte dieses Problem frühzeitig und suchte es nach der Reichsgründung durch eine entschlossene Kehrtwendung seiner Politik zu entschärfen: So wenig er sich vor 1871 gescheut hatte, militärische Gewalt anzuwenden, um seine außenpolitischen Ziele durchzusetzen, so sehr bemühte er sich nach 1871 um einen Kurs der Mäßigung und "Saturiertheit". Das Deutsche Reich, so Bismarck, solle den gegenwärtigen Zustand Europas und die überkommenen Grenzen (Status quo) garantieren, anstatt sie in Frage zu stellen. Tatsächlich trug die Bismarcksche Außenpolitik in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erheblich dazu bei, die europäische Ordnung zu stabilisieren. Nach der Entlassung des Kanzlers durch Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 drängten jedoch neue Kräfte an die Macht, die schon seit 1871 unter der Oberfläche gewirkt hatten und nun im Ausland bald ein völlig neues Deutschland-Bild prägten. Besonders die Elemente des Nationalismus und des Militarismus, die für die Reichsgründung mobilisiert worden waren und danach nicht wieder gezügelt werden konnten, erwiesen sich in Verbindung mit der dynamisch fortschreitenden Industrialisierung als schwere Bürde. An die Stelle der vorsichtigen und behutsamen Strategie Bismarcks trat nun ein neuer Stil: dynamisch, großspurig und arrogant, vor allem jedoch ohne Gespür für die Erfordernisse des europäischen Gleichgewichts und die Empfindlichkeiten der Nachbarn.Der junge Kaiser war ein typischer Repräsentant dieses neuen Deutschlands: "Mit Volldampf voraus" wollte Wilhelm II. das Reich nun steuern - nicht länger gehindert vom vormals übermächtigen Bismarck - und Deutschland neuen großen Zielen entgegenführen. Dabei galt es, die bisherigen Begrenzungen deutscher Politik zu durchbrechen. Weltpolitik war das Ziel. Was andere Staaten Europas wie England, Frankreich, Spanien, Portugal und sogar die Niederlande seit langem betrieben hatten, sollte Deutschland - als "verspätete Nation", wie Historiker es formulierten - endlich nachholen.Das Ergebnis war vorhersehbar. Auch wenn der deutsche Imperialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts keineswegs das Produkt einer abnormen politischen Kultur oder gar die Folge einer spezifisch deutschen Mentalität des Militarismus und der Aggressivität war, trugen seine Auswirkungen dazu bei, Deutschland zu isolieren und die anderen europäischen Mächte zur Bildung einer Koalition gegen das Reich zu veranlassen. Ein Ausgleich mit England wurde dadurch ebenso verhindert wie die Fortsetzung des Bündnisses mit Russland, das für Deutschland lebensnotwendig war, solange eine Aussöhnung mit Frankreich nicht gelang. Der deutsche Versuch, auf dem Umweg über die Weltpolitik in Europa die Vorherrschaft zu erringen, scheiterte schließlich im Ersten Weltkrieg. Die deutsche Revolution vom November 1918 und die Errichtung der Weimarer Republik boten danach die Chance zu einem Neubeginn, die jedoch schon bald wieder vertan wurde. Verantwortlich dafür waren nicht nur die Deutschen selbst, die es nicht verstanden, aus den obrigkeitsstaatlichen Traditionen des Kaiserreiches auszubrechen und eine von der breiten Masse der Bevölkerung innerlich akzeptierte demokratische Ordnung zu errichten. Auch die Westmächte trugen dazu bei, indem sie auf der Versailler Konferenz von 1919 das Versprechen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson brachen, einen fairen und gerechten Frieden herbeizuführen.So war es vor allem der Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrages - die offizielle Feststellung der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges -, der zusammen mit der Verpflichtung zu hohen Reparationsleistungen in Deutschland Zorn und Erbitterung auslöste. Die innenpolitischen Feinde der Weimarer Republik hatten deshalb leichtes Spiel, gegen das "System von Versailles" zu polemisieren und damit zugleich die neu gewählte demokratische Regierung in Berlin zu treffen, der nichts anderes übrig geblieben war, als den Versailler Vertrag zu unterzeichnen und ihn vom Reichstag ratifizieren zu lassen.Überdies trugen die Reparationszahlungen dazu bei, eine rasche wirtschaftliche Erholung zu verhindern, die vielleicht zu einer breiteren Akzeptanz der demokratischen Ordnung hätte führen können. Die Kriegsschuldthese vergiftete das politische Klima und führte zu weitreichenden Forderungen nach einer Revision des Versailler Vertrages. Die Beruhigung, die für die innere Stabilisierung der Weimarer Republik ebenso notwendig gewesen wäre wie ihre Einbindung in das - mit Ausnahme von Russland - wiedererrichtete europäische Mächtesystem, wurde so unmöglich.Deutschland blieb daher auch nach dem Ersten Weltkrieg - trotz der Bemühungen Außenminister Gustav Stresemanns um deutsch-französische Aussöhnung und eine europäische Integration - letztlich ein Außenseiter der europäischen Politik. Die Erfolge der NSDAP bei den Reichstagswahlen nach Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929, welche die Nationalsozialisten zwischen September 1930 und dem Sommer 1932 zur stärksten politischen Kraft in Deutschland werden ließen, waren nur ein Ausdruck dieser inneren und äußeren Spannungen, von denen die Weimarer Republik ergriffen und schließlich zerrissen wurde. Der Aufstieg Adolf Hitlers und seine Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 bedeuteten nicht nur eine Kapitulation der Deutschen vor den Schwierigkeiten einer demokratischen Erneuerung und die Zuflucht zum gewohnten Modell einer Führerpersönlichkeit, sondern sie dokumentierten auch das Versagen der Westmächte, ihre Politik in Europa so zu gestalten, dass Deutschland darinseinen Platz finden konnte.Allerdings warf Hitlers erneuter Anspruch auf eine deutsche Vormachtstellung sogleich wieder die Frage auf, ob sich Deutschland überhaupt in eine europäische Ordnung integrieren ließe. Die zügellose territoriale Eroberungssucht der Nationalsozialisten zur Schaffung eines "Großdeutschen Reiches" verstieß gegen alle Normen, die sich die Staaten Europas seit dem Wiener Kongress 1815 zur Regelung ihrer Angelegenheiten gesetzt hatten.Hitler forderte nicht nur die Lösung Deutschlands von den Beschränkungen des Versailler Vertrages und die Wiederherstellung der deutschen Ostgrenzen von 1914 sowie den "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich, sondern auch die Eroberung von großen Gebieten im Osten und die Erringung der deutschen Weltherrschaft. Mit diesen Zielen ging er weit über das hinaus, was im Kaiserreich beabsichtigt gewesen war. Dennoch knüpfte er in mancherlei Hinsicht auch an die Pläne der Obersten Heeresleitung unter Wilhelm II. an, in der es noch bis zum August 1918 Fantasien eines Deutschen Reiches vom Rhein bis zur Ukraine und zum Kaukasus gegeben hatte. Jedenfalls stellten die Ansprüche Hitlers aus der Sicht des Auslandes erneut einen Beweis für die fortwährende Neigung der Deutschen dar, die europäische Ordnung zu untergraben, um eine eigene Hegemonie zu begründen. Vor diesem Hintergrund konnte es kaum verwundern, dass die Gegner Deutschlands während des Zweiten Weltkrieges eine territoriale Aufteilung des Deutschen Reiches als sinnvollsten Weg zur dauerhaften Lösung des deutschen Problems erwogen. Bei einem Treffen mit dem britischen Außenminister Anthony Eden ließ der sowjetische Staats- und Parteichef Josef Stalin im Dezember 1941 keinen Zweifel daran, dass er eine Zersplitterung Deutschlands favorisierte.Auch der britische Premierminister Winston Churchill befürwortete lange Zeit eine Teilung Deutschlands - allerdings hauptsächlich mit dem Ziel der Zerschlagung Preußens, dessen militärischen Geist er als das Grundübel der deutschen Politik ansah. Eine Nord-Süd-Teilung entlang der Main-Linie und die Errichtung einer "Donaukonföderation" im Süden schien ihm deshalb besonders zweckmäßig.Roosevelt betrachtete die dauerhafte Niederhaltung und Schwächung Deutschlands ebenfalls als eine entscheidende Voraussetzung für die Gestaltung einer einheitlichen Weltordnung, die er gemeinsam mit Großbritannien, der Sowjetunion und China zu verwirklichen hoffte. Auf der ersten Kriegskonferenz der "Großen Drei" - Stalin, Roosevelt und Churchill - im Dezember 1943 in Teheran unterbreitete der amerikanische Präsident daher einen Vorschlag, der eine Aufteilung Deutschlands in fünf selbstständige Staaten und zwei Regionen unter internationaler Kontrolle vorsah. Er stieß damit bei Churchill und Stalin auf prinzipielle Zustimmung. Einhellig waren die drei Regierungschefs in Teheran der Meinung, dass die Erhaltung bzw. Wiederherstellung eines einheitlichen Deutschlands eine Bedrohung für den Weltfrieden darstelle und dass nur ein geteiltes Deutschland als annehmbarer Partner in die internationale Staatengemeinschaft zurückkehren könne. Die Teilung Deutschlands als Weg zur Beseitigung des von Deutschland ausgehenden Hegemonialstrebens war damit jedoch noch keine beschlossene Sache. Vielmehr wurde gegen Ende des Krieges immer deutlicher, dass die Gesetze der Machtpolitik durch den gemeinsamen Kampf der Alliierten gegen Hitler-Deutschland nicht außer Kraft gesetzt worden waren. So bereitete das unaufhaltsame Vordringen der sowjetischen Armee nach Mitteleuropa, das durch Hitlers Expansion nach Osten ausgelöst worden war, vor allem den Briten große Sorgen.Auf der zweiten Kriegskonferenz der "Großen Drei" im Februar 1945 in Jalta zögerte Churchill daher, bei der Frage der Teilung Deutschlands die gleiche Entschiedenheit an den Tag zu legen wie in Teheran. Die drei Regierungschefs verwiesen das Thema zur weiteren Beratung an eine Expertenkommission und demonstrierten damit, dass sie in dieser Frage nicht mehr einig waren. Der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus.Auch Stalin rückte schließlich von seinen Teilungsplänen ab und erklärte bei der Siegesparade in Moskau am 9. Mai 1945, die Sowjetunion feiere den Sieg, sei aber nicht im Begriff, "Deutschland zu zerstückeln oder zu zerstören". Doch während Churchill und das britische Außenministerium bei ihren Überlegungen zur Erhaltung der deutschen Einheit von den Erfordernissen des europäischen Gleichgewichts ausgingen, das nach der Niederlage Deutschlands nun durch die übermächtige Sowjetunion bedroht war, ließ sich Stalin offenbar von der Hoffnung leiten, das Instrument einer gemeinsamen Besatzungspolitik nutzen zu können. Er verfolgte den Zweck, Einfluss auf ganz Deutschland zu erlangen und damit seinen Anspruch auf Reparationen aus dem Ruhrgebiet durchzusetzen.So war die Teilung Deutschlands nach 1945 trotz des entschlossenen Willens der Siegermächte, die politische, wirtschaftliche und militärische Macht des Deutschen Reiches dauerhaft zu zerschlagen, nicht das unmittelbare Ergebnis des Zweiten Weltkrieges. Vielmehr folgte sie aus dem Ost-West-Konflikt, in dem die Gemeinsamkeit der alliierten Deutschlandpolitik nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Von den ersten Spannungen 1945 wegen des amerikanischen Reparationsstopps über den Marshall-Plan 1947, die Währungsreform 1948 und die Berliner Blockade 1948/49 bis hin zur Gründung der beiden deutschen Staaten waren alle Etappen der Teilung unmittelbar mit der Entwicklung des Ost-West-Gegensatzes verbunden. Die "Teilung der Welt" (Wilfried Loth) zog die deutsche Spaltung nach sich. Und der territorial-politische Status quo in Europa, der auf dieser Teilung basierte, konnte von Deutschland aus nicht mehr einseitig verändert werden, solange Europa im gegeneinander wirkenden Sog der neuen "Weltführungsmächte" USA und Sowjetunion verblieb. Die Weichenstellungen, die zwischen 1945 und 1949 im beginnenden Ost-West-Konflikt erfolgten, bestimmten auch die Handlungsspielräume der Regierungen in den beiden deutschen Teilstaaten ab 1949. So war die Teilung Deutschlands für Konrad Adenauer - damals noch Vorsitzender der CDU in der britischen Zone - bereits 1948 nicht länger eine drohende Gefahr, sondern schon eine vollzogene Tatsache.Sie sei vom Osten her geschaffen und müsse nun durch den Wiederaufbau der deutschen Einheit vom Westen her beseitigt werden, erklärte er dazu in der "Kölnischen Rundschau" vom 3. April 1948. Dazu war es nach Ansicht von Adenauer notwendig, den westlichen Teil Deutschlands fest in die westliche Gemeinschaft einzugliedern, um die Bundesrepublik zu einem politisch stabilen und wirtschaftlich erfolgreichen politischen System mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung aufzubauen, das durch seine Attraktivität auf die DDR wie ein Magnet wirken würde. Aus einer solchen Position der Stärke heraus sollte dann auch die Wiedervereinigung Deutschlands angestrebt werden, die ohne gesicherte Westbindung nur um den Preis der Sowjetisierung ganz Deutschlands zu erreichen wäre.Nach seiner Wahl zum Bundeskanzler verfolgte Adenauer deshalb eine Politik der Westintegration, die von vornherein nicht national, sondern europäisch bestimmt war. Wie Winston Churchill, der in einer Rede in Zürich bereits am 19. September 1946 für eine Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich plädiert hatte, um damit einen ersten Schritt zu tun, "so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa" zu errichten, trat auch Adenauer für einen Zusammenschluss Westeuropas ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es für ihn noch viel dringender geworden, eine klare Entscheidung für den Westen zu treffen und damit die alte deutsche "Schaukelpolitik" zwischen Ost und West zu beenden, weil nun zusätzlich die Gefahr einer weiteren Ausdehnung des sowjetischen Machtbereiches bestand, der inzwischen ja schon bis zur Elbe reichte.Diese Integrationspolitik Adenauers, durch die die Bundesrepublik von vornherein an den neu entstehenden europäischen Institutionen beteiligt wurde, erhielt zusätzliche Förderung durch die Entwicklung des Ost-West-Konflikts. Dieser führte nach Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950 zu einer intensiven Debatte über einen deutschen Wehrbeitrag zur Verteidigung Westeuropas und die Errichtung einer Europa-Armee mit deutscher Beteiligung im Rahmen einer "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft" (EVG). Bei dieser Diskussion ging es für die Bundesrepublik allerdings nicht nur um militärische Fragen, sondern auch um die Wiedererlangung der Souveränität und um Gleichberechtigung gegenüber den anderen Nationen, nachdem die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Niederlage von 1945 eine eigenständige deutsche Politik vorübergehend unmöglich gemacht hatten.Nach dem Scheitern der EVG in der französischen Nationalversammlung im August 1954 wurde schließlich mit den Pariser Verträgen vom Oktober 1954 und dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik im Mai 1955 eine Ersatzlösung gefunden, durch welche die von Adenauer angestrebte Westintegration der Bundesrepublik praktisch verwirklicht wurde. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auf der Grundlage der Römischen Verträge vom 25. März 1957 sowie die Beteiligung der Bundesrepublik an weiteren europäischen Zusammenschlüssen - zum Beispiel an der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) - führten diese Integrationspolitik erfolgreich weiter.Die These Adenauers, durch Anbindung an den Westen nicht nur Sicherheit und Beistand für die Bundesrepublik gegenüber dem Kommunismus, sondern auch Anerkennung und Akzeptanz unter den neuen Verbündeten zu erhalten, fand volle Bestätigung. Das loyale Verhalten der Bundesrepublik innerhalb des westlichen Bündnisses und die Verlässlichkeit der Adenauerschen Politik sorgten schrittweise für eine positive Veränderung des Deutschland-Bildes, das so lange von negativen Akzenten beherrscht worden war. Die Bundesrepublik wurde von einer Gegnerin zu einer soliden Partnerin der Westmächte im Ost-West-Konflikt und beim Neuaufbau Europas. Der Preis dafür war die Teilung Deutschlands, die auf diese Weise unter den Bedingungen des Kalten Krieges nicht zu überwinden war und damit auf Dauer zementiert schien.

Ob eine Wiedervereinigung nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt möglich gewesen wäre - und wenn ja, zu welchen Konditionen -, ist in der historischen Forschung bis heute umstritten. Sicher ist nur, dass die Sowjetunion durch ihr Verhalten in Osteuropa nach der Besetzung dieses Territoriums durch die Rote Armee frühzeitig ihren Willen dokumentierte, die eroberten Gebiete nicht ohne Bedingungen wieder zu räumen. Das sowjetische Sicherheitsbedürfnis verlangte nach einem territorialen Einflussgürtel. Deutschland spielte dabei eine besondere Rolle, weil es nicht nur die Schuld am Zweiten Weltkrieg trug, sondern auch den Schlüssel zur Beherrschung Mittel- und Osteuropas darstellte.Welche Bedeutung Stalin der Kontrolle der deutschen Entwicklung beimaß, wird nicht zuletzt durch das umfangreiche Engagement der Sowjetunion bei der Ausbildung deutscher Exil-Kommunisten während des Krieges in Moskau unterstrichen, bei der kommunistische Kader systematisch auf ihren Einsatz im Nachkriegsdeutschland vorbereitet wurden. Die Machtübernahme der KPD/SED 1945/46 in der Sowjetischen Besatzungszone, mit der die Gründung eines kommunistischen deutschen Staates eingeleitet wurde, wäre ohne diese langfristige Kaderpolitik viel schwieriger, wenn nicht unmöglich gewesen.Die "Gruppe Ulbricht", die bereits am 30. April 1945 an Bord einer sowjetischen Militärmaschine in Berlin eintraf und deren Angehörige hier von einem sowjetischen Offizier freundlich als "Mitglieder der neuen deutschen Regierung" empfangen wurden, war nur ein Beispiel für den Einsatz in Moskau geschulter Funktionäre beim Aufbau des neuen Deutschlands. Eine vergleichbare Vorbereitung demokratischer Kräfte im Westen gab es nicht.Die Integration, die im Westen Deutschlands von Adenauer in langen politischen Kämpfen mühsam durchgesetzt werden musste, gelang daher im Osten problemlos: Die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und später die DDR wurden praktisch vom ersten Tag an nahtlos in den sowjetischen Machtbereich eingefügt. Zwar gab es in Ostdeutschland anfangs durchaus auch politische Kräfte, insbesondere in der neu gegründeten Ost-CDU, für die Jakob Kaiser sprach, sowie in der Liberal-Demokratischen Partei und in geringerem Maße auch bei der SPD, die für einen "Brückenbau" plädierten und einem wiedervereinigten Deutschland eine Sonderrolle zwischen Ost und West zuweisen wollten.Aber Teile der einflussreichen Sozialdemokratie, die allerdings nur bis zur Zwangsvereinigung mit der KPD 1946 bestand, und vor allem die KPD votierten für eine Ostorientierung und eine revolutionäre Umgestaltung, um den Kapitalismus zu überwinden, der ihrer Auffassung nach direkt in den Nationalsozialismus gemündet hatte. Die grundlegenden Strukturreformen (Verstaatlichung, Planwirtschaft, Einparteiherrschaft), die nach 1945 in Ostdeutschland durchgeführt wurden, waren ein unübersehbares Signal für die Entschlossenheit der Sowjetunion und ihrer deutschen Verbündeten, zumindest in diesem Teil Deutschlands ihre Vorstellungen durchzusetzen.In dem Maße, in dem sich ab 1946 der Kalte Krieg ausprägte, wurde damit die Teilung vorangetrieben, obwohl die Einheitsforderung verbal aufrechterhalten wurde. Faktisch war die Einbeziehung Ostdeutschlands in das sowjetische Imperium allerdings schon 1945 eine Tatsache, die auch nach Gründung der DDR 1949 nicht mehr in Zweifel gezogen wurde. Anders als in der Bundesrepublik, wo sich die Westintegration mit großer Zustimmung der Bevölkerung vollzog, wurde diese Entwicklung im Osten jedoch von vielen Menschen als politische Katastrophe empfunden.Die Sowjetunion beherrschte mittels ihrer Besatzungsbehörden die Situation und ließ den ostdeutschen Politikern - einschließlich der Kommunisten - keinerlei Spielraum. Eine freie Wahl gab es für die Bevölkerung in Ostdeutschland im Innern ebensowenig wie nach außen. Damit war - von Anfang an - ein Legitimitätsdefizit des politischen Regimes vorprogrammiert, das bis 1989 nie kompensiert werden konnte. Da die DDR ihre Existenz einzig der sowjetischen Besatzungsmacht verdankte, blieb die Anwesenheit sowjetischer Streitkräfte auch später eine zentrale Bestandsgarantie für das Regime. Und als diese Bestandsgarantie Mitte der achtziger Jahre unter dem sowjetischen Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow erstmals in Frage gestellt wurde, war das Ende der DDR nicht mehr fern. Vorerst beherrschte indessen der Ost-West-Konflikt die Entwicklung in Deutschland und Europa und machte jeden Gedanken an eine Überwindung des Status quo von 1945 illusorisch. Immerhin trug diese Situation durch die enge Einbeziehung der beiden deutschen Staaten in die jeweiligen Machtblöcke dazu bei, das deutsche Negativ-Image zu relativieren und die Furcht vor Deutschland und den Deutschen abzubauen: Indem die Siegermächte ihren jeweiligen Teil Deutschlands in ihr Bündnissystem einfügten, hielten sie ihn zugleich unter Kontrolle. Im Westen war dieser Prozess sogar wechselseitig: Hier galt das Prinzip der Integration, bei dem neue überstaatliche Strukturen entstanden. Sie führten zunehmend zu einer Wiederaufwertung der deutschen Position mit der Tendenz, die Deutschen vollberechtigt in die internationale Staatengemeinschaft wiederaufzunehmen.In den fünfziger und sechziger Jahren, als der Kalte Krieg die Ost-West-Beziehungen bestimmte, bedeutete diese Entwicklung jedoch auch Entfremdung der beiden deutschen Staaten voneinander sowie ein hohes Maß an Konflikten und gegenseitiger Abgrenzung zwischen Ost und West. Das Bild vom "militaristischen Deutschen" der Vergangenheit wurde auf beiden Seiten durch neue Feindbilder ersetzt, die sich nun an der ideologischen Auseinandersetzung zwischen den Blöcken orientierten: hier der "imperialistische Klassenfeind" in der Bundesrepublik, dort das "kommunistische Satelliten-Regime" in der DDR.Erst mit Beginn der Lockerung der Ost-West-Konfrontation nach der Doppelkrise um Berlin und Kuba 1961/62, die den Wendepunkt im Kalten Krieg hin zur Entspannungs- und Kooperationspolitik markierte, gelang es, die positiven Auswirkungen, welche die Politik der Führungsmächte bereits innerhalb der jeweiligen Blöcke auf das deutsche Image gehabt hatte, auf das Ost-West-Verhältnis zu übertragen.Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hatte die neue Ostpolitik der Bundesrepublik unter Bundeskanzler Willy Brandt, der mit seiner sozialliberalen Koalition nach den Bundestagswahlen vom 20. September 1969 die Regierung übernahm. Brandt hatte als Regierender Bürgermeister von Berlin den Mauerbau am 13. August 1961 miterlebt und danach rasch die Erkenntnis gewonnen, dass entgegen den Hoffnungen der fünfziger Jahre eine Überwindung der deutschen Teilung noch für lange Zeit unmöglich sein werde, weil die mit Unterstützung der Sowjetunion erfolgte äußere Abriegelung der DDR dem SED-Regime vorerst zu einer Stabilisierung verhalf.Brandt schloss daraus, dass man in der Deutschlandpolitik nunmehr vom Status quo ausgehen müsse. Sogar direkte Vereinbarungen mit der DDR sollte es nun geben,um den Kontakt zwischen den Menschen in beiden Staaten nicht abreißen zu lassen. Außerdem ging es darum, kurzfristig "menschliche Erleichterungen" im geteilten Deutschland zu erreichen und langfristig durch gegenseitigen Kontakt und Beeinflussung vielleicht einen "Wandel durch Annäherung" herbeizuführen, wie Brandts Pressesprecher Egon Bahr im Juli 1963 in Tutzing erklärt hatte.

ext. Referenz 

Diese neue Ostpolitik, die in den sechziger Jahren vorbereitet und nach 1969 im Rahmen einer allgemeinen Ost-West-Entspannung in die Tat umgesetzt wurde, führte innerhalb kurzer Zeit, zwischen 1970 und 1973, zu den Ostverträgen der Bundesrepublik mit Moskau, Warschau und Prag sowie zum Vier-Mächte-Abkommen über Berlin und zum Grundlagenvertrag mit der DDR, in denen die bestehenden Grenzen anerkannt, der Status Westberlins gesichert und Maßnahmen zur Zusammenarbeit vereinbart wurden. Die neue Ostpolitik leistete auf diese Weise einen wichtigen Beitrag zur Entschärfung des Ost-West-Konflikts. Außerdem schuf sie die Voraussetzungen für die Einberufung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, heute OSZE - Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) sowie für Gespräche über beiderseitige, ausgewogene Truppenbegrenzungen und trug so dazu bei, der gesamteuropäischen Entspannung den Weg zu ebnen.Alle diese Entwicklungen ließen die "deutsche Gefahr", die vor allem die Nachbarn Deutschlands mit Sorge erfüllte, in einem neuen Licht erscheinen: Die Deutschen waren nicht länger "Störenfriede", sondern fügten sich, wie schon seit 1945 innerhalb der Blöcke, nunmehr auch in die Neugestaltung der Ost-West-Beziehungen ein. Dabei stellte die Sicherung des Status quo ein zentrales Element dar, weil ohne die Anerkennung der bestehenden Grenzen und Einflusssphären keine Kooperation über die machtpolitischen und ideologischen Gräben des Kalten Krieges hinweg möglich gewesen wäre.

Die Wahl in der DDR vom 18. März 1990 wurde nicht nur durch die Diskussion über die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den beiden deutschen Staaten bestimmt, sondern stand insgesamt bereits stark unter dem Einfluss westdeutscher Parteien und Politiker. Dieses bestimmende westliche Engagement war weniger das Ergebnis eines gezielten Handelns der westdeutschen Vertreter, als vielmehr die Folge des rapiden Zerfalls der Autorität des ostdeutschen Staates, der zu Jahresbeginn 1990 ein bemerkenswertes Ausmaß erreichte. So ergab eine Anfang Februar vom Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung und dem westdeutschen Nationalen Marktforschungsinstitut gemeinsam durchgeführte Meinungsumfrage, dass 75 Prozent der Ostdeutschen sich nunmehr für die Wiedervereinigung aussprachen - 27 Prozent mehr als im November 1989.Der Wahlkampf für die ersten freien Parlamentswahlen der DDR am 18. März wurde von diesem Stimmungswandel bestimmt. Die Wahl war ursprünglich für den 6. Mai geplant gewesen, aber die Modrow-Regierung und die Oppositionsvertreter am Runden Tisch hatten am 28. Januar entschieden, den Termin vorzuverlegen, da sich die politische und wirtschaftliche Situation derart schnell verschlechterte, dass es fraglich war, ob die DDR im Mai überhaupt noch existieren würde. Nun bewarben sich neben der SED, die jetzt unter dem Namen "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) antrat und als lange eingespielte Organisation mit großem Mitarbeiterstab kaum Probleme hatte, den Wahlkampf aufzunehmen, mehr als 50 neue politische Gruppierungen und Parteien um die Gunst der Wählerinnen und Wähler. Die Mitgliederzahl der SED/PDS war zwar innerhalb weniger Monate von 2,4 Millionen auf 890.000 Ende Januar 1990 gesunken, aber dennoch war die alte DDR-Staatspartei den politischen Amateuren der neu gebildeten Gruppierungen hinsichtlich Organisation, Parteidisziplin und politischer Erfahrung weit überlegen. Das Neue Forum kann als ein Beispiel für die organisatorische und konzeptionelle Schwäche idealistischer Kräfte im politischen Alltag gelten. Gegründet im September 1989 von einer Initiativgruppe unter Führung von Bärbel Bohley und Jens Reich, sollte es dazu verhelfen, aus dem Volk heraus ein neues, humanes und sozialistisches Ostdeutschland zu schaffen. Ziel des Neuen Forums war es, dem Willen der Menschen Ausdruck zu verleihen, ohne ihnen bereits vorgegebene Strukturen oder Konzeptionen überzustülpen. Unter der kommunistischen Herrschaft war dieser Ansatz kühn und herausfordernd gewesen. Inzwischen wurde er jedoch von vielen angesichts der Verlockungen der westlichen Wohlstandsgesellschaft für überholt gehalten. ext. Referenz  Andere Bürgerbewegungen, wie Demokratie Jetzt und die Initiative für Frieden und Menschenrechte, litten unter ähnlichen Motivationsproblemen und konzeptionellen Schwächen. Die Ursprünge von Demokratie Jetzt, die ihre Wurzeln in der evangelischen Kirche der DDR hatte, reichten bis 1986 zurück. Die eigentliche Gründung erfolgte jedoch erst Mitte September 1989 mit einem "Aufruf zur Einmischung", der unter anderem von Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß unterzeichnet worden war. In einem "Bündnis aller reformwilligen Menschen, auch von Christen und kritischen Marxisten", wurde zur "demokratischen Umgestaltung der DDR" aufgefordert, in der ein eigener Sozialismus verwirklicht werden sollte. Die Forderungen schlossen jedoch auch die Bundesrepublik ein: Beide deutschen Staaten sollten sich "um der Einheit willen aufeinander zu reformieren".Die Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) war aus der internationalen Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre hervorgegangen und hatte sich 1986 als erste unabhängige Oppositionsgruppe in der DDR etabliert, um die Abrüstung zu fördern und politische Dissidenten zu unterstützen. Die IFM ließ sich durchaus mit ähnlichen Gruppierungen im Westen vergleichen und unterhielt Arbeitsbeziehungen zur Alternativen Liste in West-Berlin und zu den Grünen in Westdeutschland. Im Hinblick auf die Volkskammerwahlen am 18. März schloss sich die IFM mit dem Neuen Forum und Demokratie Jetzt zu einem Wahlbündnis unter der Bezeichnung "Bündnis 90" zusammen.Die gemeinsame Schwäche aller drei Gruppierungen war jedoch das Fehlen starker westlicher Partner und einer funktionierenden Parteiorganisation. Sie waren als Bürgerbewegungen gegründet worden und stützten sich auf ein Netzwerk von "Basisgruppen", die mehr oder weniger unabhängig voneinander operierten, ohne festes Programm und strenge Disziplin. Hintergrund dieses Bemühens um maximalen Bewegungsspielraum und größtmögliche Pluralität war die Erfahrung von nahezu sechs Jahrzehnten nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur. "Basisdemokratie" erschien deshalb als magische Formel für ein alternatives Regierungskonzept, das die meisten Anhänger der Initiativgruppen - viele von ihnen Intellektuelle, Künstler, aktive Kirchenmitglieder und frühere Dissidenten - für ideal hielten, um das SED-Regime zu ersetzen. Die Frage war nur, ob auch eine Mehrheit der DDR-Bürger nach 40 Jahren Kommunismus bereit war, ein weiteres Experiment zu wagen, oder ob sie eher den bewährten Konzepten nach westlichem Vorbild zuneigten, die die etablierten Parteien anboten. Die Sozialdemokratische Partei, die Anfang Oktober 1989 von 43 Dissidenten - unter ihnen der Dramaturg Ibrahim Böhme und Pastor Markus Meckel - in Schwante nahe Oranienburg gegründet worden war, verfügte über ein derartiges bewährtes Programm. Die ostdeutschen Sozialdemokraten konnten sich nicht nur auf die lange Tradition der deutschen Arbeiterbewegung berufen, sondern erhielten auch frühzeitig Unterstützung von ihrer Schwesterpartei, der mächtigen westdeutschen SPD. Ein gemeinsamer "Verbindungsausschuss" wurde eingerichtet, und eine ganze Reihe von SPD-Politikern und politischen Experten reiste in die DDR, um ihren ostdeutschen Kollegen beim Aufbau einer effektiven Parteiorganisation zu helfen. Willy Brandt wurde Ehrenvorsitzender der ostdeutschen Sozialdemokraten; Wahlkampfposter porträtierten ihn über seinem oft zitierten Slogan "Was zusammengehört, wächst zusammen". Die Ost-SPD konnte der Wahl damit zuversichtlich entgegensehen. Die meisten politischen Beobachter gingen davon aus, dass sie überlegen gewinnen und die neue Regierung stellen würde.Auf der anderen Seite zögerte die westdeutsche CDU sehr viel länger, ihr ostdeutsches Pendant zu unterstützen. Ihr Problem bestand darin, dass die Ost-CDU keine Neugründung war, sondern vierzig Jahre lang als "Blockpartei" in der Nationalen Front mit der SED kollaboriert und die Kommunisten unterstützt hatte. Auch nachdem ihr Vorsitzender Gerald Götting am 10. November 1989 durch Lothar de Maizière ersetzt worden war und bis Mitte Dezember ergänzende personelle und programmatische Veränderungen vorgenommen worden waren, ließen sich die Belastungen der Vergangenheit nicht so leicht abstreifen. Kooperationsangebote der westdeutschen Christdemokraten blieben daher zunächst aus. Dazu trugen auch Äußerungen de Maizières bei, der am 19. November in einem Interview erklärte, er halte den "Sozialismus für eine der schönsten Visionen menschlichen Denkens" und teile nicht die Auffassung, "dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung des Sozialismus beinhaltet". Auch sei die Einigung Deutschlands nicht "das Thema der Stunde". Es handele sich dabei vielmehr um Überlegungen, "die vielleicht unsere Kinder oder unsere Enkelanstellen können".Kopfzerbrechen bereitete der West-CDU ferner, dass ihre ostdeutsche Schwesterpartei aktiv in der Modrow-Regierung mitarbeitete und noch am 19. Januar für eine Fortsetzung dieser Tätigkeit votierte, um "die Situation im Lande nicht weiter zu destabilisieren". Bundeskanzler Kohl wartete daher bis Anfang Februar, ehe er zum ersten Mal mit Lothar de Maizière zusammentraf, um seine Hilfe anzubieten.Inzwischen waren mit dem Demokratischen Aufbruch (DA) und der Deutschen Sozialen Union (DSU) zwei weitere, eher konservative Gruppierungen entstanden, die als Bündnispartner in Frage kamen. Der DA war teils christlich-ökologisch, teils christlich-konservativ orientiert und wurde personell vor allem von Pastor Friedrich Schorlemmer aus Wittenberg, Rechtsanwalt Wolfgang Schnur aus Rostock und dem Ostberliner Pastor Rainer Eppelmann getragen. Insbesondere Eppelmann favorisierte eine Parteistruktur nach dem Muster der westdeutschen CDU. Die DSU war eine Partei liberaler, konservativer und christlichsozialer Kräfte vornehmlich aus dem Süden der DDR. Sie wurde - unter dem Vorsitz von Pfarrer Hans-Wilhelm Ebeling - stark von der bayerischen CSU unterstützt und forderte "Freiheit statt Sozialismus". Die Stärke des DA, der DSU und der Ost-CDU war schwer zu beurteilen. Da die konservativen Kräfte gespalten waren, befürchtete die West-CDU bei der bevorstehenden Volkskammerwahl einen Erdrutschsieg der SPD. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ließ sich Kohl trotz erheblicher Bedenken zur persönlichen Begegnung mit de Maizière bewegen, um Möglichkeiten für ein konservatives Wahlbündnis zu erörtern. Kohl, Seiters und der Generalsekretär der West-CDU, Volker Rühe, trafen danach am 5. Februar de Maizière, Schnur und Ebeling, um die so genannte Allianz für Deutschland zwischen CDU, DA und DSU zu gründen, die im folgenden Wahlkampf geeint antrat.Die westdeutschen Liberalen warteten ebenfalls sehr lange, bis zum 12. Februar, ehe sie sich entschlossen, eine ostdeutsche Koalition - die Allianz der Freien Demokraten - zu unterstützen, während die Grünen einer ganzen Reihe von Umweltgruppen und Linksparteien zu Hilfe kamen, darunter der Grünen Liga, der Grünen Partei in der DDR und der Vereinigten Linken. Die extreme Rechte der Bundesrepublik wurde indessen durch einen Beschluss der Volkskammer von einem Engagement in der DDR abgehalten: Die Republikaner wurden verboten, ihr Gründer, Franz Schönhuber, wurde an der Einreise gehindert.Die Spitzen der westdeutschen Politik, die kurz zuvor noch jegliche Einflussnahme in der DDR von sich gewiesen hatten, übernahmen nun de facto die Verantwortung für die Entwicklung in Ostdeutschland. Insgesamt 7,5 Millionen DM wurden von den Westparteien für den Wahlkampf in der DDR aufgewandt. Davon entfielen nicht weniger als 4,5 Millionen DM auf CDU und CSU, während SPD und FDP sich mit jeweils etwa 1,5 Millionen DM begnügten.Bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 konnten sich 12,2 Millionen Wahlberechtigte in der DDR zwischen 19 Parteien und fünf Listenverbindungen, die weitere 14 Parteien repräsentierten, entscheiden. Meinungsumfragen zufolge lag die SPD in der Wählergunst Anfang Februar noch mit 54 Prozent der Stimmen weit in Führung, gefolgt von der PDS mit zwölf Prozent und der CDU mit elf Prozent.Doch nachdem Bundeskanzler Kohl am 6. Februar - einen Tag nach Gründung der "Allianz für Deutschland" - die baldige Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion angekündigt hatte, während der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel am 15. Februar im Deutschen Bundestag gegen einen solchen Schritt aufgetreten war, wandelte sich die Stimmung grundlegend: Als der Kanzler wenig später zu seinem ersten Wahlkampfauftritt in der DDR erschien, erwarteten ihn auf dem Platz vor der gotischen Kathedrale in Erfurt mehr als 100.000 Menschen - in einer Stadt von immerhin nicht mehr als 220.000 Einwohnern. Bei folgenden Auftritten in Cottbus und Leipzig, wo er den 1:1 Währungsumtausch versprach, war es nicht anders. In Leipzig gingen sogar 300.000 auf die Straße, um Kohl zu begrüßen.Der Erfolg gab dem Bundeskanzler recht: Am 18. März stimmten 48,0 Prozent für die Parteien der Allianz für Deutschland, nur 21,9 Prozent für die SPD, 16,4 Prozent für die PDS und 5,3 Prozent für die Allianz Freier Demokraten. Das Bündnis 90 - die Vereinigung von Neuem Forum, Demokratie Jetzt und der Initiative für Frieden und Menschenrechte - musste sich mit nur 2,9 Prozent der Stimmen begnügen. Das Ergebnis war ein unüberhörbarer Ruf nach rascher Wiedervereinigung und Marktwirtschaft sowie eine klare Zurückweisung jeglicher Form des Sozialismus. Davon wurden auch die Sozialdemokraten negativ betroffen, die die drängenden Wiedervereinigungserwartungen vieler Ostdeutscher enttäuscht hatten.

Dieser Wahlausgang bedeutete zugleich das Ende der DDR. In den ersten freien Wahlen, die hier überhaupt jemals stattgefunden hatten, votierten die Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich gegen den Staat, der ihnen von einer kommunistischen Minderheit mit sowjetischer Rückendeckung aufgezwungen worden war und zu dessen Abwahl ihnen zuvor niemals Gelegenheit gegeben worden war.Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hatten die Menschen in der DDR nun erstmals mit dem Stimmzettel ausüben können. Zuvor hatten sie nur die Chance gehabt, einen Ausreiseantrag zu stellen und damit eine "Abstimmung mit den Füßen" zu praktizieren. Die ersten freien Wahlen beschleunigten entscheidend den Wiedervereinigungsprozess. Ihm vermochten sich nun weder die Regierungen in Ostberlin und Bonn noch die Vier Mächte, die seit 1945 Verantwortung für Deutschland als Ganzes trugen, länger zu widersetzen.

Die "friedliche Revolution" in der DDR war nicht allein ein Aufbegehren gegen das bestehende politische System. Dass sich die zunächst auf einzelne Gruppen von Bürgerrechtlern beschränkten Proteste gegen die gefälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 binnen eines halben Jahres zu einer wahren Massenbewegung verwandelten, hatte ganz entscheidend auch mit der verbreiteten Unzufriedenheit über die wirtschaftlichen Verhältnissen zu tun: Versorgungsmängel nicht nur bei Wohnungen oder Kraftfahrzeugen, sondern selbst bei eher alltäglichen Waren wie zum Beispiel Kaffee oder modischer Kleidung waren allgegenwärtig. Der desolate Zustand von Infrastruktur, Wohnungswesen und Umwelt war für jeden sichtbar und auch der Verschleiß der Produktionskapazitäten nicht mehr zu übersehen. Auch der Staatsführung war dies durchaus bekannt. Die Staatliche Plankommission stellte in einem internen Papier im Oktober 1989 fest, dass die DDR seit langem über ihre Verhältnisse gelebt habe und kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stehe: "Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25-30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen", so die drastische Schlussfolgerung. Durchaus folgerichtig wurden die Mängel der zentralen Planwirtschaft als Hauptursache hierfür benannt und grundlegende Reformen angemahnt, insbesondere eine stärkere Dezentralisierung wirtschaftlicher Entscheidungen und die Nutzung von Gewinnanreizen auf betrieblicher Ebene. "Insgesamt geht es um die Entwicklung einer an den Marktbedingungen orientierten sozialistischen Planwirtschaft bei optimaler Ausgestaltung des demokratischen Zentralismus, wo jede Frage dort entschieden wird, wo die dafür nötige, größere Kompetenz vorhanden ist", so die entscheidende Passage in dem zitierten Papier der Plankommission. Zu einer solchen grundlegenden Reform kam es dann jedoch nicht mehr: Innerhalb nur weniger Monate lösten sich nicht nur die Regierung, sondern auch das politische System, die bestehende Wirtschaftsordnung und schließlich der Staat selbst auf. Nur ein knappes Jahr nach den Massenprotesten des Jahres 1989 war Deutschland wiedervereinigt. Die DDR war zu diesem Zeitpunkt wirtschaftlich gesehen am Ende. Nach der Öffnung der Grenzen sahen sich die bislang geschützten DDR-Betriebe zudem dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Nicht die Einführung der Marktwirtschaft und die Umstände der Vereinigung waren also der Grund dafür, dass es nach dem Mauerfall binnen kurzer Zeit zu einem weitgehenden Zusammenbruch der bestehenden Unternehmen kam. Sicherlich sind angesichts fehlender Erfahrungen mit dem Umbau einer Zentralverwaltungswirtschaft in eine Marktwirtschaft in Teilbereichen Fehler gemacht worden, etwa bei der politisch motivierten Bestimmung des Umtauschkurses zwischen Ost-Mark und D-Mark, der weitgehenden Übertragung westlicher Rechtsvorschriften auf den Osten oder der Festlegung auf das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" bei der Reprivatisierung enteigneten Eigentums. Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft wäre aber auch nicht zu vermeiden gewesen, hätte man alles richtig gemacht. Angesichts einer insbesondere bei der älteren Bevölkerung in Ostdeutschland verbreiteten Verklärung der Verhältnisse in der DDR kann dies nicht deutlich genug betont werden. Auch wenn es noch viele Probleme in Ostdeutschland gibt, kann die wirtschaftliche Entwicklung seit der Vereinigung im großen und ganzen als Erfolgsgeschichte betrachtet werden. Dies wird trotz aller Kritik von der großen Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung auch so anerkannt; eine Rückkehr zu sozialistischen Verhältnissen jedenfalls wird nur von wenigen gefordert. Dennoch: Der Einbruch der Wirtschaft unmittelbar nach der "Wende" war schmerzhaft. Schätzungen zufolge lag die Wirtschaftsleistung in Ostdeutschland im Frühjahr 1991 um rund 35 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. Aber schon im Verlauf des Jahres 1991 begann ein rasanter Aufholprozess. Mit der Gründung neuer Unternehmen, dem Aufbau moderner Produktionsstätten durch auswärtige Investoren und der Sanierung und Privatisierung ehemaliger DDR-Betriebe, erhöhte sich das (preisbereinigte) Bruttoinlandsprodukt in den Jahren 1991 bis 1995 um insgesamt 50 Prozent (vgl. Abbildung 1). Getragen wurde das Wachstum insbesondere vom Baugewerbe, das vom hohen Nachholbedarf bei der Verkehrsinfrastruktur und im Wohnungswesen profitieren konnte. In der Industrie kam der Aufschwung hingegen erst zeitverzögert in Gang, da der Aufbau neuer Produktionskapazitäten mehr Zeit benötigte. Gegenläufig war hingegen die Entwicklung am Arbeitsmarkt: Da in den neuen, moderneren Produktionsanlagen deutlich weniger Personal benötigt wurde als zuvor, nahm die Zahl der Erwerbstätigen stark ab, während die Arbeitslosigkeit massiv anstieg. Hinzu kam eine nicht an der Leistungsfähigkeit der Betriebe orientierte Lohnpolitik einerseits und der notwendige Personalabbau in systemnahen Bereichen wie Polizei, Militär und Staatssicherheit. Bereits 1992 lag die Arbeitslosenquote trotz aller arbeitsmarktpolitischen Gegenmaßnahmen in den neuen Ländern bei rund 15 Prozent.; Rechnet man die so genannte verdeckte Arbeitslosigkeit zum Beispiel durch öffentliche Arbeitsbeschaffungs- und Fortbildungsmaßnahmen hinzu, war sogar ein Drittel aller Erwerbspersonen ohne reguläre Beschäftigung. Trotz leichter Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit hat sich hieran auch bis 1995 nichts Grundlegendes geändert. Nach 1995 hat sich der sogenannte "Aufbau Ost" nur noch mit abgeschwächtem Tempo fortgesetzt. Das jahresdurchschnittliche Wachstum des (preisbereinigten) Bruttoinlandsprodukts betrug zwischen 1995 und 2008 nur noch 1,6 Prozent. Die gesamtwirtschaftliche Produktion war zuletzt um 23 Prozent höher als Mitte der 1990er Jahre. Grund für das abgeschwächte Wachstum war zum einen die einsetzende Strukturbereinigung im Baugewerbe: Anfänglich aufgebaute Produktionskapazitäten waren aufgrund der nachlassenden Nachfrage nicht länger ausgelastet. Eine Rolle spielte aber auch, dass mit dem Ende der Privatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt die Investitionstätigkeit auswärtiger Unternehmen in den neuen Ländern nachließ. Auch die Beschäftigungssituation hat sich aus diesen Gründen nicht grundlegend gebessert. Bei rückläufigem Arbeitsangebot ist die Unterbeschäftigungsquote, die das tatsächlich vorhandene Arbeitsplatzdefizit auf dem ersten Arbeitsmarkt ausweist, zwar auf 16 Prozent im Jahr 2008 zurückgegangen, die offiziell ausgewiesene Arbeitslosenquote ist mit 13 Prozent aber immer noch doppelt so hoch wie in Westdeutschland.

Die Industrie hat sich indes auch in den letzten Jahren weiterhin positiv entwickelt. Das Produktionsniveau in diesem Wirtschaftsbereich lag im Jahr 2008 rund zweieinhalb Mal so hoch wie im Jahr 1995. Hier wurden in den letzten Jahren sogar wieder neue Arbeitsplätze geschaffen. Vor allem in "neuen" Branchen wie der Photovoltaik oder der optoelektronischen Industrie haben sich wettbewerbsfähige ökonomische Entwicklungskerne herausgebildet, die zunehmend auch der regionalen Wirtschaftsentwicklung Impulse verleihen. So können Städte wie Dresden und Jena – bedeutende Standorte dieser Branchen – entgegen dem ostdeutschen Trend Wanderungsgewinne erzielen, was wiederum auch zu günstigen Wachstumsperspektiven für die lokale Wirtschaft führt. Eine bedeutsame Rolle beim Aufbau Ost spielte von Anfang an die Politik. Neben der Erneuerung und Erweiterung der Infrastruktur (insbesondere im Verkehrsbereich) wurden mit hohem finanziellem Einsatz private Investitionen gefördert: Für Existenzgründer wurde Kapital bereitgestellt und die Modernisierung der Produktpalette in bestehenden Unternehmen wurde insbesondere mit Hilfen für Forschung und Entwicklung unterstützt. Darüber hinaus waren die neuen Länder von Anfang an gleichberechtigt in die sozialen Sicherungssysteme einbezogen. Dies hatte insbesondere in der Arbeitslosen- und Rentenversicherung hohe Ausgaben zur Folge. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und den dadurch nur geringen Beitragseinnahmen konnten die Leistungen der Sozialsysteme jedoch nur durch Ausgleichszahlungen aus den westdeutschen Zweigen dieser Versicherungen bzw. dem Bundeshaushalt aufgebracht werden. Hinzu kamen Zahlungen im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs zur Kompensation geringer Steuereinnahmen. Diese sogenannten "Transferleistungen" für die neuen Länder (ohne Berlin) beliefen sich Schätzungen zufolge im Zeitraum 1991 bis 2005 auf knapp 900 Milliarden Euro (netto), wobei der größte Teil auf Sozialausgaben entfällt. Derzeit wird noch immer rund ein Fünftel der inländischen Nachfrage in Ostdeutschland (Öffentlicher und Privater Verbrauch sowie Investitionen) durch Mittel finanziert, die den neuen Ländern aus Westdeutschland zufließen. Dies zeigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland noch längst nicht als "selbsttragend" angesehen werden kann. Über die wirtschaftliche Situation herrscht in Ostdeutschland vielfach Unzufriedenheit. Gründe dafür sind auch der nach wie vor bestehende Einkommensrückstand gegenüber dem Westen und die als schlecht empfundenen Beschäftigungschancen. Viele Menschen in Ostdeutschland fühlen sich daher ungerecht und wie "Bürger zweiter Klasse" behandelt. Teilweise erscheint dies verständlich, denn nach wie vor liegt das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in den neuen Ländern nur bei 68 Prozent und die Arbeitsproduktivität nur bei 77 Prozent des westdeutschen Durchschnittswertes (Ost- und Westdeutschland jeweils ohne Berlin). Dies ist freilich vor allem auf unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen in Ost- und Westdeutschland zurückzuführen: Großunternehmen wie im Westen gibt es in den neuen Ländern kaum, die meisten Firmen weisen nur eine sehr geringe Größe auf und sind deswegen kaum in der Lage, höhere Löhne zu zahlen. Zudem fehlt es an Firmenzentralen mit einer hohen Präsenz einkommensstarker Tätigkeiten, beispielsweise in Forschung und Entwicklung. Schließlich ist die Industrie und der unternehmensnahe Dienstleistungssektor – Branchen, die typischerweise günstige Einkommensperspektiven für die Menschen bieten – in Ostdeutschland schwächer vertreten als in Westdeutschland; deutlich stärker sind hingegen die haushaltsnahen Dienstleistungen, bei denen im Regelfall nur geringe Löhne gezahlt werden. Und schließlich ist auch die hohe Arbeitslosigkeit nicht nur auf einen Mangel an Arbeitsplätzen, also eine unzureichende Arbeitsnachfrage zurückzuführen, sondern zum Teil auch auf die traditionell hohe Erwerbsbeteiligung in den neuen Ländern, also ein höheres Arbeitsangebot. Um einen Ausgleich zu schaffen, wären also in Ostdeutschland institutionelle Rahmenbedingungen erforderlich, die eine höhere Arbeitsintensität in der Produktion ermöglichen, was aber eben nicht der Fall ist. Insoweit ist die vermeintliche Benachteiligung des Ostens zu einem guten Teil die Folge struktureller Defizite als Spätwirkung der Teilung Deutschlands. Und schließlich: Auch wenn die verfügbaren Einkommen je Einwohner nur bei rund 78 Prozent des westdeutschen Niveaus liegen, ist zu beachten, dass auch das allgemeine Preisniveau in den neuen Ländern noch immer etwas niedriger liegt (insbesondere infolge der niedrigeren Mieten), so dass sich die Einkommen in realer Betrachtung durchaus schon weit angeglichen haben. Gleichwohl: Nicht zu verkennen ist, dass der "Aufbau Ost" in den vergangenen Jahren nur noch schleppend vorangekommen ist und dass auch für die Zukunft nicht mit einer deutlichen Verbesserung der Situation gerechnet werden kann. Grund hierfür sind vor allem die Herausforderungen, die aus der demographischen Entwicklung resultieren: Von 1989 bis heute hat sich die Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenländern um rund 14 Prozent reduziert. Alle Prognosen deuten darauf hin, dass sich dieser Prozess auch in Zukunft fortsetzen wird – für das Jahr 2020 wird nochmals mit einer um rund 10 Prozent niedrigeren Bevölkerungszahl gerechnet. Grund hierfür ist nicht nur die Abwanderung insbesondere jüngerer und zumeist gut qualifizierter Menschen, sondern in noch stärkerem Maße der starke Geburtenrückgang nach der Vereinigung. Die schrumpfende und zugleich stark alternde Bevölkerung macht es zunehmend schwieriger, ein hohes Wirtschaftswachstum zu erreichen, weil damit ein zusätzlicher Mangel an Fachkräften verbunden sein wird. Insbesondere wirtschaftlich wenig attraktive, peripher gelegene Regionen in den neuen Ländern dürften hiervon betroffen sein. Ostdeutsche Ballungszentren wie zum Beispiel das Umland von Berlin, Dresden oder auch Jena weisen hingegen zum Teil durchaus günstige Zukunftsperspektiven auf. Man muss sich daher wohl an den Gedanken gewöhnen, dass Ostdeutschland nicht nur dauerhaft eine strukturschwache Region in Deutschland bleiben wird, sondern auch daran, dass die regionalen Differenzierungen in den neuen Ländern künftig stark zunehmen werden. Dies stellt die Politik vor die Aufgabe, mit besonderen Konzepten den Aufbau Ost weiter zu unterstützen.

Im Erinnerungsbild vieler Ostdeutscher ist die Blitzprivatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand-Anstalt, kurz Treuhand, von 1990 bis 1994 eher als "Abbau Ost" präsent. Damals verkaufte die zeitweise größte Staatsholding der Welt in weniger als fünf Jahren fast 14.000 Ostunternehmen an private Investoren und schloss zahlreiche weitere Betriebe für immer. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft kostete nicht nur 80 Prozent der Erwerbstätigen vorübergehend oder auf Dauer den Arbeitsplatz. Sie war auch ein gigantisches Verlustgeschäft für den deutschen Staat. Noch im Oktober 1990 hatte Treuhand- Chef Detlev Karsten Rohwedder den Wert der Treuhand-Betriebe recht hoch geschätzt: "Der ganze Salat ist 600 Milliarden wert". Am Ende verdiente die Treuhand am Verkauf von Betrieben und Grundstücken gerade einmal 66,6 Milliarden Mark. Die Ausgaben überstiegen die Einnahmen jedoch bei Weitem. Die Kosten für den massiven Arbeitsplatzabbau in den Betrieben und die Beseitigung ökologischer und sonstiger Altlasten, Kreditbürgschaften, Verlustausgleichszahlungen an die Investoren, Beraterhonorare und die Altschulden der Betriebe, all das schlug bei der Treuhand zu Buche. Bei ihrer Selbstauflösung Ende 1994 hinterließ sie einen Schuldenberg von rund 250 Milliarden Mark. War die DDR-Wirtschaft nach 40 Jahren "real existierendem Sozialismus" tatsächlich keinen Pfifferling mehr wert, wie die Treuhändler behaupteten, oder ist das ostdeutsche Produktivvermögen im Schlussverkauf DDR auf verantwortungslose Weise verramscht worden, wie Treuhand-Kritiker meinen? Die Frage, wie man eine zentralistische Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft transformiert, war bis zum Zusammenbruch des Ostblocks niemals ernsthaft erörtert worden. Es gab weder Lehrbücher noch Präzedenzfälle. Dieses Argument führen die Treuhänder gern ins Feld, wenn man ihnen den Ausverkauf der DDR-Wirtschaft und das Plattmachen ganzer Industrien vorwirft. Zudem sei die Mehrzahl der Treuhandunternehmen mit etwa vier Millionen Beschäftigten, die sich 1990 im Besitz der Treuhand befanden, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht überlebensfähig gewesen. Umso verwunderlicher ist es, dass man sich angesichts dieser Diagnose dennoch dazu entschloss, den Markt zum Richter über Tod und Leben der ehemaligen VEBs zu machen. Privatisierung nach Treuhand-Rezept, das bedeutete die Betriebe schleunigst an private Investoren zu verkaufen. Birgit Breuel, Nachfolgerin des 1991 von der Rote Armee Fraktion (RAF) erschossenen Treuhandpräsidenten Rohwedder, stellte die einfache Formel auf: "Schnelle Privatisierung bedeutet schnelle Sanierung." Die Treuhand erbte nicht nur eine nach westlichen Maßstäben vielfach veraltete und unproduktive Ökonomie, sondern auch eine Volkswirtschaft, die durch die deutsch-deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 mit einem Schlag ihrer Märkte beraubt worden war. Die Übernahme der D-Mark durch die DDR machte ostdeutsche Produkte in den Ostblockstaaten, wohin zwei Drittel der Exporte gingen, über Nacht unbezahlbar. Im Westen hatte die DDR ihre Produkte oft nur aufgrund des für den Außenhandel geltenden, inoffiziellen Umrechnungskurses von 4,40 DDR-Mark zu einer D-Mark verkaufen können. Auch dieser war nach der Währungsunion hinfällig. Zugleich wurde der ostdeutsche Binnenmarkt über Nacht mit Westprodukten überschwemmt. Es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie, dass die DDR-Bürger, deren Sparguthaben bis zu einer bestimmten Höhe (je nach Alter 2.000, 4.000 oder 6.000 Mark) im Kurs 1:1 in D-Mark umgetauscht worden waren, den Niedergang der DDR-Industrie nach Kräften beschleunigten, indem sie mit dem neuen, "echten" Geld all die Dinge kauften, die es in der DDR gar nicht oder nur in minderer Qualität gegeben hatte. Die politischen Visionäre, die im Osten die Wende gemanagt hatten, Bürgerrechtler, Künstler und Intellektuelle, konnten angesichts dieser Blitzmetamorphose des befreiten Volkes zu Bilderbuchkonsumenten nur die Köpfe schütteln.Die Währungsunion, die Bundeskanzler Helmut Kohl trotz der Bedenken der Bundesbank und anderer Kritiker hinsichtlich des Zeitpunktes und des Umtauschkurses durchsetzte, war zweifellos eine Katastrophe für die ostdeutsche Industrie. Für den Machterhalt des Kanzlers erwies sie sich jedoch als wesentlich. Das Versprechen, die D-Mark einzuführen und auf eine baldige Wiedervereinigung hinzuarbeiten, sicherte den DDR-Christdemokraten den Sieg in den ersten und letzten freien Wahlen in der Geschichte der DDR im März 1990 und bereitete Kohls eigene Wiederwahl bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen im Dezember 1990 vor. Nebenbei stoppte die Währungsunion vorerst auch die Massenflucht von DDR-Bürgern in den Westen. Sicher ist, dass die Währungsunion vor allem eine gigantische Staatssubvention für die westdeutsche Wirtschaft war, die ungestüm auf den neuen Markt drängte. Von Mitte 1990 bis 1997 wurden Waren und Dienstleistungen im Wert von 1,4 Billionen DM von West nach Ost transferiert. Das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt stieg vor allem aufgrund der Nachfrage im Osten bis 1991 um fünf bis sechs Prozent, während es in der Noch- bzw. Ex-DDR im selben Zeitraum um fünfzehn bis zwanzig Prozent schrumpfte. Eine nach außen abgeschottete, technologisch veraltete und über weite Strecken unproduktive sozialistische Planwirtschaft war von einem Moment zum nächsten dem freien Markt und einem Zusammenprall mit der leistungsfähigsten Volkswirtschaft Europas ausgesetzt worden. Als die Treuhand sich anschickte, die ostdeutsche Wirtschaft zu "privatisieren" blieb ihr in vielen Bereichen oft wenig mehr, als die Trümmer der Kollision aufzusammeln, die postsozialistische Konkursmasse schnellstmöglich abzustoßen.

Die große Schnelligkeit, mit der die Treuhand sich ihrer Aufgabe entledigte und der Zeitdruck, unter den sie sich dabei selbst setzte, ist vielleicht das bemerkenswerteste Merkmal ihres Wirkens. Wo es an Zeit fehlte, stand der Anstalt immerhin eine andere Ressource in ausreichender Menge zur Verfügung: Geld. Womit denn auch nicht gespart wurde. Beträchtliche Summen wurden an im Osten tätige westdeutsche Liquidatoren, Unternehmensberater, Wirtschaftsprüfer und Notare gezahlt. Juristische Berater kassierten Stundensätze von bis zu 600 DM, Unternehmensberatungen wie Roland Berger, BCG, Kienbaum und Price Waterhouse erhielten für jede Außenstelle im "wilden" Osten bis zu 250.000 DM monatlich. Findige "Consultants" stellten für ihre Dienste 2.000 bis 4.000 DM pro Tag in Rechnung, bis die Treuhand nach Protesten des Bundesrechungshofes und interner Prüfung den Höchstsatz auf 2.000 DM begrenzte. Auch Politprominenz engagierte sich im Osten. Klaus von Dohnanyi (SPD), Exbürgermeister von Hamburg, beriet die Treuhand für einen hohen Tagessatz. Für Liquidatoren erwies sich das Betriebssterben im Osten als wahrer Segen, Millionenbeträge als Honorare waren keine Seltenheit. Die mit Abstand größten volkswirtschaftlichen Kosten ergaben sich jedoch aus den sozialen Folgen der marktwirtschaftlichen Rosskur und aus den ökologischen und sonstigen "Altlasten" der DDR-Betriebe, die plötzlich nach westdeutschen Maßstäben gemessen wurden. So wurden potenziell lukrative Privatisierungen zum Verlustgeschäft für die Treuhand. Beim Verkauf der ostdeutschen Braunkohlewirtschaft übernahm die Treuhand die Kosten für 95.000 Entlassungen ebenso wie für die Beseitigung sämtlicher ökologischer Altlasten – Rekultivierung durchwühlter Mondlandschaften, Müll- und Abraumbeseitigung und vieles mehr. Bei der Veräußerung der ostdeutschen Vereinigten Energiewerke (VEAG) (Jahresumsatz 1991: 6 Milliarden Mark) an Preussen- Elektra, RWE, die Bayernwerk AG und die EBH zahlte die Treuhand trotz des Kaufpreises von mehreren Milliarden Mark am Ende noch drauf. Die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), die 1995 die noch verbliebenen Treuhand-Firmen übernahm, stellte bei 2.700 Verträgen aus der Frühphase der Privatisierung zum Teil grobe Unregelmäßigkeiten fest. Schlagzeilen machten dabei nur die wirklich großen Skandale, wie zum Beispiel der Verkauf der Geräte- und Regler- Werke Teltow an die westdeutschen Investoren Claus Wisser und Roland Ernst für eine Mark. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass allein der Substanzwert des Betriebes um die 170 Millionen Mark wert gewesen war. Ebenfalls eine Mark zahlten indische Investoren für die Textilbetriebe Thüringische Faser und Sächsische Kunstseiden GmbH. Nachdem die versprochenen Investitionen ausblieben, mussten die Firmen 1993 Konkurs anmelden. Bei derartigen "Geschäften" nimmt es nicht Wunder, dass ein Mitglied des Treuhand-Vorstandes bitter bemerkte, man habe oftmals nicht Betriebe ver-, sondern Investoren gekauft. Eine Privatisierung, bei der der Verkäufer den Markt zunächst durch ein riesiges Überangebot verzerrt und sich zudem noch selbst unter immensen Zeitdruck setzt, hat tatsächlich mit Marktwirtschaft nicht viel zu tun. Leitende Treuhand-Mitarbeiter erhielten gar Prämien für schnelle Privatisierungen. Potentielle "Investoren" hätten in keiner besseren Verhandlungsposition sein können. Eine Studie ermittelte, dass sich Ende 1994 von 1.247 Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten im Osten 62,7 Prozent in Westbesitz befanden. Der Anteil stieg mit der Größe der Betriebe. Die meisten dieser Betriebe wurden als "verlängerte Werkbänke" westdeutscher Konzerne klassifiziert. Forschungs- und Entwicklungsabteilungen gab es in ihnen nicht mehr, sie dienten im Wesentlichen der kurzfristigen Kapazitätsausweitung und der Fertigung von Einzelkomponenten für den Mutterkonzern. In nur 280 Privatunternehmen in den neuen Bundesländern gab es noch mehr als 500 Beschäftigte. Zwischen 1989 und 1997 ging die Zahl der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe von 4,3 Millionen auf 1,9 Millionen zurück. Bis heute hat der Osten diese Strukturimplosion nicht verwunden. Hohe Arbeitslosigkeit, Massenabwanderung junger und qualifizierter Arbeitskräfte und Überalterung der zurückbleibenden Bevölkerung prägen bis heute das Bild in weiten Teilen der neuen Bundesländer. Dennoch hat es seit dem Ende des Wirkens der Treuhandanstalt auch positive Entwicklungen gegeben – nicht zuletzt aufgrund milliardenschwerer Transferleistungen von West nach Ost im Rahmen des Solidarpaktes. Neben den immer wieder gern als Indikatoren eines Aufschwungs bemühten Erfolgen beim Ausbau der Infrastruktur und der Erneuerung von Städten und Gemeinden, haben sich besonders in Sachsen und Thüringen leistungsfähige Industrie- und Wachstumskerne herausgebildet. Die Arbeitslosenquote im Osten lag zwar im November 2008 mit 11,8 Prozent noch immer doppelt so hoch wie im Westen, stand aber auf dem niedrigsten Niveau seit 1991. Abgesehen von den Auswirkungen der aktuellen Krise, die niemand vorhersehen kann, ist eine generelle Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West jedoch noch lange nicht in Sicht. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Osten lag im Jahr 2007 bei etwa 70 Prozent des Westniveaus, und auch die negative Bevölkerungsentwicklung stimmt noch immer nachdenklich. Eine Prognose geht davon aus, dass einige der neuen Länder bis 2030 mehr als ein Viertel ihrer ohnehin seit Wendezeiten merklich geschrumpften Bevölkerung verlieren könnten. Ob ein wirklicher Aufschwung Ost bis dahin zu einer Kehrtwende geführt haben wird, bleibt fraglich.

Vor 20 Jahren am 5. Dezember 1989 nahm mit der Besetzung der ersten Dienststellen der Staatssicherheit in Erfurt und anderen Bezirksstädten der DDR ein einmaliges Unternehmen seinen Anfang: die Sicherung des Aktenbestandes des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR und die Öffnung dieses Bestandes für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Seitdem ist die Öffnung der Stasi-Akten zu einem Erfolgsmodell mit Ausstrahlungskraft nach ganz Osteuropa geworden. Dahinter steht der Grundgedanke, dass der Neuanfang einer demokratischen Gesellschaft die aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unter der Diktatur erfordert. Joachim Gauck, der erste Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, hat diese Überzeugung 1991 mit den folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: "Wie wir das Problem der Stasi-Akten auch drehen und wenden – wir werden besser damit fertig, wenn wir Einblick nehmen können in dieses unheimliche Erbe der untergegangenen DDR." Die Entscheidung für die Aktenöffnung war umstritten. Niemand bei den Bürgerkomitees konnte in den ersten Wochen 1990 abschätzen, welche Folgen ihre Öffnung haben würde. Aus Sorge vor Missbrauch ließ der Runde Tisch Anfang März die Magnetbänder der zentralen Personenkartei vor laufenden Kameras zerschreddern. Damit blieb nur noch die Karteikartenversion mit rund 5,2 Millionen Namen, die zwei große Säle in der MfS-Zentrale füllte. Erst nach und nach bildete sich die Überzeugung heraus, dass nur die Offenlegung der Akten Klarheit biete. Dies zeigte deutlich der Fall Wolfgang Schnur, Spitzenkandidat des "Demokratischen Aufbruchs" für die Volkskammerwahl im März 1990 und langjähriger Anwalt von Oppositionellen. Über Wochen brachten MfS-Offiziere Gerüchte über seine Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter (IM) in Umlauf, bevor schließlich die Funde des Bürgerkomitees in Rostock bittere Gewissheit schufen. Nach der Volkskammerwahl bildeten sich zwei Lager. Die Bundesregierung und die DDR-Regierung unter ihrem Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere einigten sich schnell, dass die Akten umgehend geschlossen werden sollten - "differenzierte Vernichtungsregelungen" inbegriffen, wie es das Bundesinnenministerium formulierte. Die Innenminister Wolfgang Schäuble (West) und Peter-Michael Diestel (Ost) machten keinen Hehl daraus, dass sie innere Befriedung durch einen klaren Schlussstrich und Generalamnestie wollten. De Maiziere warnte vor "Mord und Totschlag" im Falle einer Offenlegung von IM-Namen und Schäuble plädierte für einen "möglichst restriktiven Um- und Zugang" zu den Stasi-Akten (Der Vertrag, S. 273). Im Einigungsvertrag sollte daher ein Straffreiheitsgesetz für Spione aufgenommen werden. Dagegen formierte sich breiter Protest: praktisch die gesamte Volkskammer, die Aktivisten der Bürgerkomitees und die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung votierten für die Öffnung der Akten. Eine Gruppe von Bürgerrechtlern, unter ihnen Wolf Biermann und Bärbel Bohley, besetzte Räume im MfS-Archiv in Berlin-Lichtenberg und forderte unter Androhung eines Hungerstreiks die Übernahme des gerade beschlossenen Gesetzes über die Stasi-Akten ins Bundesrecht. Nach hektischen Verhandlungen beugten sich die beiden Regierungen schließlich dem Druck. Ein Jahr später, im Dezember 1991, nahm der Bundestag das Stasi-Unterlagen-Gesetz an.

Für die Archivierung und Aufarbeitung ist fortan das neu geschaffene Amt des "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR" zuständig. Erster Bundesbeauftragter wird der ehemalige Abgeordnete der DDR-Volkskammer Joachim Gauck. Schon bald trägt das Amt überall nur noch den Namen "Gauck-Behörde". Zu den Grundsäulen der Aufarbeitung gehören: - das Recht auf persönliche Akteneinsicht bei vollem Datenschutz gegenüber Dritten - die Überprüfung auf Mitarbeit bei der Staatssicherheit - die Unterstützung der Strafverfolgung - die historische und politische Aufarbeitung in der Öffentlichkeit. Der Blick in die eigene Akte stellt die meistgenutzte Form der Stasi-Aufarbeitung dar. Seit 1992 wollten mehr als 1,5 Millionen Menschen "ihre" Akte einsehen. Jede einzelne der Einsichten war eine ungewisse Reise in die eigene Vergangenheit. Welche bösen Überraschungen hat die Stasi-Überlieferung für mich parat? Welche Freunde haben mich verraten, welche zu mir gehalten? Jenseits der großen Schlagzeilen ist die persönliche Akteneinsicht die eigentliche "stille Basis" der Aufarbeitung, weil sie den Alltag der DDR-Einwohner im Rückblick unmittelbar betrifft. Erstaunlicherweise steigen in den letzten Jahren diese Anträge wieder an. Was zuerst nach einem zeitweiligen Aufschwung aussah, als im Jahr 2006 der Film "Das Leben der Anderen" in die Kinos kam und die Erinnerung an die dunklen Seiten der DDR wachrief, hat sich inzwischen als "zweiter Atem" der Aufarbeitung entpuppt. Offenbar besinnen sich viele Menschen erst jetzt auf die ferne Welt ihres Lebens in der DDR. Vielleicht fragen die Kinder und Enkel nach: Wie war das eigentlich damals bei euch? Allein 2008 gingen rund 87.000 solcher Anfragen bei der Behörde ein, und zwar zu drei Vierteln von Menschen, die sich das erste Mal für "ihre" Stasi-Akte interessierten. Das zweite zentrale Ziel der Stasi-Aufarbeitung war, die geheime Mitarbeit bei der Staatssicherheit aufzudecken und belastete Personen aus dem öffentlichen Dienst und politischen Ämtern herauszuhalten. Mehr als 1,7 Millionen Anfragen zu Mitarbeitern des Öffentlichen Dienstes, vorwiegend in Ostdeutschland, sind bislang gestellt worden. Auch die Überprüfungen von politischen Mandatsträgern des Bundestages, der Landtage und Kommunalparlamente gehen in die Hunderttausende. Dabei ist jeder Einzelfall sorgfältig zu überprüfen, unter anderem, weil etliche Akten nur noch in Bruchstücken überliefert sind. Auch haben sich einige öffentliche Arbeitgeber entschieden, nur leitende Mitarbeiter zu überprüfen oder über die hauptamtliche oder inoffizielle MfS-Mitarbeit auch bei eindeutiger Aktenlage hinwegzusehen. So waren zum Beispiel in den neunziger Jahren rund 1.500 ehemalige MfS-Mitarbeiter bei den Polizeien von Bund und Ländern im Dienst. Wie erst 2006 bekannt wurde, hatte das Bundesinnenministerium sogar der im Aufbau begriffenen Gauck-Behörde 1990/91 mehrere Dutzend Wachleute aus MfS-Diensten zugewiesen. Dies geschah wissentlich, wurde aber zunächst geheim gehalten. Noch unübersichtlicher ist die Bilanz bei den inoffiziellen Mitarbeitern. Die Stasi-Debatte nachhaltig geprägte haben vor allem spektakulären Medienschlachten um die tatsächliche oder vermeintliche Verstrickung von prominenten Personen mit der Stasi: Hatte der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe gewusst, dass ihn die Kirchenabteilung des MfS über viele Jahre als IM "Sekretär" geführt hatte? Hatte der ehemalige PDS-Chef Gregor Gysi vor 1990 als Rechtsanwalt seine Mandanten an die Stasi verraten? Noch heute werden heftige Debatten über mögliche Stasi-Vergangenheiten geführt, vor allem wenn es um Personen des öffentlichen Lebens geht. Es ist ein erinnerungspolitischer Diskurs, bei dem auch um Deutungshoheit gerungen wird. Trotz allem lässt der Blick nach Osteuropa erkennen, dass in Deutschland einiges erreicht worden ist. Heutige Debatten in Polen zeigen, dass die verzögerte Aktenöffnung dort unendlichen Spekulationen und politischen Ränkespielen Tür und Tor geöffnet hat. Noch dramatischer ist die Situation in Russland. Nach soziologischen Analysen spielen dort ehemalige KGB-Offiziere heute eine größere Rolle in den Eliten als zu Zeiten der Sowjetunion. Zumindest in den öffentlich sichtbaren Eliten Deutschlands stellen ehemalige hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter wie der Bundestagsabgeordnete Lutz Heilmann die Ausnahme dar. Die Überprüfungsmöglichkeit für den Öffentlichen Dienst lief Ende 2006 aus – rechtlich gilt damit die MfS-Mitarbeit als "verjährt". Seitdem können nur noch Personen überprüft werden, die Spitzenpositionen in Politik, Sport und Verwaltung innehaben. Allerdings können Journalisten und Historiker weiterhin Einsicht in IM- und Mitarbeiterakten nehmen und öffentlich darüber berichten. Als weitgehend erfolglos hat sich hingegen die strafrechtliche Verfolgung von Stasi-Unrecht erwiesen. Anders als im Fall der Schießbefehlprozesse gegen Grenzsoldaten und deren Befehlsgeber scheiterten die meisten der mehreren tausend Ermittlungsverfahren gegen MfS-Offiziere wegen Verbrechen im Amt an einem Gemisch aus Beweismängeln, Lücken in der Strafbarkeit und der Prozessunfähigkeit der oft betagten Angeklagten. Selbst Erich Mielke wurde nicht für seine Befehle als Minister für Staatssicherheit zur Verantwortung gezogen, sondern wegen eines Mordes an zwei Polizisten 1931. Er bekam dafür sechs Jahre Gefängnis. Härter traf es die westdeutschen Agenten der Staatssicherheit, wie den NATO-Spion Rainer Rupp, der zu einer Haftstrafe von zwölf Jahren verurteilt wurde. Seine Ostberliner Vorgesetzten wie Spionagechef Markus Wolf profitierten von einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1995, wonach Stasi-Mitarbeiter von strafrechtlicher Verfolgung freigestellt wurden, sofern sie ihre Spionagetätigkeit ausschließlich vom Boden der DDR aus begangen haben. Allerdings wurde Wolf wegen Nötigung und Freiheitsberaubung in einem Entführungsfall trotzdem verurteilt. Doch die Folter der fünfziger Jahre und die Mordanschläge blieben in den meisten Fällen ungesühnt. Häufig konnten sich die Opfer nach so langer Zeit nicht mehr präzise an die Täter erinnern. Schriftliche Beweise in den Akten waren vernichtet. So konnte ein Anschlag mit Rattengift auf den Fluchthelfer Wolfgang Welsch nur deshalb geklärt werden, weil der Täter ein Geständnis ablegte.

Eine weitere nicht gelöste, vielleicht auch gar nicht nachträglich zu lösende Aufgabe stellt nach wie vor die Unterstützung von Verfolgten dar. Verlorene Lebenschancen kann kein Gesetz zurückgeben. Was blieb waren Rehabilitierung, Haftentschädigung und eine erst 2007 beschlossene Opferrente von bis zu 250 Euro für "bedürftige" ehemalige politische Häftlinge. Zum Komplex der Aufarbeitung gehört schließlich auch die Möglichkeit, Stasi-Akten für die historische Forschung sowie die Medienberichterstattung zu nutzen. Diese Nutzung ist jedoch schwierig, weil an vielen Punkten der Datenschutz Vorrang vor den Forschungsinteressen hat und es an einem nutzerfreundlichen Recherchesystem fehlt. Gleichwohl gehört das MfS mittlerweile zu den am besten erforschten Geheimdiensten der Weltgeschichte. Bis heute sind die Stimmen für eine Schließung der Akten nicht verstummt. Politiker wie Altbundeskanzler Helmut Kohl oder Egon Bahr, einstmals engster Berater des Bundeskanzlers Willy Brandt, haben die Aufarbeitung stets als "unappetitlich" abgelehnt. Sie plädierten für einen Schlussstrich. Auch eine Mehrheit der Ostdeutschen von 78 Prozent (2006) lehnt es Meinungsumfragen zufolge mittlerweile ab, "danach zu fragen, ob jemand während des alten DDR-Regimes für die Stasi gearbeitet hat oder nicht". Dennoch ist die Aufklärung über die Staatssicherheit in der politischen Öffentlichkeit zu einem zentralen Element des historischen Bewusstseins der Bundesrepublik Deutschland geworden. Paradoxerweise scheinen hingegen die Tage der Stasi-Unterlagen-Behörde gezählt. Der zuständige Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, hält an dem Ziel fest, das von Weisungen unabhängige Amt aufzulösen und die Akten in Bundes- und Landesarchive zu überführen, um "behördliche Doppelkapazitäten" abzubauen. Wann das sein wird, ist noch nicht klar. Die Bundeskanzlerin hat im Januar 2009 erklärt: "Es ist nach wie vor so viel Aktualität drin, dass sich die Arbeit dieser Behörde im Augenblick jedenfalls noch deutlich von der eines zentralen Archivs unterscheidet." Eine Expertenkommission soll nach der Bundestagswahl 2009 Vorschläge erarbeiten, wie die derzeitigen Aufgaben der Stasi-Unterlagen-Behörde nach der Überführung der Akten in die allgemeine Archivverwaltung erfüllt werden können. Der bedeutendste Eingriff wird die Aufteilung der Bestände zwischen Bundesarchiv und Landesarchiven sein. Damit zerfällt die bisherige Einheit des Recherchezugriffs und der rechtlichen Regelungen. Es ist völlig offen, wie diese Archive den Ansturm von mehreren zehntausend Anfragen pro Jahr organisatorisch und rechtlich bewältigen sollen. Außerdem wäre nach allgemeinem Archivrecht der Zugang zu Mitarbeiter- und IM-Akten erheblich erschwert. Schon jetzt setzen ehemalige IM und MfS-Offiziere immer häufiger per Gericht ihre Anonymität durch. Sie wollen nach zwanzig Jahren nicht mehr beim Namen genannt werden und berufen sich dabei auf das Persönlichkeitsrecht. Dem steht das Aufklärungsinteresse entgegen. Außerdem leiden die Opfer darunter, wenn dadurch die öffentliche Diskussion zum Erliegen kommt. In Rechnung zu stellen ist auch, dass die MfS-Akten mit 178 Regalkilometern etwa dreimal soviel Umfang haben wie die gesamten sonstigen DDR-Bestände des Bundesarchivs einschließlich des SED-Parteiarchivs. Mit einer beschleunigten und professionalisierten Erschließung ist deshalb bei gleichzeitigem Personalabbau nicht zu rechnen. Tritt man einen Schritt zurück, so wird deutlich, wie sehr der deutsche Weg der Stasi-Aufarbeitung weltweit als Symbol für den Sieg der demokratischen Revolution in der DDR und den Zusammenbruch der kommunistischen Welt gilt. Jeder Schritt, der auch nur den Anschein erwecken könnte, dieser Weg solle nicht weiter verfolgt werden, kann deshalb eine fatale Signalwirkung haben – gegenüber der interessierten Öffentlichkeit in Osteuropa, aber auch gegenüber all jenen, die in der DDR unter dem Wirken der Stasi zu leiden hatten.

Die Bilder aus der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 gehören zu den Ikonen der Weltgeschichte. Die durch die geöffneten Grenzübergänge strömenden Menschenmassen, die auf der Mauerkrone sitzenden und tanzenden Menschen sind aus dem öffentlichen Bildergedächtnis nicht mehr wegzudenken. Obwohl es für die Machthaber der SED in der DDR auch Wochen nach dem Mauerfall keineswegs ausgemachte Sache war, dass die Mauer und die Grenze dauerhaft geöffnet bleiben würden, ging bereits am 10. November 1989 eine erste Anfrage aus Bayern bei der DDR-Regierung ein, in der angeboten wurde, "nicht benötigte Teile Ihrer Grenzsicherungsanlagen" gegen Devisen zu kaufen. Am 14. November 1989 schließlich wandte sich eine Unternehmensberatung an die Ständige Vertretung der DDR in Bonn und empfahl – da der Handel mit Teilen der Berliner Mauer nicht mehr aufzuhalten sei –, dass die DDR-Seite doch "bei aller Zwiespältigkeit" bedenken sollte: "Gehandelt wird mit Mauerteilen, woher sie auch immer stammen mögen. Wenn aber schon, dann halte ich es für sinnvoll, daraus auch Devisen zu machen."

Quasi über Nacht wurde die Mauer zum heiß begehrten Kaufobjekt, zu einer Trophäe des Kalten Krieges, zum Exportschlager und zu einem Symbol. Kein anderes Bauwerk in Deutschland und vielleicht sogar in Europa hatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so gravierende Auswirkungen auf das Leben so vieler Menschen. Kein anderes Bauwerk wurde in dieser Zeit weltweit zum Symbol für Unfreiheit und Diktatur, für die Verachtung elementarer Menschenechte und letztlich für die Geiselnahme von Millionen Menschen durch ein auf Unrecht gegründetes Regime. Und kein anderes Bauwerk wurde nach dem Mauerfall 1989 von ebendiesem Symbol der Unfreiheit und Menschenverachtung zum Symbol für Freiheitswillen und Bürgermut. Nachdem in den Wochen und Monaten nach dem Mauerfall immer wieder Nachfragen nach Mauerteilen aus aller Welt eingegangen waren, beschloss die DDR-Regierung unter Hans Modrow am 7. Dezember 1989 bzw. am 4. Januar 1990, die Mauer zu verkaufen. Man erhoffte sich auf diese Weise, die vor dem Bankrott stehende DDR-Wirtschaft retten zu können. Anlass zu diesen Hoffnungen gaben Anfragen, denen zufolge für ein Mauerteil bis zu 500.000 DM geboten wurde. Da die politische Entwicklung bis zum Jahresende 1989 ohnehin gezeigt hatte, dass die SED-Herrschaft nicht mehr zu retten und nicht nur die Berliner Mauer, sondern die gesamte innerdeutsche Grenze geöffnet worden war, stand der Abbau der einst am besten bewachten Grenze fortan auf der Tagesordnung. Und so lag es nahe, wenigstens einen Teil der Kosten über den Verkauf der Mauer zu refinanzieren. Um der verunsicherten und empörten Bevölkerung in der DDR die Gründe für das Geschäft mit der Mauer zu erläutern, startete die DDR-Regierung zu Weihnachten 1989 eine Informationskampagne. Damit sollten die in Beschwerdebriefen an die DDR-Regierung gerichtete Kritik aufgegriffen und zugleich der als alternativlos angesehene Verkauf begründet werden. Die Empörung über den Verkauf der Mauer richtete sich gegen die Regierung, die erst jahrzehntelang die Bevölkerung eingesperrt und auf Flüchtlinge rücksichtslos geschossen hatte und nunmehr ebenjene "Schandmauer", an denen Menschen ermordet worden waren, zu Geld machen wollte. Die Regierung begründete ihre Entscheidung für den Verkauf der Mauer im Wesentlichen mit drei Argumenten:

1. Die DDR brauche Devisen;2. die Mauer sei Volkseigentum; und3. somit sollten die Erlöse der gesamten DDR-Bevölkerung, beispielsweise über soziale Projekte, zugute kommen.

Ungeachtet etwaiger fortbestehender Vorbehalte gegen diese Geschäfte begannen die Truppen des Grenzkommandos Mitte, die noch bis Ende Dezember 1989 die Grenze schützen und Grenzdurchbrüche verhindern sollten[6 ], im Januar 1990 mit dem Abbau. Begonnen wurde mit besonders gut verkäuflichen Teilen, die von Mauerkünstlern bemalt worden waren. Die meisten der Betonblöcke wurden geschreddert und als Baumaterial, unter anderem für Autobahnen, weiter verwertet. Innerhalb von nicht einmal einem Jahr verschwand das, was die Menschen der Stadt einst auf 156 Kilometern Länge, mit 54.000 Betonsegmenten – 2,6 Tonnen schwer und 3,2 Meter hoch –, Hunderten Kilometern Stacheldraht, Lichttrassen, Hundelaufanlagen und mit 186 Wachtürmen, von denen scharf geschossen wurde, getrennt hatte, fast vollständig aus dem Stadtbild. Der Wunsch nach den langen Jahren der Teilung und Trennung zu einer innerstädtischen Normalität zurückzukehren, war nur zu verständlich. Kaum jemand konnte sich 1990 vorstellen, dass es einmal Forderungen geben könnte, die der Stadt und den Menschen zugefügte Wunde wieder sichtbar zu machen. Für eine möglichst schnelle Überwindung der Teilung und ihrer Folgen in der Stadt schien das möglichst vollständige Entfernen der Mauer der geeignete Weg zu sein. Zugleich nahm man damit in Kauf, dass die Vorstellung davon, was die Mauer, für die Stadt und für das Leben der Menschen bedeutet hatte, zunehmend verblasste. Nicht nur die Besucher Berlins, deren Interesse an Berlin auch in der Mauer begründet lag, fragten zunehmend ratlos: Wo war denn nun die Mauer?

Dabei hatte es bereits frühzeitig warnende Stimmen gegeben, die sich dafür einsetzten, zumindest in einigen Bereichen der Stadt die Mauer als Baudenkmal zu erhalten. In einem letzten Akt beschloss etwa der Ost-Berliner Magistrat am 2. Oktober 1990, das noch vorhandene "Ensemble" an der Bernauer Straße unter Denkmalschutz zu stellen. Trotz dieses Beschlusses schritt auch an der Bernauer Straße die rege Verkaufs- und Bautätigkeit weiter voran. Bis zur Entwicklung eines Gesamtkonzepts für die Berliner Mauer sollten noch fast 15 Jahre vergehen und der allergrößte Teil der einstigen Grenzanlagen aus dem Stadtbild spurlos verschwinden.Während die Mauer mit deutscher Gründlichkeit aus der Stadt entfernt wurde, erfreuten sich Mauerteile großer Beliebtheit und Nachfrage in aller Welt. Vor allem in den ersten Jahren nach dem Mauerfall wurden Denkmäler aus Mauerteilen in über 40 Ländern der Welt errichtet. Mittlerweile gibt es weltweit über 140 Denkmäler, in denen 600 Mauerteile verwendet wurden. 1991 wurde in Berlin an den 30. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer erinnert. In der medialen Berichterstattung war vor allem die Realgeschichte der Zeit um den 13. August 1961 Thema. Dass in Berlin selbst kaum mehr etwas an die Teilung erinnerte, wurde hingegen kaum beachtet und nicht erwähnt. Vielmehr Beachtung fand in diesem Zusammenhang der Spruch von der "Mauer in den Köpfen" zwischen Ost- und Westdeutschen, die längst die real nicht mehr existierende Mauer abgelöst hätte.

Symbolträchtig fasste der Berliner Senat am 13. August 1991 den Beschluss, an der Bernauer Straße eine "zentrale Gedenkstätte" zu errichten. Es vergingen danach weitere drei Jahre, bis 1994 ein entsprechender künstlerischer Wettbewerb ausgeschrieben wurde, aus dem das Büro Kohlhoff & Kohlhoff als Sieger hervorging. Die schließlich bis 1998 realisierte Denkmalsanlage vermittelte auf einem abgetrennten Teilstück, das nur über eine Aussichtsplattform in seiner Anlage zu überblicken war, eine vage Vorstellung von der Tiefenstaffelung der Mauer und des Grenzstreifens. Zu den am häufigsten geäußerten Kritikpunkten am vollständigen Abriss der Mauer- und Grenzanlagen gehörte, dass selbst dort, wo Mauerreste noch den Abrissarbeiten entgangen waren, die eigentliche Grenzstruktur nicht mehr sichtbar war. Dadurch sei es kaum mehr möglich, eine Vorstellung davon zu vermitteln, dass eben nicht nur eine einfache Mauer, sondern eine breit "ausrasierte Stadtwunde" die Stadt geteilt habe. Als das Denkmal 1998 an der Bernauer Straße eingeweiht wurde, hagelte es Kritik an der kalten und abstrakten Gestaltung, die keine Vorstellung davon gebe, was die Mauer eigentlich gewesen war. Gleichzeitig wurde von Opfervertretern immer wieder das Desinteresse am 13. August und den Opfern gerügt – eine Klage, die bereits 1996 zum 35. Jahrestag von Klaus-Peter Eich als Vertreter der Opfer formuliert worden war. Die 1998 eingeweihte Anlage an der Bernauer Straße änderte daran nichts Grundlegendes. Zum einen wurde das Denkmal und die Erinnerungsarbeit am Ort nach wie vor von einem vor allem ehrenamtlich arbeitenden Verein und der Kirchgemeinde betrieben. Die Finanzierung und die personelle Ausstattung waren über lange Jahre hinweg mehr als prekär. Dass der Ort "Bernauer Straße" sich zu dem Erinnerungsort an die Berliner Mauer entwickeln konnte, hatte vor allem mit dem Engagement der Enthusiasten vor Ort zu tun. Für die Politik schien die Erinnerung an die Mauer und das 1998 eingeweihte Denkmal außerhalb der Gedenktage am 13.8. und am 9.11. in Vergessenheit geraten zu sein.

Der 40. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 2001 machte schließlich die unterschiedlichen Erwartungen an eine würdige und ernsthafte Erinnerung an die Mauer und die Teilung und darüber vermittelt an die SED-Diktatur als Ganzes offensichtlich. Auf dem Höhepunkt der (N)Ostalgiewelle prägten Spekulationen um eine rot-rote Koalition in Berlin die Erinnerung an den Mauerbau 40 Jahre zuvor. In den Medien standen Kommentare über die politische Instrumentalisierung des Jahrestags im Vordergrund, die – wie es beispielsweise in einem Kommentar von Rolf R. Lautenschläger in der "tageszeitung" zum 13. August 2001 hieß – "beschämend" sei. Für die Opfer des SED-Regimes hingegen war die Vorstellung unerträglich, dass eine Koalition aus SPD und PDS, der Nachfolgerin ebenjener für Unrechts-Regime, Mauerbau, Willkür, Repression, Hunderttausende politische Unrechtsurteile und Hunderte Grenz- und Mauertote verantwortlichen SED, die Geschicke der deutschen Hauptstadt lenken könnte. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch, dass sich die PDS für das Grenzregime und den Mauerbau und die Toten bis dahin nicht entschuldigt hatte. Auch Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister Berlins, forderte die PDS auf, "sich bei den vielen Opfern der SED-Diktatur" zu entschuldigen. Und Frank Steffel von der CDU erklärte, dass" die Partei der Mauerschützen von damals nicht Senatoren von morgen" stellen könne. Gregor Gysi, Spitzenkandidat der PDS, lehnte eine Entschuldigung ab, erklärte aber, dass das "inhumane Grenzregime" durch nichts zu rechtfertigen sei.Für die Opfer der SED-Diktatur waren die rot-roten Planspiele unerträglich. Sie erneuerten ihre Forderungen nach einem würdigen, in der Mitte Berlins angesiedelten Denkmal, und sie drohten mit einem Boykott der Gedenkveranstaltungen. Als Vertreter der PDS bei der Gedenkveranstaltung an der Bernauer Straße mit einem Kranz erschienen, wurde dieser von Alexander Bauersfeld, einem politischen Häftling der DDR, unter lautem Protest von der Gedenkmauer entfernt und zertreten. Bauersfeld wurde von der Polizei festgenommen.

Wer gehofft hatte, dass sich der Berliner Senat nach dem 40. Jahrestag des Mauerbaus daran machen würde, die Erinnerung in der Stadt sichtbar zu halten, sah sich enttäuscht. Die Denkmalsanlage an der Bernauer Straße wurde weiterhin vor allem ehrenamtlich und über befristete Projektfinanzierungen betreut. Eine Änderung dieser stiefmütterlichen Behandlung des als offizielle Gedenkstätte bezeichneten Erinnerungsortes an die Berliner Mauer und die Teilung war nicht abzusehen. Dessen ungeachtet gab es in der Stadt eine Vielzahl privater Initiativen, um an die Mauer und deren Opfer zu erinnern. Sei es der einstige Grenzwachturm an der Kieler Straße, der vom Bruder des ersten erschossenen Maueropfers, Günter Litfin, mit viel ehrenamtlichem Engagement betrieben wird, sei es die vom Aktionskünstler Ben Wargin gestaltete Erinnerungsstätte "Parlament der Bäume" oder die East-Side-Gallery am Spreeufer. Auch der von Michael Cramer initiierte "Mauerradweg" gehört zu diesen Initiativen, die auf vielfältige Weise versuchten, die Erinnerung an die Mauer und das geschehene Unrecht wach und im Gedächtnis der Menschen und der Stadt zu halten. In diese offizielle Leerstelle platzte 2004 zum 15. Jahrestag des Mauerfalls eine Initiative der Chefin des Mauermuseums "Haus am Checkpoint Charlie". Mit einem als temporär angekündigten Mahnmal auf einer Brachfläche am Checkpoint Charlie rüttelte Alexandra Hildebrandt nicht nur die Berliner Politik auf. Das Mahnmal, das aus einem Imitat der Mauer und über 1.000 zumeist namentlich gekennzeichneten Holzkreuzen bestand, befriedigte das Bedürfnis vieler nach einem als authentisch empfundenen Erinnerungsort an die Mauer. Es machte deutlich, dass es ein unbefriedigtes öffentliches Bedürfnis sowohl der Einwohner der Stadt als auch der Touristen nach einem anschaulichen Ort gab, an dem die Mauer und die Teilung der Stadt vermittelt werden könne. Der Verweis auf die Bernauer Straße lief ins Leere. Auch viele Opfer fühlten sich zum ersten Mal in ihren Forderungen nach einem emotional ansprechenden Denkmal mit einer eindeutigen Formensprache ernst genommen.

Die Kritik gegen das Mahnmal richtete sich gegen die Vielzahl der Kreuze, die eine konkrete Zahl an Opfern vorgebe, die so nicht nachzuweisen sei. Auch die angebliche Orientierung an der Formensprache des kurz zuvor eingeweihten Mahnmals für die Ermordung der europäischen Juden wurde kritisiert: Mit der Analogie – dort über 6.000 Betonquader, hier über 1.000 Holzkreuze – werde eine Gleichsetzung von Nationalsozialismus und SED-Diktatur betrieben, lautete der Vorwurf. Unbeirrt von den kritischen Stimmen gegen das Mahnmal wehrte Hildebrandt sich schließlich – wie in anderen Fällen zuvor auch – gegen den Abbau ihres als ursprünglich befristete Aktion gedachten Denkmals. Sie organisierte Mahnwachen; Opfer der kommunistischen Diktatur ketteten sich an den Kreuzen fest, um gegen den Abriss der Kreuze zu protestieren. Sie argumentierten, dies sei der einzige Ort in der Berliner Mitte, der den Opfern der SED-Diktatur eine angemessene Erinnerung im öffentlichen Bewusstsein ermögliche. Dieses "Guerillagedenken" gab der Berliner Politik einen Schub. Noch im November 2004 lagen dem Abgeordnetenhaus schließlich zwei Anträge von CDU und Bündnis 90/Die Grünen vor, in denen der Berliner Senat aufgefordert wurde, ein Konzept für den Erhalt der noch bestehenden Mauerbauwerke und zur Erinnerung an die SED-Diktatur vorzulegen. In beiden Anträgen wurden vom Senat mehr Initiativen gefordert, um an die zweite deutsche Diktatur und deren Opfer in Berlin zu erinnern. Es gebe nicht nur "Defizite bei der sichtbaren Erinnerung an die Mauer als Symbol für die Geschichte der Teilung der Stadt, Deutschlands und der Welt, sondern auch bei der umfassenden Darstellung der SED-Diktatur, in ihren Bereichen Herrschaft, Alltag, Widerstand."[10 ] Das Berliner Abgeordnetenhaus organisierte im Frühjahr 2005 eine Anhörung im Abgeordnetenhaus, um über "die öffentliche Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte in der Hauptstadt Berlin – Mauergedenken und SED-Vergangenheit" zu diskutieren.

Vor dem Hintergrund des von Alexandra Hildebrandt initiierten und von großem Publikationserfolg begleiteten Erinnerungsorts am Checkpoint Charlie hatte der Berliner Kultursenator, Thomas Flierl (PDS), bereits im Sommer 2004 begonnen, ein Konzept für die Ausgestaltung des Mauergedenkens zu entwickeln. Dieses Konzept sah zum einen vor, noch bestehende Mauerreste zu sichern und zu erhalten und die wenigen noch vorhandenen Freiflächen, die eine Vorstellung von Mauer und Todesstreifen in ihrer räumlichen Ausdehnung geben könnten, vor weiterer Bebauung zu schützen. Zum anderen sollten die bereits bestehenden Erinnerungsorte und Denkmäler besser sichtbar gemacht werden und aufeinander verweisen. Denn bereits zu jenem Zeitpunkt gab es etwa 60 Einzeldenkmäler, die an ermordete Flüchtlinge erinnerten, oder zu Denkmälern umgebaute Mauerreste, wie auf dem Potsdamer Platz. Hierzu gehörte auch die doppelte Pflastersteinreihe, die bereits seit Anfang der Neunzigerjahre im Straßenverlauf die Mauer kennzeichnete. Jedoch wurde deren Sicht- und Erkennbarkeit dadurch beeinträchtigt, dass dieser Typ Pflastersteine nicht exklusiv für die Kennzeichnung des Mauerverlaufs verwendet wurde, sondern auch für die Reparatur der chronisch schlechten Straßen. Für das lückenlose Einbringen des Metallbandes mit den Daten von Mauerbau und Mauerfall, das in der Mauerkennzeichnung eine eindeutige Zuordnung und Orientierung ermöglichen sollte, fehlte schlicht das Geld.

Das Konzept wurde im Juni 2006 fertiggestellt. Es war als Handlungsgrundlage gedacht, um bis 2011, dem 50. Jahrestag des Mauerbaus, die Erinnerung an die Teilung der Stadt und die Opfer der Diktatur zu gestalten. Zum 13. August 2011 wird die neu gestaltete – und in Teilen bereits zugängliche – Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße mit einem großen Festakt durch den Bundespräsidenten Christian Wulff eingeweiht. Bereits in den vergangenen Jahren war immer deutlicher geworden, dass die Erinnerung an den Mauerbau und an seine dramatischen Folgen für die in der DDR eingesperrten Menschen zu der bestimmenden Erinnerung an die zweite Diktatur in Deutschland werden würde. Wie 2011 im Juni bereits bei der Wahrnehmung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 zu besichtigen, beginnt die Erinnerung an die Mauer jene an andere traumatische Ereignisse der SED-Diktatur in den Hintergrund zu drängen. Wir können gespannt sein, ob die Erinnerung an den Mauerbau und an das tödliche Grenzregime – weil sie mit eindrücklichen Bildern und konkreten Bauwerken im Stadtraum verbunden sind – auch künftig das Gedenken an die kommunistische Diktatur in der DDR dominieren wird.

Der große Erfolg des Kinofilms "Good bye Lenin" aus dem Jahr 2003 beruht zweifellos auf einer Erfahrung, die Menschen in Ost und West bis zu einem gewissen Grade miteinander teilen: Es war das atemberaubend schnelle Verschwinden fast aller sichtbaren Attribute der Teilung sowie des Lebens im Osten. Die Berliner Mauer wurde so rasch abgerissen, dass ihr Verlauf an vielen Orten schon bald kaum noch nachvollziehbar war, Straßen wurden umbenannt, Denkmäler wie die Lenin-Statue in Berlin abgebaut. Auch die Trabis verschwanden von den ostdeutschen Straßen und DDR-Produkte aus den Läden. In einer Szene des Films jagt der Held vergeblich einem Glas "Spreewälder Gurken" nach, das sich seine aus dem Koma erwachte Mutter gewünscht hat, die – so der Plot – nicht wissen darf, was sich da draußen gerade verändert. Bei seinem Gang durch die Stadt türmen sich an den Straßenrändern Schrankwände und Couchgarnituren, Fernseher und Waschmaschinen, weil ihre Besitzer sie im hoffnungsfrohen Wendefieber gegen neue und schönere Westprodukte eingetauscht haben. Dieses einmalige Erlebnis der Plötzlichkeit, mit der die bisherigen Verhältnisse ins Wanken kamen und die Deutschen sich unvermittelt und unvorbereitet in einem vereinigten Land wieder fanden, gehört vermutlich zu den wenigen gemeinsamen Befindlichkeiten der Menschen in Ost und West. Jenseits davon verlaufen bis heute die Gräben, die sich bald nach der Vereinigung auftaten, als die Euphorie des Aufbruchs und der Gemeinsamkeit verebbte und der Alltag der Unterschiede hervortrat. Schließlich zeitigte der historische Bruch von 1989/90 in den unterschiedlichen Lebenswelten sehr verschiedene Konsequenzen. Während sich die einen über den Abbau der Grenzanlagen und den Wegfall der Grenzkontrollen freuten und allenfalls den Verlust der Zonenrandgebietsförderung und die Einführung des Solidaritätszuschlags beklagten, erfuhren die anderen, wie sich ihre bisherigen Lebensverhältnisse schlichtweg völlig umkrempelten: Vom Arbeitsplatz über die Wohnung, das Schulsystem und die Verwaltung bis hin zu den neuen Freiheiten und Unsicherheiten, die die D-Mark mit sich brachte. Hatten sich die Ostdeutschen im Herbst und Winter 1989 als selbstbewusste Akteure der friedlichen Revolution gefühlt, so richteten viele von ihnen spätestens seit den Wahlen im März 1990 ihre Erwartungen vor allem auf die Politiker und Investoren aus dem Westen. Auf die von der Mehrheit der Menschen durchaus gewünschte Vereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes folgte eine für viele nicht vorhersehbare Lawine von Veränderungen. Viele Ostdeutsche sahen sich plötzlich in der Rolle von Verlierern im Systemwettbewerb und meinten, sich für ihr bisheriges Leben in der DDR erklären und rechtfertigen zu müssen. Im Gegenzug stellte sich bei Bürgern der alten Bundesrepublik, selbst wenn sie bis dahin kritisch mit ihrem Staat umgegangen waren, eine Art retrospektive Loyalität und Zufriedenheit mit den eigenen Lebensleistungen ein. Es verwundert nicht, dass diese Asymmetrie von Veränderungserfahrungen und Selbstbewertungen deutlich unterschiedliche Perspektiven auf die DDR-Vergangenheit zur Folge hat. Eine Umfrage des Allensbach-Instituts zeigt, dass sich die Deutschen in Ost und West am Vorabend der Vereinigung noch weitgehend einig waren in der Verurteilung des SED-Regimes als willkürlich, undemokratisch und wirtschaftlich bankrott. Doch das Bild änderte sich schon bald. Während die Westdeutschen in den folgenden Jahren an ihrer negativen Bewertung im Großen und Ganzen festhielten, habe eine wachsende Zahl von Ostdeutschen begonnen, die DDR in immer milderem Licht zu sehen, kommentiert das Autorenduo Monika Schröder-Deutz und Klaus Schröder in der Publikation "Soziales Paradies oder Stasi-Staat" die Ergebnisse der demoskopischen Untersuchungen: Noch im Vereinigungsjahr 1990 hätten knapp drei Viertel der Ostdeutschen die Verhältnisse in der DDR als unerträglich bewertet. "Nach der Jahrtausendwende jedoch hat sich die Gruppe der Kritiker des SED-Staates nahezu halbiert und die Gruppe der mehr oder weniger mit dem damaligen Leben Zufriedenen verdoppelt". Allerdings zeigt ein genauer Blick auf die zitierten Umfragen, welche Probleme sich durch zu stark vereinfachte und standardisierte Fragestellungen ergeben können und wie vielschichtig und unterschiedlich interpretierbar die Ergebnisse letztlich sind. Beispielsweise stimmten der Feststellung "Die SED hat uns alle betrogen" im Jahr 1992 70 Prozent der Befragten zu, 2001 waren es nur 40 Prozent, 2004 noch 39 Prozent. Diese Zahlen lassen aber nicht zwangsläufig die Schlussfolgerung zu, dass die übrigen Befragten, durchweg unkritischer gegenüber der SED-Politik geworden sind. Das Ergebnis kann auch bedeuten, dass bei einem Teil von ihnen ein solches holzschnittartiges Erklärungsmuster einfach nicht mehr greift: Vielleicht weil das Wissen über die Vergangenheit größer geworden ist oder aber das komplexere Bild von Vergangenheit in einem solchen Satz nicht aufgeht. Eine andere, in der Allensbach-Umfrage angebotene Aussage lautete Am Anfang hat die SED so viele schwierige Probleme bewältigt, dass man ihr danach zunächst vertraut hat Im Jahr 1992 stimmten 44 Prozent der Befragten dem zu, 2001 waren es nur noch 31 Prozent, 2004 noch 28. Auch daraus ergibt sich keinesweg eindeutig eine Tendenz zur Verklärung der Diktatur. Dieser zweite Satz weist uns zudem auf ein weiteres Defizit vieler quantitativer Umfragen hin. So aufschlussreich sie für Momentaufnahmen zu gerade aktuellen Problemen auch sein mögen, sie stoßen häufig an ihre Grenzen, wenn es darum geht, historische Entwicklungsprozesse zu erfassen. Richard Schröder, Theologe und 1989 Mitbegründer der SDP in der DDR, machte in einem ZEIT-Artikel im Juni 2006, darauf aufmerksam, dass die DDR-Diktatur in den vierzig Jahren ihres Bestehens keineswegs immer gleich blieb: "Wir Älteren jedenfalls mussten sagen: Es war schon einmal schlimmer, nämlich unter Stalin und Ulbricht. Die wilden Verhaftungen und Haft ohne Gerichtsurteil gab es unter Honecker kaum noch (...)".

Zusammen mit Bernd Faulenbach und Klaus Weberskirch habe ich Mitte der neunziger Jahre intensive lebensgeschichtliche Interviews mit Arbeitnehmer in Ost und West geführt. Unter anderem haben wir nach den DDR-Bildern der Gesprächspartner gefragt. Zwar lassen sich die Ergebnisse solcher qualitativen Untersuchungen nicht in Prozenten fassen, dennoch bieten sie umfassende, vielschichtige aber auch widersprüchliche Einblicke in die biografischen Erfahrungen von Menschen und in ihre Motivationen für die jeweiligen Deutungen und Haltungen. Die von uns befragten Männer und Frauen aus Ostdeutschland unterteilten die DDR meist in verschiedene Phasen der Entwicklung. Dabei fielen die Bewertungen je nach Alter und individuellen Erfahrungen unterschiedlich, manchmal sogar konträr, aus. Sowohl die fünfziger Jahre als auch die achtziger Jahre wurden als "schlimmste" wie auch als "schönste" Zeit bezeichnet: Entweder weil man noch Ideale hatte oder die Ideale verloren gegangen waren, weil die Willkür am größten war oder weil sich Zwänge zu lockern begannen. Die Befragten aus den alten Bundesländern betrachteten dagegen die DDR meist als ein Regime, das vom Beginn bis zum Ende im Wesentlichen unverändert blieb, was vermutlich vor allem von geringen Kenntnissen der ostdeutschen Verhältnisse zeugt. Einen der deutlichsten Unterschiede zwischen Ost und West konnten wir (und hier decken sich unsere Befunde mit denen vieler quantitativer Umfragen) im Hinblick auf Demokratie und Freiheit konstatieren. Die befragten Ostdeutschen ignorierten dieses Thema überwiegend. Beispiele von Repression und Überwachung wurden nur von wenigen Gesprächspartnern genannt, die dem System kritisch oder zumindest distanziert gegenüber gestanden haben. Bei den anderen spielten solche Aspekte nur dann eine Rolle, wenn das Leben in der DDR gegen eine als fremd empfundene Sicht verteidigt wurde: "Die Mauer war zwar schmerzlich, aber sie hat unsere heile Welt geschützt"; "Wir hatten zwar die Stasi, aber konnten uns abends auf die Straße trauen", so lauteten zusammengefasst die Kernaussagen. Im Vordergrund der Äußerungen aus dem Osten standen – auch dies ist inzwischen längst keine Neuigkeit mehr – soziale Sicherheit und Fürsorge, in erster Linie die Sicherheit der Arbeitsplätze. Die Erzählungen gipfelten häufig in dem Bild von einer solidarischen Gemeinschaft im Betrieb und im Wohngebiet, wo die Leute füreinander da waren. Soziale Sicherheit und Vollbeschäftigung, mehr noch die Kinderbetreuung, spielten auch im DDR-Bild unserer westdeutschen Interviewpartner eine Rolle. Sie wurden überwiegend positiv bewertet, gleichzeitig wurden auch ihre Schattenseiten gesehen: wirtschaftliche Ineffizienz und staatliche Reglementierung. Für die Interviewpartner aus dem Westen standen Demokratie und Freiheit bzw. deren Fehlen in der DDR im Vordergrund ihrer Wahrnehmung und Bewertung. Alle anderen Beobachtungen waren diesem Gesichtspunkt untergeordnet. Es verwundert deshalb nicht, dass einzelne Gesprächspartner aus der alten Bundesrepublik dazu tendierten, die Verhältnisse in der DDR mit denen des "Dritten Reiches" zu vergleichen und bisweilen sogar gleichzusetzen, während die Befragten aus der DDR, vor allem aus der ersten Nachkriegsgeneration, schon den Vergleich generell als unzulässig ablehnen. Dass aber die NS-Vergangenheit und die Vergangenheit der DDR im öffentlichen Diskurs seit Anfang der neunziger Jahre immer wieder miteinander verkoppelt werden, hat mit der Natur der Aufarbeitung selbst zu tun. Nach der Vereinigung gab es in den neuen Bundesländern nicht nur einen radikalen Paradigmenwechsel in Bezug auf die Bewertung des DDR-Regimes. Zur Disposition stand auch das bisher herrschende starre Bild von der NS-Vergangenheit, das wesentlich vom Legitimationsinteresse der SED-Führung geprägt worden war, die den kommunistische Widerstand ins Zentrum der offiziellen Erinnerung gerückt hatte, während der Massenmord an den Juden eher am Rande behandelt wurde. Die gleichzeitige und doppelte Revision hat zweifellos mit dazu geführt, dass sich heute beide Erinnerungsschichten berühren, überlagern, vermischen und sogar in Konkurrenz zueinander treten - zumal, wenn es um den angemessenen Umgang mit Orten geht, an denen nicht nur zur NS-Zeit Menschen inhaftiert und gequält wurden, beispielweise im Fall der ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald, die nach 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht als "Speziallager" genutzt wurden. Auch in der Kontroverse um die Ehrenbürgerwürde für den Kinderarzt Jussuf Ibrahim, die Ende der 1990er-Jahre in Jena geführt wurde, verquickten sich die Debatten um DDR und Nationalsozialismus auf eigentümliche Weise. Als der westdeutsche Publizist Ernst Klee Fakten über die Beteiligung des in Jena hoch verehrten Mediziners am nationalsozialistischen Mord an behinderten Kindern enthüllte, wiesen Bürgerinnen und Bürger - aber auch Abgeordnete des Jenaer Stadtparlaments und Mitglieder von Ärztevereinigungen der Region – dies als Versuch der Delegitimierung der Leistungen der DDR-Medizin vehement zurück. An diesem Beispiel ist unschwer zu erkennen, wie eng die Debatte um die DDR-Vergangenheit im Osten mit der Verteidigung der eigenen Identität und Lebensleistung verknüpft scheint. Auch dies ist ein wesentlicher Punkt, an dem sich die Aufarbeitung in Ost und West scheidet. Während sie im Westen eher eine Frage des Interesses und der Vermittlung von Wissen ist, geht es im Osten quasi um die Existenz – und das keineswegs nur bei den älteren Generationen. Dies ist zweifellos ein Grund dafür, dass die Bezeichnungen Unrechtsstaat und Diktatur von Ex-DDR-Bürgern wenig benutzt oder sogar abgelehnt werden. Viele Ostdeutsche, die sich weder als Opfer noch als Täter des untergegangenen SED-Regimes begreifen, suchen bisher oft vergeblich nach einer Darstellung der Vergangenheit, in der sie sich mit ihren Alltagserinnerungen wieder finden können. Der Geschichtsdiskurs in der Öffentlichkeit wird bestimmt von den Themen Teilung, Repression und Widerstand. Davon handeln die bisher eingeweihten Gedenkstätten, die aufgestellten Gedenktafeln und Denkmäler. In den vergangenen Jahren gründeten sich auf private Initiative hin vor allem in der ostdeutschen Provinz viele kleine DDR-Museen. Deren Anziehungskraft beruht vor allem darauf, dass sie massenhaft Gegenstände aus einem untergegangenen Alltag ausstellen: vom "Trabi" über die Waschmaschine, die Wohnzimmereinrichtung einer typischen Neubauwohnung, bis zu Pionierblusen, Sportabzeichen und Wimpeln. Genau die Dinge, die Ostdeutsche zu Beginn der neunziger Jahre so schnell wie möglich loswerden wollten und die sie nun gern im Museum betrachten – nicht weil sie die Vergangenheit zurück haben wollen, sondern weil sie trotzig darauf beharren, dass es außer der Stasi und den Zuchthäusern, der Zensur und der Propaganda noch etwas anderes gab, an das sie sich erinnern, wenn sie an die DDR denken. Diese meist von Hobby-Historikern nach den Bedürfnissen des Publikums eingerichteten Museen verzichten weitgehend auf historisch einordnende Kommentare und Bezüge zur politischen Geschichte der DDR. Sie präsentieren eine nette, etwas skurrile, aber heile Alltagswelt, die scheinbar in keiner Verbindung steht zur dunklen Welt von Überwachung und Repression, wie sie im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen oder in der "Runden Ecke" in Leipzig zu besichtigen ist. Diesen Gegensatz wieder aufzulösen, die Alltagserfahrungen der Ostdeutschen ernst zu nehmen und gleichzeitig die Spuren der Diktatur im scheinbar noch so unpolitischen Alltag sichtbar zu machen - wird zweifellos eine wichtige Aufgabe von Historikern und Bildungsverantwortlichen der nächsten Jahre sein. Die Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes "Aufarbeitung der SED-Diktatur" (die so genannte Sabrow-Kommission) haben 2006 diese Aufgabe deutlich benannt. So kann Vertrauen in die Demokratie allmählich gestärkt werden, so können auch die unterschiedlichen DDR-Sichten in Ost und West einander angenähert werden. "Von einer gemeinsamen Erinnerung", so schreibt Richard Schröder in seinem Artikel in der ZEIT, "aber sind wir noch weit entfernt". Das kann gar nicht anders sein und ich frage mich, ob eine gemeinsame Erinnerung zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt erstrebenswert ist. Viel produktiver wäre es, die Unterschiede zuzulassen und gemeinsam darüber nachzudenken, woher sie kommen.