e-Portfolio von Michael Lausberg
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Gedanken über Rudolf Rocker

Rudolf Rocker, der während der zwanziger Jahre in Deutschland durch sein Eintreten für den Anarchosyndikalismus bekannt wurde – dessen Prinzipienerklärung von 1922 sein Werk ist – und in den letzten Jahrzehnten neue anregende Beiträge zu den Problemen eines antitotalitären, freiheitlichen Sozialismus geliefert hat, ist dabei, der Öffentlichkeit seine Lebenserinnerungen vorzulegen. Leider geschieht dies nicht in deutscher Sprache; der erste Teil des auf drei Bände berechneten Erinnerungswerkes erschien 1947 in Buenos Aires unter dem Titel La Juventud de un Rebelde, Die Jugend eines Rebellen, der zweite 1949 unter dem Titel En la borrasca – anos de destierro, Im Sturm – Jahre der Verbannung, jeder im Umfang von über 500 Seiten, ins Spanische übersetzt von dem unermüdlichen Santillan, der soeben den abschließenden dritten Band zu übersetzen im Begriffe ist.Im ersten Band schildert Rocker, ein Mainzer Kind, wie er, aus armen Verhältnissen stammend, nach Jahren im Waisenhaus als Buchbinderlehrling mit der Arbeiterbewegung und bald auch mit dem Anarchismus in Berührung kommt, dessen Ideen ihn instinktiv ansprechen: die Forderung nach individueller Freiheit und das Ideal menschlicher Solidarität kommen den Grundzügen im Charakter des jungen Menschen entgegen, für den Wille zur Selbständigkeit und Respekt vor dem Mitmenschen elementarste Bedürfnisse sind. Auf diesen Grundlagen entwickelt sich Rockers freiheitlicher Sozialismus, dem er sein Leben lang treu geblieben ist und den er durch immer neue Variation und Vertiefung ständig weiter ausgebildet hat. Der erste Band der Rockerschen Erinnerungen, auf den wir hier nur im Vorübergehen hinweisen können, vermittelt aufschlussreiche und anregende Eindrücke aus der Frühzeit des deutschen Anarchismus; wir sehen den jungen Rocker seine ersten Verbindungen mit der internationalen Bewegung knüpfen und folgen ihm schließlich auf seinem Weg ins Exil, nachdem er als Agitator für seine Ideen mit der Polizei in Konflikt geraten und von harter Strafe bedroht ist.Der zweite Band ist den Jahren der Emigration gewidmet, die für Rocker in London zu einer langen Etappe zusammenhängender Tätigkeit in der jüdischen Arbeiterbewegung führten, über die hier einiges berichtet sei.Es ist reizvoll zu lesen, wie der junge Rocker im Alter von 25 Jahren zum ersten Male Redakteur einer in jiddisch herauskomnmenden Zeitung wird – obwohl der Mainzer Arbeiterjunge, der, wenn man die groteske Terminologie des tausendjährigen Reiches anwenden darf, sozusagen ein Vollblutarier ist, damals natürlich keine Silbe jiddisch verstand. Er war in London mit den deutschen Emigranten des Communistischen Arbeiterbildungsvereins zusammengekommen, die in guter Kameradschaft mit den anarchistischen Ostjuden lebten. Eine jüdische Gruppe in Liverpool diskutierte eines Tages in Rockers Anwesenheit die Wiederherausgabe einer früher erschienenen anarchistischen Zeitung. Sie Frage war nur wer sie redigieren sollte. „Rocker natürlich“, hieß es, aber der erklärte, dass dies infolge seiner Unkenntnis der Sprache unmöglich sei, worauf ihm bedeutet wurde, dass er ruhig deutsch schreiben könne und andere seine Arbeiten übersetzen würden. So wurde Rocker, für kurze Zeit Redakteur für Das Freie Wort, und von da führte sein Weg zu der bedeutenderen Publikation des Arbeiterfreund in London. Allmählich gewöhnte er sich an die neue Sprache, in der er dann während zweier Jahrzehnte alle seine journalistischen und schriftstellerischen Arbeiten verfasste; es gibt heute noch Werke Rockers, die nicht in seine eigene Muttersprache übersetzt sind.Während der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts und in den Jahren bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges floß fast ununterbrochen ein Strom jüdischer Auswanderer aus Polen, den baltischen Ländern und Russland nach Westen, und London war in jener Zeit, wie Rocker schreibt, eine Art „clearing house“ für diese Massenemigration, die teilweise nach anderen Ländern weiterging, teilweise in England blieb. Diese Emigranten waren zum großen Teil unpolitisch, oft auch religiös – die armen Juden flohen vor ihrem Elend und den ständig drohenden Pogromen. Aber ein immer größer werdender Prozentsatz dieser jüdischen Auswanderer waren doch bewusste Sozialisten, und der Anteil dieser politischen Flüchtlinge wuchs im Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen in Russland zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Das einzige, was alle diese Juden vereinte, war ihre jiddische Sprache – dieses frühmittelalterliche Deutsch, das im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche hebräische, romanische und slawische Elemente in sich aufgenommen, eine vom späteren Hochdeutsch abweichende, selbständige grammatische Entwicklung durchgemacht hat und mit hebräischen Lettern geschrieben wird. Eine reiche und weitverzweigte Literatur hat sich in jiddischer Sprache in der ganzen Welt entwickelt.In den jüdisch-sozialistischen Kreisen Englands entfaltete nun Rocker eine lange und segensreiche Tätigkeit. Sein Wirken am Arbeiterfreund in London begann 1898. Schon seit den 70er Jahren war eine sozialistische Bewegung unter den Ostjuden Londons am Werke. Während die jüdischen Revolutionäre in Russland im allgemeinen nicht nur mit ihrer Religion und ihren Familien gebrochen, sondern überhaupt jeden Kontakt mit spezifisch jüdischem Milieu verloren hatten, wurde in London East End der Versuch gemacht, eine sozialistische Bewegung in den jüdischen Arbeitermassen selbst aufzubauen, und der Versuch gelang. Schon 1876 wurde in Whitechapel eine Vereinigung jüdischer Sozialisten gebildet. Die neuen Bestrebungen stießen allerdings auf harten Widerstand bei den orthodoxen und bürgerlichen Juden im Lande. The Jewish Chronicle, das Organ dieser Kreise, führte einen heftigen Kampf gegen die „ausländischen Nihilisten“, die eine jüdische Arbeiterbewegung zu bilden versuchten. In London wurde die publizistische Tätigkeit der neuen Bewegung eingeleitet mit einem Blatt unter dem Titel Poilischer Jidel, dem später (1885) der Arbeiterfreund folgte. Die Herausgeber dieses neuen Blattes standen dem Anarchismus nahe, aber ließen alle Tendenzen zum Ausdruck kommen. Die Ereignisse in Chicago weckten stärkeres Interesse für den Anarchismus. Umso heftiger wurde nun auch die Kampagne des jüdischen Bürgertums; in Jewish Chronicle wurde der Arbeiterfreund als „ein Fleck auf dem guten jüdischen Namen“ bezeichnet In jeder Nummer der Zeitung erschien die Parole: „Arbeiter, tu Deine Pflicht und verbreite den Arbeiterfreund!“ Der bekannte jüdische Bankier Montague brachte es jedoch einmal fertig, den Drucker der Zeitung zu bestechen, sodaß das Blatt eines Tages mit folgender veränderter Parole erschien: „Arbeiter, tu Deine Pflicht und zerstöre (1) den Arbeiterfreund!“ Aber schon 1887 hatte der Arbeiterfreund eine eigene Druckerei.Gruppen von Lesern des Blattes bildeten sich bald in verschiedenen englischen Städten, aber auch im Ausland, so in Paris und New York. S. Janowsky, der von der in New York erscheinenden jiddischen Arbeiterstimme nach England kam, war ein Anhänger der Ideen Kropotkins und setzte sich auch für die Bildung jüdischer Gewerkschaften ein, da den Juden als Ausländern der Weg zu den Trades Unions verschlossen war. Der Arbeiterfreund leitete nun einen heftigen Kampf gegen das sogenannte „sweating system“ ein, durch das die ostjüdischen Schneider rücksichtslos ausgebeutet wurden. In dieser Periode stieß der junge Rocker zu den Londoner Juden, die ihn, ohne das geringste nationale Ressentiment, als Kameraden aufnahmen und schätzten – auch wenn er in diesem Wirkungskreis als ein recht seltsames Phänomen betrachtet wurde, so z.B. von Emma Goldmann, die 1899 England besuchte und seitdem einer der besten Freunde Rockers war.Der Arbeiterfreund machte verschiedene Krisen durch und wurde sogar vorübergehend eingestellt, und an seiner Stelle kam inzwischen die literarisch betonte Zeitschrift Germinal heraus, die später allmonatlich neben dem erweiterten Arbeiterfreund erschien. Außerdem wurde eine immer umfangreichere Verlagstätigkeit in jiddischer Sprache entfaltet, all dies unter Leitung Rockers. Wie weit sich damals Rockers Aktionsradius in jüdischen Kreisen erstreckte, zeigt z.B. das sehr lesenswerte Erinnerungsbuch des deutschen Schauspielers Alexander Granach (2), der berichtet, wie er sich, von galizischen jüdischen Eltern abstammend, um die Jahrhundertwende einer Berliner jüdischen Gruppe anschloß, die „Arbeiterfreund“ hieß „nach der damals in London erscheinenden Zeitung gleichen Namens, die vom rheinländischen Nichtjuden Rudolf Rocker in jiddischer Sprache herausgegeben wurde“. Um den Ideen des Arbeiterfreund Gehör zu verschaffen „und die Idee des Nichtjuden Rocker unter das jüdische Volk zu bringen“ (wie Granach schriebt), wurde ein Theaterverein gegründet, und Rockers literarische Arbeiten und Übersetzungen wurden zu einer wichtigen Inspirationsquelle für den kommenden bedeutenden Schauspieler.Der „Nichtjude“ als Redakteur und Verleger jüdischer Publikationen spielte natürlich auch in London eine oft eigenartige Rolle, und belustigt erzählt er selbst eine Reihe origineller Erlebnisse. Als er selbst noch nicht im Ghetto lebte, kam es vor, dass Straßenjungens „Jude“ und „Mörder Christi“ hinter ihm dreinriefen, während die orthodoxen Juden im Ghetto tief empört über ihn waren, wenn er zusammen mit seinen jüdischen Freunden auch am Sabbat lebhafte Tätigkeit entfaltete oder wenn er am Feiertage pfeiferauchend durch die Straßen ging.1902 fand in Whitechapel eine Konferenz statt, auf der eine Anarchistische Föderation jüdischer Gruppen gegründet wurde, als deren Organ der Arbeiterfreund von 1903 an herauskam. Zu jener Zeit war Rocker schon der beliebteste Redner der jiddischen Bewegung in England – er trat als Agitator und Organisator in Streikversammlungen auf und entfaltete außerdem eine immer umfangreicher werdende Tätigkeit mit seinen Vorträgen über literarische Themen. Er berichtet, wie diese Vorträge in ganz kleinen Kreisen begannen, aber bald Hunderte von Hörern sammelten, die auf seine Darlegungen über Ibsen, Björnsen, Hamsun, Strindberg, Zola, Blasco Ibanez, Hauptmann, Maeterlink, Wilde, Multatuli, Gorki u.a. lauschten. Im Laufe der Jahre führte Rocker auf diese Weise Tausende von Ostjuden in die europäische Kulturwelt ein. Er berichtet in seinen Erinnerungen über ergreifende Erlebnisse während dieser Zeit, die er als eine der fruchtbarsten seines Lebens betrachtet. Rocker schreibt in diesem Zusammenhang: „Während all dieser langen, kampferfüllten Jahre habe ich niemals auch nur einen einzigen Gedanken gehabt, den ich nicht meinen jüdischen Freunden hätte mitteilen können. Das ganze unverantwortliche Geschwätz von unüberwindlichen Gegensätzen zwischen westlichen und östlichen Rassen, zwischen Ariern und Semiten hat nicht den geringsten Wert. Bei den Juden fand ich nicht mehr geheimnisvolle und erklärliche Züge als bei allen anderen Völkern, mit denen ich in Kontakt gekommen bin. Ich bin deswegen kein Judenfreund, wie man mich oft genannt hat, denn ich sympathisiere nicht mit allen Juden, genauso wie ich nicht alle Deutschen, Franzosen oder Amerikaner liebe. Es wäre schwer für mich einen Goebbels, Göring oder Streicher zu lieben nur deshalb, weil sie im selben Land wie ich zur Welt gekommnen sind; im Gegenteil, ich habe mich oft geschämt, demselben Volke anzugehören wie diese Kannibalen.“ Hier kann aber hinzugefügt werden – was Rocker selbst bei anderen Gelegenheiten oft betont hat – dass er anderseits wegen Goebbels, Streicher & Co. niemals seine Verbundenheit mit dem deutschen Volk und deutscher Kultur verleugnet hat, die ihm wie alles Menschliche lieb und teuer sind.Die ostjüdische Bewegung in London, die ein so tiefes und dauerndes kulturelles Interesse entwickelte, musste gleichzeitig einen harten Kampf ums Dasein führen. Die soziale Aktivität der Bewegung vertiefte sich vor allem nach den furchtbaren Pogromen von Kischinew im Jahre 1903. Im Hyde Park fand zu dieser Zeit eine öffentliche Kundgebung statt, die 25.000 Juden auf die Beine brachte. Organisatoren waren die jüdische anarchistische Föderation, die jüdischen Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten und die polnische Sozialdemokratische Partei. Während die bürgerlichen Juden Gegner solcher Demonstrationen waren, löste das Ereignis eine schnell aufsteigende Entwicklung der 1901 in East End gegründeten jüdischen Gewerkschaften aus. Im April 1904 fand eine anarchistische Massenversammlung statt, in der 5.000 jüdische Arbeiter ihren Willen zum Kampf gegen das sweating system zum Ausdruck brachten; unter den Rednern befanden sich die bekanntesten nichtjüdischen anarchistischen Propagandisten der Zeit: außer Rocker z.B. der Spanier Tarrida del Marmol, der Engländer Mainwarring, der Italiener Malatesta; Kropotkin, der erkrankt war, hatte eine schriftliche Botschaft gesandt. Die revolutionären Ereignisse in Russland gaben der Bewegung neue Impulse – Tolstoj schleuderte seinen feierlichen Protest gegen den Krieg, wurde aus der Kirche ausgestoßen, die Meuterei auf dem Panzerschiff Potemkin brach aus und der Führer dieser Rebellion, Matuschenkow, kam nach London, wo er sich Rockers Kreis anschloß. Von der Literatur, die die jüdische Bewegung zu jener Zeit in London herausgab, ging ein großer Teil illegal nach Russland. Rockers Tätigkeit als Redner führte ihn in immer weitere Kreise; 1913 unternahm er eine Reise nach Kanada. Die jüdische Bewegung bekam nun auch immer besseren Kontakt mit der englischen Arbeiterbewegung; anlässlich eines großen britischen Hafen- und Transportarbeiterstreiks nahmen die Juden in East End Hunderte englische Arbeiterkinder auf.Die große Feuerprobe der Bewegung in East End kam 1912, als 13.000 Juden in den Streik traten. Der Kampf begann als Solidaritätsaktion für streikende Konfektionsarbeiter in Westend, von denen nur ein Teil Juden waren. Der nun ausbrechende Kampf in East End nahm gewaltige Proportionen an; Rocker sprach auf Hunderten von Meetings. Der Arbeiterfreund kam während des Streiks täglich mit vier Seiten heraus. Der große Streik brachte den jüdischen Arbeitern beträchtliche Erfolge und der ganzen Bewegung einen großen moralischen Aufschwung.Dafür legt eine kleine Episode Zeugnis ab, die Rudolf Rocker in seinem zweiten Erinnerungsband erzählt. Eines Tages, eine Zeit nach dem großen Streik, spazierte er mit seiner guten Lebenskameraden Milly durch die Straßen des Ghettos, als eine unbekannte junge Frau, die vor der Tür eines Hauses saß, sich erhob und zu Rocker sagte: „Möge Gott ihnen hundert Jahre schenken! Sie haben meinen Kindern geholfen als die Not am größten war. Sie sind kein Jude, aber Sie sind ein Mensch, ein Mensch!“Noch vieles andere über Rockers Tätigkeit in der jüdischen Arbeiterbewegung wäre berichtenswert, und anderes dazu, denn die beiden vorliegenden Erinnerungsbände sind unerhört reich an Schilderungen von historischem Wert – und überreich an Zeugnissen einer warmen, aktiven beispielhaften Humanität. Hier ist ein Menschenleben dargestellt., das diesen Namen verdient wie selten eines. Hat man Rockers zwei Erinnerungsbände gelesen, so glaubt man noch lange die Stimme des alten Juden zu hören: „Ein Mensch!“ Ja, aus diesen Seiten tritt vor allem ein reiner Mensch hervor, der stets nur an das Gute in seinem Nächsten appellierte, unendlich viel Gutes tat und trotz seines hohen Alters in diesem Geiste immer noch wirkt.

Max Stirner war der Philosoph des individualistischen Anarchismus, Bakunin – der Vorkämpfer des kollektiven Anarchismus, Kropotkin – der Begründer des kommunistischen Anarchismus, Max Netlau – der Historiker der anarchistischen Bewegung und Ideologie und Rocker – der Theoretiker des Anarchosyndikalismus.Rocker hat auf Basis der Ideen von Kropotkin und der französischen Individualisten seinen Anarchosyndikalismus entwickelt. Er hat sich nicht mit der Theorien begnügt, sondern zu Aktionen aufgerufen, wie das die Syndikalisten in der jungen deutschen Republik gleich nach dem Ersten Weltkrieg getan hatten, als sie die deutschen Arbeiter zur Verwirklichung des Sozialismus durch die Besetzung der Fabriken und durch die Gründung von Föderationen revolutionärer und freier Gemeinschaften aufgerufen haben. Im Ruhrgebiet und im Rheinland gab es damals um die hunderttausend Syndikalisten, und ihr propagandistischer Generalstreik half dabei den Kapp-Putsch reaktionärer, deutscher Generäle zu unterdrücken.In seinem Buch Theorie des Anarchosyndikalismus zeigt Rocker auf, dass die Idee der Arbeiterräte als Organisationsform der sozialistischen Arbeiterbewegung bereits im Jahr 1869 von dem Belgier Hins auf dem Kongress der ersten Internationalen vorgeschlagen wurde. Nach dem Fall der Pariser Kommune ist die revolutionäre Arbeiterbewegung in Frankreich und danach in Spanien und Italien unterdrückt worden, und die Idee der Arbeiterräte konnte sich nicht gut entwickeln. In dieser Situation war es für Karl Marx nicht weiter schwer auf dem Hager Kongress im Jahr 1872 eine Mehrheit für die Beteiligung am Parlamentarismus zu finden. Erst in der russischen Revolution im Jahr 1905 wurden spontan Arbeiterräte geschaffen, die dann nach der Revolution von 1917 als Machtinstrument von der jakobinisch-bolschewistischen Diktatur ausgenutzt wurden.In seiner weniger bekannten Schrift Absolutistische Gedanken im Sozialismus weist Rocker auf die Ähnlichkeiten zwischen Babes und Napoleon hin. Er schreibt diesbezüglich:„Das Bündnis der Jakobiner mit den Bonapartisten in der Zeit der Restauration, der Anschluß, den Lassalle bei Bismarck suchte und nur deshalb nicht finden konnte, weil er keine ebenbürtige Macht hinter sich hatte, die Allianz zwischen Stalin und Hitler, die zur unmittelbaren Ursache des letzten Weltkrieges wurde, sind nur in diesem Sinne zu verstehen. Es handelt sich in allen diesen Fällen um bestimmte Auswirkungen desselben absolutistischen Prinzips in verschiedenen Formen. Wer diesen inneren Zusammenhängen nicht tiefer nachgeht, dem hat die Geschichte überhaupt nichts zu offenbaren.“Die ganze babouvistische Schule des Sozialismus, die in Männern wie Barbes, Blanqui, Teste, Voyet d'Argenson, Bernard, Meillard, Nettre usw. ihre Vertreter fand und in den geheimen Bünden der „Gesellschaft der Familien“, der „Gesellschaft der Jahreszeiten“ und anderen ihre Wirksamkeit entfaltete, war durchaus autokratisch in ihren Bestrebungen. Nach einem geheimen Bericht, der 1840 von allen Sektionen der Gesellschaften angenommen wurde, sollte ein Direktorium von drei Personen den kommenden Aufstand organisieren und nach dem Siege als provisorische Regierung eingesetzt werden. Diese diktatorische Körperschaft sollte nicht vom Volke, sondern von den Verschworenen selbst gewählt werden. Die Regierung sollte die Leitung der Industrie, des Ackerbaus und der Verteilung der Produkte übernehmen. Um die Gleichheit der Gesinnung dem Staate gegenüber herzustellen, sollten die Kinder vom fünften Lebensjahre an den Eltern entzogen und in staatlichen Instituten erzogen werden. Das Vorbild eines totalen Staates wurde auf diese Weise also bereits von Sozialisten ausgearbeitet. Auch die Idee Lenins von den „professionellen Revolutionären“ ist nur ein Abklatsch von Blanquis „revolutionärem Generalstab“. Der „monarchistische Gedanke“, dem Proudhon den Krieg erklärt hatte, saß viel tiefer, als die meisten ahnen mochten und hat, wie die letzten Zeitereignisse überall in der Welt deutlich zeigen, seine Wirkung noch lange nicht eingebüßt.“ [1]Rocker hat die Kraft ökonomischer Faktoren auf die Geschichte nie geleugnet; er hob aber auch die geistigen Kräfte und die Macht kollektiver Ideen hervor. Das geht aus seinem Hauptwerk Nationalismus und Kultur eindeutig hervor. Im Nationalismus sieht Rocker einen verdorbenen Wahnsinn, der die Entwicklung des kulturellen Universalismus stört. Obwohl das Buch bereits 1937 erschien, ist es noch heute aktuell. Albert Einstein schrieb über dieses Buch: „Ich finde Rockers Buch außergewöhnlich originell und belehrend. Es stellt die gesellschaftlichen Zusammenhänge überzeugend in einem neuen Licht dar. Obwohl ich von Rockers negativer Haupteinstellung gegen den Staat nichts halte, betrachte ich dieses Buch als sehr wichtig.“Bertrand Russel schrieb über das Buch, dass er es für „einen bedeutenden Beitrag zur politischen Philosophie halte, sei es wegen der tiefgründigen Analyse einer Reihe berühmter Schriftsteller, sei es wegen der glänzenden Kritik am Staat, der den schädlichsten Aberglauben unserer Zeit darstellt. Es wäre zu wünschen, dass dieses Buch in allen Ländern verbreitet und gelesen wird, wo der freie Gedanke noch nicht ungesetzlich ist.“

Aus dem Studium der deutschen und europäischen Klassiker gelangt der junge Rocker frühzeitig zu einer umfassenden Bildung. Aber er gibt sich mit der blossen literarischen Betrachtung der Welt und des Weltgeschehens nicht zufrieden. Er setzt mit rastlosem Geist die Resultate seiner erworbenen humanistischen Bildung, in Betrachtungen über das menschliche Leben um. Rocker vergleicht den literarischen Menschen mit dem Sozialwesen, das er antrifft, und er lernt hier sehr frühzeitig zu unterscheiden zwischen den ungelösten Rätseln menschlichen Seins und der tatsächlichen menschlichen Existenz. Diese wird ihm zum wichtigsten Gebiet seiner geistigen Arbeit. Der Mensch und seine Sozialbeziehungen schlagen ihn in ihren Bann. So ist es nicht verwunderlich, daß   er bereits in jüngsten Jahren die Bekanntschaft mit der beschwingenden Idee des Sozialismus macht. Besonders dem Sozialismus der alten Schule, den sozialen Ideen des Grafen Henry de Seint Simon und der anderen großen Franzosen, wie Charles Fourier und Pierre Proudhon neigt sich sein geistiges Interesse zu. Aber daneben gibt es noch eine Fülle von Sozialkritikern und Sozialreformern, die der sozialistischen Auffassung Rockers einen guten Nährboden geben. Da sind die Deutschen Moses Hess und Karl Grün, und da ist nicht zuletzt der intellektuelle Schneidergeselle Wilhelm Weitling, dessen Werk über die Harmonie der Freiheit Jahrzehnte hindurch dem Sozialismus Diskussionsgrundlage war. Aber auch die Ideen des englischen Sozialkritikers Robert Owen, des britischen Sozialrevolutionärs William Godwin sind in der sozialistischen Ideenwelt der Rockerschen Jugendjahre noch durchaus lebendig. Der Staatssozialismus und die dogmatischen Auffassungen der Blanciisten, der Cabetisten, sowie die totalitären Auffassungen von Karl Marx und Friedrich Engels und die völlige Staatsgläubigkeit Ferdinand Lassalles hatten zu dieser Zeit die sozialistische Idee noch nicht in ihren Bann geschlagen. Noch immer sind in sehr starkem Masse, die Auffassungen der großen Russen Michael Bakunin und Alexander Herzen Allgemeingut in der sozialistischen Ideenwelt.Von diesen Ideen strömt bei aller sozialkritischen Schärfe und sozialrevolutionären Härte, doch eine warme Menschlichkeit aus. Diese Ideen knüpfen an, an die große Tradition der humanistischen Geisteskultur, wie sie Rocker von Hause aus mitbrachte. So wohnt den Ideen der alten Sozialisten, mit der Betrachtung über den Menschen und seine Beziehungen zur Gesellschaft auch der Internationalismus inne. Er ergibt sich aus dem Menschheitsprinzip, aus dem Recht und aus der Würde des Einzelwesens; er kommt und entwickelt sich aus den unveräusserlichen und unabdingbaren Rechten des Individuums gegenüber der Gesellschaft, aber er führt auch Einzelrecht und Einzelanspruch und Sozialorganismus und Gesellschaftsnotwendigkeit auf eine gemeinsame Plattform zusammen.Der Internationalismus der sozialistischen Ideenwelt führt bei Rudolf Rocker konsequenterweise zum Kosmopolitentum, denn im Grunde genommen handelt es sich bei diesem Internationalismus nicht mehr allein um Regelungen zwischen den Nationen in ihrer staatlichen Begrenztheit, sondern um übernationale, entnationalisierende Beziehungen, die nicht das Interesse des Deutschen oder des Briten, oder Franzosen im Auge haben, sondern um die Menschheit schlechthin. Das Kosmopolitentum Rudolf Rockers entspringt also zwei Wurzeln. Die eine liegt begründet in der Herkunft aus einem Gebiet traditioneller humanistischer Kultur und die andere kommt aus der sozialistischen Ideenwelt, die als wirkliche Menschheitskultur nur gelten läßt, was der Wahrung, Förderung und Mehrung der Menschheit dient. Es kann nicht Wunder nehmen, wenn bei Rocker dieses Kulturprinzip letztlich die gesamte    Persönlichkeit prägt.

Rocker hat die sozialistischen Ideen mit allen Fasern seines Herzens aufgenommen. Seinem scharfen Verstande, seinem phänomenalen Gedächtnis und seinem ordnenden Intellekt sagte die Vielheit der einzelnen Schulen und sozialen Systeme mehr, als den Dogmatikern des Sozialismus, die nur anerkennen was ihrem Grundprinzip entspricht, aber verdammen und verketzern, was ihrer Ansicht von der Notwendigkeit, die menschliche Gesellschaft in eine Galeere zu verwandeln, zuwiderläuft.Es ist Rockers ureigenstes Verdienst, das sozialistische Ideengut nach allen Seiten hin durchforscht zu haben. Die einzelnen sozialistischen Sonderheiten in Grundsatz und Praxis untereinander in Vergleich zu setzen und ihren gemeinsamen Gehalt zu ermitteln. Es ist dies eines der hervorragendsten Charaktermerkmale seines literarischen und rednerischen Schaffens. Immer geht Rocker dabei von dem Grundsatz aus, den Erkenntnisgehalt der einzelnen Systeme festzustellen und geistes- und wesensverwandtes miteinander zu koordinieren. Es liegt in der Natur der Sache, daß er dabei keineswegs in engstirniger Unaufgeschlossenheit nur Gedanken gelten läßt, die von Sozialisten gedacht wurden. Im Gegenteil, der menschliche Geist ist ihm eine universelle Erscheinung, deren Fruchtbarkeit nicht auf eine bestimmte Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gesellschaftsgruppe oder Klasse beschränkt ist. Richtiges und Logisches zu denken, ist eine Angelegenheit des menschlichen Geistes und nicht das Privileg von Angehörigen bestimmter Gesellschaftsschichten.Auch hier knüpft Rocker an die Traditionen der humanistischen Bildung an. Die Geisteshaltung hoher humanistischer Bildungskultur findet ihren prägnantesten Ausdruck in der Toleranz. Das Prinzip der Erkenntnis ist ihr Lebenselement. Sie gibt der Erkenntnis, der Offenbarung gegenüber den Vorzug. Rocker geht mit ihr den Weg der Erkenntnis. Die Vielheit des menschlichen Geistesgutes nimmt ihn gefangen. In der bunten Fülle tausendfältiger Erscheinungsformen des menschlichen Lebens und in der noch vielgestaltigeren Sozialschöpfung als Ausdruck des nimmermüden und rastlos tätigen menschlichen Geistes, sieht er die Grundlagen menschlicher Kultur.Die gesamte Geistesarbeit Rudolf Rockers ist eine einzige Auseinandersetzung mit den faulen Mächten der Ungeistigkeit, die als Geist und geistig nur gelten lassen wollen, was dem Schema ihrer besonderen sozialen, politischen und ökonomischen Konfession entspricht. Das menschliche Geistesleben aber zu schematisieren, bedeutet ihm Abkehr vom Prinzip der Toleranz und Aufhebung der Duldsamkeit als wichtigste Voraussetzung für Freiheit und Würde. Das gesamte Gebäude seiner sozialen und politischen Forschung ruht auf dem Prinzip der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit. Der Sozialismus ist ihm die Verkörperung von Menschenfreiheit, Menschenrecht und Menschenwürde. Die menschliche Freiheit ist seit Jahrtausenden das am meisten bedrohte menschliche Element. Die Tyrannei in ihrer vielfältigen Gestalt ist immer bereit, zu allererst die menschliche Freiheit anzutasten und zu beseitigen. Auf der Freiheit basieren alle Äusserungen des Lebens. Sie ist deshalb immer bedroht und für sie gilt es deshalb immer auf die Schanzen zu steigen. Ohne menschliche Freiheit ist jede geistige Fortentwicklung, jeder soziale Fortschritt, jede politische Errungenschaft, jeder Versuch eines ökonomischen Ausgleichs ausgeschlossen. Die Freiheit ist deshalb für Rocker das köstlichste menschliche Gut. Seine Forschung über die sozialistischen Schulen und sozialen Systeme waren besonders dem freiheitlichen Gehalt derselben zugeneigt. Der Wert aller dieser Systeme offenbart sich einzig und allein in dem Maß an menschlicher Freiheit, das dieselben zugestehen und verfechten.

Rocker ist deshalb ständiger Mahner. Sein Appell spricht den inneren Menschen an. Es ist nicht so sehr die schwielige Faust und der schmierige Arbeitsdress, den er anspricht. Er macht Faust und Dress nicht zum Prinzip freiheitlichen Wollens. Er weiß und macht immer wieder klar, daß die Freiheit dem Knecht eine Sehnsucht, dem Sklaven ein Traum sein kann. Sehnsüchte und Träume aber sind imaginär, wirken im Unwirklichen und stehen ausserhalb des menschlichen Geistes. Die Freiheit ist ihm keine Theorie, ist ihm auch kein Glaubensbekenntnis. Er folgert sie vielmehr aus der menschlichen Existenz. Diese aber ist naturgebunden. Der natürliche Kampf hört in der menschlichen Gemeinschaft nicht auf. Er erfährt hier lediglich hohe Grade der Veredelung. Der Kampf als Prinzip aber bleibt bestehen. Und so geht Rocker von der antiken These aus, daß der Kampf der Vater aller Dinge sei und fordert vom Einzelnen wie von der Gesamtheit die ständige Bereitschaft, für die Freiheit einzutreten und sie täglich und stündlich neu zu erkämpfen. Die von ihm aus allen sozialistischen Systemen und Schulen erarbeitete Wahrheit ist die, daß der Mensch als Einzelwesen und als Sozialerscheinung das Maß an Freiheit genießt, das er in ständigem Ringen mit den Widerständen des Lebens sich ertrotzt. Die aus dieser Erkenntnis gezogene Folgerung, hat bei Rocker ihren besonderen Niederschlag in der Begründung des modernen Anarchosyndikalismus gefunden. Hier sieht Rocker am besten die Elemente menschlicher Freiheit gewährleistet und zwar dergestalt, daß die Organisation der Arbeit wirtschaftspolitische Tendenz trägt. Er führt die Kraft der Arbeit auf ihren Ausgangspunkt zurück. Die Arbeit ist ihm sittliches Prinzip. Bei der Untersuchung über die Nutzanwendung derselben für die Schaffung von Garantien für die Freiheit, vermittelt er die Erkenntnis, daß die Organisation der produktiven Kraft des Einzelwesens das beste Mittel ist, die Freiheit zu erringen, zu verteidigen und zu vergrössern. Denn, so folgert Rocker,die Arbeit ist Grundlage der menschlichen Einzelexistenz sowohl, als auch der menschlichen Sozialexistenz. Erkennt der Arbeitstätige den hohen sittlichen Wert seiner Leistung, dann wird sie ihm das Mittel zur Verfechtung seiner persönlichen und sozialen Ansprüche sein. In der Anwendung, zur Verfügungstellung oder Verweigerung der Arbeitskraft, liegen ihre sittlichen Maximen. Deshalb wurde Rocker auch zum Verfechter und theoretischen Begründer des Prinzips der direkten Aktion. Er sieht in der Freiheit nicht eine schriftliche oder verfassungsrechtlich gegebene Garantie. Er sieht in ihr vielmehr die Selbstverantwortlichkeit des Individuums. Er fordert deshalb von diesem, die Veränderung der Sozialstruktur in die eigene Hand zu nehmen und sie nicht Dritten oder Vierten zu überlassen.Selbstverantwortlichkeit als sittliches Prinzip ist das Grundelement des Anarchosyndikalismus. Rocker formuliert nach seiner Rückkehr aus dem englischen Internierungslager im Jahre 1919 die Prinzipienerklärung des Syndikalismus, die er vor dem Kongreß der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften, die sich auf demselben Kongreß den Namen Freie Arbeiter - Union Deutschlands (AS) gibt, in einer, mit grossem Beifall aufgenommenen Rede, begründet. In dieser Prinzipienerklärung wird die historische Rolle des Staates als einer der wichtigsten Feinde der Freiheit dargelegt.Rocker knüpft daran die Folgerung, daß der Staat eine Schutzorganisation zum Zwecke der Sicherung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sei, die gemeinsam mit derselben abgeschafft werden muß. Für ihn steht die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im ursächlichen Zusammenhang mit der Beherrschung des Menschen durch den Menschen und daß die Aufhebung der Lohnarbeit als Ausdrucksmittel menschlicher Ausbeutung, unweigerlich auch die Aufhebung des Staatsbürgertums nach sich ziehen muß. Des weiteren kommt Rocker zu der programmatischen Feststellung, daß eine Gesellschaftsform in der die Befreiung des Menschen von Ausbeutung und Beherrschung Wirklichkeit werden soll, von der Devise "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" ausgehen muß. Mit dieser Formulierung gibt Rocker der kommunistischen Form der Gesellschaft den Vorzug. Dabei aber ist die von ihm vertretene wirtschaftliche Form des Kommunismus kein Dogma. Der Vielgestaltigkeit des sozialen Lebens lässt er Lösungen offen, die aus der praktischen Erfahrung und der revolutionären Gegebenheiten erwachsen und der er nicht von vornherein und für alle Zeiten eine Beschränkung auf bestimmte und festumrissene Erscheinungsformen auferlegen will. Wenngleich er mit Kropotkin dem Kommunismus als die gerechteste Form der menschlichen Sozialexistenz den Vorzug gibt, betont er doch, daß auch der Kooperation und der Genossenschaft, sowie überhaupt allen Formen menschlicher Selbsthilfe, welche die Sicherung von Wohlstand und Freiheit zum Ziele haben, Betätigungsraum und Wirkungsmöglichkeit gegeben werden muß. Seine Auffassung über die gesellschaftliche Neuordnung und den revolutionären Kampf ist also tolerant und völlig undogmatisch.Ebenso selbstverständlich ist ihm die Tatsache, daß die Arbeiterschaft als die rechtloseste Schicht im modernen Sozialorganismus der wirksamste Träger jeder Neuordnung der Sozialbeziehungen ist. Aber er räumt dem Prinzip des proletarischen Klassenkampfes kein Ausschließlichkeitsrecht ein. Rocker hat hier sicherlich die Gefahr gesehen, die in der Tatsache begründet liegt, daß den Gesellschaftsklassen ganz schematisch bestimmte Zeiträume für die Wirksamkeit und Ausübung ihrer Klassenherrschaft zugewiesen werden. Im Gegensatz zu der Marxschen Auffassung, daß das Proletariat sich zur herrschenden Klasse konstituieren müßte, um den Sozialismus politisch zu sichern, kommt Rocker hier zu dem historisch logischen Schluß, daß es sich bei dem Kampf um den Sozialismus nicht um eine Verewigung staatlicher Herrschaftszustände handeln kann, sondern daß vielmehr der Kampf um den Sozialismus, der Kampf gegen jede Form der Herrschaft ist. Er sieht im Proletariat keinen Faktor von überragendem sittlichen Wert. Er sieht in ihm vielmehr Menschen die wie beim Adel oder der Bourgeoisie alle Mängel, Fehler und Schwächen in sich vereinigen. Zudem ist der Begriff des Proletariats viel zu unbestimmt. Das Proletariat ist kein festumgrenzter soziologischer Faktor. Steht dies aber fest, dann birgt die Erhebung des Proletariats zu einer Klasse mit Vor-und Sonderrechten, eine neue Gefahr für die menschliche Gesellschaft in sich. Das Proletariat ist auf Grund seiner besonders abhängigen sozialen Lage sicherlich ein Faktor, bei dem man Aufgeschlossenheit und Bereitschaft zum Einsatz für den Fortschritt voraussetzen darf. Aber es hat nicht die historische Aufgabe, alte Herrschaftsformen mit der Zielsetzung zu sprengen, die seinen an ihre Stelle zu setzen. Rocker hat aber auch die rein menschliche Seite der Beherrschung des Menschen durch den Menschen zum Gegenstand seiner Betrachtungen gemacht und in einer grossen Anzahl von Reden, Aufsätzen und Schriften bewiesen, daß der Staat ein Faktor der Unsittlichkeit ist. Der Schaden, den er der menschlichen Freiheit zufügt, ist durch keine immerwie geartete Maßnahme seiner Administration oder Exekutive wieder gutzumachen. Die Einmischung des Staates in alle Regungen des Menschen und in alle menschlichen Beziehungen schafft einen Zustand so weitgehender Entpersönlichung, daß der in der Nachkriegszeit in Mode gekommene Begriff der Vermassung hier seine wirklichen Ursachen hat.

Das Lebenswerk Rudolf Rockers und seine Arbeit an der Klärung der theoretischen Grundlagen des Sozialismus wären an sich schon nicht nur eine beachtliche Leistung, sondern ein Verdienst. Aber die Bedeutung Rockers liegt nicht nur in der theoretischen Klärung, sie liegt auch darin wie die Probleme den Massen der sozialistisch Interessierten nahegebracht und vorgelegt werden. Es ist die einfache und unkomplizierte Sprache eines wirklich großen Menschen, die auf den Leser und Hörer wirkt, die ihn vom ersten Wort bis zur letzten Silbe gefangen nimmt.Es ist die Kunst Rockers, die Probleme der Sozialkritik, der kapitalistischen und sozialistischen Ökonomie, der politischen und kulturellen Bezienungen aus der Sphäre der Abstraktion in die Ebene des Konkreten gebracht zu haben. Dazu gehört viel mehr als gemeinhin angenommen wird. Es ist viel leichter, sich in der Sphäre des abstrakten Denkens zu bewegen, als diese Abstraktionen in allgemein menschliche Werte umzuwandeln. Hier ist Rocker eine Persönlichkeit von fast einzig dastehenden Wert. Was er klar macht, was er geistig erarbeitet, was er dem Menschen als Resultat dieser Arbeit übermittelt ist Wissenschaft, aber Wissenschaft die jeder versteht, die nicht nur an das Hirn appelliert, sondern die das Herz packt und doch weltweit von dem, was man gemeinhin Propaganda nennt, entfernt ist. Denn Propaganda ist, so notwendig sie für die Verbreitung bestimmter Ideen auch sein mag, doch in erster Linie auf das Trägheitsbedürfnis der Massen abgestellt.Rocker aber braucht dieses Trägheitsbedürfnis nicht in Rechnung zu stellen. Seine Sprache in Wort und Schrift ist die Sprache eines Mannes, der das schwierigste Problem anpacken und es wohlaufbereitet dem Menschen zur geistigen Kost bieten kann. Wer seine Schriften, kleine oder große, zur Hand nimmt, der wird vom Zauber des Wortes und von der Klarheit des Geistes erfaßt. Der erlebt nicht nur den Mahner, sondern ihm offenbart sich der Künder, ihm offenbart sich eine gewaltige Fülle von Gedanken, von Ideen, von historischen Zusammenhängen, von logischen Schlüssen und von notwendigen Schlußfolgerungen, die alle in der beschwingenden Kraft des Geistes leben, der im Wort seinen Ausdruck findet.

Rudolf Rocker - Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus (1947)

I1. Zur Ideologie des Anarchismus2. Geschichte der Anarchistischen Philosophie von Lao-Tse bis KropotkinII1. Die Ursprünge des Anarcho-Syndikalismus2. Sozialismus und Anarcho-Syndikalismus in Frankreich3. Die Rolle der Gewerkschaften aus Anarcho-Syndikalistischer sicht4. Der Kampf in Deutschland und Spanien5. Der Politische Kampf aus Anarcho-Syndikalistischer sicht6. Der Generalstreik7. Der Anarcho-Syndikalismus seit dem 1. WeltkriegIIINachwort 1947IVAnmerkungen   

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1. Zur Ideologie des Anarchismus

Der Anarchismus ist eine bestimmte intellektuelle Strömung, deren Anhänger die Abschaffung der wirtschaftlichen Monopole und aller politischen und sozialen Zwangsinstitutionen innerhalb der Gesellschaft anstreben. An die Stelle der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wollen die Anarchisten eine freie Vereinigung aller Produktivkräfte stellen, die auf kooperativer Arbeit beruht, und die als alleinigen Zweck die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse jedes Mitglieds der Gesellschaft haben würde. Anstatt der gegenwärtigen Nationalstaaten mit ihrer leblosen Maschinerie politischer und bürokratischer Institutionen fordern Anarchisten eine Föderation freier Kommunen, die untereinander durch ihre alltäglichen Interessen verbunden sind, und ihre Angelegenheiten durch gegenseitige und freie Verträge regeln.Jeder, der die ökonomische und politische Entwicklung des gegenwärtigen Systems genauer untersucht, wird erkennen, daß diese Ziele nicht den utopischen Ideen einiger Phantasten entspringen. Sie sind vielmehr das logische Ergebnis einer gründlichen Überprüfung der heutigen miserablen sozialen Verhältnisse, die sich in jeder Phase der gegenwärtigen sozialen Bedingungen immer deutlicher und schädlicher offenbaren. Der moderne Monopolkapitalismus und die totalitären Staaten sind nichts anderes als die letzten Stufen einer Entwicklung, die nirgendwo anders enden konnte.Die unheilvolle Entwicklung unseres gegenwärtigen wirtschaftlichen Systems, die zu einer enormen Anhäufung sozialen Reichtums in den Händen privilegierter Minderheiten und zu einer andauernden Unterdrückung der großen Masse des Volkes führte, ebnete den Weg für die heutigepolitische und soziale Reaktion. Sie erwies sich ihr in jeder Weise als dienlich. Sie opferte die allgemeinen Interessen der Gesellschaft den Privatinteressen einzelner und unterminierte so systematisch echte Beziehungen zwischen den Menschen. Die Menschen vergaßen, daß der Fleiß nicht Selbstzweck ist, sondern lediglich dem Menschen zur Sicherung seines materiellen Unterhalts dient und ihm die Errungenschaften einer höherstehenden Kultur zugänglich machen soll. Wo Fleiß alles ist, Arbeit ihren ethischen Einfluß verliert und der Mensch nichts ist, beginnt der brutale wirtschaftliche Despotismus. Dessen Auswirkungen sind nicht weniger unheilvoll als die irgendeines politischen Despotismus.Unser modernes soziales System hat im Innern den sozialen Organismus jedes Landes in zwei feindliche Klassen gespalten. Nach außen hat es den gemeinsamen kulturellen Kreis der verfeindeten Nationen zerbrochen; beide, Klassen und Nationen, stehen sich in offener Feindschaft gegenüber. Bedingt durch ihren unaufhörflichen Kampf unterliegt das soziale Leben fortwährenden Störungen. Zwei Weltkriege innerhalb eines halben Jahrhunderts mit ihren schrecklichen Nachwirkungen, und die latente Gefahr neuer Kriege, die zur Zeit alle Völker beherrscht, sind nur die logischen Konsequenzen dieser unerträglichen Bedingungen, die nur in weitere weltweite Katastrophen führen können. Die bloße Tatsache, daß die meisten Staaten heute verpflichtet sind, einen erheblichen Teil ihres Bruttosozialprodukts für die sog. nationale Verteidigung und für die Liquidation alter Kriegsschulden auszugeben, ist der Beweis für die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Zustands. Es sollte jedem klar sein, daß der vorgebliche Schutz, den der Staat dem Einzelnen gewährt, zu teuer erkauft wird.Die ständig wachsende Macht einer seelenlosen politischen Bürokratie, die das Leben der Menschen von der Wiege bis zur Bahre überwacht und "schützt", wird für die Zusammenarbeit der Menschen zu einem immer größeren Hindernis. Ein System, das mit jeder Handlung das Wohlergehen großer Teile der Menschen, sogar ganzer Nationen, der egoistischen Sucht nach Macht und den ökonomischen Interessen von Minoritäten opfert, muß notwendigerweise die sozialen Bindungen auflösen und zu einem fortwährenden Kampf jeder gegen jeden führen. Dieses System ist lediglich Schrittmacher für die große geistige und soziale Reaktion geworden. Diese findet heute ihren Ausdruck im Faschismus und in der Idee des totalitären Staates, die die Machtbesessenheit der absoluten Monarchie der vergangenen Jahrhunderte weit übertreffen und versuchen, jeden Bereich der menschlichen Aktivität unter die Kontrolle des Staates zu bringen. "Alles im Staate, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat!" (Mussolini) wurde das Leitmotiv einer neuen politischen Theologie. Heißt es in den alten Kirchensystemen "Gott ist alles und der Mensch ist nichts", so ist das moderne Glaubensbekenntnis "Der Staat ist alles und der Bürger nichts". Und so wie das Wort "Der Wille Gottes" benutzt wurde, um den Willen der herrschenden Klassen zu rechtfertigen, so verstecken sich heute hinter dem "Willen der Staaten" nur die egoistischen Interessen derer, die sich berufen fühlen, diesen Willen in ihrem Sinne zu interpretieren und den Menschen aufzuzwingen.Im modernen Anarchismus treffen zwei große Strömungen zusammen, die vor und nach der französischen Revolution einen sehr großen Ausdruck im geistigen Leben Europas gefunden haben: Sozialismus und Liberalismus. Der moderne Sozialismus entwickelte sich, als immer klarer erkannt wurde, daß politische Einrichtungen und Regierungswechsel niemals an die Wurzel des großen Problems, die Soziale Frage, dringen konnten. Seine Anhänger erkannten, daß eine Anpassung der sozialen und politischen Bedingungen zum Wohl aller trotz der besten Voraussetzungen unmöglich ist. Sie ist nicht möglich, solange die Menschen auf der Basis des Besitzes oder Nicht-Besitzes von Eigentum in Klassen geteilt sind - Klassen, deren bloße Existenz von vornherein jeglichen Gedanken an eine wirkliche Gemeinschaft ausschließen. Deshalb kam man zu der Überzeugung, daß nur durch die Beseitigung der wirtschaftlichen Monopole und den gemeinschaftlichen Besitz an Produktionsmitteln ein Zustand sozialer Gerechtigkeit hergestellt werden könne. Ein Zustand, in der die Gesellschaft eine wirkliche Gemeinschaft wird, und die menschliche Arbeit nicht länger die Ausbeutung zur Folge hat, sondern das Wohlbefinden aller sichert. Aber sobald der Sozialismus organisiert auftrat und zu einer Bewegung wurde, traten auf einmal bestimmte Meinungsunterschiede auf, die von dem Einfluß des sozialen Milieus der verschiedenen Länder herrührten. Es ist eine Tatsache, daß jedes politische Konzept von der Gottesherrschaft bis zum Cäsarismus und zur Diktatur sich auf bestimmte Parteien der sozialistischen Bewegung ausgewirkt hat.Die zwei großen Strömungen des politischen Denkens nahmen einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung sozialistischer Ideen: der Liberalismus, den fortschrittliche Denker in den angelsächsischen Ländern und teilweise in Holland und Spanien stimuliert hatten; die Demokratie in dem Sinne, wie sie Rousseau in seinem "Gesellschaftsvertrag" (1) dargelegt hatte, und die ihre einflußreichsten Repräsentanten in den Führern der französischen Jakobiner (2) fand. Der Liberalismus ging in seinen sozialen Theorien vom Individuum aus. Er forderte, die Aktivitäten des Staates auf ein Minimum zu beschränken. Demgegenüber beruhte Demokratie auf einem abstrakten kollektiven Konzept, Rousseaus "Allgemeinem Willen", das versuchte, diese Vorstellung im Nationalstaat zu verwirklichen.Liberalismus und Demokratie waren hervorragende politische Konzepte. Da die meisten Anhänger von Liberalismus und Demokratie kaum die ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft betrachteten, konnte die weitere Entwicklung dieser Bedingungen praktisch nicht mit den ursprünglichen Prinzipien der Demokratie versöhnt werden. Noch weniger jedoch mit denen des Liberalismus. Demokratie mit ihrem Motto der "Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz", und der Liberalismus mit seinem "Recht des Menschen auf seine Person" scheiterten beide an den Realitäten der kapitalistischen Wirtschaft.Solange Millionen von Menschen in jedem Land ihre Arbeitskraft einer kleinen Minorität von Besitzenden verkaufen müssen und in die erbärmlichste ökonomische Lage geraten, wenn sie keinen Käufer finden, bleibt die sogenannte Gleichheit vor dem Gesetz eine Farce, seit die Gesetze von denen gemacht werden, die im Besitz des gesellschaftlichen Reichtums sind. Aber in demselben Zusammenhang kann auch nicht vom Recht des Menschen auf seine Person gesprochen werden, da dieses Recht dort endet, wo jemand gezwungen ist, sich dem ökonomischen Diktat eines anderen zu unterwerfen.Wie der Liberalismus vertritt auch der Anarchismus die Idee, daß das Glück und die Wohlfahrt des Einzelnen der Maßstab in sämtlichen sozialen Angelegenheiten sein muß. Und wie die bedeutenden Repräsentaten des liberalen Gedankenguts vertritt auch der Anarchismus die Auffassung, daß die Aufgaben der Regierung auf ein Minimum beschränkt werden müssen. Seine Anhänger sind diesem Gedanken bis zur letzten Konsequenz gefolgt und sind bestrebt, jede Institution der politischen Macht aus dem gesellschaftlichen Leben zu eliminieren. Wenn Jefferson (3) das Grundkonzept des Liberalismus in die Worte faßt: "Diejenige Regierung ist am besten, die am wenigsten regiert", sagen die Anarchisten mit Thoreau: (4) "Diejenige Regierung ist am besten, die überhaupt nicht regiert".Gemeinsam mit den Vätern des Sozialismus fordern die Anarchisten die Abschaffung des wirtschaftlichen Monopols in jeder Form und unterstützen den Gemeinschaftsbesitz an Grund und Boden und den Produktionsmitteln, deren Gebrauch jedem ohne Unterschied zugänglich sein muß; denn persönliche und soziale Freiheit ist nur auf der Basis von gleichen ökonomischen Bedingungen für jedermann denkbar. Innerhalb der sozialistischen Bewegung vertreten die Anarchisten den Standpunkt, daß der Kampf gegen den Kapitalismus gleichzeitig ein Kampf gegen die Zwangsinstitutionen der politischen Macht sein muß, da in der Geschichte die ökonomische Ausbeutung Hand in Hand mit politischer und sozialer Unterdrückung gegangen ist. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Herrschaft des Menschen über den Menschen sind untrennbar und bedingen einander.Solange sich in der Gesellschaft eine besitzende und nichtbesitzende Schicht in Feindschaft gegenüberstehen, wird der Staat für die besitzende Minderheit unentbehrlich sein, um ihren Besitz zu schützen. Wenn diese Voraussetzung der sozialen Ungerechtigkeit verschwindet, um der Ordnung Platz zu machen, die keine besonderen Rechte anerkennt und als Grundvoraussetzung die Gemeinschaft der sozialen Interessen haben wird, muß die Regierung über Menschen der Verwaltung der ökonomischen und sozialen Angelegenheiten das Feld überlassen, oder, um mit Saint Simon (5) zu sprechen: "Die Zeit wird kommen, in der die Kunst, Menschen zu regieren, verschwinden wird. Eine neue Kunst wird diesen Platz einnehmen, die, Dinge zu verwalten". In dieser Hinsicht muß der Anarchismus als freiwilliger Sozialismus betrachtet werden.Das bestimmte auch die von Marx und seinen Änhängern aufgestellte Theorie, daß der Staat, in der Form der Diktatur des Proletariats, eine notwendige Übergangsstufe zur klassenlosen Gesellschaft ist, in der der Staat, nach der Eliminierung aller Klassenkonflikte und schließlich der Klassen selbst, sich auflösen wird und verschwindet. Dieses Konzept, daß die reale Natur des Staates und die Bedeutung des Faktors der politischen Macht in der Geschichte völlig verkennt, ist nur das logische Ergebnis des sogenannten ökonomischen Materialismus. Der sieht in allen Erscheinungen der Geschichte lediglich die unvermeidlichen Folgen der Produktionsmethode dieser Zeit. Unter dem Einfluß dieser Theorie betrachteten die Menschen die verschiedenartigen Formen des Staates und all der anderen sozialen Institutionen als einen "rechtlichen und politischen Überbau der ökonomischen Basis". Sie meinten darin den Schlüssel zu jedem historischen Prozeß gefunden zu haben. In Wirklichkeit liefert uns jeder historische Abschnitt Tausende von Beispielen, in denen die ökonomische Entwicklung verschiedener Länder durch den Staat und seine Machtpolitik einen Rückschlag von Jahrzehnten erlitten hat.Vor dem Aufstieg der klerikalen Monarchie war Spanien, industriell gesehen, das am weitesten entwickelte Land in Europa und hielt den ersten Platz in der Produktion in fast jedem Bereich. Aber ein Jahrhundert nach dem Triumph der klerikalen Monarchie waren die meisten Industriebetriebe verschwunden; was von ihnen übrigblieb, überlebte unter den elendsten Bedingungen. In den meisten Industriezweigen ging man auf die primitivsten Produktionsmethoden zurück. Die Landwirtschaft brach zusammen, Wasserstraßen wurden ruiniert und weite Landflächen in eine Wüste verwandelt. Der fürstliche Absolutismus in Europa, mit seinen törichten "ökonomischen Verordnungen" und seiner "industriellen Gesetzgebung", der jedes Abweichen von den vorgeschriebenen Produktionsmethoden streng bestrafte und keine neuen Erfindungen erlaubte, blockierte den industriellen Fortschritt in den europäischen Ländern für Jahrzehnte und verhinderte seine natürliche Entwicklung. Und selbst nach den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege erweist sich die Machtpolitik der großen Nationalstaaten als das größte Hindernis für die Wiederherstellung der europäischen Wirtschaft.In Rußland jedoch, wo die sog. Diktatur des Proletariats herrscht, hat das politische Machtstreben einer einzigen Partei jegliche echte Reorganisation des ökonomischen Lebens verhindert und das Land in die Sklaverei des Staatskapitalismus gezwungen. Die Diktatur des Proletariats, von der Naive glauben, daß sie eine notwendige Übergangsstufe zum wirklichen Sozialismus darstellt, hat sich zu einem schrecklichen Despotismus und zu einem neuen Imperialismus gewandelt, der in nichts hinter der Tyrannei des Faschismus zurückbleibt. Die Behauptung, daß der Staat solange bestehen bleiben muß, bis die Gesellschaft nicht in feindliche Klassen gespalten ist, erscheint, im Lichte aller historischen Erfahrungen, wie ein schlechter Scherz.Jeder Typus politischer Macht setzt eine besondere Form von menschlicher Sklaverei voraus, für deren Erhaltung die Macht überhaupt ins Leben gerufen worden ist. Nach außen, in Beziehung zu anderen Staaten, muß der Staat einige künstliche Widersprüche schaffen, um seine Existenz zu rechtfertigen. Im Inneren ist die Spaltung der Gesellschaft in Kasten, Stände und Klassen die notwendige Bedingung für sein Fortbestehen. Die Entwicklung der bolschewistischen Bürokratie in Rußland unter der Diktatur des Proletariats - die nichts anderes ist als die Diktatur einer kleinen Clique über das Proletariat und über das ganze russische Volk - ist lediglich ein neues Beispiel einer alten historischen Erfahrung, die sich unzählige Male wiederholt hat. Diese neue herrschende Klasse, die sich heute in eine neue Aristokratie wandelt, hat sich von den großen Massen der russischen Bauern und Arbeiter abgesetzt, genau wie die privilegierten Kasten und Klassen in anderen Ländern von der Masse der Bevölkerung. Und diese Situation wird immer unerträglicher, wenn ein despotischer Staat den niederen Klassen das Recht verweigert, sich gegen die bestehenden Verhältnisse zu wenden, so daß jeder Protest die Gefährdung des Lebens zur Folge hat.Aber auch ein höherer Grad von ökonomischer Gleichheit als der in Rußland würde noch keine Garantie gegen politische und soziale Unterdrückung bedeuten. Ökonomische Gleichheit allein bedeutet keine soziale Befreiung. Es ist genau dies, was die Schulen des autoritären Sozialismus niemals verstanden haben. Im Gefängnis, im Kloster oder in der Kaserne findet man einen ziemlich hohen Grad von ökonomischer Gleichheit, da alle Insassen mit derselben Unterkunft, derselben Verpflegung, derselben Uniform und denselben Aufgaben versehen sind. Der alte Inka-Staat in Peru und der Jesuitenstaat in Paraguay hatten die gleiche ökonomische Versorgung für alle Einwohner geschaffen. Aber trotzdem herrschte dort der schlimmste Despotismus, und der Mensch war lediglich der Automat eines höheren Willens, auf dessen Entscheidungen er nicht den geringsten Einfluß hatte. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß Proudhon (6) in einem "Sozialismus" ohne Freiheit die schlimmste Form der Sklaverei sah. Der Drang nach sozialer Gerechtigkeit kann sich nur entwickeln und nur effektiv sein, wenn er vom Sinn für Freiheit und Verantwortlichkeit ausgeht und darauf basiert. Mit anderen Worten, der Sozialismus wird frei, oder er wird nicht sein. Im Erkennen dieser Tatsache liegt die wahre und tiefe Rechtfertigung des Anarchismus.Institutionen dienen im Leben der Gesellschaft demselben Zweck wie die physischen Organe im Leben der Pflanzen und der Tiere: sie sind die Organe des sozialen Körpers. Organe entwickeln sich nicht willkürlich, sondern verdanken ihren Ursprung bestimmten Notwendigkeiten der physischen und sozialen Umgebung. Veränderte Lebensbedingungen schaffen veränderte Organe. Und ein Organ verschwindet allmählich oder verkümmert, sobald seine Funktion für den Organismus nicht mehr notwendig ist.Dasselbe gilt für soziale Institutionen. Sie entstehen ebenfalls nicht willkürlich, sondern werden durch besondere soziale Notwendigkeiten bedingt ins Leben gerufen, um einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Auf diese Weise entwickelte sich der moderne Staat, nachdem Ökonomische Privilegien und damit verbundene Klassenspaltungen im Rahmen der alten sozialen Ordnung immer sichtbarer wurden. Die neu entstandenen besitzenden Klassen benötigten ein politisches Machtinstrument, um ihre ökonomischen und sozialen Privilegien gegenüber den Massen des Volkes zu behaupten.So entstanden die entsprechenden sozialen Bedingungen für die Entwicklung des modernen Staates als politisches Machtinstrument für die Unterdrückung der nicht-besitzenden Klassen. Diese Aufgabe ist der wichtigste Grund für seine Existenz. Seine äußerlichen Formen haben sich im Laufe der historischen Entwiklung geändert, aber seine Aufgaben sind immer die gleichen geblieben. Sie haben sich sogar konstant in dem Maße ausgebreitet, wie es seinen Anhängern gelang, sich weitere Felder sozialer Aktivitäten dienstbar zu machen. Und so wie man die Funktionen eines physischen Organs nicht willkürlich ändern kann, so kann man auch nicht nach Belieben ein Organ der sozialen Unterdrückung in ein Instrument für die Befreiung der Unterdrückten umwandeln.Der Anarchismus ist keine Patentlösung für alle menschlichen Probleme, keine Utopie einer perfekten Gesellschaftsordnung (wie er so oft bezeichnet wurde), weil er grundsätzlich alle absoluten Schemata und Konzepte verwirft. Er glaubt nicht an eine absolute Wahrheit oder an bestimmte Endziele der menschlichen Entwicklung. Vielmehr an eine unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit von sozialen Modellen und menschlichen Lebensbedingungen, die sich ständig um höhere Ausdrucksformen bemühen, und denen man, aus diesem Grund, keinen bestimmten Endpunkt und kein festes Ziel zuweisen kann.Das größte Übel jeder Form von Macht ist, daß sie ständig versucht, die große Mannigfaltigkeit des sozialen Lebens in bestimmte Formen zu pressen und sie einzelnen Normen anzupassen. Je stärker sich seine Anhänger fühlen, desto umfassender werden sie versuchen, sich jeden Bereich des sozialen Lebens dienstbar zu machen. Ergebnis ist ihr lähmender Einfluß auf die Tätigkeit alle kreativen Kräfte. Hier zeigt sich mit erschreckender Klarheit, zu welcher Ungeheuerlichkeit Hobbes "Leviathan" (7) entwickelt werden kann. Es ist der totale Triumph der politischen Maschine über Geist und Körper, die Rationalisierung des menschlichen Denkens, Fühlens und Verhaltens entsprechend den festgesetzten Regeln der Bürokratie und, in letzter Konsequenz, das Ende aller echten intellektuellen Kultur.Anarchismus anerkennt lediglich die relative Bedeutung von Ideen, Institutionen und sozialen Bedingungen. Er ist deshalb nicht ein bestimmtes, geschlossenes soziales System, sondern eher eine bestimmte Richtung in der historischen Entwicklung der Menschheit. Im Gegensatz zu der intellektuellen Vormundschaft aller klerikalen und Regierungsinstitutionen strebt er nach der freien ungehinderten Entfaltung aller individuellen und sozialen Kräfte im Leben. Auch Freiheit ist nur ein relatives, kein absolutes Ziel, da sie dauernd dazu neigt, ihren Bereich zu erweitern und auf weite Kreise in mannigfaltiger Weise einzuwirken. Für den Anarchisten ist Freiheit nicht ein abstraktes philosophisches Ziel. Vielmehr ist sie die lebenswichtige konkrete Möglichkeit für jedes menschliche Wesen, alle Fähigkeiten und Talente zur vollen Entfaltung zu bringen und sie in einen sozialen Rahmen zu stellen. Je weniger diese natürliche Entwicklung des Menschen durch klerikale und politische Bevormundung gestört wird, desto leistungsfähiger und harmonischer werden die Menschen sein, desto mehr werden sie das Maß der intellektuellen Kultur der Gesellschaft sein, in die sie hineingewachsen sind. Das ist der Grund, warum alle großen kulturellen Perioden in der Geschichte Perioden der politischen Schwäche waren. Denn politische Systeme waren immer auf die mechanische und nicht auf die organische Entwicklung der sozialen Kräfte versessen.Staat und Kultur sind unversöhnliche Gegensätze. Nietzsche, der kein Anarchist war, erkannte dies sehr deutlich, als er schrieb: "Niemand kann schließlich mehr ausgeben, als er besitzt. Das gilt für Einzelpersonen; das gilt für das Volk. Wenn einer sich in der Hohen Politik, in der Landwirtschaft, im Handel, Parlamentarismus, in militärischen Interessen erschöpft - wenn einer diese Summe von Vernunft, Eifer, Willen und Gewalt über sich selber weggibt, die sein eigenes Ich ausmacht, wird er es nicht für andere Sachen haben. Kultur und der Staat - darüber sollte sich niemand täuschen - sind Gegner: der Kulturstaat ist lediglich eine moderne Idee. Das Eine lebt gegen das Andere, das Eine entwickelt sich auf Kosten des Anderen. Alle großen Kulturepochen sind Perioden des politischen Niedergangs. Was im kulturellen Sinn bedeutend ist, ist unpolitisch, ist sogar antipolitisch."Wo der Einfluß der politischen Macht auf die kreativen Kräfte in der Gesellschaft auf ein Minimum reduziert ist, gedeiht die Kultur am besten, da politische Herrschaft ständig nach Uniformität strebt und den Hang hat, jeden Aspekt des sozialen Lebens seiner Vormundschaft unterzuordnen. Die politische Herrschaft findet sich in einem unentrinnbaren Widerspruch zu den kreativen Bestrebungen kultureller Entwicklung, die immer auf der Suche ist nach neuen Formen und Feldern der sozialen Aktivität. Für sie sind die Freiheit der Meinungsäußerung, die Vielfältigkeit und der unaufhörliche Wechsel von Dingen genauso lebensnotwendig wie rigide Formen, tote Vorschriften und die gewaltsame Unterdrückung für die Erhaltung der politischen Macht. Jedes erfolgreiche Stück Arbeit verstärkt den Wunsch nach größerer Perfektion und tieferer Inspiration; jede neue Form wird der Vorbote für neue Entwicklungsmöglichkeiten. Aber die Macht versucht die Dinge zu bewahren, verankert in Stereotypen. Das war der Grund für alle Revolutionen in der Geschichte. Macht wirkt nur destruktiv, ist ständig darauf bedacht, jede Manifestation des sozialen Lebens in die Zwangsjacke seiner Vorschriften zu zwingen. Ihre intellektuelle Sprache ist ein totes Dogma, ihre physische Form rohe Gewalt. Und diese Ausdrucksformen drücken auch ihren Repräsentanten ihren Stempel auf und machen sie oft einfältig und brutal.Das ist der Grund für die Entstehung des modernen Anarchismus. Daraus schöpft er seine moralische Kraft. Nur Freiheit kann die Menschheit zu großen Dingen inspirieren und intellektuelle und soziale Veränderungen herbeiführen. Die Kunst, Menschen zu regieren war nie die Kunst, sie zu einer neuen Lebensform zu erziehen und zu begeistern. Lebloser Drill ist der Ausdruck von Zwang, der jegliche vitale Initiative von Anfang an erstickt und nur Untertanen hervorbringt, aber keinen freien Menschen. Freiheit ist das höchste Gut im Leben, die treibende Kraft in jeder intellektuellen und sozialen Entwicklung, die Schöpferin jeder neuen Zielsetzung für die Zukunft der Menschheit. Die Befreiung des Menschen von der ökonomischen Ausbeutung und von der intellektuellen, sozialen und politischen Unterdrückung, die ihren höchsten Ausdruck in der Philosophie des Anarchismus findet, ist die erste Voraussetzung für die Entwicklung einer höheren sozialen Kultur und einer neuen Humanität.

2. Geschichte der anarchistischen Philosophie von Lao-Tse bis Kropotkin

Anarchistische Ideen sind in fast jeder Periode der bekannten Geschichte anzutreffen. Wir begegnen ihnen in dem chinesischen Weisen Lao-tse, in den griechischen Philosophen, den Hedonisten und Zynikern und anderen Verfechtern des sogenannten Naturrechts, in Zeno, dem Gründer der Stoiker-Schule und Opponenten Platons. Sie fanden Ausdruck in den Lehren der gnostischen Carpokraten in Alexandria. Ferner besaßen sie einen unverkennbaren Einfluß auf bestimmte christliche Sekten im Mittelalter in Frankreich, Deutschland, Italien, Holland und England. Die meisten von ihnen wurden Opfer grausamster Verfolgungen. In der Geschichte der böhmischen Revolution fanden sie einen machtvollen Verteidiger in Peter Chelcicky, der in seinem Werk "Das Netz des Glaubens" dieselben Urteile über die Kirche und den Staat fällte, wie es Tolstoi Jahrhunderte später tat. Unter den großen Humanisten war es Rabelais, der in seiner Beschreibung der glücklichen Abtei von Theleme (8) ein Bild des von allen autoritären Zwängen befreiten Lebens zeichnete. Von den anderen Pionieren des libertären Denkens sollen hier nur La Boetie, Sylvain Marechal, und vor allem Diderot erwähnt werden, in dessen umfangreichen Schriften man immer wieder die Äußerungen eines wirklich großen Geistes findet, der sich von jedem autoritären Vorurteil freigemacht hat.Mittlerweile ist es der neueren Geschichte vorbehalten, der anarchistischen Lebenskonzeption eine deutliche Form zu geben und sie mit dem unmittelbaren Prozeß der sozialen Evolution zu verbinden. Das wurde zum erstenmal von William Godwin (1756-1836) in seinem Werk "Eine Untersuchung über das Wesen der politischen Gerechtigkeit und ihr Einfluß auf allgemeine Tugend und Glück" (London 1793) vollzogen. Godwins Werk war, so kann man sagen, die reife Frucht jener langen Entwicklung des politischen und sozialen Radikalismus in England, ausgehend von George Buchanan über Richard Hooker, Gerard Winstently, Alge Enon Sydney, John Locke, Robert Wallace und John Bellers zu Jeremy Bentham, Joseph Priestley, Richard Price und Thomas Price. Godwin erkannte sehr deutlich, daß der Grund für das soziale Elend nicht in der Form des Staates, sondern in seiner bloßen Existenz zu suchen ist. Aber er erkannte auch, daß die Menschen nur frei und natürlich miteinander leben können, wenn die geeigneten ökonomischen Bedingungen dafür gegeben sind, und das Individuum nicht länger das Opfer von Ausbeutung durch andere ist. Das war eine Überlegung, die die meisten Repräsentanten des reinen politischen Radikalismus zumeist gänzlich übersehen haben. Daher waren sie später gezwungen, dem Staat ständig größere Zugeständnisse zu machen, die sie eigentlich auf ein Minimum beschränken wollten. Godwins Idee einer staatenlosen Gesellschaft setzte die Sozialisierung des Grund und Bodens und der Produktionsmittel sowie die Fortführung des wirtschaftlichen Lebens in Form von freien Kooperativen der Produzenten voraus. Sein Werk hatte starken Einfluß auf die fortschrittlichen Kreise der englischen Arbeitschaft und auf die aufgeklärtesten Teile der liberalen Intelligenz. Was jedoch am allerwichtigsten war: er trug zur jungen sozialistischen Bewegung in England, die ihre reifsten Vertreter in Robert Owen (9), John Gray und William Thompson fand, den unverkennbaren libertären Charakter bei, den sie sehr lange besaß. In Deutschland und vielen anderen Ländern konnte man das dagegen nicht voraussetzen. Auch der französische Sozialist Charles Fourier (1722-1832) mit seiner Theorie von der attraktiven Arbeit muß hier als einer der Pioniere der libertären Ideen erwähnt werden.Aber einen weit größeren Einfluß auf die Entwicklung der anarchistischen Theorie besaß Pierre Joseph Proudhon (1809-1865), einer der talentiertesten und vielseitigsten Schriftsteller des modernen Sozialismus. Proudhon war im geistigen und sozialen Leben seiner Zeit vollständig verwurzelt, und dies beeinflußte seine Haltung zu jeder Frage, mit der er sich beschäftigte. Deshalb kann man ihn nicht nach den speziellen praktischen Vorschlägen beurteilen, die den Notwendigkeiten der Zeit entsprachen, wie es viele Kritiker taten. Unter den zahllosen sozialistischen Denkern war er derjenige, der die Ursachen der miserablen sozialen Lage am gründlichsten verstand, und der überdies visionäre Fähigkeiten besaß. Er war der freimütige Gegner aller künstlichen sozialen Systeme und sah in der sozialen Entwicklung den immerwährenden Drang nach neueren und höheren Formen des geistigen und sozialen Lebens. Er war davon überzeugt, daß diese Entwicklung nicht an irgendwelche bestimmte abstrakte Formeln gebunden werden könnte.Proudhon bekämpfte den Einfluß der jakobinischen Tradition, die das Denken der französischen Demokraten und der meisten Sozialisten jener Zeit dominierte, mit der gleichen Entschlossenheit wie den Eingriff des Zentralstaates und des ökonomischen Monopols in den natürlichen sozialen Prozeß. Für ihn war es die große Aufgabe der Revolution des 19. Jahrhunderts, die Gesellschaft von diesen krebsartigen Gewächsen zu befreien. Proudhon war kein Kommunist. Er verurteilte Eigentum als bloßes Privileg der Ausbeutung. Er anerkannte aber den Besitz an Produktionsmitteln für alle, benutzt von industriellen Gruppen, die durch freie Vereinbarung verbunden sein sollten. Aber nur solange, wie dieses Recht nicht dazu mißbraucht würde, andere auszubeuten, und solange gesichert ist, daß das gesamte Produkt der individuellen Arbeit jedem Mitglied der Gesellschaft zugute kommt. Diese Verbindung, die auf Gegenseitigkeit beruht, garantiert den Genuß gleicher Rechte durch alle im Austausch für soziale Dienste. Die durchschnittliche Arbeitszeit, die die Fertigstellung irgendeines Produktes fordert, wird das Maß ihres Wertes. Auf diese Weise wird das Kapital - seiner akkumulierenden Macht beraubt - an die Verrichtung der Arbeit gebunden. Wenn es jedem nützt, hört es auf, ein Instrument der Ausbeutung zu sein. Solch eine Wirtschaftsform macht jeden politischen Zwangsapparat überflüssig. Die Gesellschaft wird ein Bund freier Gemeinwesen, die ihre Angelegenheiten entsprechend dem Bedürfnis verrichten, allein oder in Verbindung mit anderen. In dieser Gesellschaft ist die persönliche Freiheit die Freiheit des anderen und nicht deren Begrenzung, sondern deren Sicherheit und Bestätigung. "Je freier, unabhängiger und unternehmungslustiger das Individuum ist, desto besser ist es für die Gesellschaft." (Proudhon)Die Organisation des Föderalismus, in der Proudhon die unmittelbare Zukunft der Menschheit sah, erlegt den zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten keinerlei Beschränkungen auf und bietet jeder individuellen und gesellschaftlichen Aktivität den größtmöglichen Spielraum. Vom Standpunkt des Föderalismus ausgehend, bekämpfte Proudhon gleichfalls die Bestrebungen des in dieser Zeit erwachenden Nationalismus nach politischer und nationaler Einheit, der seine energischsten Vertreter in Mazzini, Garibaldi, Lelewel und anderen fand. In dieser Hinsicht erkannte er die reale Natur des Nationalismus viel klarer als die meisten seiner Zeitgenossen. Proudhon übte starken Einfluß auf den Sozialismus aus, der besonders in romanischen Ländern zu spüren ist.Ideen, ähnlich den ökonomischen und politischen Konzeptionen Proudhons, wurden von den Anhängern des sogenannten Individualistischen Anarchismus in Amerika propagiert. Seine fähigsten Vertreter waren Männer wie Josiah Warren, Stephen Perl Andrews, William B. Greene, Lysander Spooner, Benjamin R. Tucker, Ezra Heywood, Francis D. Tandy und viele andere. Aber keiner von ihnen konnte Proudhons Weitblick erreichen. Charakteristisch für diese Schule des libertären Denkens ist die Tatsache, daß die meisten ihrer Repräsentanten ihre politischen Vorstellungen nicht von Proudhon übernahmen, sondern von den Traditionen des amerikanischen Liberalismus, so daß Tucker behaupten konnte, daß "Anarchisten durchweg Jeffersonsche Demokraten seien".Eine einzigartige Darstellung libertärer Ideen findet man in Max Stirners (Johann Kaspar Schmidt, 1806-1856) Buch "Der Einzige und sein Eigentum", das schnell in Vergessenheit geraten ist und keinen Einfluß auf die Entwicklung der anarchistischen Bewegung nahm. Stirners Buch ist vorwiegend ein philosophisches Werk, das die menschliche Abhängigkeit von sogenannten höheren Mächten auf all ihren abgelegenen Wegen verfolgt, und sich nicht scheut, Folgerungen aus diesem Wissen zu ziehen. Es ist das Buch eines bewußten und vorsätzlichen Aufrührers, das keine Verehrung für eine Autorität offenbart, wenn sie auch noch so erhaben ist, und deshalb eindrucksvoll an unabhängiges Denken appelliert.Der Anarchismus fand einen revolutionären Kämpfer in Michael Bakunin (1814-1876). Dieser baute seine Vorstellungen auf den Lehren Proudhons auf. Er dehnte sie aber auf den ökonomischen Sektor aus, als er mit dem föderalistischen Flügel der 1. Internationale den Kollektivbesitz von Grund und Boden und allen Produktionsmitteln forderte, und das Recht auf Privatbesitz lediglich auf die Produkte der individuellen Arbeit eingeschränkt sehen wollte. Bakunin war auch ein Gegner des Kommunismus, der zu seiner Zeit einen vollkommen autoritären Charakter besaß, wie er auch heute Ausdruck des Bolschewismus ist. Bakunin: "Ich verabscheue den Kommunismus, weil er die Negation der Freiheit ist und weil ich mir nichts Menschliches ohne Freiheit vorstellen kann. Ich bin kein Kommunist, weil der Kommunismus alle Kräfte der Gesellschaft auf den Staat lenkt und in diesem absorbiert; weil er notwendig zur Zentralisierung des Eigentums in den Händen des Staates führt, während ich die Abschaffung des Staates will - die radikale Auslöschung des Prinzips der Autorität und Vormundschaft des Staates, das die Menschen unter dem Vorwand, sie moralischer und zivilisierter zu machen, ausgebeutet und verdorben hat."Bakunin war ein Revolutionär, der nicht an einen partnerschaftlichen Ausgleich der existierenden Konflikte in der Gesellschaft glaubte. Er erkannte, daß die herrschenden Klassen blind und halsstarrig alle Moglichkeiten für größere soziale Reformen bekämpfen. Dementsprechend sah er die einzige Rettung in einer internationalen sozialen Revolution, die alle Institutionen der politischen Macht und ökonomischen Ausbeutung abschaffen und an ihre Stelle eine freie Föderation von Produzenten und Konsumenten setzen würde, um die täglichen Bedürfnisse zu befriedigen. Seit er, wie so viele seiner Zeitgenossen, an die unmittelbar bevorstehende Revolution glaubte, setzte er seine gesamte Energie daran, alle aufrichtigen revolutionären und libertären Elemente innerhalb und außerhalb der Internationale zu vereinigen, um diese Revolution gegen jede Diktatur oder jeden Rückschritt zu sichern. So wurde er in einem bestimmten Sinne der Schöpfer der modernen anarchistischen Bewegung.Der Anarchismus fand einen weiteren bedeutenden Vertreter in Peter Kropotkin (1842-1921). Dieser stellte sich die Aufgabe, die Leistungen der modernen Naturwissenschaft für die Entwicklung des soziologischen Konzeptes des Anarchismus nutzbar zu machen. In seinem Buch "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" tritt er gegen den sogenannten "Sozialdarwinismus" auf. Dessen Exponenten versuchten, die Unvermeidlichkeit der herrschenden sozialen Bedingungen von der darwinistischen Theorie des "Kampfes ums Überleben" her zu beweisen, indem sie dem Kampf der Starken gegen die Schwachen den Status eines ehernen Naturgesetzes verliehen, dem auch der Mensch Untertan sei. In Wirklichkeit war diese Konzeption stark beeinflußt von der Malthus'schen Doktrin, nach der der "Tisch des Lebens" nicht für alle gedeckt ist, und daß die "Nichtsnutze" sich mit dieser Tatsache anfreunden müssen. Kropotkin zeigt, daß diese Konzeption, die Natur als Feld der uneingeschränkten Kriegsführung zu sehen, nur eine Karikatur des wirklichen Lebens darstellt. Neben dem brutalen Existenzkampf existiere in der Natur auch eine andere Tendenz, die sich ausdrückt in der sozialen Verbindung der schwächeren Arten und der Rassenerhaltung durch die Entwicklung des sozialen Instinkts und der gegenseitigen Hilfe. In diesem Sinne ist der Mensch nicht der Schöpfer der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft der Schöpfer des Menschen, da er von den Arten, die ihm vorausgingen, den sozialen Instinkt erbte. Dieser allein befähigte ihn, sich in seiner Umgebung gegen die physische Überlegenheit anderer Arten zu behaupten, und sich einer ungeahnten Entwicklung zu vergewissern.Nach Kropotkin bleibt die Tatsache, daß die meisten persönlichen Verbindungen auch unter schrecklichstem Despotismus durch soziale Gewohnheiten, freie und gegenseitige Vereinbarungen arrangiert werden, ohne die kein soziales Leben möglich wäre. Falls dies nicht der Fall wäre, würde selbst die brutalste Zwangsmaschinerie des Staates nicht in der Lage sein, die soziale Ordnung für eine gewisse Zeit aufrecht zu erhalten. Selbstverständlich sind diese natürlichen Verhaltensweisen, die der tiefsten menschlichen Natur entspringen, heute ständig gestört und gelähmt durch die Auswirkungen der ökonomischen Ausbeutung und der staatlichen Bevormundung. Diese sind die schlimmsten Formen des Existenzkampfes in der menschlichen Gesellschaft, die durch die Form der gegenseitigen Hilfe und der freien Kooperation überwunden werden müssen. Das Bewußtsein von persönlicher Verantwortung und die Fähigheit zur gegenseitigen Zuneigung, die die gesamte Moral und alle Ideen von sozialer Gerechtigkeit ausmachen, entwickeln sich am besten in Freiheit.Wie Bakunin war auch Kropotkin ein Revolutionär. Aber er sah wie Elisee Reclus (10) und andere, in der Revolution nur eine spezielle Phase des evolutionären Prozesses. Sie ergibt sich wenn neue soziale Hoffnungen in ihrer natürlichen Entwicklung dermaßen eingeschränkt werden, daß sie mit Gewalt die alte Schale zerstören müssen, bevor sie als neue Faktoren im menschlichen Leben in Funktion treten können.Im Gegensatz zu Proudhons Mutualismus und Bakunins Kollektivismus, befürwortete Kropotkin nicht nur das Gemeineigentum an Produktionsmitteln, sondern auch der Erzeugnisse: Seiner Meinung nach ist bei dem damaligen Stand der Technologie ein exaktes Maß für den Wert individueller Arbeit nicht möglich. Auf der anderen Seite sei es aber möglich, jedem Menschen bei rationaler Lenkung der modernen Arbeitsmethoden einen relativen Wohlstand zu sichern. Der kommunistische Anarchismus, der vor Kropotkin schon von Joseph Dejacque, Elisee Reclus, Carlos Cafiero (11) und anderen gefordert worden war, und der heute von der großen Mehrzahl der Anarchisten anerkannt wird, fand in ihm seinen hervorragenden Vertreter. Hier muß auch Leo Tolstoi (1828-1910) erwähnt werden, der, ausgehend vom Ur-Christentum und von der Basis der ethischen Prinzipien, die in der christlichen Lehre niedergelegt sind, zu der Vorstellung von einer Gesellschaft ohne Herrschaft gelangte.Alle Anarchisten haben den Willen, die Gesellschaft von allen politischen und sozialen Zwangsinstitutionen zu befreien, die der Entwicklung einer freien Menschheit im Wege stehen. In diesem Sinn sind Mutualismus, Kollektivismus und Kommunismus nicht als geschlossene ökonomische Systeme anzusehen, die keine weitere Entwicklung erlauben, sondern als ökonomische Voraussetzungen, um eine freie Gemeinschaft zu sichern. Vermutlich werden sogar in jeder Form einer zukünftigen freien Gesellschaft verschiedene Formen ökonomischer Kooperation nebeneinander existieren. Denn jeder soziale Fortschritt muß mit freien Experimenten und praktischen Tests neuer Methoden verbunden sein, für die in einer freien Gesellschaft von freien Gemeinschaften jede Möglichkeit bestehen wird.Dasselbe gilt für die verschiedenen Methoden des Anarchismus. Das Werk seiner Anhänger ist vorrangig ein Erziehungswerk, um die Menschen intellektuell und psychisch auf die Aufgaben ihrer sozialen Befreiung vorzubereiten. Jeder Versuch, den Einfluß des ökonomischen Monopols und die Macht des Staates einzuschränken, ist ein Schritt weiter in Richtung der Verwirklichung dieses Ziels. Jede Entwicklung der freiwilligen Organisation in den verschiedenen sozialen Bereichen in Richtung persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit vertieft das Bewußtsein der Menschen und stärkt ihre soziale Verantwortung, ohne die kein Wechsel im sozialen Leben erreicht werden kann. Die meisten Anarchisten unserer Zeit sind überzeugt, daß eine solche Gesellschaftsumwandlung Jahre konstruktiver Arbeit und Erziehung benötigt, und nicht zustande gebracht werden kann ohne revolutionäre Erschütterungen, die bis heute jeden Fortschritt im sozialen Leben erreicht haben. Der Charakter dieser Erschütterungen hängt natürlich von der Stärke des Widerstandes ab, den die herrschende Klasse gegen die Verwirklichung der neuen Idee zu mobilisieren in der Lage ist. Je größer die Kreise sind, die von der Idee der Reorganisation der Gesellschaft im Geist der Freiheit und des Sozialismus beseelt sind, desto leichter werden die Geburtswehen neuer sozialer Änderungen in der Zukunft sein. Sogar Revolutionäre können nur Ideen entwickeln und zur Reife gelangen lassen, die existieren und schon in das Bewußtsein der Menschen eingedrungen sind. Sie können aber keine neuen Ideen oder neue Welten aus dem Nichts entwickeln.Vor dem Aufkommen der totalitären Staaten in Rußland, Italien, Deutschland und später in Spanien und Portugal und dem Ausbruch des 2. Weltkrieges, gab es anarchistische Organisationen und Bewegungen in fast jedem Land. Aber wie alle anderen sozialistischen Bewegungen in dieser Zeit wurden sie Opfer der faschistischen Tyrannei und konnten nur im Untergrund existieren.

II

1. Die Ursprünge des Anarcho - Syndikalismus

Viele Anarchisten widmeten den größten Teil ihrer Aktivitäten der Arbeiterbewegung, vor allem in den lateinischen Ländern, wo die Bewegung des Anarcho-Syndikalismus ihren Ausgang nahm. Seine Theorien basieren auf den Lehren des libertären und anarchistischen Sozialismus, seine Organisationsform auf der Bewegung des revolutionären Syndikalismus, der in den Jahren von 1895 bis 1910 einen merklichen Aufschwung erfuhr, vor allem in Frankreich, Italien und Spanien. Aber seine Ideen und Methoden waren nicht neu. Sie hatten bereits in den Reihen der 1. Internationale große Resonanz gefunden, als diese den Höhepunkt ihrer theoretischen Entwicklung erreicht hatte. Das zeigte sich deutlich in den Debatten auf ihrem 4. Kongreß 1869 in Basel, der sich mit der Bedeutung der wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter beschäftigte. In dem Referat über diese Frage, das Eugene Eins dem Kongreß im Namen der belgischen Föderation vorlegte, wurde zum erstenmal ein völlig neuer Gesichtspunkt angeschnitten, der eine unverkennbare Ähnlichkeit mit bestimmten Ideen von Robert Owen und der englischen Arbeiterbewegung der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts aufwies.Um eine korrekte Bewertung dieses Tatbestandes zu geben, muß man sich daran erinnern, daß zu jener Zeit die verschiedenen Schulen des Staatssozialismus keinen, oder im besten Fall einen geringen Einfluß auf die Gewerkschaften besaßen. Die französischen Blanquisten sahen in diesen Organisationen lediglich eine Reformbewegung, mit einer sozialistischen Diktatur als unmittelbarem Ziel. Ferdinand Lassalle und seine Anhänger richteten alle Aktivitäten darauf, die Arbeiter in einer politischen Partei zusammenzufassen; sie waren ausgesprochene Gegner aller gewerkschaftlichen Kämpfe, in denen sie lediglich ein Hindernis für die politische Entwicklung der Arbeiterklasse sahen. Marx und seine Anhänger erkannten die Notwendigkeit der Gewerkschaften für die Erreichung bestimmter Verbesserungen innerhalb des kapitalistischen Systems. Sie aber glaubten, daß die Rolle der Gewerkschaften sich damit erschöpfen würde, und daß sie zusammen mit dem Kapitalismus verschwänden, da der Übergang zum Sozialismus nur durch die "Diktatur der Proletariats" erreicht werden könne.In Basel wurde dieser Gedanke zum erstenmal einer gründlichen und kritischen Prüfung unterzogen. Die Ansichten, die in dem Referat von Eins zum Ausdruck kamen, und die von den Delegierten Spaniens, des Schweizer Juras und dem größten Teil der französischen Sektionen geteilt wurden, basierten auf der Prämisse, daß die gegenwärtigen Ökonomischen Organisationen nicht nur eine Notwendigkeit innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft seien. Darüber hinaus werden sie als der soziale Kern einer kommenden sozialistischen Wirtschaft angesehen. Aus diesem Grund sei es die Pflicht der Internationale, die Arbeiter für diese Aufgabe zu erziehen. In Übereinstimmung damit nahm der Kongreß folgende Resolution an: "Der Kongreß erklärt, daß alle Arbeiter sich bemühen sollten, in den verschiedenen Branchen Vereinigungen für den Widerstand einzurichten. Sobald eine Gewerkschaft aufgebaut ist, müssen die Vereinigungen derselben Branche informiert werden, so daß der Aufbau der nationalen Allianzen in der Industrie beginnen kann. Diese Allianzen werden beauftragt, alles Material ihren Industriezweig betreffend zu sammeln, mit der Beratung über Maßnahmen, die gemeinsam durchgeführt werden können, und mit deren Überwachung, und der Ersetzung des gegenwärtigen Lohnsystems durch eine Föderation der freien Produzenten. Der Kongreß beauftragt den Generalrat, für die Allianz der Gewerkschaften aller Länder zu sorgen."In seiner Argumentation für die vom Komitee eingebrachte Resolution erklärte Eins: "Bei dieser doppelten Form der Organisation von lokalen Arbeiter-Assoziationen und allgemeinen Allianzen für jeden Industriezweig auf der einen und der politischen Administration der Arbeiterräte auf der anderen Seite, wird für die umfassende Vertretung der Arbeit, regional, national und international, gesorgt sein. Die Räte der Branchen und industriellen Organisationen werden den Platz der gegenwärtigen Regierung einnehmen, und die Vertretung der Arbeit wird ein für allemal die Regierung der Vergangenheit beseitigen." Diese neue Vorstellung entsprang der Erkenntnis, daß jede neue ökonomische Gesellschaftsform von einer neuen politischen Form des sozialen Organismus begleitet sein muß und nur in ihr seinen praktischen Ausdruck finden kann.Ihre Anhänger sahen im Nationalstaat lediglich den politischen Agenten und Verteidiger der besitzenden Klassen. Aus diesem Grunde kämpften sie nicht um die Eroberung der Macht, sondern um die Abschaffung jedes Machtsystems innerhalb der Gesellschaft, in dem sie die notwendige Bedingung für alle Tyrannei und Ausbeutung sahen. Sie meinten, daß mit dem Monopol des Eigentums auch das Machtmonopol verschwinden müsse. Ausgehend von dieser Erkenntnis, daß die Tage der Herrschaft des Menschen über den Menschen gezählt sind, versuchten sie, sich mit der Verwaltung von Sachen vertraut zu machen. Oder, wie Bakunin, einer der großen Vorläufer des Anarcho-Syndikalismus es ausdrückte: "Seit die Organisation der Internationale nicht mehr die Errichtung neuer Staaten oder die Einsetzung von Despoten zum Ziel hat, sondern die radikale Beseitigung jeder selbständigen Gewalt, muß sie einen wesentlich anderen Charakter als die Staatsorganisation besitzen. In dem Maße, wie letztere autoritär, künstlich und gewalttätig, fremd und feindlich der natürlichen Entwicklung der Interessen und Gefühle der Menschen gegenübersteht, muß die Organisation der Internationale frei, natürlich und in jeder Beziehung in Übereinstimmung mit jenen Interessen und Gefühlen stehen. Aber welcher Art ist die natürliche Organisation der Massen? Sie basiert auf der tagtäglichen Beschäftigung, gewerkschaftliche Organisation. Wenn alle Industriezweige, einschließlich der verschiedenen Zweige der Landwirtschaft, in der Internationale vertreten sind, wird die Organisation der arbeitenden Massen abgeschlossen sein."Oder bei einer anderen Gelegenheit: "Das praktische und grundlegende Studium der Gesellschaftswissenschaft durch die Arbeiter selbst in ihren Sektionen und ihren Arbeiterkammern wird - oder hat schon - in ihnen die einmütige, wohlüberlegte, theoretisch und praktisch fundierte Überzeugung hervorgerufen, daß die ernsthafte, vollständige Befreiung der Arbeiter nur unter einer Bedingung möglich ist: durch die Aneignung von Kapital, d. h. von Rohstoffen und allen Maschinen, inklusive Land, durch die Gesamtheit der Arbeiter. . . Die Organisation der einzelnen Sektionen, ihr Zusammenschluß in der Internationale, und ihre Vertretung durch die Arbeiterkammern schaffen nicht nur eine große Bildungsstätte, in der die Arbeiter der Internationale, Theorie und Praxis verbindend, die Wirtschaftswissenschaft studieren müssen; Sie tragen auch die lebenden Keime der neuen sozialen Ordnung in sich, die die bürgerliche Welt ersetzen wird. Sie bringen nicht nur die Theorien hervor, sondern auch die zukünfigen Tatsachen..." Nach dem Niedergang der Internationale und dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71), durch den sich das Zentrum der sozialistischen Arbeiterbewegung nach Deutschland verlagerte, dessen Arbeiter weder eine revolutionäre Tradition noch jene reiche Erfahrung aufzuweisen hatten, die die Sozialisten in den anderen westlichen Ländern besaßen, wurden diese Ideen allmählich vergessen. Nach der Niederlage der Pariser Kommune (1871) und der revolutionären Erhebungen in Spanien und Italien (12) waren die Sektionen der Internationale dieser Länder gezwungen, für viele Jahre ihre Existenz im Untergrund fortzuführen. Nur durch das Erwachen des revolutionären Syndikalismus in Frankreich wurden die Ideen und Theorien der 1. Internationale vor der Vergessenheit bewahrt und begeisterten noch einmal größere Sektionen der Arbeiterbewegung.

2. Sozialismus und Anarcho-Syndikalismus in Frankreich

Der moderne Anarcho-Syndikalismus ist eine direkte Fortsetzung jener sozialen Bestrebungen, die in der 1. Internationale Gestalt annahmen und die am besten durch den libertären Flügel der großen Arbeiterallianz vertreten wurden. Seine Entwicklung war die direkte Reaktion auf die Konzepte und Vorgehensweisen des politischen Sozialismus. Eine Reaktion, die sich bereits in dem großen Aufschwung der syndikalistischen Arbeiterbewegung in Frankreich, Italien und besonders in Spanien manifestierte, wo die große Mehrheit der organisierten Arbeiter den Lehren des libertären Flügels der Internationale treu geblieben war.In Frankreich fand die Opposition gegen die Theorien und Praktiken der modernen Arbeiterparteien ihren klaren Ausdruck in den Theorien und im Vorgehen des revolutionären Syndikalismus. Der unmittelbare Grund für die Entwicklung dieser neuen Tendenzen in der französischen Arbeiterbegung war die fortwährende Zersplitterung der sozialistischen Parteien dieses Landes. Alle diese Parteien sahen in den Gewerkschaften lediglich Rekrutierungsschulen für ihre politischen Ziele und besaßen keinerlei Verständnis für ihre wirklichen Funktionen. Die ständigen Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen sozialistischen Splitterparteien wurden auch in die Gewerkschaften hineingetragen. Es kam häufig vor, daß, wenn die Gewerkschaften einer Splitterpartei streikten, die Gewerkschaften der anderen Splitterparteien sich als Streikbrecher betätigten. Diese unhaltbare Situation öffnete den Arbeitern allmählich die Augen. So beauftragte der Gewerkschaftskongreß von Nantes (1894) einen Sonderausschuß mit der Aufgabe, Wege zu finden, um eine Verständigung unter allen Gewerkschaften zu erreichen. Das Resultat war 1895 die Gründung der CGT (Confederation Generale du Travail, Allgemeine Vereinigung der Arbeit) auf dem Kongreß in Limoges, die sich von allen politischen Parteien unabhängig erklärte. Von dem Zeitpunkt an existierten in Frankreich zwei große Gewerkschaftsgruppen, die CGT und die "Föderation der Arbeiterbörsen". 1902, auf dem Kongreß in Montpellier, vereinigte sich letztere mit der CGT.Man begegnet häufig der weit verbreiteten Meinung, die besonders von Werner Sombart (13) genährt wurde, daß der revolutionäre Syndikalismus in Frankreich seinen Ursprung Intellektuellen, wie Georges Sorel, (14) E. Berth und H. Lagardelle verdankt, die in der 1899 gegründeten Zeitschrift "Die Sozialistische Bewegung" auf ihre Weise die intelektuellen Ergebnisse der neuen Bewegung herausarbeiteten. Das ist völlig falsch. Keine dieser Personen gehörte zu dieser Bewegung. Sie hatten auch keinen spürbaren Einfluß auf die interne Entwicklung. Darüber hinaus war die CGT nicht ausschließlich aus revolutionären Syndikaten zusammengesetzt. Rund die Hälfte ihrer Mitglieder tendierte zum Reformismus und hatte sich der CGT nur deshalb angeschlossen, weil sie erkannten, daß die Abhängigkeit der Gewerkschaften von den politischen Parteien ein großes Unglück für die Bewegung bedeutete. Aber der revolutionäre Flügel, der sowohl die tatkräftigsten und aktivsten Elemente der organisierten Arbeiter als auch die brilliantesten intelektuellen Kräfte auf seiner Seite gehabt hatte, drückte der CGT seinen charakteristischen Stempel auf. Es waren diejenigen Kräfte, die die Ideenentwicklung des revolutionären Syndikalismus bestimmten. Viele kamen aus den Reihen der Anarchisten, wie Fernand Pelloutier, der hochintelligente Sekretär der Föderation der Arbeiterbörsen, Emile Pouget, der Herausgeber des offiziellen Organs der CGT "Die Stimme des Volkes", P. Delesalle, G. Yvetot und viele andere. Vorwiegend unter dem Einfluß des radikalen Flügels der CGT entwickelte sich die neue Bewegung und fand ihren Ausdruck in der Charta von Amiens (1906), in der die Grundsätze und die Taktik der Bewegung niedergelegt wurden.Diese neue Bewegung in Frankreich fand ein starkes Echo unter den romanischen Arbeitern und drang auch in andere Länder vor. Der Einfluß des französischen Syndikalismus auf größere und kleinere Sektionen der internationalen Arbeiterbewegung zu jener Zeit wurde in hohem Maß gefördert durch die interne Krise, die fast alle sozialistischen Arbeiterparteien Europas heimsuchte. Der Kampf zwischen den sog. Revisionisten und den orthodoxen Marxisten, und besonders die Tatsache, daß ihre parlamentarischen Aktivitäten die heftigsten Kritiker der Revisionisten von der Notwendigkeit überzeugte, den Pfad des Revisionismus zu beschreiten, bewog viele nachdenkliche Kräfte, ihre Lage ernsthaft zu überdenken. Sie stellten fest, daß die Teilhabe an der Politik der Nationalstaaten der Arbeiterbewegung kein bißchen näher zum Sozialismus brachte, sondern in großem Maße geholfen hatte, den Glauben an die Notwendigkeit von konstruktiven sozialistischen Aktivitäten zu zerstören. Was aber am allerschlimmsten ist: sie beraubte die Menschen ihrer Initiative, indem sie ihnen vortäuschte, daß das Heil immer von oben kommt.Unter diesen Umständen verlor der Sozialismus mehr und mehr den Charakter eines kulturellen Ideals, das die Arbeiter auf die Vernichtung des gegenwärtigen kapitalistischen Systems vorbereiten sollte. Er konnte aus diesem Grund nicht von den künstlichen Grenzen der Nationalstaaten aufgehalten werden. Im Sinne der Führer der modernen Arbeiterparteien wurden die vermeintlichen Ziele der Bewegung mehr und mehr mit den Interessen der Nationalstaaten vermischt, bis sie zum Schluß unfähig wurden, bestimmte Grenzen wahrzunehmen, die zwischen ihnen bestehen. Es würde ein Fehler sein, hierin einen beabsichtigten Verrat der Führer zu sehen, wie es so oft behauptet wird. Die Wahrheit ist, daß wir es hier mit einer allmählichen Angleichung an die Gedankengänge und die Normen der gegenwärtigen Gesellschaft zu tun haben, die notwendigerweise die geistige Haltung der Führer der verschiedenen Arbeiterparteien in jedem Land in Mitleidenschaft ziehen müssen. Diese Parteien, die sich einst aufgemacht hatten, die politische Macht unter der Flagge des Sozialismus zu erobern, sahen sich durch die eherne Logik der Bedingungen gezwungen, ihre sozialistischen Überzeugungen der Politik der Nationalstaaten zu opfern. Die politische Macht, die sie erobern wollten, hatte allmählich ihren Sozialismus erobert, bis kaum mehr übrigblieb als der Name.

3. Die Rolle der Gewerkschaften aus anarcho-syndikalistischer Sicht

Dies waren die Überlegungen, die zur Entwicklung des revolutionären Syndikalismus oder Anarcho-Syndikalismus, wie er später genannt wurde, in Frankreich und anderen Ländern führten. Der Begriff Arbeitersyndikat bedeutete zuerst lediglich eine Organisation der Produzenten für die unmittelbare Verbesserung ihres ökonomischen und sozialen Status. Aber der Aufstieg des revolutionären Syndikalismus vermittelte dieser ursprünglichen Bedeutung ein wesentlich größeres Gewicht. Die Partei ist eine Organisation mit bestimmten politischen Aufgaben innerhalb der modernen Verfassungsstaaten, die die gegenwärtige Gesellschaftsordnung in der einen oder anderen Form aufrechtzuerhalten sucht. Dagegen sind aus syndikalistischer Sicht die Gewerkschaften die vereinigte Arbeiterorganisation; sie haben die Verteidigung der Produzenten in der existierenden Gesellschaft und die Vorbereitung sowie die praktische Durchführung der Rekonstruktion des gesellschaftlichen Lebens in Richtung Sozialismus zum Ziel. Die Gewerkschaften haben deshalb eine doppelte Aufgabe:

  1. Den Forderungen der Produzenten nach Sicherung und Anhebung des Lebensstandards Geltung zu verschaffen;
  2. Die Arbeiter mit dem technischen Management der Produktion und des ökonomischen Lebens allgemein vertraut zu machen und sie darauf vorzubereiten, den sozio-ökonomischen Organismus in ihre Hände zu nehmen und nach sozialistischen Prinzipien zu gestalten.

Die Anarcho-Syndikalisten sind der Meinung, daß die politischen Parteien nicht in der Lage sind, auch nur eine von diesen beiden Aufgaben zu verrichten. Nach ihren Vorstellungen sollen die Gewerkschaften die Speerspitze der Arbeiterbewegung sein, durch tägliche Kämpfe erprobt und von sozialistischem Geist durchdrungen. Denn nur im Ökonomischen Bereich sind die Arbeiter in der Lage, ihre volle Macht auszuspielen; ihre Produzentenfunktion ist es, die die gesamte soziale Struktur aufrechterhält und damit die Existenz der Gesellschaft garantiert. Nur als Produzent und Erzeuger gesellschaftlichen Reichtums kann der Arbeiter sich seiner Stärke bewußt werden. In solidarischem Zusammenschluß kann er militante Aktionen, die vom Geist der Freiheit und vom Ideal der sozialen Gerechtigkeit durchdrungen sind, durchführen. Für die Anarchosyndikalisten sind die Arbeitersyndikate die fruchtbare Keimzelle der zukünftigen Gesellschaft, die elementare Schule des Sozialismus allgemein. Jede neue soziale Struktur schafft für sich Organe im Körper des alten Organismus; ohne diese Voraussetzung ist jede soziale Evolution undenkbar. Für die Anarchosyndikalisten bedeutet sozialistische Erziehung nicht Teilnahme an der politischen Macht des Nationalstaates. Vielmehr ist es die Aufgabe der Anarchosyndikalisten, den Arbeitern die wesentlichen sozialen Probleme klarzumachen. Die Arbeiter müssen auf ihre Rolle als Umgestalter des wirtschaflichen Lebens vorbereitet werden, damit sie diese Aufgabe bewältigen können. Kein sozialer Körper ist besser für diesen Zweck geeignet als die ökonomische Kampforganisation der Arbeiter; sie gibt den sozialen Aktivitäten ein bestimmtes Ziel und stärkt die Widerstandskraft im unmittelbaren Kampf für die täglichen Bedürfnisse und die Verteidigung der Menschenrechte. Gleichzeitig entwickelt er moralische Stärke, ohne die jegliche soziale Transformation unmöglich ist: lebensnotwendige Solidarität der Betroffenen und moralische Verantwortlichkeit für alle Aktionen.Gerade weil die Erziehungsarbeit der Anarchosyndikalisten auf die Entwicklung unabhängigen Denkens und Handelns gerichtet ist, sind sie ausgesprochene Gegner aller zentralistischen Tendenzen, die für die meisten der existierenden Arbeiterparteien charakteristisch sind. Das System des Zentralismus das von oben nach unten funktioniert, das die Verwaltungsangelegenheiten einer kleinen Minderheit überträgt, ist immer von unproduktiver bürokratischer Routine begleitet; sie tötet jegliche individuelle Initiative durch leblose Disziplin und bürokratische Verknöcherung. Für den Staat ist der Zentralismus die geeignete Organisationsform, seit er die größtmögliche Uniformität des sozialen Lebens für die Erhaltung des politischen und sozialen Gleichgewichts anstrebt. Aber für eine Bewegung, deren gesamte Existenz von der prompten Reaktion in jedem beliebigen Moment und von den unabhängigen Gedankengängen seiner Anhänger abhängt, ist der Zentralismus ein Unglück. Er schwächt ihre Entscheidungskraft und unterdrückt systematisch jede spontane Initiative.Die Organisation des Anarcho-Syndikalismus basiert auf den Prinzipien des Föderalismus, auf der freien Vereinigung von unten. Sie stellt das Recht auf Selbstbestimmung jeder Gruppe über alles und erkennt nur die Zustimmung aller an der Basis an. Die Organisation der Anarchosyndikalisten ist dementsprechend auf folgender Basis organisiert: Die Arbeiter in jedem Ort schließen sich ihren Berufszweigen an. Die Gewerkschaften einer Stadt oder eines ländlichen Distrikts vereinigen sich in Arbeiterkammern, die die Zentren für die lokale Propaganda und Schulung gründen; sie formieren die Arbeiter, um dem Aufkommen eines beschränkten Parteigeistes vorzubeugen. In Zeiten von lokalen Arbeitskämpfen sorgen sie für die Zusammenarbeit aller betroffenen Gruppen. Alle Arbeiterkammern sind gemäß den Distrikten und Regionen gruppiert, um die Nationalföderation der Arbeiterkammern zu bilden. Diese hält ständige Verbindung zwischen den lokalen Körpern und arrangiert die freie Vereinbarung der produktiven Arbeit der Mitglieder der verschiedenen Organisationen nach kooperativen Prinzipien. Weiterhin sorgt sie für die notwendige Zusammenarbeit in der Schulungsarbeit und steht den lokalen Gruppen mit Rat und Tat beiseite.Jede Gewerkschaft ist darüber hinaus mit allen Organisationen derselben Branche verbunden. Diese wiederum der Reihe nach mit allen verwandten Branchen, so daß alle in allgemeinen industriellen und landwirtschaftlichen Verbindungen vereinigt sind. Es ist ihre Aufgabe, Forderungen des täglichen Kampfes zwischen Kapital und Arbeit aufzustellen und alle Kräfte für die gemeinsame Aktion zu vereinheitlichen. So schaffen die Föderationen der Arbeiterkammern und die industriellen Föderationen die zwei Pole, um die sich das gesamte Leben der Arbeitersyndikate dreht.Eine solche Form der Organisation gibt den Arbeitern nicht nur die Mögllchkeit zur direkten Aktion im Kampf für die täglichen Bedürfnisse, sondern befähigt sie auch, die notwendigen Kenntnisse für die Reorganisation der Gesellschaft zu erwerben, um diese ohne fremde Intervention im Falle einer revolutionären Krise in Gang zu setzen. Die Anarchosyndikalisten sind der Überzeugung, daß eine sozialistische Wirtschaftsordnung nicht durch Dekrete und Gesetze irgendeiner Regierung geschaffen werden kann, sondern nur durch die uneingeschränkte Zusammenarbeit der Arbeiter, Techniker und Bauern. Nur so kann die Produktion und die Verteilung durch ihre eigene Verwaltung im Interesse der Allgemeinheit auf der Basis gegenseitiger Vereinbarungen gewährleistet werden. In einer solchen Situation würden die Arbeiterkammern die Verwaltung des existierenden gesellschaftlichen Kapitals übernehmen, die Bedürfnisse der Bewohner ihres Distrikts festsetzen und den lokalen Konsum organisieren. Die Tätigkeit der Föderation der Arbeiterkammern würde es ermöglichen, die Gesamtbedürfnisse des ganzen Landes zu berechnen und demgemäß die Produktion zu regulieren. Auf der anderen Seite wäre es die Aufgabe der industriellen und landwirtschaftlichen Vereinigungen, die Produktionsmittel, das Transportwesen etc. zu kontrollieren und die verschiedenen Produzentengruppen mit dem zu versorgen, was sie benötigen. Mit einem Wort:

  1. Organisation der gesamten Produktion eines Landes durch die Föderation der industriellen Vereinigungen und Leitung der Arbeit durch Arbeiterräte, die von den Arbeitern selbst gewählt werden;
  2. Organisation der gesellschaftlichen Verteilung durch die Föderation der Arbeiterkammern.

Auch in dieser Hinsicht hat die praktische Erfahrung die besten Lehren erteilt. Sie hat gezeigt, daß viele Probleme einer sozialistischen Umformung einer Gesellschaft nicht durch irgendeine Regierung gelöst werden können, auch nicht durch die Diktatur des Proletariats. In Rußland stand die bolschewistische Diktatur nahezu zwei Jahre hilflos vor den ökonomischen Problemen: sie versuchte, ihre Unfähigkeit hinter einer Flut von Dekreten und Verordnungen zu verbergen, von denen die meisten sofort in der Bürokratie untergingen. Wenn die Welt durch Dekrete befreit werden könnte, würde es in Rußland schon lange keine Probleme mehr geben. In seinem fanatischen Machteifer zerstörte der Bolschewismus die wertvollsten Organe einer sozialistischen Ordnung: er unterdrückte die kooperativen Gemeinschaften, die Gewerkschaften brachte er unter staatliche Kontrolle, und die Sowjets (Räte) wurden von Anfang an ihrer Unabhängigkeit beraubt. So bahnte die "Diktatur des Proletariats" nicht den Weg in eine sozialistische Gesellschaft, sondern für den primitivsten Typus eines bürokratischen Staatskapitalismus. Er brachte einen Rückfall in politischen Absolutismus, der in den meisten Ländern schon durch die bürgerliche Revolution abgeschafft worden war. In seiner "Botschaft an die Arbeiter der west europäischen Länder" sagte Kropotkin vollkommen richtig: "An Rußland lernen wir, wie der Kommunismus nicht eingeführt werden kann, obwohl die Bevölkerung, die das alte Regime satt hat, dem Experiment der neuen Herrscher nicht aktiven Widerstand leistet. Die zuerst beim Revolutionsversuch von 1905 konzipierte und in der Februarrevolution 1917 unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Zarenregimes verwirklichte Idee der Sowjets, d. h. der das politische und ökonomische Leben des Landes kontrollierenden Arbeiter- und Bauernräte, ist eine großartige Idee... Solange ein Land aber durch eine Parteidiktatur beherrscht wird, büßen die Arbeiter- und Bauernräte offensichtlich ihre Bedeutung ein. Sie spielen dann bloß noch die passive Rolle der ‚Generalstaaten' und Parlamente vergangener Zeiten, die der König einberief, damit sie gegen einen allmächtigen Kronrat opponierten."

4. Der Kampf in Deutschland und Spanien

In Deutschland, wo der gemäßigte Flügel des politischen Sozialismus (15) die Macht errungen hatte, erstarrte der Sozialismus in den langen Jahren routinemäßiger parlamentarischer Tätigkeiten. Er war zu keiner schöpferischen Aktion mehr fähig. Sogar eine bürgerliche Zeitung wie die "Frankfurter Zeitung" stellte fest, daß die "Geschichte der europäischen Völker bisher keine Revolution hervorgebracht hat, die so arm an schöpferischen Vorstellungen war und so wenig revolutionäre Energie besaß". Die bloße Tatsache, daß eine Partei mit einer größeren Mitgliederzahl als jede andere Arbeiterpartei der Welt, die viele Jahre lang die stärkste politische Kraft in Deutschland war, Hitler und seiner Bande das Feld ohne jeglichen Widerstand überlassen mußte, spricht für sich. Dieses Beispiel der Hilflosigkeit und Schwäche ist kaum mißzuverstehen.Man muß nur die deutsche Situation jener Tage (16) mit der Haltung der anarchosyndikalistischen Arbeitervereinigungen in Spanien und besonders in Katalonien, wo ihr Einfluß am stärksten war, vergleichen, um den beträchtlichen Unterschied zwischen den Arbeiterbewegungen dieser beiden Länder festzustellen. Als die Verschwörung der faschistischen Militärs im Juli 1936 in eine offene Revolte umschlug, war es hauptsächlich der Widerstand der CNT (Nationale Föderation der Arbeit) und der FAI (Anarchistische Föderation Spaniens), der den faschistischen Aufstand in Katalonien in ein paar Tagen niederschlug. Dieser wichtige Teil Spaniens wurde vom Feind befreit und der ursprüngliche Plan der Verschwörer, Barcelona im Handstreich zu nehmen, vereitelt. Die Arbeiter wollten nicht auf halbem Wege stehenbleiben; so folgte die Kollektivierung des Bodens und die Übernahme der Fabriken durch die Arbeiter- und Bauernsyndikate. Diese Bewegung, die durch die Initiative von CNT/FAI in Gang gesetzt wurde, dehnte sich auf Aragonien, die Levante und andere Gebiete des Landes aus. Ein großer Teil der Sozialistischen Partei und der sozialistischen Gewerkschaft UGT (Allgemeine Union der Arbeit) konnte dieser revolutionären Bewegung nicht widerstehen.Dieses Ereignis offenbarte, daß die anarchosyndikalistischen Arbeiter Spaniens nicht nur in der Lage waren zu kämpfen, sondern darüber hinaus konstruktive Vorstellungen besaßen, die in der Zeit einer realen Krise so eminent wichtig sind. Das ist das große Verdienst des libertären Sozialismus in Spanien, der die spanischen Arbeiter seit der Zeit der 1. Internationale in jenem Geist erzog, der Freiheit über alles andere stellt und die geistige Unabhängigkeit seiner Anhänger als die Basis seiner Existenz betrachtet. Es war die passive Haltung der organisierten Arbeiter in den anderen Ländern, die sich mit der Politik der Nicht-Intervention ihrer Regierungen abfanden, die zur Niederlage der spanischen Arbeiter und Bauern nach einem heroischen Kampf von mehr als zweieinhalb Jahren führte.

5. Der politische Kampf aus anarcho-syndikalistischer Sicht

Es ist dem Anarcho-Syndikalismus oftmals vorgeworfen worden, daß seine Anhänger kein Interesse an der politischen Struktur der verschiedenen Länder und konsequenterweise kein Interesse an den tagespolitischen Kämpfen besäßen. Diese Vorstellung ist gänzlich falsch und entspringt entweder völliger Ignoranz oder vorsätzlicher Verdrehung der Tatsachen. Es ist nicht der politische Kampf als solcher, der die Anarchosyndikalisten von den modernen Arbeiterparteien grundsätzlich und taktisch unterscheidet, sondern die Form des Kampfes und die Ziele, die er anstrebt. Anarchosyndikalisten verfolgen dieselbe Taktik in ihrem Kampf gegen politische Unterdrückung wie gegen ökonomische Ausbeutung. Aber sie sind überzeugt, daß mit dem System der Ausbeutung auch dessen politische Schutzeinrichtung, der Staat, verschwinden muß, um der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten auf der Basis der freien Vereinbarung Platz zu machen; dabei übersehen sie keinesfalls die Tatsache, daß die Anstrengungen der organisierten Arbeit innerhalb der existierenden politischen und sozialen Ordnung ständig gegen jedwede Attacke der Reaktion gerichtet sein müssen; sie übersehen ferner nicht, daß der Bereich dieser Rechte ständig erweitert werden muß, wo immer sich dazu die Gelegenheit bietet. Der Kampf der CNT gegen den Faschismus ist vielleicht der beste Beweis, daß die vermeintlich unpolitische Haltung des Anarcho-Syndikalismus nichts ist als leeres Gerede. Aber gemäß ihrer Auffassung wird der Zeitpunkt ihres Vorgehens im politischen Kampf nicht von der Legislative bestimmt, sondern von den Menschen selbst.Politische Rechte entstehen nicht in den Parlamenten, sie sind außerhalb entstanden. Und sogar die Gesetzesfassung war lange Zeit keine Garantie für die Anwendung dieser Gesetze. Sie existieren nicht schon deshalb, weil sie legal niedergelegt sind, sondern erst dann, wenn sie zur gewachsenen Gewohnheit der Menschen geworden sind, und wenn jeder Versuch sie zu beeinträchtigen auf den heftigen Widerstand der Bevölkerung stoßen wird. Wo das nicht der Fall ist, helfen keine parlamentarische Opposition oder irgendwelche platonischen Appelle an die Verfassung. Man erzwingt Respekt vom Anderen, wenn man weiß, wie man seine Würde als menschliches Wesen verteidigt. Das trifft nicht nur für das Privatleben zu; es gilt auch im politischen Leben.Alle politische Rechte und Freiheiten, die die Menschen heute genießen, verdanken sie nicht dem guten Willen ihrer Regierungen, sondern ihrer eigenen Stärke. Regierungen haben immer versucht, alle ihre Machtmittel einzusetzen, um das Erreichen dieser Ziele zu verhindern. Große Massenbewegungen und ganze Revolutionen waren nötig, sie den herrschenden Klassen zu entreißen. Denn diese hätten sie niemals freiwillig zugestanden. Die gesamte Geschichte der letzten 300 Jahre ist dafür der Beweis. Wichtig ist nicht, daß Regierungen sich entschlossen haben, den Menschen gewisse Rechte zuzugestehen, sondern der Grund warum sie es tun mußten. Wenn man natürlich Lenins zynische Behauptung akzeptiert und die Freiheit als ein "bürgerliches Vorurteil" bezeichnet, dann haben politische Rechte sicherlich keinen Wert für die Arbeiter. Aber dann haben die zahllosen Kämpfe der Vergangenheit, alle Revolten und Revolutionen, denen wir diese Rechte verdanken, ebenfalls keinen Wert. Um dieses Stück Weisheit zu verkünden, war es kaum nötig, den Zarismus zu stürzen, da sogar die Zensur von Nikolaus II. sicherlich keinen Einwand gegen die Bestimmung von Freiheit als einem "bürgerlichen Vorurteil" gehabt hätte.Wenn der Anarcho-Syndikalismus dennoch die Beteiligung an den gegenwärtigen nationalen Parlamenten ablehnt, begründet er es nicht mit dem Mangel an Sympathie für den politischen Kampf im allgemeinen. Aber seine Anhänger sind der Meinung, daß diese Form der Aktivität die schwächste und hilfloseste Form des politischen Kampfes für die Arbeiter ist. Für die besitzenden Klassen ist der Parlamentarismus sicherlich ein angemessenes Instrument für die Beilegung von aufkeimenden Konflikten, weil sie alle daran interessiert sind, die gegenwärtige ökonomische und soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Wo es gemeinsame Interessen gibt, ist die gegenseitige Zustimmung für alle Parteien möglich und nützlich, aber für die Arbeiter ist die Lage ganz anders. Für sie ist die herrschende ökonomische Ordnung die Ursache ihrer Ausbeutung und ihrer sozialen und politischen Unterdrückung. Auch die freieste Wahl kann den offenkundigen Unterschied zwischen besitzenden und nichtbesitzenden Klassen in der Gesellschaft nicht verwischen. Sie kann lediglich der Unterdrückung der arbeitenden Massen den Stempel der Legalität aufdrücken.Immer wenn sozialistische Parteien entscheidende polilitische Reformen erreichen wollten, konnten sie es nicht auf parlamentarischem Weg, sondern sie waren gezwungen, sich ganz auf die ökonomische Kampfkraft der Arbeiter zu verlassen. Die politischen Generalstreiks in Belgien (Ende des 19. Jahrhunderts) und Schweden (1902) für die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts sind ein Beweis dafür. Und in Rußland war es der große Generalstreik von 1905, der den Zaren zwang, die neue Verfassung zu unterzeichnen. Diese Erkenntnis veranlaßte die Anarchosyndikalisten, ihre Aktivitäten auf die sozialistische Erziehung der Massen zu konzentrieren und sie auf den Gebrauch ihrer ökonomischen und sozialen Macht vorzubereiten. Ihre Methode ist die Direkte Aktion (17), die Verbindung von ökonomischem und politischem Kampf. Unter direkter Aktion wird der unmittelbare Kampf der Arbeiter gegen ökönomische und politische Unterdrückung verstanden. Unter diesen sind der Streik in allen seinen Abstufungen, vom einfachen Lohnkampf bis zum Generalstreik, der organisierte Boykott und all die anderen zahllosen Mittel, die die Arbeiter als Produzenten in ihren Händen haben, die herausragendsten.

6. Der Generalstreik

Eine der effektivsten Formen der direkten Aktion ist der "soziale Streik", der bisher am meisten in Spanien und teilweise in Frankreich angewendet wurde. Er hat bemerkenswerte und wachsende Verantwortlichkeit der Arbeiter gegenüber der Gesellschaft als ganzer gezeigt. Er beschäftigt sich weniger mit den unmittelbaren Interessen der Produzenten als vielmehr mit dem Schutz der Allgemeinheit vor den schädlichen Auswüchsen des herrschenden Systems. Der soziale Streik will den Unternehmern die Übernahme von gewissen Verantwortlichkeiten gegenüber der Öffentlichkeit aufzwingen. In erster Linie hat er den Schutz der Konsumenten zum Ziel, von denen die Arbeiter selbst den größten Teil bilden. Unter den gegenwärtigen Umständen entwürdigen sich die Arbeiter häufig selbst, indem sie unzählige Dinge tun, die ständig die gesamte Gemeinschaft um den Vorteil der Unternehmer willen beeinträchtigt. Sie sind gezwungen, von minderwertigem und oftmals schädlichem Material für die Herstellung ihrer Produkte Gebrauch machen, schäbige Wohnungen zu bauen, gesundheitsschädliche Lebensmittel zu konsumieren; unzählige Handlungen zu vollziehen, die dazu gedacht sind, den Konsumenten zu betrügen. Hier energisch einzugreifen, ist nach Meinung der Anarchosyndikalisten die große Aufgabe der Arbeitersyndikate. Ein Fortschritt in dieser Richtung würde zur selben Zeit die Stellung der Arbeiter in der Gesellschaft stärken, und auf längere Sicht ihre Position festigen.Direkte Aktion durch organisierte Arbeit findet ihren stärksten Ausdruck im Generalstreik, in der Niederlegung der Arbeit in jedem Produktionszweig in Fällen, in denen andere Kampfmittel versagen. Er ist die mächtigste Waffe, die die Arbeiter zur Verfügung haben und vermittelt den umfassenden Ausdruck ihrer Stärke als sozialer Faktor. Der Generalstreik ist natürlich kein Mittel, das bei jeder Gelegenheit willkürlich angewandt werden kann. Es sind gewisse soziale Voraussetzungen nötig, um ihm die angemessene moralische Stärke zu verleihen und zu einer Willenserklärung der breiten Massen werden zu lassen. Die lächerliche Forderung, die so oft den Anarchosyndikalisten zugeschrieben wird, daß es nur der Ausrufung des Generalstreiks bedarf, um innerhalb weniger Tage eine sozialistische Gesellschaft zu etablieren, ist natürlich eine Erfindung von unwissenden Gegnern. Der Generalstreik kann verschiedenen Zwecken dienen. Er kann die letzte Stufe eines Sympathiestreiks sein, wie z. B. 1902 in Barcelona, oder 1903 in Bilbao, der die Minenarbeiter befähigte, das verhaßte Naturallohn-System abzuschaffen und die Unternehmer zwang, sanitäre Anlagen in den Minen einzurichten. Er kann auch ein Mittel sein, um einigen grundlegenden Forderungen Nachdruck zu verleihen, wie z. B. in dem versuchten Generalstreik in dem USA im Jahre 1886, als der Achtstundentag für alle Industriezweige gefordert wurde. Der große Generalstreik der englischen Arbeiter 1926 war die Antwort auf den Versuch der Unternehmer, den allgemeinen Lebensstandard der Arbeiter durch Lohnkürzung zu senken.Aber der Generalstreik kann auch politische Ziele haben, wie z. B. der Kampf der spanischen Arbeiter 1904 für die Freilassung politischer Gefangener, oder der Generalstreik im Juli 1909 in Katalonien, der die Regierung zwingen sollte, den Krieg in Marokko zu beenden. Auch der Generalstreik der deutschen Arbeiter 1920, der nach dem sog. Kapp-Putsch durchgeführt wurde und die Regierung stürzte, die durch einen Militärputsch die Macht errungen hatte, gehört zu dieser Kategorie. In solch kritischen Situationen nimmt der Generalstreik den Platz ein, der früher den Barrikaden in den politischen Aufständen zukam. Für die Arbeiter ist der Generalstreik die logische Folge des modernen industriellen Systems, dessen Leidtragende sie heute sind; zugleich bietet er ihnen die stärkste Waffe im Kampf für ihre soziale Befreiung, vorausgesetzt sie erkennen ihre eigene Stärke und lernen, diese richtig anzuwenden.

7. Der Anarcho - Syndikalismus seit dem ersten Weltkrieg

Nach dem 1. Weltkrieg sahen sich die Menschen in Europa vor eine neue politisch und sozio-ökonomische Situation gestellt. In Mitteleuropa war das alte monarchistische System zusammengebrochen. Rußland befand sich inmitten einer sozialen Revolution, deren Ende nicht abzusehen war. Die russische Revolution hatte die Arbeiter jedes Landes tief beeindruckt. Sie fühlten, daß Europa mitten in einer Krise steckte, und daß ihre Hoffnungen für viele Jahre zerschlagen würden, falls aus dieser Krise nicht entscheidende neue Anstöße kämen. Aus diesem Grund setzten sie die größten Hoffnungen in die russische Revolution und sahen in ihr den Beginn einer neuen Ära in der europäischen Geschichte.1919 sandte die bolschewistische Partei, die die Macht in Rußland errungen hatte, einen Appell an alle revolutionären Arbeiterorganisationen und lud sie zu einem Kongreß für das folgende Jahr nach Moskau ein, um eine neue Internationale ins Leben zu rufen. Kommunistische Parteien existierten zu dieser Zeit nur in wenigen Ländern; auf der anderen Seite gab es in Spanien, Portugal, Frankreich, Italien, Holland, Schweden, Deutschland, England und den Ländern von Nord- und Südamerika syndikalistische Organisationen, von denen einige starken Einfluß ausübten. Aus diesem Grund war es das Anliegen von Lenin und seinen Anhängern, diese einzelnen Organisationen für ihre Vorstellungen zu gewinnen. So kam es, daß auf dem Gründungskongreß der 3. Internationale im Sommer 1920 fast alle syndikalistischen Organisationen Europas anwesend waren.Aber der Eindruck, den die syndikalistischen Delegierten in Rußland gewannen, war nicht geeignet, ihnen eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten als möglich oder wünschenswert erscheinen zu lassen. Die Diktatur des Proletariats zeigte sich schon in ihrem wahren Licht: Die Gefängnisse waren mit Sozialisten der verschiedenen Richtungen gefüllt, unter ihnen viele Anarchisten und Syndikalisten. Aber vor allem wurde deutlich, daß die neue herrschende Kaste in keiner Weise in der Lage war, ein wirklich sozialistisches Leben zu gestalten. Die Gründung der 3. Internationale mit ihrem autoritären Apparat und dessen Bemühungen, die gesamte europäische Arbeiterbewegung zu einem Instrument der Außenpolitik Rußlands zu machen, verdeutlichte den Syndikalisten sehr schnell, daß es für sie keinen Platz in der 3. Internationale geben konnte. Aus diesem Grund beschloß der Kongreß in Moskau, neben der 3. Internationale eine eigenständige revolutionäre Allianz von revolutionären Gewerkschaften aufzubauen, in der die syndikalistischen Organisationen aller Schattierungen einen Platz finden sollten. Die syndikalistischen Delegierten stimmten diesem Plan zu. Als aber die Kommunisten forderten, daß diese neue Organisation der 3. Internationale unterstellt werden sollte, wurde dieses Verlangen von den Syndikalisten einmütig zurückgewiesen.Im Dezember 1920 wurde eine internationale syndikalistische Konferenz nach Berlin einberufen, um über ihre Position gegenüber dem kommenden Kongreß der Roten Gewerkschaftsinternationale, der für 1921 in Moskau vorbereitet wurde, zu beschließen. Die Konferenz verständigte sich auf sieben Punkte, von deren Annahme der Eintritt der Syndikalisten in die Gewerkschaftsinternationale abhängig gemacht wurde. Die Bedeutung dieser sieben Punkte lag in der vollständigen Unabhängigkeit der Bewegung von allen politischen Parteien, und dem Beharren auf dem Standpunkt, daß der sozialistische Aufbau der Gesellschaft nur durch die ökonomischen Organisationen der produzierenden Klassen selbst durchgeführt werden kann.Auf dem Kongreß in Moskau im folgenden Jahr waren die syndikalistischen Organisationen in der Minderheit. Der Zentralrat der russischen Gewerkschaften beherrschte die ganze Situation und setzte seine sämtlichen Resolutionen durch. Daraufhin wurde im Oktober 1921 in Düsseldorf eine internationale syndikalistische Konferenz durchgeführt, auf der beschlossen wurde, für das folgende Jahr einen internationalen Kongreß einzuberufen. Dieser Kongreß fand vom 25. 12. 1922 bis zum 2. 1. 1923 (in Berlin) statt. Folgende Organisationen waren durch Delegierte vertreten: Argentinien durch die "Federacion Obrera Regional Argentina" mit 200000 Mitgliedern; Chile durch die "Industrial Workers of the World" mit 20000 Mitgliedern; Dänemark durch die "Union for Syndicalist Propaganda" mit 600 Mitgliedern; Deutschland durch die "Freie Arbeiter Union" mit 120000 Mitgliedern; Holland durch das "National Arbeids Sekretariat" mit 22500 Mitgliedern; Mexiko durch die "Confederacion General des Trabajadores"; Norwegen durch die "Norsk Syndicalisk Federasjon" mit 20000 Mitgliedern; Portugal durch die "Confederacao Geral do Trabalho" mit 150000 Mitgliedern; Schweden durch die "Sveriges Arbetares Centralorganisation" mit 32000 Mitgliedern. Die spanische CNT war zu dieser Zeit in einen fürchterlichen Kampf gegen die Diktatur Primo de Riveras verwickelt und hatte keine Delegierten gesandt, aber sie versicherte ihre Übereinstimmung auf dem illegalen Kongreß in Saragossa im Oktober 1923. In Frankreich, wo nach dem Krieg eine Spaltung innerhalb der CGT zur Gründung der CGTU führte, schloß sich letztere Moskau an. Aber es gab eine Minderheit in der Organisation, die sich zusammenschloß, um das "Revolutionäre Syndikalistische Verteidigungkomitee" zu gründen, das ungefähr 100000 Arbei ter umfaßte und an den Beratungen des Berliner Kongresses teilnahm. Aus Paris waren weiterhin die "Föderation der Bauarbeiter" und die "Föderation der Jugend der Seine" anwesend. Zwei Delegierte repräsentierten die syndikalistische Minorität der russischen Arbeiter.Der Kongreß beschloß einstimmig die Gründung einer internationalen Allianz aller syndikalistischen Organisationen unter dem Namen Internationale Arbeiter Assoziation (IAA). Er nahm eine Prinzipienerklärung an, die ein ausgesprochenes Bekenntnis zum Anarcho-Syndikalismus darstellt. Der zweite Punkt in dieser Erklärung lautet wie folgt: "Die Syndikalisten, in klarer Erkenntnis der oben festgestellten Tatsachen, sind prinzipielle Gegner jeder Monopolwirtschaft. Sie erstreben die Vergesellschaftung des Bodens, der Arbeitsinstrumente, der Rohstoffe und aller sozialen Reichtümer; die Reorganisation des gesamten Wirtschaftslebens auf der Basis des freien, d. h. des staatenlosen Kommunismus, der in der Devise: ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!' seinen Ausdruck findet. Ausgehend von dieser Erkenntnis, daß der Sozialismus letzten Endes eine Kulturfrage ist und als solche nur von unten nach oben durch die schöpferische Tätigkeit des Volkes gelöst werden kann, verwerfen die Syndikalisten jedes Mittel einer sogenannten Verstaatlichung, das nur zur schlimmsten Form der Ausbeutung, zum Staatskapitalismus, nie aber zum Sozialismus führen kann." Damit war der Bruch mit dem Bolschewismus und seinen Anhängern in den verschiedenen Ländern eindeutig. Die IAA ging von da ab ihren eigenen Weg, hielt ihre eigenen internationalen Kongresse ab, gab ihre eigenen Bulletins heraus und regulierte die Beziehungen zwischen den syndikalistischen Organisationen in den verschiedenen Ländern.Die mächtigste und einflußreichste Organisation in der IAA war die spanische CNT, Initiatorin vieler Arbeitskämpfe in Spanien und später das Rückgrat des Widerstandes gegen den Faschismus und der Sozialen Revolution. Vor dem Sieg Francos hatte die CNT ungefähr 2 Millionen Mitglieder, Industriearbeiter, Bauern und Intellektuelle. Sie besaß 36 Tageszeitungen, darunter die "Solidaridad Obrera" in Barcelona, die größte Zeitung Spaniens und "Castilla Libre", die die meistgelesene Zeitung in Madrid war. Die CNT hat Bücher und Millionen von Broschüren herausgegeben und mehr als jede andere Bewegung in Spanien zur Erziehung der Volksmassen beigetragen.In Portugal war die 1911 gegründete "Confederacao Geral do Trabalho" die mächtigste Arbeiterorganisation des Landes und basierte auf denselben Prinzipien wie die CNT in Spanien. Nachdem sich in Portugal die Dikatur Salazars (1933) durchgesetzt hatte, wurde der CGT jegliches öffentliches Auftreten untersagt, und sie mußte in den Untergrund gehen. In Italien verließ unter dem Einfluß der Ideen des französischen Syndikalismus der syndikalistische Flügel der "Confederazione deI Lavoro" diese Organisation wegen deren Abhängigkeit von der Sozialistischen Partei und gründete die "Unione Sindicale Italiana". Diese Gewerkschaft war der Motor vieler harter Arbeitskämpfe und spielte eine herausragende Rolle in den Ereignissen der sog. "Roten Woche" im Juni 1914 und später bei den Fabrikbesetzungen in Mailand und anderen Städten in Norditalien. (18) Nach der Machtübernahme durch die Faschisten verschwand die gesamte italienische Arbeiterbewegung. In Frankreich verließen die Anarchosyndikalisten die CGTU, nachdem die Organisation vollständig unter den Einfluß der Bolschewisten geraten war, und gründeten die "Confederation Generale du Travail Syndicaliste Revolutionaire", die sich der IAA anschloß.In Deutschland existierten schon lange vor dem 1. Weltkrieg die sog. "Lokalisten", die sich in der 1897 gegründeten "Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften" organisierten. Diese Organisation war ursprünglich von sozialdemokratischem Gedankengut beeinflußt, aber sie bekämpfte die zentralistischen Tendenzen in der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Das Wiederaufleben des französischen Syndikalismus beeinflußte diese Vereinigung stark und führte zur Übernahme von rein syndikalistischen Prinzipien. Auf ihrem Kongreß 1920 in Düsseldorf änderte die Organisation ihren Namen in "Freie Arbeiter-Union Deutschlands". Diese Organisation leistete einen großen Dienst durch die unermüdliche Arbeit ihres aktiven Verlagshauses in Berlin, das eine große Anzahl wertvoller Arbeiten herausgab. Nach Hitlers Machtergreifung verschwand die "Freie Arbeiter-Union". Ein großer Teil ihrer Anhänger verschwand in den Konzentrationslagern oder mußte ins Exil gehen.In Schweden existiert noch eine sehr aktive syndikalistische Bewegung, die "Sveriges Arbetaren Centralorganisation", die einzige syndikalistische Organisation in Europa, die der Reaktion des Faschismus und der deutschen Invasion während des Krieges entgangen war. Die schwedischen Syndikalisten nahmen an allen großen Arbeitskämpfen in ihrem Land teil und setzten das Werk der sozialistischen und libertären Schulung fort. In Holland konzentrierte sich die syndikalistische Bewegung im "Nationale Arbeids Secretariat", aber als diese Organisation mehr und mehr unter den Einfluß der Kommunisten geriet, spaltete sich fast die Hälfte ihrer Mitglieder ab und gründete den "Nederlandisch Syndicalistisch Vakverbond", der sich der IAA anschloß. Außer diesen Organisation gab es noch anarchosyndikalistische Propagandagruppen in Norwegen, Polen und Bulgarien, die sich der IAA anschlossen. Die japanische "Jiyu Rengo Dantai Zenkoku Kaigi" schloß sich ebenfalls der IAA an.In Argentinien war die 1891 gegründete "Federacion Obrera Regional Argentina" lange Jahre Organisator der größten Arbeitskämpfe dieses Landes. Ihre Geschichte ist eines der stürmischsten Kapitel in den Annalen der Arbeiterbewegung. Die Bewegung gab länger als 25 Jahre die Tageszeitung "La Protesta" heraus. Ferner eine große Zahl Wochenschriften im ganzen Land. Nach dem Staatsstreich von General Uriburu wurde die Federacion unterdrückt, aber sie führte ihre Tätigkeit im Untergrund fort, auch unter dem Diktator Peron.Im Mai 1929 rief die Federacion einen Kongreß aller südamerikanischen Länder nach Buenos Aires ein. Auf diesem Kongreß waren neben der Veranstalterin noch Gewerkschaften folgender Länder vertreten: Paraguay durch das "Centro Obrero deI Paraguay"; Bolivien durch die "Federacion Local de la Paz", "La Antorcha" und "Luz y Libertad"; Mexiko durch die "Confederacion de Trabajo"; Guatemala durch das "Comite pro Accion Sindical"; Uruguay durch die "Federacion Regional Uruguaya". Brasilien wurde durch die Gewerkschaften der sieben verfassungsgebenden Staaten vertreten. Costa Rica wurde durch die Organisation "Hacia la Libertad" repräsentiert. Auf diesem Kongreß wurde die "Kontinentale Amerikanische Arbeiter-Assoziation" ins Leben gerufen, die die amerikanische Gliederung der IAA darstellte. Der Sitz dieser Organisation war zuerst in Buenos Aires, wurde aber später, wegen der Diktatur, nach Uruguay verlegt.Dies waren die Kräfte, die der Anarcho-Syndikalismus vor der Herrschaft des Faschismus und dem Ausbruch des 2. Weltkriegs in den verschiedenen Ländern zur Verfügung hatte.

III

Nachwort 1947

Diese Schrift wurde vor neun Jahren veröffentlicht, als der Spanische Bürgerkrieg sich seinem Ende näherte. Die Niederlage der spanischen Arbeiter und Bauern durch den Faschismus nach zweieinhalb Jahren Bürgerkrieg zerstörte die letzte Hoffnung, sich der Flut der Reaktion in Europa entgegenzustemmen. Spanien wurde die Nemesis für die europäische Arbeiterbewegung und besonders für den libertären Sozialismus. Das spanische Volk mußte seinen tapferen Kampf für Freiheit, menschliche Würde und soziale Gerechtigkeit fast allein führen, während die ganze Welt dem ungleichen Kampf untätig zusah. Die sog. Westlichen Demokratien verweigerten den Spaniern das Kriegsmaterial, welches sie so dringend in ihrem heldenhaften Kampf benötigten. Und die organisierte Arbeiterbewegung in Europa und Amerika, die demoralisiert und zersplittert war, verharrte gleichgültig oder hilflos, als in Europa alles auf dem Spiel stand. Sie mußte ihre Passivität teuer bezahlen, da mit dem franquistischen Spanien der Weg in den 2. Weltkrieg mit seinen schrecklichen Auswirkungen geebnet wurde. Sogar Sumner Wells, der frühere Staatssekretär der USA, mußte zugeben, daß die Politik seines Landes gegenüber Spanien in jenen Jahren der Entscheidung einer der größten Fehler war, die Amerika je begangen hat.Für die Arbeiterbewegung bedeutete Francos Sieg eine der größten Niederlagen, die die Arbeiter Europas jemals erlitten hatten. Unter dem Schreckensregiment von Hitlers Armeen zerfiel die gesamte Arbeiterbewegung in Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, der Tschechoslowakei, Holland, Belgien, Norwegen und den südosteuropäischen Ländern; der gesamte Kontinent wurde eine Ruinenwüste, Hunger und unaussprechliches Elend herrschten. Noch heute, 1947, gleichen große Teile Europas einer Wildnis. Das ökonomische Leben ist gelähmt, die natürlichen Rohstoffquellen sind erschöpft, Industrie und Landwirtschaft total desorganisiert. Daß eine solche schreckliche Katastrophe an den Völkern nicht spurlos vorbeigeht, ist selbstverständlich. In vielen Ländern wurden die Menschen als Folge ihrer schrecklichen Leiden demoralisiert und apathisch, besonders in Deutschland und Österreich, wo wenig Hoffnung auf einen raschen Wiederaufbau des ökonomischen und sozialen Lebens war. Trotzdem gibt es fast überall Zeichen des Erwachens und der Entwicklung neuer Ideen, die sich mit der gegenwärtigen Situation auseinandersetzen.Der einzige Weg aus dem gegenwärtigen Chaos, die einzige Möglichkeit für den Wiederaufbau der verwüsteten Länder wäre ein föderiertes Europa mit einer vereinheitlichten Wirtschaft. Europa müßte auf einem neuen Fundament beruhen, in dem kein Volk durch künstliche Barrieren isoliert wäre und unter keiner Vormundschaft eines stärkeren Nachbarn stünde. Das würde auch den ersten Schritt zu einer Weltföderation mit gleichen Rechten für jedes Volk, die sog. Kolonialvölker eingeschlossen, die bisher Opfer des Imperialismus waren und in ihrer natürlichen Entwicklung gehemmt wurden, bedeuten. Es ist ebenfalls das einzige Mittel, um weitere Änderungen und Verbesserungen im allgemeinen Organismus unseres sozialen Lebens zu erzielen, und um die ökonomische Ausbeutung und die politische Unterdrückung von Individuen und Völkern zu überwinden. Nach den schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit gibt es in der Tat keinen anderen Weg, um neue Beziehungen zwischen den Völkern herzustellen, und um neue Gesellschaftsformen und eine Wiedergeburt von Menschlichkeit zu erreichen.In Europa ist eine solche Veränderung lange überfällig. Ihr größtes Hindernis ist aber noch immer die Machtpolitik der Großmächte und ihr unaufhörlicher Kampf um die Hegemonie auf dem Kontinent. Das ist die ständige Ursache von Kriegen und der wahre Grund, warum bis auf den heutigen Tag eine Generation immer das wieder aufzubauen hat, was ihre Vorgängerin zerstört hatte.Was den Anarchosyndikalismus und die libertäre Bewegung im allgemeinen betrifft, sind diese gegenwärtig im Stadium des Wiederaufbaus. Mit Ausnahme von Schweden wurden die libertären Organisationen in nahezu jedem europäischen Land während der Nazi-Okkupation unbarmherzig unterdrückt; sie funktionierten nur als kleine Widerstandsgruppen im Untergrund. Schweden war eines der europäischen Länder, das vom Krieg verschont blieb, und wo sich die libertäre Bewegung behaupten konnte. Nachdem Hitler in Deutschland die Macht erobert hatte, wurde das Büro der IAA, nach einem kurzen Zwischenspiel in Holland, nach Stockholm verlegt, und von der dortigen syndikalistischen Bewegung am Leben erhalten. Aber seine Aktivität wurde durch die schreckliche Katastrophe auf dem Kontinent gelähmt. Der einzige Grund für die fortdauernde Existenz des Büros war, sich für die Nachkriegszeit vorzubereiten, um dann Schritte zu unternehmen, die Bewegung in den verschiedenen Ländern wieder aufzubauen. Das Büro in Stockholm veröffentlichte in all den Jahren sein "Bulletin" und versuchte, Verbindungen, soweit dies möglich war, aufrechtzuerhalten. Mehr konnte man nicht erwarten.Unter allen regionalen Sektionen der IAA hatte die CNT am meisten gelitten. Rund eine Million Menschen starben während des Bürgerkrieges, unter ihnen viele Tausende Mitglieder der CNT und FAI. Tausende wurden in den Kerkern und Konzentrationslagern Francos bei lebendigem Leibe begraben, viele kamen unter unsäglichen Qualen um. Und viele Tausende leben noch im Exil und warten ungeduldig auf die Stunde ihrer Rückkehr. Eine große Anzahl der früheren Mitglieder der CNT lebt in Frankreich, Belgien, England, Nordafrika, Mexiko und den verschiedenen Ländern Südamerikas. In Frankreich haben Tausende dieser Flüchtlinge aktiv an der Resistance gegen die deutsche Invasion teilgenommen. In all diesen Ländern haben unsere spanischen Genossen eigene Organisationen geschaffen und veröffentlichen Zeitungen, Bücher und Broschüren.In Spanien selbst wird eine sehr aktive Untergrundbewegung von den Anhängern der CNT-FAI und der Libertären Jugend gegen die Militärdiktatur Francos fortgeführt. Sie haben ihre eigenen Zeitungen, die illegal gedruckt werden, und stehen in ständigem Kontakt mit ihren Genossen im Exil. In einigen Teilen Spaniens geht der Guerillakrieg noch weiter, besonders in den Bergen von Asturien. Unter den spanischen Genossen im Exil sind interessante Diskussionen im Gang über die Reorganisation der Bewegung nach dem Fall des Franco-Regimes. Die Erfahrungen der spanischen Revolution, der Krieg und seine Nachwirkungen haben etliche Probleme geschaffen, die nicht übersehen werden können. Ihre wirkliche Lösung kann aber nur gefunden werden, wenn die gegenwärtige Diktatur gestürzt und die libertäre Bewegung reorganisiert wird. Zweifellos wird unsere Bewegung, die so tief im spanischen Volk verwurzelt ist, wieder eine bedeutende Rolle in der Zukunft dieses Landes spielen. Klar ist aber auch, daß ihr Erfolg weitgehend von den Entwicklungen in den anderen Ländern Europas mitbestimmt wird.In Deutschland, wo jede Sektion der organisierten Arbeiterschaft von den Nazis vollständig zerstört, und ihr umfangreiches Eigentum an Gebäuden, Druckereien, Büchereien etc. beschlagnahmt wurde, mußte die anarchosyndikalistische Bewegung schreckliches über sich ergehen lassen. Nachdem ihr Büro ("Geschäftskommission") in Berlin von den Nazis geplündert und zerstört worden war, versuchten die Genossen in Erfurt, eine Untergrundbewegung zu organisieren. Aber nach kurzer Zeit fielen viele Militante in die Hände der Nazis und landeten im Gefängnis und Konzentrationslager. Trotzdem wurden in fast jedem Teil des Landes Untergrundaktivitäten fortgeführt, aber die Opfer waren fürchterlich. Nach den Berichten, die wir erhalten haben, seit die Verbindungen mit Deutschland wiederhergestellt sind, wurden rund 1200 Genossen während des Hitlerregimes zu Arbeitslager zwischen fünf und zwanzig Jahren verurteilt; rund zwanzig wurden hingerichtet oder starben in den Folterkammern der Gestapo; Dutzende kamen in Konzentrationslagern um. Diese Liste ist keineswegs komplett, sie betrifft hauptsächlich das Schicksal unserer Genossen in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Exakte Daten für die SBZ sind im Moment nicht zugänglich.Ein Wiederaufbau der Bewegung in Deutschland unter den gegenwärtigen Bedingungen ist sehr schwierig. (19) Eines der größten Hindernisse ist die Teilung des Landes in verschiedene Zonen. Die meisten der deutschen Genossen sind der Meinung, daß ein Wiederaufbau der Bewegung auf den Grundlagen der alten FAUD unmöglich ist, seit die alten Vorstellungen unter dem Gesichtspunkt der Verwüstung des Landes und der Not der Menschen bedeutungslos geworden sind. Sie meinen, daß jede Anstrengung dem konstruktiven Wiederaufbau des Landes und der Verminderung des momentanen Elends gelten soll. Viele unserer Genossen arbeiten schon in dieser Richtung in den neu gegründeten Gewerkschaften, Kooperativen u. a. Organisationen mit, wo sie die Möglichkeit haben, ihre Ideen zu verbreiten. In den Westzonen sind schon Vorkehrungen getroffen für den Aufbau einer neuen libertären Bewegung, für konstruktive Aktivität auf einer breiteren Basis, den gegenwärtigen Bedingungen weitaus angepaßter als die FAUD, die unter gänzlich anderen Bedingungen gegründet worden ist.Auch in Holland, wo viele unserer Genossen an der Untergrundbewegung während der deutschen Okkupation teilgenommen hatten, kamen die ehemaligen Mitglieder des NSV zu dem Ergebnis, daß das Wiederaufleben der Bewegung in ihrer alten Form kaum die Probleme lösen könnte, die der Krieg und die gegenwärtige Situation in Europa geschaffen haben. Aus diesem Grund gründeten sie eine neue Föderation, den "Nederlandse Bond va frije Socialisten". Dessen Prinzipien wurden in dem neuen Organ "Socialisme va onder op" veröffentlicht. Sie ist eine der interessantesten Zeitschriften der heutigen Bewegung, an der viele, bekannte Vertreter des libertären Sozialismus in Holland und im Ausland mitarbeiten. Die neue Bewegung verbreitet ihre Ideen aktiv in den reformistischen Gewerkschaften und führt auch den Kampf für die Unabhängigkeit Indonesiens und der anderen holländischen Kolonien. Neben der neuen Föderation, die in jeder holländischen Provinz ihre Propagandagruppen hat, existiert noch eine Anzahl weiterer Organisationen libertären Charakters.In Frankreich reorganisierten die ehemaligen Mitglieder der CGT/Syndicaliste Revolutionaire ihre Bewegung schon bald nach Kriegsende. Da sie es unmöglich fanden, in der CGT zu arbeiten, die heute total von der Kommunistischen Partei dominiert wird und lediglich ein Instrument der Außenpolitik der russischen Diktatur darstellten, versuchten sie, ihre alten Anhänger zu sammeln und eine neue Bewegung ins Leben zu rufen. Das erste Treffen fand im Dezember 1946 in Paris statt; Delegierte der spanischen CNT und ein Repräsentant der IAA waren ebenfalls zugegen. Die Organisation wurde in "Confederation National du Travail" (CNT, Nationale Konföderation der Arbeit) umbenannt, und ihre Tätigkeit basiert auf derselben Prinzipienerklärung, die von der IAA vor dem Krieg verabschiedet wurde. Ihr Organ ist "L'Action Syndicaliste".Neben dieser anarchosyndikalistischen Bewegung sind die meisten libertären Gruppen in Frankreich in der "Federation Anarchiste" mit dem Organ "Le Libertaire" in Paris organisiert. Seit Kriegsende kann man in Frankreich allgemein ein Wiederaufleben der alten libertären Bewegung in allen Teilen des Landes beobachten, die ihren sichtbaren Ausdruck in sieben oder acht Zeitungen und Zeitschriften findet.In Italien, dem ersten Land, das unter dem Joch des Faschismus zu leiden hatte, lebte die anarchistische Bewegung nach dem Krieg ebenfalls wieder auf. Die meisten Organisationen schlossen sich in der neuen "Federazione Anarchista Italiana" zusammen, die ihr Zentrum in Carrara, dem italienischen Marmorindustriegebiet hat. Die Föderation hat rund fünfzehn Zeitschriften und führt eine lebhafte Propaganda unter den Arbeitern und Bauern durch. Ihren größten Einfluß hat sie in Mailand und Genua. Wie in Frankreich bekämpfen unsere italienischen Genossen nicht nur die Überreste der noch mächtigen faschistischen und monarchistischen Reaktion, sondern auch den wachsenden Einfluß der Kommunistischen Partei, die nicht nur die gesamte Gewerkschaftsbewegung kontrolliert, sondern auch den größten Teil der Sozialistischen Partei. Hier, wie in den meisten anderen europäischen Ländern, stellt das schreckliche Elend der Menschen eines der größten Hindernisse für jede fortschrittliche Bewegung dar und setzt gleichzeitig die europäischen Länder den Gefahren einer neuen totalitären Reaktion aus.In Portugal ist die "Confederacao Geral do Trabalho", die unter der Diktatur Salazars unterdrückt wird, noch immer in der Illegalität. Trotz der fortwährenden Verfolgungen schaffte sie es, ihr Organ "A Batalha" u. a. illegale Veröffentlichungen herauszubringen. Viele Militante der CGT kamen in den Konzentrationslagern der Kapverdischen Inseln um, die nur mit den Folterkammern der Gestapo verglichen werden können.Auch in England, Belgien, Norwegen, Polen und der Schweiz gibt es libertäre Gruppen, die Broschüren, Bücher und Zeitschriften veröffentlichen und ihre Vorstellungen verbreiten. Nur in den sowjetisch beherrschten Ländern Südosteuropas scheiterte jeder Versuch, eine libertäre Bewegung zu initiieren, an der Diktatur wie im Fall der bulgarischen Anarchosyndikalisten, von denen viele Opfer der großen blutigen Säuberungen im Lande wurden.Im allgemeinen ist die libertäre Bewegung in den meisten europäischen Ländern im Stadium der Reorganisation. Viele unserer alten Genossen starben während des Krieges oder wurden Opfer der schrecklichen Verfolgungen der faschistischen Reaktion. In Lateinamerika ist seit Kriegsende ein großer Aufschwung des libertären Sozialismus in fast jedem Land festzustellen, besonders in Argentinien. Nach langer Illegalität führt die "Federacion Obrera Regional Argentina" eine umfassende Propagandatätigkeit für einen 6-Stunden-Tag. Der neuerliche Streik der Arbeiter im Hafen von Buenos Aires, der mit großem Erfolg endete, wurde von der FORA geführt und brachte der Organisation ein großes Maß an Sympathie unter den Arbeitern und Studenten ein. Die neue Jugendbewegung an den Universitäten ist in hohem Maße von libertärem Gedankengut beeinflußt.Neben der syndikalistischen Tätigkeit der FORA gibt es im ganzen Land noch viele andere libertäre Gruppen, die eine beträchtliche Anzahl von anarchistischen Zeitschriften und Broschüren herausgeben und eine lebhafte Propagandatätigkeit im Erziehungsbereich und in Öffentlichkeitsarbeit entwickeln. Den Verlagsbuchhandlungen Iman und besonders Americalee in Buenos Aires ist es zu verdanken, daß in den letzten Jahren die größte Anzahl libertärer Klassiker und viele andere wichtige Bücher gedruckt wurde. Die Ausgaben sind hervorragend und finden Verbreitung unter Arbeitern und Intellektuellen.Eine rege libertäre Tätigkeit ist auch in den meisten anderen Ländern von Süd- und Mittelamerika festzustellen. So kommen in Uruguay, Paraguay, Peru, Chile, Brasilien, Kolumbien, Guatemala, Costa Rica, Mexiko und Kuba Zeitschriften heraus.In den USA werden, mit Ausnahme von zwei kleinen Monatszeitschriften, alle anderen libertären Veröffentlichungen in spanisch, italienisch, jiddisch und russisch gedruckt. In diesem Land gibt es keine organisierte Bewegung auf nationaler Ebene, vergleichbar denen in Europa; es gibt eine ganze Anzahl Vereinigungen verschiedener Art und für verschiedene Zwecke, in denen libertäres Gedankengut anzutreffen ist.In Asien gibt es moderne libertäre Ideen in China, Japan und in kleineren Zirkeln indonesischer Studenten, die durch die libertäre Bewegung in Holland beeinflußt wurden. In Japan wurde die kleine anarchistische Bewegung nach der Hinrichtung von D. Kotoku und seinen Genossen im Januar 1911 vollständig zerstört. Später entwickelte sich eine anarchistische Bewegung, die "Jiyu Rengo Dantai Zenkoku Kaigi", in Tokio, Nagasaki, Hiroshima u. a. japanischen Industriezentren, die Verbindung mit dem IAA-Büro in Berlin aufnahm. Aber auch diese Bewegung wurde ein Opfer der unbarmherzigen Verfolgungen durch die japanische Regierung.In China existierten vor dem Krieg in verschiedenen Städten anarchistische Gruppen, die libertäre Periodika und Flugblätter herausbrachten und in Verbindung mit ihren Genossen in Amerika und Europa standen. Nach dem Krieg lebte diese Bewegung Dank der Tätigkeit intellektueller Gruppen in verschiedenen Landesteilen wieder auf.Libertäres Gedankengut ist neuerdings auch bis nach Indien vorgedrungen, wo eine Gruppe indischer Intellektueller, die Gründer des "Indischen Instituts für Soziologie" und der Zeitschrift "Indian Sociologist", sehr rege ist und die neuen Ideen verbreitet, vor allem in Bombay. Sie haben auch ein Zentrum für libertäre Publikationen geschaffen, das "Libertäre Buchhaus" in Bombay, das schon eine ganze Reihe von Büchern und Flugschriften von bekannten europäischen und amerikanischen Libertären veröffentlicht hat.Die gegenwärtige Renaissance der libertären Bewegung in der ganzen Welt ist der beste Beweis, daß die großen Ideen von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit auch nach den schrecklichen Verwüstungen des Krieges noch weiterleben, daß sie von vielen als Leitprinzipien bei der Lösung der verschiedenartigen neu entstandenen Probleme angesehen werden; sie gelten ebenfalls für den Weg in eine bessere Zukunft und zu einem höheren Maß an Menschlichkeit.Die libertäre Bewegung ist die einzige Bewegung, die nicht nur den Kampf gegen die Übel der gegenwärtigen Gesellschaft führt. Sie versucht auch, vor Gefahren einer Diktatur jeglicher Art von Staatskapitalismus und politischem Totalitarismus, die nur in die schlimmste Sklaverei führen können, die die Menschheit jemals erlebt hat, zu bewahren.Crompond, New York Juni 1947

Anmerkungen

(Alle Anmerkungen sind vom Übersetzer)

1) Im "Gesellschaftsvertrag" (Contrat Social) entwirft Rousseau ein demokratisches Idealbild. Danach ruht die Staatsgewalt beim Volk, und die Regierenden sind seine Funktionäre. Die Gesetze bedürfen der Zustimmung aller, denn die Volkssouveränität ist absolut und unteilbar und bekundet sich irn "Allgemeinen Willen der Nation" (Volonté général).2) Radikeler Flügel in der Französischen Revolution; benannt nach dem St.-Jakobs-Kloster. Maßgebliche Führer waren Robespierre, Saint-Just und Marat.3) Thomas Jefferson (1743-1826) war der Schöpfer der Unabhängigkeitserklärung der USA, in derzum ersten Mal die Menschenrechte schriftlich niedergelegt wurden. Von 1801-1809 war Jefferson Präsident der USA.4) Thoreau (1817-1862) war ein verfechter des Gewaltlosen Widerstandes. Nahm aktiv teil an der Anti-Sklaven-Bewegung in den USA. Seine wichtigsten Werke sind: "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat", Zürich 1973 und "Walden oder das Leben in den Wäldern", Zürich 1971.5) Saint Simon (1760-1825) war ein Vertreter des sog. "utopischen Sozialismus".6) Proudhon (1809-1865) war Vertreter des sog. "Mutualismus" (Austausch gleicher Werte durch unabhängige Produzenten und Konsumenten und Regelung aller menschlichen Verhältnisse durch freiwillige Kontrakte). Geistiger Vater vieler ihm nachfolgenden Anarchisten. Prägte wesentlich den Föderalismus als neue verbindende Form des gesellschaftlichen Lebens.7) Der Begriff "Leviathan" stammt aus dem Buch Hiob. Er steht dort für das stärkste aller Tiere, ein Seeungeheuer. In Hobbes Theorie symbolisiert es die absolute Schreckensgewalt des Staates, des "Souveräns".8) Rabelais verstand sich nicht als Revolutionär. Er verzichtete in seinen Utopien völlig auf den Ökonomischen Aspekt. Seine Bedeutung gewinnt er durch die detaillierte Schilderung eines von allen zwängen befreiten Lebens.9) Entfällt10) Robert Owen (1771-1858): Frühsozialist, Förderer von Einrichtungen zu Selbsthilfe gegen die Konkurrenz der Grobetriebe. In seinem Musterbetrieb führte er wegweisende Sozialreformen durch (Zehneinhalb-Stunden-Tag, Kranken und Altersversicherung).11) Elisee Reclus (1830-1905), einer der bedeutendsten Geographen des 19. Jahrhunderts, stand mit seiner Auffassung vom Anarchismus der anarchistisch-kommunistischen Konzeption Peter Kropotkins nahe.12) Cafiero, ital. Anarchist, war ursprünglich wichtiger Vertrauensmann von Marx/Engels in Italien. Er wandte sich jedoch, aus der Überzeugung, daß Bakunins Analyse der italienischen Situation richtiger sei, bald dem libertären Flügel der 1. Internationale zu.13) Rocker bezieht sich hier vor allem auf die revoluItionären Unruhen in Italien und Spanien 1873-1874. In Italien führten die Spannungen, die sich aus dem Kampf um die nationale Einheit, dem Kampf gegen die österreichischen Besatzer ergaben, zu erheblichem wirtschaftlichen Elend. Die Hoffnungen, die die Bauern, landlosen Arbeiter und Handwerker in die neue Regierung gesetzt hatten, konnte diese nicht erfüllen. Diese Situation führte zu sozialen Unruhen, vor allem unter Führung der Anarchisten (Malatesta, Costa, Cafiero). Sie brachten jedoch keine wesentliche Linderung der mißlichen sozialen Lage.In Spanien kam es 1868-1874, bedingt durch die Abdankung der Königin Isabel, zu zahlreichen sozialen Auseinandersetzungen, an der die Vertreter des libertären Flügels der 1. Internationale großen Anteil hatten. Die 1873 gebildete liberale Spanische Republik hatte nur eine kurze Lebensdauer Ihre Ende 1874 bedeutete gleichzeitig die Restauration der Monarchie. Die Anarchisten waren nun zur Illegalität gezwungen. (Vgl. Brenan, Gerald: Die Geschichte Spaniens, Berlin 1978)14) Sombart (1863-1941) war ein bedeutender Wirtschafts- und Gesellschaftstheoretiker. Verfasser des zweibändigen Standardwerks "Der moderne Kapitalismus". Zunächst stark vom Marxismus beeinflußt, vollzog er im Laufe seines politischen Werdegangs eine weitgehende Abkehr von seinen ursprünglichen Überzeugungen. Wird vielfach als "Kathedersozialist" bezeichnet.15) Sorel (1847-1922): angeblich "Theoretiker des Syndikalismus". Besaß jedoch keinen Einfluß auf die Arbeitermassen. Beeinflußte in nicht unerheblichem Maße Mussolini. Starb als Bewunderer Lenins.16) Rocker meint hier die sog. "Dezimal-Sozialdemokraten", d. h. den Flügel des politischen Sozialismus, der über den parlamentarischen Weg die Macht anstrebte, und jedes Plus hinter dem Komma als einen Sieg der Arbeiterklasse feierte.17) Rocker vergleicht hier die Haltung der deutschen Arbeiterklasse bei der Machtergreifung Hitlers mit derjenigen der spanischen Arbeiter beim Putsch Francos am 19. Juli 1936. Während die spanischen Arbeiter vom ersten Tag an entschlossen Widerstand leisteten, wartete die deutsche Arbeiterklasse auf Direktiven ihrer Führung und war unfähig, selbständig zu reagieren.18) Vgl. Roller, Arnold: "Direkte Aktion", Bremen 1977; vgl. zu einer neueren Bestimmung des Begriffs "Direkte Aktion": Carter, April: "Direkte Aktion". Leitfaden für den Gewaltfreien Widerstand", Berlin 1979.19) Vgl. dazu: Rocker, Rudolf: "Die Möglichkeiten einer anarchistischen und syndikalistischen Bewegung. Eine Einschätzung der Lage in Deutschland", Frankfurt 1978.

Rudolf Rocker - Antisemitismus und Judenpogrome

Der Judenpogrom im alten Berliner Scheunenviertel spricht eine gar beredte Sprache und zeigt uns deutlich, wohin der Weg geht, den die Koryphäen der nationalistischen Reaktion uns führen wollen, um „Deutschland vom Untergang zu retten“. Was sich in früheren Zeiten als Antisemitismus hier breit machte, war im Grunde genommen nicht mehr wie eine politische Hanswurstiade minderwertiger Qualität, die von den breiten Massen des Volkes wohl kaum ernst genommen wurde. Verärgerte kleine Geschäftsleute, verschuldete Kleinbauern, unreife Jünglinge im Kaufmannsgewerbe mit der vorschriftsmäßigen „nationalen Gesinnung“, „rassenreine“ preußische Krautjunker und großmäulige Korpsstudenten, deren teutscher Idealismus jeden Tag mit dem nötigen Quantum von Bierhefe aufgefrischt werden musste – dies waren die berufenen Statisten in dem antisemitischen Spuk, die sich um germanische Recken wie Liebermann von Sonnenberg, Pickenbach, den famosen Rektor Ahlwardt und den verrückten Grafen Pückler scharten. Eine Gesellschaft von geistigen Nullen, deren trostlose Hohlköpfigkeit geradezu mitleiderregend wirkte.Was aber vergangene Woche in Berlin in Erscheinung trat, war etwas anderes, und es wäre töricht, diese Vorgänge in ihrer Tragweite unterschätzen zu wollen. Hier waren verborgene Kräfte an der Arbeit, die durchaus nicht harmlos sind, sondern eine furchtbare Gefahr für die allernächste Zukunft dieses Landes bedeuten. Die hundert und hundertfünfzig arme Schlucker, welche die Polizei bei den Plünderungen festnahm und als „Rädelsführer“ hinter Schloß und Riegel brachte, sind allerdings verhältnismäßig harmlose Leute im Vergleich mit jenen dunklen Elementen der schwärzesten Reaktion, die seit Jahren das Feuer schürten, jedoch zu feige sind, sich in den Vordergrund der Ereignisse zu wagen und die Konsequenzen ihrer gewissenlosen und verlogenen Hetze anderen überlassen.Der Pogrom-Antisemitismus, mit dem wir es heute in Deutschland zu tun haben, ist nur der Schrittmacher der faschistischen Reaktion. Die sogenannten „völkischen Verbände“, welche das Hakenkreuz als Symbol ihres judenfeindlichen „Germanentums“ aufgepflanzt haben, werden von den Agrariern und von namhaften Schwerindustriellen materiell gefördert und unterstützt, um die Empörung des darbenden Volkes in falsche Kanäle zu leiten und seine Aufmerksamkeit von den eigentlichen Ursachen seines namenlosen Elends abzulenken.Im alten Russland war der Antisemitismus ein eiserner Bestandteil der inneren russischen Regierungspolitik, den man systematisch kultivierte, um ihn den Zwecken der regierenden Klasse dienstbar zu machen. Jedesmal, wenn die Not des Volkes das normale Maß überstieg, musste der Antisemitismus dazu herhalten, die Erregung der bedrückten und beraubten Massen auf andere Wege zu leiten, um ihr den eigentlichen Grund ihres Elends zu verbergen. So wurden die furchtbaren Judenpogrome von Dischinew, Homel, Schitomir usw. direkt von Agenten der russischen Regierung vorbereitet und in Szene gesetzt. Die sogenannten „schweren Hundert“, deren Abzeichen der letzte Zar jahrelang auf der Brust trug, und in deren Reihen sich der Abschaum der russischen Gesellschaft zusammenfand, wurden direkt von geheimen Regierungsagenten organisiert und für ihre schauerliche Arbeit systematisch vorbereitet und bezahlt.Dieselbe Erscheinung wiederholt sich heute in Deutschland, wo eine gewissenlose reaktionäre Verbrecherklique kein Mittel unversucht lässt, um die öffentliche Macht in ihre Hände zu bekommen und die letzten Errungenschaften einer missglückten Revolution blutig auszufügen. Die Ausweisung der Ostjuden aus Bayern und der Pogrom in Berlin sind bloß zwei verschiedene Kapitel desselben Dramas, in dem Deutschland unter das blutige Joch einer Militärdiktatur gepresst werden soll. Den Machern dieser finsteren Machination ist der Antisemitismus letzten Endes nur ein Täuschungsmittel, um dem Volke die egoistischen Beweggründe ihrer krummen Transaktionen zu verbergen.Wer sind nun die sogenannten Ostjuden, die unseren Pogromhetzern seit Monaten zur Zielscheibe ihrer perfiden Angriffe dienen? Die meisten von ihnen gehören den Ärmsten der Armen an, welche die Furcht vor Pogromen aus Polen vertrieben und die hier eine Zuflucht suchten, um das nackte bisschen Leben in Sicherheit zu bringen. Durch brutale Gewalt aus ihrer Heimat hinausgehetzt, fristen sie hier ihr kärgliches Dasein, ohne jemand zu nahe zu treten. Gewiß gibt es auch unter den eingewanderten Ostjuden soziale Schädlinge, wie sie bei jedem anderen Volke und in jeder Klasse zu finden sind; aber es ist ein furchtbarer Wahn, zu glauben, dass ein ganzes Volk aus solchen Schädlingen besteht und die Allgemeinheit für die schlechten Handlungen einzelner verantwortlich machen zu wollen. Und dann gibt es noch eine Tatsache, die man nie aus dem Auge verlieren darf, wenn man zu einem gerechten Urteil kommen will. Wohl die meisten der wirklichen Schädlinge unter den eingewanderten Ostjuden sind durch den Zwang der Verhältnisse zu Handlungen gezwungen, die ihnen ursprünglich ganz ferne lagen. In ein fremdes Land verschlagen, das seit den letzten Jahren von endlosen wirtschaftlichen und politischen Krisen heimgesucht wird, müssen sie versuchen, ihr Fortkommen zu finden, und da ihnen in den meisten Fällen jede Gelegenheit zu einer ehrlichen Arbeit sogar durch gesetzliche Bestimmungen genommen ist, darf man sich nicht wundern, wenn einzelne unter ihnen auf einen schiefen Weg geraten, um so weniger als der krasse Egoismus, der sich heute in allen Kreisen der Gesellschaft bemerkbar macht, ihr Gewissen desto schneller zum Schweigen bringt.Aber was für einen Wert haben die paar jüdischen Devisen oder anderen Schieber im Scheunenviertel mit der Masse derjenigen, die ihr Vermögen und zahllose Werte ins Ausland verschoben haben, während die breiten Massen des werktätigen Volkes unter einem furchtbaren Hungerzustande leben? Sogar die schlimmsten unter ihnen sind die wahren Waisenknaben im Vergleich mit jeder Bande christlicher Volksausbeuter, die Deutschland gegenwärtig an der Gurgel halten und das Volk der Städte bei „Vollen Scheunen verhungern“ lassen.Als die englische Regierung über Deutschland die Blockade verhängte, wie entrüsteten sich da unsere Junker und Schwerindustriellen über die „Verbrecher, welche die Geißel des Krieges über wehrlose Frauen und schuldlose Kinder schwangen“. Und heute sehen wir, wie der niedrigste Egoismus unserer blaublütigen und rassereinen Agrarier es dazu brachte, die Hungerblockade im verwegensten Sinne des Wortes über ein ganzes Volk zu verhängen, dem man für seine Arbeitskraft wertlose Papierlappen als Entschädigung gibt, die unsere judenreinen Grundbesitzer sich einfach weigern, anzunehmen. Mögen darüber Millionen Deutscher am Hungertuche nagen, mögen 70 Prozent der Kinder in den Großstädten und Industriedistrikten an Unterernährung und Schwindsucht langsam zugrunde gehen; zum Teufel mit ihnen, solange nur die Interessen des Geldbeutels sichergestellt sind. Es sind nicht die Juden und besonders nicht die Ostjuden, welche dieses infame Verbrechen gegen ein ganzes Volk verüben, nein es sind das dieselben Herren, die stets in Antisemitismus machen und deren Presse von den Heldentaten im Berliner Judenviertel mit innerer Befriedigung Notiz genommen hat.Und wo sind die Juden unter unseren allmächtigen Großindustriellen, welche die Politik Deutschlands bestimmen und beeinflussen, die aus dem Völkermord eine Industrie gemacht und ungeheure Vermögen zusammenraffen, während draußen Millionen ins Gras beißen mussten, um mit ihren zerrissenen Gliedern und mit ihrem Herzensblute die Ehre ihres sogenannten Vaterlandes, das den anderen gehört, zu besiegeln? Die Herren Stinnes, Thyssen, Klöckner, Krupp usw. waren die eigentlichen Initiatoren der deutschen Ruhrpolitik, welche in der Wirklichkeit nur die Politik ihrer besonderen Klasseninteressen ist. Sie haben mitgeholfen, den passiven Widerstand der Arbeiter und Angestellten gegen den französischen „Erbfeind“ zu organisieren, aber in dem Moment, wo die Regierung, die sich bei ihnen im Schlepptau befand, nicht mehr weiter konnte, warteten sie nicht auf Herrn Stresemann und hatten ihre eigenen Verhandlungen mit dem Erbfeind. Herr Stinnes suchte sogar einen französischen General dazu zu bewegen, dass er den deutschen Arbeitern den Zehnstundentag wieder aufzwinge, denselben Arbeitern, mit denen er noch kurz vorher in einer Front stand, um die „Verbrecherpolitik Frankreichs“ zu bekämpfenUnter diesen teutschen Männern befinden sich, Gott sei Dank, keine Juden, und der raffinierteste jüdische Beutepolitiker könnte bei Herrn Stinnes getrost in die Schule gehen, er könnte sicher von ihm noch manches lernen.Und dieselben Klassen, an deren Fingern die Blutschuld des Krieges klebt, deren Reichtümer sich ins Ungemessene vergrößern, während die große Masse des werktätigen Volkes in Deutschland das Letzte verlor, sie sind es, welche die völkischen Geheimbünde mit ihrem Gelde speisen und deren antisemitische Propaganda und Pogromhetze direkt unterstützen.Daß es noch immer viele Tausende deutscher Arbeiter gibt, welche dieses blutige Spiel nicht durchschauen und sich vor den Wagen der fascistischen Reaktion spannen lassen, ist tief bedauerlich und legt kein glänzendes Zeugnis ab für die Intelligenz dieser Missleiteten. Daß aber sogar eine der gefeiertsten kommunistischen Führerinnen, Ruth Fischer, - selbst eine Jüdin – vor ungefähr zehn Wochen in einer Versammlung nationalistischer Studenten ausrufen konnte: „Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie“, das ist mehr wie Mangel an Intelligenz, das ist einfach ein Verbrechen gegen den Geist des Sozialismus, der zwischen jüdischem und christlichem Kapital keinen Unterschied macht. Auch hier sollte der Antisemitismus nur den Interessen einer Partei dienen, während er in der Wirklichkeit nur der Reaktion dient, wie die Erfahrung immer wieder bewiesen hat.In deutschen Arbeiterkreisen hat man über die sogenannten Ostjuden noch immer eine ganz falsche Vorstellung. Neunzig Prozent der jüdischen Bevölkerung in Russland, Polen und den übrigen Staaten, die einstmals mit Russland vereinigt waren, sind Proletarier in des Wortes typischster Bedeutung. In den Webereien und anderen Industriezweigen von Bialystok, Grodno, Kowno, Wilna, Warschau usw. arbeiten Tausende von jüdischen Arbeitern und kämpften stets in den ersten Reihen, wenn es sich um die Interessen der Arbeiterbewegung handelte. Dasselbe ist der Fall mit den jüdischen Proletariern auf der Ostseite Londons und New Yorks, die immer die ersten waren, wenn es galt, die Pflichten internationaler Solidarität zu erfüllen. Als 1914 der Krieg ausbrach und die gelbe Presse in England so lange hetzte, bis die fanatisierten Massen sich anschickten, Pogrome nicht auf die Juden, sondern auf die kleinen deutschen Geschäftsleute in London zu machen, da waren es organisierte jüdische Arbeiter, welche diesem Spuk entgegentraten, und welche die kleinen deutschen Ladenbesitzer mannhaft verteidigten gegen die tätlichen Angriffe der Pogromhetzer. Und die internierten deutschen Sozialisten und Gewerkschaftler wurden während der ganzen Dauer ihrer Gefangenschaft von den revolutionären Organisationen und Gewerkschaften der jüdischen Arbeiter auf der Ostseite materiell unterstützt. Während bekannte englische Sozialisten und Arbeiterführer wie Blatschford, Hyndman, Ben Tilett usw. sich von ihrem Chauvinismus so weit hinreißen ließen, dass sie sogar jedes freundschaftliche Band, das sie mit deutschen Sozialisten verband, zerrissen, haben die jüdischen Arbeiter ihre gefangenen deutschen Kameraden niemals vergessen und denselben vier Jahre lang ihre brüderlichste Solidarität durch Taten bewiesen, ohne jemals in ihrer Pflicht zu erlahmen und ungeachtet des Geschreis der Patrioten.Mögen die deutschen Arbeiter aller Richtungen die Kraft finden, der antisemitischen Pest mit aller Energie entgegenzutreten, denn sie ist nur die heuchlerische Maske, hinter welcher sich die Hydris der blutigsten und finstersten Reaktion verbirgt.

Rudolf Rocker - Der Kampf ums tägliche Brot

Revolutionen kommen selten in der „rechten Zeit“. In Perioden gesellschaftlicher Zersetzung begreift man zwar die Notwendigkeit einer gründlichen Umwälzung, die sich aus der ganzen Entwicklung der gesellschaftlichen Gegensätze folgerichtig ergeben muß, aber der Zeitpunkt des Zusammenbruchs bleibt äußerst unbestimmt. So kommt es, daß in der Phase, welche dem Ausbruch der revolutionären Ereignisse unmittelbar vorausgeht, die Dinge sich gewöhnlich so überstürzen, daß die Revolutionäre selber von den Begebenheiten überrascht werden und in der Regel auf nichts vorbereitet sind. Das ist auch die Ursache, warum sich jede Revolution in der ersten Phase ihres Entstehens so zögernd und tastend vorwärts bewegt und ihre Kräfte häufig in nutzlosen Kleinigkeiten verzettelt, anstatt rasch entschlossen die wichtigsten Hindernisse ihres endgültigen Triumphes aus dem Wege zu räumen und der schöpferischen Initiative neuer Ideen die Bahn zu ebnen.Erst allmählich entwickelt sich bei den aufständigen Massen das Bewußtsein der Kraft, die ihnen innewohnt, und drängt sie zu radikaleren Forderungen und kühneren Handlungen. Hat nun die Revolution einen solchen Umfang angenommen, der sie in den Stand setzt, ihre ersten tastenden Versuche zu überwinden und zu einschneidenden Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens zu schreiten, so werden ihre Errungenschaften ohne Zweifel größer sein und die Menschen ein gut Stück weiterführen, als wenn diese ersten Versuche von Anfang an gestört werden und dadurch eine weitere Entwicklung der schöpferischen Volksinstinkte unterbunden wird. Eine soziale Revolution aber, welche ungleich mehr als ein gewöhnlicher politischer Staatsstreich mit revolutionären Mitteln bedeutet, und die sich mit einer einfachen Namensänderung des parteipolitischen Aushängeschildes nicht begnügen kann, bedarf erst recht der Möglichkeiten für eine zielsichere Entfaltung ihrer schöpferischen Kräfte, da ihren Trägern von Anfang an eine grundlegende Veränderung aller gesellschaftlichen Einrichtungen, eine Erneuerung aller Formen des sozialen Lebens als Ziel vor Augen schwebt.Es ist daher auch grundfalsch und ein verhängnisvoller Irrtum, wenn man in der Revolution lediglich den gewaltsamen Umsturz alter Gesellschaftsformen erblicken will und ausschließlich die rein destruktive Seite ihres Wirkens in Betracht zieht. Der zerstörende Charakter einer Revolution ist lediglich eine ihrer Begleiterscheinungen, aber er erschöpft keineswegs ihr innerstes Wesen. Denn nicht bloß in dem, was sie zerstört, sondern ungleich mehr in dem, was sie Neues schafft und zur Entwicklung bringt, liegt die eigentliche Bedeutung der Revolution. Es sind letzten Endes ihre schöpferischen Tendenzen und Errungenschaften, nach welchen man später die soziale und historische Bedeutung einer Revolution beurteilen wird.Eine Revolution ist daher viel mehr und vielfach etwas ganz anderes wie eine gewöhnliche Revolte, obgleich auch diese von revolutionären Ideen getragen sein kann. Eine Revolution ist die Entfesselung aller bisher im Schoße der alten Gesellschaft wirkenden neuen Kräfte und Elemente, die eine Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens erstreben, und die nun, da der Moment der Reife gekommen ist, die alten Formen sprengen, um sich ein neues Leben nach ihren eigenen Bedürfnissen zu formen, dem Kinde vergleichbar, das im letzten Monat der Schwangerschaft die Hülle sprengt, um ein selbständiges Dasein zu beginnen. Und eine weitere Charakteristik der Revolution besteht darin, daß diese Erneuerung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse nicht von oben diktiert wird, sondern aus der direkten und unmittelbaren Aktion breiter Volksmassen emporblüht.Aber diese Verjüngung des sozialen Lebens durch die Revolution ist nur möglich durch die ununterbrochene Wirksamkeit der revolutionären Kräfte im Schoße der alten Gesellschaft, durch ihren inneren Zusammenschluß und die mehr oder weniger planmäßige Art ihres Vorgehens. Durch ihre unermüdliche Agitation innerhalb der alten Gesellschaft, ihre zersetzende Kritik der alten Lebensformen und die Entwicklung ganz neuer moralischer Wertschätzungen, gelingt es den Revolutionären allmählich, eine neue geistige Atmosphäre zu schaffen, durch deren stete Ausbreitung das Prestige der alten Einrichtungen und ihrer Träger fortgesetzt geschwächt wird, bis es endlich gänzlich in die Brüche geht. Breitere Schichten der unterdrückten Massen begreifen allmählich die Notwendigkeit einer gründlichen Änderung der sozialen Lebensverhältnisse und erfassen instinktiv die Möglichkeit neuer gesellschaftlicher Formen, welche den Interessen der Allgemeinheit entsprechen. Und dieses zunächst rein instinktive Erfassen neuer Lebensmöglichkeiten entwickelt sich bei vielen nach und nach zum bestimmten Bewußtsein.Ohne diese revolutionäre Erziehung der Massen wäre eine wirkliche Revolution überhaupt nicht möglich; sie bildet die erste Vorbedingung für die Möglichkeit der Revolution schlechthin. Aber ihre eigentliche und entscheidende Bedeutung bekommt die revolutionäre Agitation erst, wenn sie in den Alltagskämpfen um die tägliche Existenz ihren Ausdruck findet und sich sozusagen in praktische Aktion umsetzt. In den ununterbrochenen Kämpfen um die täglichen Notwendigkeiten des materiellen Lebens erstarken die Kräfte der Massen, entwickelt sich ihr Selbstbewußtsein, ihre Initiative, ihr soziales Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Kämpfe um wirtschaftliche und soziale Verbesserungen oder um größere politische Rechte und Freiheiten sind sozusagen die Vorpostengefechte der Revolution. Sie erwecken in den Massen die Instinkte des Widerstands und entwickeln das Gefühl ihrer menschlichen Würde. Je stärker diese Gefühle in den Massen vorhanden sind, je mehr ihre Hirne von den Ideen eines neuen gesellschaftlichen Lebens erfüllt sind, desto rascher schreiten wir der kommenden Revolution entgegen, desto größere Möglichkeiten sind uns gegeben für die endgültige Befreiung der Massen. Aus diesem Grunde dürfen wir die große Wichtigkeit der revolutionären Erziehung der Massen und ganz besonders die Bedeutung der alltäglichen Kämpfe im wirtschaftlichen und politischen Leben der Gesellschaft nie außer acht lassen, wenn wir der Revolution die Wege bereiten und eine bessere Zukunft vorbereiten wollen.Wenn wir die Revolution in diesem Sinne auffassen und diesen Maßstab an die Novemberereignisse des Jahres 1918 anlegen, so können wir uns nicht verhehlen, daß jene Begebenheiten herzlich wenig mit einer wirklichen Revolution zu tun hatten. Die deutsche Novemberrevolution war nicht der elementare Ausbruch eines empörten Volkes, das mit fester Entschlossenheit an eine gründliche Änderung seiner bisherigen Lebensbedingungen herangeht; es war vielmehr der rettungslose Zusammenbruch eines Systems, das sich im Kriege vollständig abgewirtschaftet hatte und nun unter den siegreichen Waffen seiner militärischen Gegner zum Abdanken gezwungen war. Es war nicht der Wille eines erwachten Volkes, der hier zum Ausdruck kam, sondern das Machtgebot der alliierten Regierungen, welches die Zertrümmerung des kaiserlichen Regimes herbeiführte. In dieser Tatsache liegt eigentlich die ganze Tragödie der deutschen Revolution.In der Tat, was konnte man von einer Revolution erwarten, wenn das Zentralorgan der Sozialdemokratie, die bisher den stärksten Einfluß auf die werktätigen Massen in Deutschland hatte, noch am Vorabend der revolutionären Novemberereignisse seinen Lesern sagen zu müssen glaubte, daß das deutsche Volk für eine Republik noch nicht reif sei. Gewiß gab es auch eine Anzahl entschlossener Revolutionäre unter der deutschen Arbeiterschaft, aber ihre Zahl war so gering, daß sie an der Lage der Dinge nichts ändern konnten.Die deutsche Revolution war kein Ergebnis eines inneren Dranges, der jahrzehntelang in einem Volke brauste und gärte, bis er endlich die alten Formen zum Bersten brachte und sich zu selbständigem Leben durchrang. Sie war bloß das Endergebnis eines verlorenen Krieges, die letzte Rettungsplanke, die allein aus der zusammengebrochenen alten Herrlichkeit zum Frieden führen konnte. Es fehlte ihr darum der innere Schwung, die lebendige Initiative, der schöpferische Drang, die eine Bewegung erst zur Revolution machen. Es gab wohl kaum eine andere Revolution, welche so erschreckend arm an schöpferischen Gedanken war und sich fast ausschließlich mit schlechten Kopien alter Vorbilder begnügte, wie die deutsche Novemberrevolution 1918.Allerdings gab es vor dem Kriege auch keine sozialistische Arbeiterbewegung, die in allen ihren theoretischen Voraussetzungen so hoffnungslos dogmatisch eingestellt und in ihrer praktischen Tätigkeit so wenig an die schöpferische Initiative der Massen appellierte wie die deutsche. Die ganze deutsche Sozialdemokratie war fast nichts anderes als eine riesige Wahlmaschine, deren Tätigkeit sich nahezu ausschließlich in der Vorbereitung und Durchführung der einzelnen Wahlgänge erschöpfte. So konnte es denn nicht ausbleiben, daß die breiten Massen der deutschen Arbeiterschaft, welche der Sozialdemokratie Heeresfolge leisteten, sich um das Wie einer sozialen Umwälzung überhaupt nicht kümmerten und alles Heil von oben erwarteten. In keinem anderen Lande war denn auch die Führergläubigkeit der Massen so stark entwickelt, wie in Deutschland. Die Gewerkschaften aber, die in ihrer Entwicklung vollständig von sozialdemokratischen Ideengängen beeinflußt waren, versandeten völlig im seichtesten Reformismus und bildeten lediglich noch Vermittlungsorgane zwischen Kapital und Arbeit, die jede revolutionäre Initiative weit von sich wiesen.Niemals beschäftigte man sich in den Gewerkschaften, noch in den sozialistischen Parteiorganisationen mit der Frage der Übernahme der Produktion durch die wirtschaftlichen Verbände der Arbeiter. Niemals legte man den Arbeitern nahe, daß das Hauptaugenmerk der sozialistischen Erziehung sich auf die Entwicklung der administrativen Fähigkeiten in der Arbeiterklasse richten müsse, die sie allein in den Stand setzen können, die Reorganisation der Produktion und des Konsums auf sozialistischer Basis vorzubereiten und durchzuführen. In der ganzen gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Literatur Deutschlands vor dem Kriege gibt es keine einzige Broschüre, in welcher man diesen wichtigen Fragen nähergetreten wäre, um konstruktive Richtlinien zu entwerfen, die für die praktische Verwirklichung des Sozialismus von ausschlaggebender Bedeutung sind. Im Gegenteil, man verschrie alle diejenigen, welche die unbedingte Notwendigkeit einer solchen Betätigung erkannten, als unverbesserliche Utopisten, die vom „wissenschaftlichen Sozialismus“ keine blasse Ahnung hätten.War es daher ein Wunder, wenn die sogenannte deutsche Revolution über hohle Schlagworte nicht hinauskam und besonders auf wirtschaftlichem Gebiete vollständig versagte? Die ganze geistige Einstellung, welche die deutsche Arbeiterschaft durch die Sozialdemokratie erfahren hatte, brachte es eben mit sich, daß sie den wirtschaftlichen und sozialen Problemen völlig ratlos gegenüberstand, als ihr die Revolution die Macht in die Hände spielte.Als der Krieg militärisch zu Ende war und das alte System in sich zusammenstürzte, konnte es nicht ausbleiben, daß breite Massen deutscher Arbeiter sich von der Sozialdemokratie abwendeten, die während der ganzen Zeit des Krieges mit den Trägern des alten Systems durch dick und dünn gegangen war und in jedem kritischen Moment ihren ganzen Einfluß in die Wagschale warf, um das alte Regime am Leben zu erhalten. Wenn man heute Herrn Ebert und seinen Getreuen vorwirft, daß sie während des Krieges Landesverrat verübt hätten, so tut man ihnen bitteres Unrecht, und die Ankläger, die sich in ihren Beschuldigungen lediglich von politischen Augenblickserwägungen leiten lassen, wissen das selber am besten. Damals aber dachte man auf jener Seite nicht daran, solche Anklagen zu erheben, wußte man doch zu gut, daß sich das bedrohte Bürgertum nur an den Krücken der Sozialdemokratie wieder aufrichten konnte. In den Massen aber wurden viele an der Sozialdemokratie irre, deren Träger auch nach dem Kriege überall versagten, wo es galt, einer neuen Zukunft die Wege zu bahnen. Und da es leichter ist, ein „J'accusel“ (Ich klage an!) in die Welt zu schleudern, als geschehene Dinge richtig zu deuten und aus der gewonnenen Erkenntnis Nutzen für die Zukunft zu ziehen, so klagten die von Hunger und Entbehrungen aller Art zermürbten Massen die sozialdemokratischen Führer des Verrats an der Arbeiterbewegung an, ohne zu begreifen, daß die ganze Stellung der Partei zum Kriege durch ihre geistige Einstellung bedingt und schon im voraus gegeben war.Sogar die geistigen Wortführer der Opposition, die sich während des Krieges innerhalb der alten Partei entwickelt hatte und sich später von ihr abspaltete, schienen nicht zu verstehen, daß es sich hier weniger um den Verrat einer bestimmten Führergruppe handelte, als um die schauerliche Auswirkung einer Methode, auf welche der Staatssozialismus seit Jahrzehnten die Massen einzustellen suchte, und die letzten Endes dazu führen mußte, daß die gewerkschaftliche und politische Arbeiterbewegung sich mehr und mehr als Organ und notwendiges Zubehör des nationalen Staates entwickelte.Es begann nun die Zeit der Spaltungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung, die mit der Zeit einen geradezu krankhaften Charakter annahmen. Hatte man früher die Einheit der Partei zum unantastbaren Dogma erhoben, an dem nicht gerüttelt werden durfte, obwohl diese fiktive Einheit die inneren Gegensätze nur mühsam verkleistern konnte und lediglich den Zweck verfolgte, der Außenwelt den Schein der Geschlossenheit vorzutäuschen, so fiel man nun - wie das in solchen Situationen gewöhnlich der Fall ist - in das andere Extrem und rief um jeder Nichtigkeit willen immer neue Spaltungen hervor. So konnte es denn nicht ausbleiben, daß die Atmosphäre immer mehr vergiftet und die gesamte Arbeiterbewegung so zerklüftet und zerrissen wurde, bis ihre Feinde, welche die inneren Kämpfe der deutschen Arbeiterschaft sehr geschickt auszunutzen verstanden und ihre durch die Revolution zerstreuten Kräfte überraschend schnell reorganisieren konnten, ein leichtes Spiel mit ihr hatten.Jedes miserable Schlagwort, hinter dem sich kein Funke von Geist verbarg, gab Anlaß zu neuen Spaltungen und heftigen Auseinandersetzungen. Jeder Regentag brachte neue Parolen, von denen eine immer blöder war als die andere. Besonders die Kommunistische Partei, deren Träger nie einen selbständigen Gedanken zu entwickeln verstanden und lediglich Mundstücke der Moskauer Exekutive waren und sind, hat sich in dieser Hinsicht auf eine Weise hervorgetan, die schlechterdings nicht mehr überboten werden kann. Würde man all die Parolen dieser jedes freiheitlichen Empfindens baren Richtung, von denen die eine der anderen stets ins Gesicht schlug, einmal chronologisch ordnen und aneinanderreihen, so käme ein politischer Heringssalat zustande, der einem den Glauben an den gesunden Menschenverstand gründlich verderben könnte.Das Schlimmste war, daß durch diese endlosen Spaltungen sich vielfach ein ganz überspannter „Radikalismus“ entwickelte, der sich in sinnlosen Schlagworten förmlich überschlug und die vernünftigsten Ideen in grausame Zerrbilder verwandelte. So wurde jede an sich bedeutungsvolle Erkenntnis zur sinnlosen Karikatur, aus der man nur in den seltensten Fällen einen gesunden Kern herausfinden kann. Man gewöhnte sich daran, Ideen nicht auf ihren inneren Wert hin zu prüfen, sondern beurteilte dieselben lediglich nach der parteipolitischen Etikette ihres Ursprungs und verurteilte dieselben im vornhinein, wenn sie einem Lager entstammten, dem man Kampf geschworen hatte. Lagen aber die Dinge so, daß man notgedrungen nach einer bestimmten Maxime handeln mußte, so suchte und sucht man sich in der äußeren Aufmachung der Parolen gegenseitig geräuschvoll zu überbieten, je nach dem Grade des „Radikalismus“, den man angeblich vertritt. Man schlägt die tollsten Purzelbäume und gefällt sich in dem hysterischen Geschrei heulender Derwische, um ja nicht in den Verdacht zu kommen, ein „Gemäßigter“ zu sein. Und dieses blöde Possenspiel, das in Wirklichkeit nur eine Hanswurstiade ist, nennt man dann „revolutionäre“ Propaganda. Es ist deshalb auch nicht weiter verwunderlich, daß man in den Kreisen sogenannter „Radikaler“ zu Schlüssen gelangte, die jeder gesunden Auffassung der Dinge Hohn sprechen, und die letzten Endes, wenn auch ungewollt, nur der sozialen Reaktion Vorschub leisten müssen.Eine der schlimmsten und verhängnisvollsten Erscheinungen innerhalb der radikal eingestellten Arbeiterbewegung besteht darin, daß man sich in manchen Kreisen daran gewöhnt hat, jeden Kampf für eine höhere Lebenshaltung oder für Verbesserungen wirtschaftlicher und politischer Natur aus angeblich prinzipiellen Gründen rundweg abzulehnen mit der Begründung, daß solche Versuche innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft total aussichtslos seien und die Arbeiter nur auf Abwege leiten könnten. Man spricht in jenen Kreisen stets von einem „Kampf um das Ganze“ und erblickt in jedem Eintreten für momentane und praktische Ziele ein von sozialreformistischen Erwägungen diktiertes Vorgehen, das nur dazu führen kann, in der Arbeiterschaft falsche Hoffnungen zu erwecken und sie ihrem revolutionären Endziel zu entfremden.Diese verhängnisvolle Auffassung beruht auf zwei fundamentalen Irrtümern, die zwar schon längst als solche erkannt sind, die aber von Zeit zu Zeit immer wieder von neuem auftauchen und die noch ungeklärten Elemente in der Arbeiterbewegung häufig zu ganz falschen Schlußfolgerungen verleiten.Die erste dieser Auffassungen geht von dem Standpunkt aus, daß man angebliche Verbesserungen innerhalb der heutigen Gesellschaft schon deshalb als konterrevolutionär prinzipiell ablehnen müsse, weil die sogenannten Arbeiterparteien solche Verbesserungen auf dem Wege der Gesetzgebung und parlamentarischer Reformen zugunsten der Arbeiter anstreben.Der zweite Irrtum findet seine Wurzel in der falschen Vorstellung, daß eine Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse des Proletariats innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung überhaupt nicht möglich sei, weil ja die allgemeine Lebenshaltung des Arbeiters sich schon deshalb stets gleichbleiben müsse, weil eine Steigerung der Löhne unvermeidlich zu einer Steigerung der Preise führe, andererseits der Kapitalist aber durch die Gesetze der Wirtschaft selbst gezwungen sei, den Arbeiter so zu entlohnen, daß er mit dem empfangenen Gehalt oder Lohn seine durchschnittlichen Lebensbedürfnisse bestreiten könne.Zu diesen beiden Auffassungen gesellt sich gewöhnlich noch eine dritte, die nicht minder anfechtbar ist - der Glauben, daß durch ein Überhandnehmen des sozialen Elends der revolutionäre Geist der Arbeiter gestärkt und ihre Empörung gegen das bestehende System sich endlich in Taten umsetzen werde. Diese naive Auffassung verdient wohl kaum, daß man näher darauf eingeht. Die Geschichte und die praktischen Erfahrungen der letzten Jahre haben uns genugsam gezeigt, daß allzu großes Elend nie ein revolutionärer Faktor in unserem Sinne gewesen ist. Im Gegenteil, es stumpft die Menschen ab und zermürbt sie geistig und seelisch. Menschen, die auf die Dauer großem Elend und direktem Hunger ausgesetzt sind, werden dadurch nicht revolutionärer, sie degenerieren vielmehr und entwickeln die knechtseligsten Instinkte. Der Hunger wirkt gewöhnlich nur dann revolutionär, wenn er plötzlich kommt, z. B. infolge großer wirtschaftlicher Krisen, das heißt also, wenn die Erinnerung an eine bessere Lebenshaltung in den Menschen noch lebendig ist und zu naheliegenden Vergleichen herausfordert. Physischer Hunger treibt Menschen im besten Falle zur Verzweiflung, aber er ist nie imstande, jene schöpferischen Instinkte im Volke zu erwecken, die jeder Revolution unentbehrlich sind. Das ist auch die Ursache, weshalb alle Revolutionen, von denen uns die Vergangenheit Kunde gibt, nie zum Ausbruch kamen, wenn das Elend am schwersten auf den Menschen lastete, sondern stets in Perioden, wenn die allgemeinen Lebensverhältnisse sich bereits wieder etwas gebessert hatten und in den Menschen wieder neue Hoffnungen erwachten. Wie wenig außergewöhnliches Elend die Massen mit revolutionärem Geiste erfüllt und ihre Initiative zum Handeln anregt, das haben wir ja während der sogenannten Inflationsperiode am besten beobachten können. Die Arbeiter ließen sich in jener furchtbaren Zeit den Achtstundentag und fast alle anderen wirtschaftlichen Errungenschaften der Revolution von dem Unternehmertum widerstandslos entreißen, aus Furcht, sonst noch mehr leiden zu müssen.Was nun die erste Behauptung anbetrifft, daß wir als Revolutionäre alle Versuche, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft wirtschaftliche, soziale und politische Verbesserungen zu erringen, prinzipiell ablehnen müßten, weil es gerade diese Taktik gewesen, durch welche die parlamentarisch eingestellten Arbeiterparteien und Gewerkschaften die Arbeiter auf schiefe Wege geleitet und ihnen das Verständnis für ihre endgültige Befreiung genommen hätten, so läßt sich dazu nur sagen, daß eine solche Auffassung der Dinge von durchaus falschen Voraussetzungen ausgeht und Erscheinungen verwechselt, die man unter keinen Umständen miteinander verwechseln darf, wenn man den Sinn der Arbeiterbewegung nicht in direkten Unsinn umformen will.Wir unterscheiden uns taktisch von den politischen Arbeiterparteien und den unter ihrem geistigen Einfluß stehenden Zentralverbänden keineswegs dadurch, weil diese schon heute Verbesserungen für die Arbeiter erstreben, die wir ablehnen, sondern lediglich dadurch, daß wir über die Mittel, durch welche solche Verbesserungen errungen werden, verschiedener Ansicht sind. Kein Mensch mit fünf gesunden Sinnen, und wäre er der größte Revolutionär vor dem Herrn, wird behaupten wollen, daß ihm die Lebenslage des Arbeiters vollständig gleichgültig ist, besonders nicht, wenn er selbst im Betriebe tätig ist. Kein Mensch, dessen Hirn nicht irgendwie defekt ist, wird zu behaupten wagen, daß es ihm nicht darauf ankomme, wenn er und seine Kameraden zehn und zwölf anstatt acht Stunden arbeiten müssen, wenn der Lohn, den sie empfangen, gerade langt, um sich von trockenem Brote und Kartoffeln nähren zu können, anstatt daß auch noch etwas übrigbleibt, um andere Bedürfnisse zu befriedigen. Was uns in dieser Hinsicht von den Anhängern der modernen Arbeiterparteien unterscheidet, ist nicht der Zweck, sondern die Methode.Die Erfahrung hat uns gezeigt, daß Verbesserungen irgendwelcher Art nicht auf dem Wege der parlamentarischen Gesetzgebung zu erreichen sind, daß Regierungen und Parlamente sich niemals aus rein platonischen Gründen entschließen, den Massen irgendwelche Konzessionen zu machen. Parlamentarische Reformen kommen immer erst dann, wenn das dringende Bedürfnis für gewisse Verbesserungen breite Massen des Volkes erfaßt hat und sich in direkte und revolutionäre Aktionen umsetzt, bis die allgemeine Unzufriedenheit endlich einen solchen Grad erreicht, daß die Regierenden sich nunmehr entschließen müssen, den Forderungen des Volkes entgegenzukommen und die Unzufriedenheit durch gewisse Reformen zu beschwichtigen. Alle Reformen auf den verschiedensten Gebieten des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens sind auf diese Weise zustande gekommen. Entweder sah sich die Regierung gezwungen, den dringendsten Bedürfnissen des Volkes bis zu einem gewissen Grade Rechnung zu tragen, oder die Massen hatten sich durch ihre Aktionen außerhalb der Parlamente bereits selber gewisse Verbesserungen errungen, die nun nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten, so daß den gesetzgebenden Körperschaften schließlich nichts anderes übrig blieb, als denselben den gesetzlichen Stempel aufzudrücken, sie zu sanktionieren.So wäre das berühmte Zehnstundengesetz in England, von dem Marx sagte, daß es die Wiedergeburt des Proletariats bedeute, nie zustande gekommen, ohne die zahllosen, mit schweren Opfern verbundenen Kämpfe der englischen Arbeiterschaft, die sich in ihren Gewerkvereinen ein Werkzeug geschaffen hatte, um ihren Forderungen Geltung zu verschaffen. Erst als ganze Industrien und zahlreiche Gewerke den Zehnstundentag bereits errungen hatten, beeilte sich das englische Parlament, dieser gesellschaftlichen Reform den gesetzlichen Stempel aufzudrücken. Ähnlich liegen die Dinge mit allen anderen angeblich parlamentarischen Reformen, die für die breiten Massen wirklich eine Bedeutung hatten.Aus eigener Initiative entschließen sich Regierungen und Parlamente nur in ganz seltenen Fällen zu gewissen Reformen, und wo dies wirklich bisher geschah, fanden diese angeblichen Verbesserungen keinen Widerhall und kein Verständnis im Volke, so daß sie nur tote Buchstaben blieben in dem großen Wust der Gesetze. So hatten die schüchternen Versuche des englischen Parlaments in der Frühperiode des Kapitalismus und der Großindustrie, als die Gesetzgeber, erschreckt durch die furchtbaren Ergebnisse der Fabrikausbeutung, die sich in einer immer mehr überhandnehmenden Degeneration der Arbeiterschaft kundgab, sich anschickten, durch Gesetze die ungeheuerliche Ausbeutung besonders der Proletarierkinder milder zu gestalten, gar keine Wirkung. Sie bestanden lediglich auf dem Papier, da sie einerseits dem stumpfsinnigen Egoismus der Arbeiter, welche damals noch auf einer sehr tiefen Entwicklungsstufe standen, kein Verständnis abnötigen konnten, und andererseits von den Unternehmern direkt sabotiert wurden.Ähnlich ging es mit dem bekannten Gesetz, welches das italienische Parlament in der Mitte der 90er Jahre erlassen hatte, um den Frauen, die in den Schwefelgruben Siziliens arbeiten mußten, das Mitnehmen ihrer Kinder nach ihren Arbeitsstätten zu untersagen. Dieses Gesetz blieb ebenfalls ein toter Buchstabe, weil diese unglücklichen Frauen so schmählich entlohnt wurden, daß sie einfach gezwungen waren, dem Gesetz zuwiderzuhandeln. Erst viel später, als es gelungen war, die Arbeiterinnen zu organisieren und infolgedessen ihre Lebenshaltung wesentlich zu heben, begann das Übel zu verschwinden. Solche Beispiele könnte man in wahlloser Menge anführen. Die moderne Geschichte jedes Landes ist voll davon.Aber sogar die gesetzliche Bestätigung einer gewissen Reform ist noch lange keine Garantie für ihren Bestand, solange ihre Errungenschaften den Massen nicht in Fleisch und Blut übergegangen sind und jeder Versuch des Unternehmertums, dieselbe wieder rückgängig zu machen oder auf eine kluge Weise zu umgehen, eine offene Empörung der Arbeiter zur Folge haben würde. So haben wir gesehen, daß die englischen Unternehmer trotz des im Jahre 1848 durchgeführten Zehnstundengesetzes bald darauf eine industrielle Krise ausnutzten, um die Arbeiter zu zwingen, wieder elf und sogar zwölf Stunden zu arbeiten. Als die Fabrikinspektoren sich anschickten, gegen einzelne Unternehmer gerichtlich vorzugehen, wurden die Angeklagten nicht bloß freigesprochen, die Regierung gab sogar den Inspektoren einen Wink, sich nicht „an den Buchstaben des Gesetzes zu halten“, so daß die Arbeiter, als die wirtschaftliche Konjunktur wieder besser wurde, noch einmal gezwungen waren, sich den Zehnstundentag aus eigener Kraft zu erkämpfen.Aber wir haben ja während der letzten Jahre in Deutschland dieselbe Erfahrung machen müssen. Die spärlichen wirtschaftlichen Errungenschaften, welche die Novemberrevolution uns beschert hatte, unter denen der Achtstundentag die bedeutendste war, wurden der deutschen Arbeiterschaft von dem Unternehmertum fast restlos wieder entrissen, trotzdem der Achtstundentag gewissermaßen in der Gesetzgebung oder in der Konstitution der Republik gesetzlich „verankert“ war.Verbesserungen werden also den Regierungen durch den Druck der Massen außerhalb der Parlamente direkt abgenötigt, und je stärker sich dieser Druck bemerkbar macht und den Regierern auf den Fingernägeln brennt, um so einschneidender werden ihre Reformen sein. Da aber der oberflächliche Beobachter, dessen Blick bloß auf die Äußerlichkeit der Dinge eingestellt ist, in der Regel nur die mit großem öffentlichen Aplomb parlamentarisch ins Werk gesetzten Reformen zu sehen vermag und ihm die inneren Zusammenhänge und tieferliegenden Gründe derselben gänzlich entgehen, so kann es nicht ausbleiben, daß er die Wirkung mit der Ursache der Erscheinungen verwechselt und aus diesem Grunde ein eifriger Befürworter der parlamentarischen Betätigung wird. Er sieht nur das Gesetz und vergißt ganz und gar die äußeren Ursachen, welche zu dem Zustandekommen desselben entscheidend beigetragen haben. So geht ihm die Erkenntnis für die eigentliche Bedeutung großer Massenaktionen nur schwer auf, besonders in Ländern wie Deutschland, wo sein Glaube an die große Wirksamkeit der parlamentarischen Tätigkeit durch eine stark entwickelte Arbeiterpartei in jeder Weise gefördert wird.Aber in derselben Position befindet sich auch mancher angeblich radikal und revolutionär eingestellte Arbeiter, der geneigt ist, jede Verbesserung wirtschaftlicher oder politischer Natur innerhalb der heutigen Gesellschaft als zwecklos und irreführend abzulehnen, weil er sich eingeredet hat, daß der Kampf für dergleichen Dinge lediglich ein Monopol der politischen Arbeiterparteien sei. Auch er verwechselt Dinge verschiedener Art miteinander und verliert sich infolge seiner falschen Voraussetzungen in einer sinnlosen Phraseologie, die ihm den Mangel klarer Ideen und Gedankengänge ersetzen muß.Wiederholen wir es noch einmal: Wir unterscheiden uns von den Anhängern parlamentarischer Methoden nicht dadurch, weil diese die Notwendigkeit wirtschaftlicher, sozialer und politischer Verbesserungen anerkennen und wir dieselben prinzipiell ablehnen und nur dann mittun wollen, wenn es einmal um die Abschaffung der Lohnsklaverei im allgemeinen gehen wird. Nein, auch wir anerkennen die Notwendigkeit beständiger Verbesserungen innerhalb der heutigen Gesellschaft, und unser sozialistisches Endziel wäre nicht mehr wie eine Schatzanweisung auf den Mond, wenn wir uns den fortgesetzten Kämpfen um diese Verbesserungen entziehen wollten. Aber wir unterscheiden uns von den anderen durch die Wahl der Mittel und durch den revolutionären Inhalt unserer Methoden. Wir sind der Meinung, daß jede Verbesserung in der Lebenshaltung des Arbeiters innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ebenso wie die endgültige Befreiung des Proletariats nicht in den gesetzgebenden Körperschaften des modernen Klassenstaates durchgeführt werden können, sondern einzig und allein durch die direkte und revolutionäre Aktion der Arbeiterschaft außerhalb der Parlamente und ganz besonders durch den aktiven Kampf ihrer revolutionären Wirtschaftsorganisationen. Nicht auf dem Gebiete parlamentarischer Politik liegt die Stärke des modernen Lohnarbeiters, sondern auf dem Gebiete der Produktion, in seiner Eigenschaft als Produzent und Schöpfer gesellschaftlicher Werte.Alle wirtschaftlichen Errungenschaften und Verbesserungen, welche die Arbeiter sich im Laufe der Jahrzehnte erstritten haben, haben sie nicht den Parlamenten, sondern ihren wirtschaftlichen Organisationen und den alltäglichen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit zu verdanken. Die parlamentarische Betätigung hat nur dazu beigetragen, diese Errungenschaften zu verzögern und ihren Erfolg abzuschwächen. Denn wer auf die Hilfe von oben wartet, hat wenig Eile, sich in eigener Person für neue Rechte einzusetzen.Wir haben gerade in Deutschland, wo die Arbeiterschaft von Anfang an der parlamentarischen Tätigkeit huldigte, so manches Schulbeispiel für die Richtigkeit dieses Erkennens. Ich erinnere nur an den großen Kampf in der Textilindustrie von Crimmitschau im Jahre 1904. Crimmitschau gilt als eines der ältesten Bollwerke der Sozialdemokratischen Partei, allein die wirtschaftliche Lage der Weberbevölkerung blieb stets die denkbar schlechteste. Im Jahre 1882 war es einem Teil der Arbeiter gelungen, den Elfstundentag zu erringen, während die große Mehrheit noch zwölf und dreizehn Stunden fronen mußte, bis es Mitte der 80er Jahre endlich gelang, den Elfstundentag auch auf andere Teile der Textilindustrie auszudehnen. Von damals an aber bis 1904 waren die Arbeiter nicht mehr imstande, ihre Arbeitszeit um eine Minute zu kürzen. Nicht nur das: ihre allgemeine Lebenslage wurde von Jahr zu Jahr erbärmlicher, und sie mußten die schamlose Ausbeutung eines herrenstolzen Unternehmertums willig über sich ergehen lassen, ohne sich auch nur zur Wehr setzen zu können. Denn obzwar sie bei allen Wahlen geschlossen für die Sozialdemokratie stimmten und, wenn ich nicht irre, sogar sozialdemokratische Vertreter im Kirchenrate sitzen hatten, lag aber ihre gewerkschaftliche Organisation sehr im argen.So zahlte man den Webern bei der Einführung des mechanischen Webstuhls für ein sogenanntes „Band“ von sechs Leipziger Ellen (das alte Maß wurde auch später beibehalten) 1,20 Mark. Später aber setzte man den Arbeitspreis auf 1 Mark und endlich gar auf 90 Pfennig herab. Damit nicht genug, wendeten die Fabrikanten direkt betrügerische Mittel an, um die Arbeiter um einen Teil ihres schwer verdienten Lohnes zu prellen. Man verlängerte allmählich die „Bande“ von sechs auf sieben Ellen, so daß die Weber für jedes Stück Ware sieben bis acht Ellen zu weben hatten, für die sie keine Bezahlung erhielten.Vergeblich unterschrieben fast alle Crimmitschauer Arbeiter die sozialdemokratische Petition für den Arbeiterschutzgesetzentwurf; vergebens wies man darauf hin, daß die überlange Arbeitszeit besonders bei den Frauen schwere Schädigungen der Organe verursache und die Kindersterblichkeit gerade in Crimmitschau außerordentlich groß sei. Alles Appellieren an die gesetzgebenden Körperschaften hatte keinen Erfolg, und da die Arbeiter nicht imstande waren, ihren Forderungen durch eine entsprechende gewerkschaftliche Organisation Nachdruck zu verschaffen, so blieb es die ganzen langen Jahre fast ausschließlich beim Petitionieren. Die Arbeiter blieben nach wie vor einem stockreaktionären Unternehmertum, das aus der Haut der Proleten buchstäblich Riemen schnitt, auf Gnade und Ungnade preisgegeben.Als man endlich zwanzig Jahre später sich dazu entschloß, einen Versuch zu wagen, den Zehnstundentag einzuführen, hatte das Unternehmertum für diese so berechtigte Forderung nur ein kategorisches Nein übrig. Als darauf zirka 600 Arbeiter ihre Kündigung einreichten, beantworteten die Fabrikanten dies mit einer allgemeinen Aussperrung. So kam es, daß von einer Bevölkerung von 23.000 Seelen 9.000 feiern mußten. Aber während das Unternehmertum vor keinem Mittel zurückschreckte und durch einen rücksichtslosen Terrorismus die Empörung der gesamten Arbeiterschaft Deutschlands und im Auslande hervorrief, wagten die Arbeiter, die im Kampfe standen, überhaupt nicht, ihre Machtmittel zu entfalten und den Fabrikanten mit gleicher Münze heimzuzahlen. Die Gewerkschaften begnügten sich mit der Finanzierung der Ausgesperrten. Man begriff nicht, oder wollte nicht begreifen, daß gerade deshalb, weil man bisher den Generalstreik nur als Generalblödsinn hinzustellen beliebte, das Unternehmertum nur um so skrupelloser die Generalaussperrung gegen die Arbeiter ins Feld führen konnte, wußte man doch in jenen Kreisen nur zu gut, daß man von der anderen Seite nichts Ernstliches zu befürchten hatte.So konnte es denn nicht ausbleiben, daß auch der Kampf von 1904 an der Unzulänglichkeit der gewerkschaftlichen Kampfmittel, die man in Anwendung brachte, für die Arbeiter verlorengehen mußte und mit einer vollständigen Niederlage der Weber sein Ende erreichte, obwohl in der Streikkasse noch erhebliche Mittel vorhanden waren. Der Streik wurde von den Gewerkschaftsführern einfach abgeblasen, wobei man die fadenscheinige Ausrede gebrauchte, daß es den Arbeitern nicht gleichgültig sein könne, wenn durch die Hartnäckigkeit des Unternehmertums ihre Vaterstadt ruiniert werde. Das Unternehmertum aber, das von solchen Skrupeln nicht geplagt wurde, fragte den Teufel nach dem Wohl und Wehe der Vaterstadt, sondern hatte nur ein Ziel vor Augen - den Arbeitern den Fuß in den Nacken zu setzen und jeden Widerstand erbarmungslos niederzuschlagen.Niemals hätten die Fabrikanten gewagt, den Arbeitern solches zu bieten, wenn sie nicht überzeugt gewesen wären, daß sich die Gewerkschaftsoligarchie nie zu einer energischen Kampfführung aufraffen würde, und voraussichtlich alle Mittel anwenden werde, um eine Übertragung des Kampfes auf andere Industriegebiete zu verhindern. Die Arbeiter aber, die sich seit langem daran gewöhnt hatten, in den Ratschlägen ihrer Führer die Hand der Vorsehung zu erblicken, fügten sich widerstandslos diesem Beschluß, der sie zu jener schmählichen Kapitulation bewegte. Hier sah man so recht deutlich die Folgen einer Erziehung, welche den Arbeitern vorspiegelt, daß ihnen nur Heil von oben erwachsen könne und infolgedessen schon im vornherein jeden echten Kampfeswillen unter ihnen zermürbt und systematisch untergräbt. Solche Beispiele ließen sich leider noch viele anführen, trotzdem wird der Kampf der Weber von Crimmitschau sogar in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ein Kapitel für sich bleiben, da er uns diese Wahrheit mit geradezu klassischer Deutlichkeit vor Augen führte und sogar weit über die Grenzen Deutschlands hinaus die Arbeiterschaft zu ernsten Betrachtungen anregte.Was nun jene andere Behauptung anbetrifft, derzufolge eine Verbesserung der proletarischen Lebenslage innerhalb der heutigen Gesellschaft überhaupt nicht möglich sei, weil jede Lohnerhöhung unwiderruflich eine Steigerung der Preise nach sich ziehen müsse, das Unternehmertum aber andererseits gezwungen sei, den Arbeitern so viel in Gestalt von Löhnen auszuzahlen, als dieselben zur Befriedigung ihrer durchschnittlichen Lebensbedürfnisse unbedingt notwendig haben, so steht auch diese Voraussetzung mit den Erfahrungen der praktischen Wirklichkeit im schreiendsten Widerspruch.In der Wirklichkeit ist diese Auffassung, die heute wieder in sogenannten „radikalen“ Kreisen eine Rolle spielt, nicht mehr und nicht weniger als eine teilweise Wiederauferstehung der alten, durch die Tatsachen des Lebens längst widerlegten Theorie vom „ehernen Lohngesetz“, das Lassalle und seinen Anhängern als unumstößliche Wahrheit vor Augen schwebte. Im „Offenen Antwortschreiben“ definierte Lassalle dieses angebliche ökonomische Gesetz in folgender Weise:„Das eherne ökonomische Gesetz, welches unter den heutigen Verhältnissen unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage nach Arbeit den Arbeitslohn bestimmt, ist dieses: daß der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist. Dies ist der Punkt, um welchen der wirkliche Tageslohn in Pendelschwingungen jederzeit herumgravitiert, ohne sich jemals lange weder über denselben erheben, noch unter denselben hinunterfallen zu können. Er kann sich nicht dauernd über diesen Durchschnitt erheben - denn sonst entstünde durch die leichtere, bessere Lage der Arbeiter eine Vermehrung der Arbeiterehen und der Arbeiterfortpflanzung, eine Vermehrung der Arbeiterbevölkerung und somit des Angebots von Händen, welche den Arbeitslohn wieder auf und unter den früheren Stand herabdrücken würden. Der Arbeitslohn kann auch nicht dauernd tief unter diesen notwendigen Lebensunterhalt fallen, denn dann entstehen Auswanderungen, Ehelosigkeit, Enthaltung von der Kinderzeugung und endlich eine durch Elend erzeugte Verminderung der Arbeiterzahl, welche somit das Angebot von Arbeiterhänden noch verringert und den Arbeitslohn daher wieder auf den früheren Stand zurückbringt. Der wirkliche durchschnittliche Arbeitslohn besteht somit in der Bewegung, ständig um jenen seinen Schwerpunkt, in den er fortdauernd zurücksinken muß, herumzukreisen, bald etwas über demselben (Periode der Prosperität in allen einzelnen Arbeitszweigen), bald etwas unter ihm zu stehen (Periode des mehr oder weniger allgemeinen Notstandes und der Krisen). Die Beschränkung des durchschnittlichen Arbeitslohnes auf die in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderliche Lebensnotdurft - das ist, ich wiederhole es Ihnen, das eherne und grausame Gesetz, welches den Arbeitslohn unter den heutigen Verhältnissen beherrscht. Dieses Gesetz kann von niemand bestritten werden. Ich könnte Ihnen für dasselbe ebenso viele Gewährsmänner anführen, als es große und berühmte Namen in der nationalökonomischen Wissenschaft gibt, und zwar aus der liberalen Schule selbst, denn gerade die liberale ökonomische Schule ist es, welche selbst dieses Gesetz entdeckt und nachgewiesen hat.“Man begreift, daß Lassalle bei dieser Auffassung kein Freund der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter sein konnte, ja daß er in derselben sogar ein direktes Hindernis für die gedeihliche Entwicklung der von ihm gegründeten neuen Partei erblickte. Und in der Tat, wenn man der Überzeugung ist, daß die Frage des Arbeitslohnes und der proletarischen Lebenshaltung durch ein unabänderliches ökonomisches Gesetz bestimmt wird, das sich ganz von selber auswirkt, ohne der Hilfe der Menschen zu bedürfen, welchen Zweck haben dann die Gewerkschaften, welchen Zweck hat dann jeder Kampf der Arbeiter für eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage?Es war daher nur begreiflich, wenn Lassalle den Streiks jede Bedeutung absprach und 1862, als die Berliner Buchdrucker das preußische Ministerium um die Verleihung des Koalitionsrechts angingen, um Lohnbewegungen führen zu können, sogar so weit ging, jede Beteiligung des „Allgemeinen Arbeitervereins“ an diesen Bestrebungen schroff abzulehnen mit der Begründung, daß das Koalitionsrecht den Arbeitern keinen Vorteil bringen könne. Und es war nur folgerichtig, wenn die Lassalleaner zunächst den Gewerkschaften vollständig feindlich gegenüberstanden und noch 1872 auf Tölckes Antrag die Auflösung der beistehenden Gewerkschaften, die unter ihrem Einflusse standen, beschlossen hatten.Und doch mußte sich jeder vorurteilsfreie Beobachter, der sich nicht von vornherein durch willkürliche Voraussetzungen den Ausblick verbaut hatte, sagen, daß es mit der Richtigkeit dieses angeblich „ehernen“ Gesetzes nicht weit her war. Die Tatsache allein, daß die Arbeiter fortwährend gezwungen sind, als kollektive Macht in die Gestaltung der sogenannten Lohnverhältnisse einzugreifen, um sich bessere Arbeitspreise und geringere Arbeitszeit zu erringen, ist an und für sich schon ein Beweis dafür, daß das sogenannte eiserne Lohngesetz nicht mit der Unabänderlichkeit eines ökonomischen Faktums arbeitet, sondern daß ihm die Menschen stets ins Handwerk pfuschen müssen.Der Arbeiter streikt schließlich nicht zu seinem Vergnügen. Im Gegenteil, in den weitaus meisten Fällen ist jeder Streik für ihn verbunden mit einer ganzen Reihe materieller Entbehrungen und unvorhergesehener Konsequenzen, die ihm den Entschluß zum Kampf wahrlich nicht leicht machen. Jeder, der an den Wirtschaftskämpfen der Arbeiter je teilgenommen hat, weiß aus eigener Erfahrung, wieviel Energie, Agitation und Aufklärung seitens der zielklaren Minderheit nötig sind, um die Mehrheit zum Kampfe zu bewegen. Und diese ganze unermüdliche Arbeit und die noch mühseligere des Organisierens wäre ganz und gar überflüssig, wenn wir es wirklich mit der Auswirkung eines eisernen Gesetzes zu tun hätten, demgegenüber jedes Eingreifen des Menschen schlechterdings vergeblich wäre. In Wirklichkeit ist es mit diesem sogenannten „ehernen Lohngesetz“ ebenso bestellt, wie mit soviel anderen „ökonomischen Gesetzen“, die lediglich der Einbildungskraft der Menschen entsprungen sind, und deren ganze Wirksamkeit lediglich darin besteht, daß sie die Aktionskraft derjenigen lähmen, die ihnen Glauben schenken.Ebenso wie die wirtschaftlichen Kampforganisationen der Arbeiter, sind auch die täglichen Lohnkämpfe ein Ergebnis der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die von bestimmten Notwendigkeiten diktiert werden, und die der breiten Masse der Arbeiter so unentbehrlich sind, daß sie in einem Abgrund von Elend versinken würde, wenn sie je auf dieselben verzichten wollte, solange sie unter das Joch der Lohnsklaverei gezwungen wird. Wer das bis heute noch nicht begriffen hat, der hat wirklich keine Ursache, sich mit seinem angeblichen „Radikalismus“ zu brüsten, denn er ist trotz seines Revolutionarismus nicht mehr wie ein harmloser Pfahlbürger, dem der tiefere Sinn der Arbeiterbewegung bis heute verborgen geblieben ist.Gewiß kann durch Lohnkämpfe die soziale Frage nicht gelöst werden, aber sie sind der beste Anschauungsunterricht, um die Arbeiter mit dem Wesen der sozialen Frage und dem Problem ihrer Befreiung aus wirtschaftlicher und sozialer Sklaverei bekannt zu machen, und für den Endkampf heranzubilden. Es mag auch als richtig gelten, daß der Arbeiter, solange er gezwungen ist, Hirn und Hände einem Unternehmer zu verkaufen, mit anderen Worten, solange er Lohnsklave ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, welche nur die allgemeine Regel bestätigen, nie mehr verdienen wird, wie er zur Bestreitung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse nötig hat. Aber diese Lebensbedürfnisse sind nicht gleich, sie sind vielmehr einem steten Wechsel unterworfen und wachsen proportional mit den Ansprüchen, welche der Arbeiter an das Leben stellt.Wer wird z.B. zu behaupten wagen, daß die Lebenshaltung des Proletariers aus der frühkapitalistischen Periode dieselbe war wie die des heutigen Arbeiters? Der moderne Proletarier hat außer den rein materiellen Ansprüchen seiner Lebenshaltung noch eine ganze Reihe kultureller Bedürfnisse, von denen sein Vorgänger vor hundert Jahren sogar nicht träumte. Um diese Bedürfnisse befriedigen zu können, mußte er fortgesetzt im Kampfe stehen, um sich die Mittel für eine Hebung seiner physischen und geistigen Lebenslage zu erringen. Und es waren und sind gerade diese Kämpfe, welche der modernen Arbeiterbewegung ihr besonderes Gepräge geben, das sie von allen anderen Bewegungen früherer Zeiten unterscheidet.Man sage uns nicht, daß man von einer Hebung der proletarischen Lebenslage nicht sprechen könne, da sogar der Sklave des Altertums und der Zunftgeselle vergangener Jahrhunderte sich, rein wirtschaftlich betrachtet, vielfach besser gestanden hätten wie der heutige Lohnarbeiter, daß deren wirtschaftliche Existenz viel mehr gesichert war und man folglich nur eine Verschlechterung der proletarischen Lebenslage heute konstatieren müsse. Will man wirkliche Vergleiche ziehen und feststellen, ob eine Steigerung oder Senkung in der allgemeinen Lebenshaltung stattgefunden hat, so ist dies nur möglich, wenn man die Vergleiche auf eine bestimmte gesellschaftliche Periode begrenzt und nicht Dinge zusammenmischt, bei deren Zustandekommen ganz verschiedene Vorbedingungen mitgewirkt haben. So läßt sich ein Urteil über die Ergebnisse der fortgesetzten Kämpfe des modernen Industrieproletariats nur dann bilden, wenn wir die Vergleiche nur im Rahmen des modernen kapitalistischen Systems anstellen, da jeder andere Vergleich zu unvermeidlichen Trugschlüssen führen muß.Und nun lese man einmal die düsteren Beschreibungen über die allgemeinen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft in der frühkapitalistischen Periode, wie sie in den Berichten der englischen Fabrikinspektoren, die Marx in seinem „Kapital“ so glücklich zu verwerten wußte, niedergelegt sind. Oder man nehme Bücher zur Hand wie Burets „Vom Elend der arbeitenden Klassen in England und Frankreich“ (De la misere des classes laborieuses en Angleterre et en France), dem Friedrich Engels bei der Abfassung seines Erstlingswerks: „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ soviel zu verdanken hatte, und man wird das fürchterliche Elend der proletarischen Bevölkerung jener Zeit erst richtig verstehen lernen. Wenn der Engländer Arthur Young in der bekannten Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich vor dem Ausbruch der großen Revolution erklärte, daß man breite Teile der französischen Landbevölkerung nur mit Tieren vergleichen könne, denen infolge ihres ungeheuerlichen Elends alles Menschliche abhanden gekommen sei, so dürfte dieselbe Bezeichnung für breite Massen des Industrieproletariats in den Anfangsperioden der kapitalistischen Entwicklung wohl kaum übertrieben sein.Die ungeheuere Mehrheit der Arbeiter lebte in elenden Löchern und mußte vierzehn und fünfzehn Stunden den Tag fronen im Bagno der Industrie, wo durch keinerlei hygienische Vorrichtungen dem Leben und der Gesundheit der Ausgebeuteten Rechnung getragen wurde. Und dies für einen Lohn, der nicht einmal ausreichte, um nur die allerprimitivsten Bedürfnisse des Lebens befriedigen zu können. Wenn der Arbeiter jener Zeiten am Ende der Woche so viel erübrigen konnte, um sich in einem Fuselrausch für einige Stunden das Himmelreich zu erkaufen, so war damit das Höchste erreicht, was er überhaupt erreichen konnte. Und man lese erst, was zeitgenössische Autoren über die sittliche Verkommenheit und den geistigen Tiefstand jener Unglücklichen zu berichten wissen. Die Haare stehen einem zu Berge, wenn man diese Beschreibungen liest, die heute fast unglaublich erscheinen. Und diese furchtbare Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft beschränkte sich nicht bloß auf die Männer und Frauen des Proletariats, sie zog auch die proletarischen Kinder in ihren verderblichen Kreis und förderte die Sterblichkeit derselben bis zu einem Grade, daß Richard Carlile und andere mit Recht von einer grauenhaften Wiederholung des bethlehemitischen Kindermordes in größerem Maßstabe sprechen durften.Und wie in England, so war der Zustand überall, wo der Kapitalismus sich zum System entwickelte. Jahrzehnte vergingen, ehe die Arbeiter mit Hilfe ihrer wirtschaftlichen Organisationen überhaupt imstande waren, eine allmähliche Hebung ihrer allgemeinen Lebenshaltung zu erzielen. Die kleinste Verbesserung mußte dem Unternehmertum im steten Kampfe entrissen werden. Kein Gesetz, keine Regierung kam den Proleten zu Hilfe, sie mußten sich jeden Fußbreit Boden ihrer Rechte selbst erkämpfen, wobei sie ungeheuerliche Opfer zu bringen hatten. Sogar dort, wo die gesetzgebenden Versammlungen oder Regierungsorgane sich durch den Druck von draußen gezwungen sahen, gewissen Verbesserungen ihre gesetzliche Sanktion zu geben, durften sich die Arbeiter dieser Errungenschaften noch nicht ungestört erfreuen, denn bei der geringsten Gelegenheit machte ihnen das beutehungrige Unternehmertum diese Verbesserungen wieder streitig, sogar dann, wenn die Regierung denselben den Stempel des Gesetzes aufgedrückt hatte.Gewiß ist der Arbeiter auch heute noch allen Krisen und Wechselfällen des kapitalistischen Systems unterworfen, und das soziale Elend ist noch immer eine der charakteristischsten Erscheinungen der bestehenden Gesellschaft. Das wird eben so lange der Fall sein, wie das fluchwürdige System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen seine Existenz noch fristen kann. Trotzdem aber wäre es falsch, wenn man behaupten wollte, daß die Lebenshaltung des heutigen Arbeiters noch immer dieselbe sei, wie die seines Vorgängers in der Anfangsperiode des Kapitalismus. Nur sinnloser Sophismus könnte eine solche Behauptung zu rechtfertigen versuchen.Ja, es ist ein Unterschied, ob ein Mensch acht und neun Stunden anstatt dreizehn und vierzehn Stunden täglich fronen muß. Ja, es ist ein Unterschied, ob ich gerade so viel verdiene, um die allerdringendsten Bedürfnisse meiner materiellen Existenz befriedigen zu können, oder ob mir auch noch etwas übrigbleibt, um mir eine gewisse Ausbildung meines geistigen und sittlichen Menschen zu ermöglichen. Der Arbeiter von heute stellt nicht bloß höhere materielle Ansprüche an das Leben, er hat auch eine ganze Menge von Bedürfnissen, die seinem Vorgänger absolut unbekannt waren. In weiten Kreisen der Arbeiter weiß man heute den Wert und Besitz eines guten Buches zu schätzen. Man hat das Bedürfnis, von Zeit zu Zeit ein Theater oder ein Konzert zu besuchen oder sich an anderen kulturellen Errungenschaften zu erfreuen. Diese Bedürfnisse sind heute schon Millionen von Proletariern in Fleisch und Blut übergegangen und erheischen kategorisch eine Befriedigung. Es ist daher nur folgerichtig, wenn der Arbeiter sich mit seinesgleichen zusammenschließt, um sich die materiellen Möglichkeiten für diese Befriedigung zu verschaffen. Dieser fortgesetzte Kampf für die Befriedigung höherer Lebensansprüche bildet eine der wichtigsten Seiten der modernen Arbeiterbewegung. Wäre dies nicht der Fall, so hätte die ganze Bewegung, hätten all die zahllosen Kämpfe der Arbeiter gegen das Unternehmertum für die Verbesserung ihrer Lebenslage überhaupt keinen Zweck gehabt. Nur ein Tor oder ein Mensch, der dem Leben völlig weltfremd gegenübersteht, dürfte dies zu behaupten wagen.Hier kommen wir zu der allgemeinen kulturellen Bedeutung der Arbeiterorganisationen und ihrer steten Kämpfe gegen die Träger der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Der wirtschaftliche Zusammenschluß der Produzenten ist dem Proletarier nicht bloß eine Waffe für die Erringung besserer materieller Lebensbedingungen, er wird ihm in der selben Zeit zur praktischen Schule und Erziehungsstätte, wo ihm Belehrung und Aufklärung im reichsten Maße gespendet werden. Die praktischen Erfahrungen und Ergebnisse seiner täglichen Kämpfe finden in der Organisation der Arbeiter ihren geistigen Niederschlag, vertiefen seine innere Erkenntnis und erweitern seine geistige Perspektive. Durch diese fortgesetzte geistige Verarbeitung der gewonnenen Lebenserfahrungen entwickeln sich in den Einzelnen neue Bedürfnisse und Anregungen auf den verschiedensten Gebieten des geistigen Lebens. Auf diese Weise erwachen bei Millionen von Arbeitern Wünsche höherer Art, für die der Proletarier vergangener Perioden nicht das kleinste Verständnis hatte. Und gerade in dieser Entwicklung der Dinge liegt eine der größten Errungenschaften der proletarischen Kämpfe gegen die Klasse der Kapitalisten. Aber auch diese Errungenschaften, die nicht hoch genug zu werten sind, haben die Arbeiter ihrer eigenen Initiative zu verdanken und dem organisatorischen Zusammenschluß mit ihresgleichen. Durch die Initiative der besitzenden Klassen und Kasten hätten sie wohl niemals eine Bereicherung ihres geistigen Lebensinhalts erfahren.Man wende nicht etwa ein, daß es bei der reichen geistigen Kultur des bürgerlichen Zeitalters ganz unvermeidlich war, daß ein Teil dieser Kulturwerte auch den Arbeitern zugute kommen mußte, ganz unabhängig von der Existenz und dem inspirierenden Einfluß der Arbeiterorganisationen. In der Tat hat man solche Behauptungen aufgestellt. Aber jede Periode hatte ja schließlich ihre besondere geistige Kultur, womit jedoch noch lange nicht bewiesen ist, daß schon die bloße Existenz einer solchen es mit sich bringen müsse, daß auch die unteren Schichten der Gesellschaft sich ihrer bis zu einem gewissen Grade erfreuen dürfen. Wer könnte z. B. behaupten, daß die geistige und künstlerische Kultur des Rokokozeitalters den unteren Schichten der Bevölkerung - in diesem Falle den breiten Massen der leibeigenen Bauern - irgendwie zugute gekommen wäre?Eine gewisse geistige Kultur und das Bedürfnis für kulturelle Genüsse des Lebens ist immer erst dann möglich, wenn sich ein Volk, oder besser gesagt, eine Gesellschaftsklasse, eine gewisse materielle Lebenshaltung errungen hat, welche sie zur Betätigung geistiger und kultureller Bedürfnisse befähigt. Ohne diese Voraussetzung ist eine geistige Betätigung höherer Art überhaupt ausgeschlossen. Menschen, die fortgesetzt im tiefsten Elend zu versinken drohen, und die nicht einmal so viel aufbringen können, um den allernotwendigsten Ansprüchen des materiellen Lebens auch nur halbwegs zu genügen, haben in der Regel kein Interesse für Kulturwerte geistiger Art. Deshalb konnte auch bei den Proleten der Frühzeit des Kapitalismus von solchen Bedürfnissen keine Rede sein, die sich erst entwickeln konnten, nachdem die Arbeiter im Laufe der Jahrzehnte sich von den Unternehmern eine Hebung ihrer materiellen Lebenslage ertrotzt hatten. Damit war erst die Vorbedingung gegeben, auf Grund derer eine Entfaltung geistiger und allgemein kultureller Bedürfnisse unter der Arbeiterschaft überhaupt möglich wurde.Das Unternehmertum hat diese geistigen Bestrebungen der Arbeiter nicht gefördert. Im Gegenteil, es hat dieselben stets mit scheelsüchtigen und mißtrauischen Augen verfolgt und kein Mittel unversucht gelassen, sie zu hintertreiben. Bis zum heutigen Tage läßt der Kapitalist keine Gelegenheit ungenützt vorübergehen, die ihm die Möglichkeit gibt, die Lebenshaltung des Arbeiters auf ein tieferes Niveau herabzudrücken, und er fragt den Teufel danach, wenn durch diese brutale Wahrnehmung seiner habsüchtigen Interessen die Bildungsbestrebungen der Arbeiter gehemmt oder ganz ausgeschaltet werden. Für die Kapitalisten als Klasse gilt noch immer das Wort des spanischen Ministers Juan Bravo Murillo: „Wir benötigen in Spanien keine denkfähigen Leute; was wir brauchen, das sind Arbeitstiere.“Es ist also unbestreitbar, daß sich die Arbeiter im steten Kampfe mit dem Unternehmertum bessere Lebensbedingungen errungen haben, die sich nicht bloß auf eine Hebung ihrer rein materiellen Lebenshaltung beschränkten, sondern auch ihre Bedürfnisse für geistige und allgemein kulturelle Werte wesentlich gefördert und entwickelt haben. Nun könnte man allerdings einwenden, daß diese winzigen Errungenschaften ganz nichtssagend und bedeutungslos seien im Vergleich mit dem sozialistischen Endziel der revolutionären Arbeiterbewegung. Tatsächlich gibt es eine ganze Anzahl sogenannter „Radikaler“, die, von einem solchen Standpunkt ausgehend, jeden Versuch für eine Hebung der proletarischen Lebenslage innerhalb der heutigen Gesellschaft als hoffnungslos und „reformistisch“ ablehnen und nur von einem Kampfe „um das Ganze“ sprechen, wobei es notwendigerweise stets beim Sprechen bleiben muß.Wenn man die Dinge rein abstrakt nimmt und die reale Wirklichkeit ganz außer acht läßt, so scheint es allerdings, daß alle Kämpfe der Arbeiter um praktische Verbesserungen zwecklos seien. In der Tat, welchen Wert haben all diese Verbesserungen, welche die Arbeiter im steten und zähen Kampfe der Jahrzehnte den Kapitalisten entrissen haben, wenn man sie vergleicht mit dem Ideal einer sozialistischen Zukunft? Allein solch rein abstrakte Betrachtung der Dinge hat schon viel Unheil angerichtet. Man verliert dabei allzusehr die harte Wirklichkeit des Lebens aus den Augen und ersetzt den festen Willen, Änderungen zu ertrotzen, durch fromme Wünsche und sophistische Schaumschlägereien, hinter denen sich kein klarer Gedanke verbirgt. Mag man, von der Vogelperspektive des „reinen Prinzips“ aus gesehen, die praktischen Errungenschaften der proletarischen Kämpfe noch so sehr verkleinern und als bedeutungslos abtun, für den einzelnen Proletarier bedeuten sie nichtsdestoweniger unendlich viel.Fragt doch einmal den Proleten selber, den Mann, der sich in harter Fron tagtäglich im Betrieb, im Schacht, auf dem Felde oder am Hochofen abmühen muß, um die kärglichen Mittel für des Lebens Notdurft zu gewinnen, fragt ihn einmal, was diese winzigen Verbesserungen für ihn und seine Familie zu bedeuten haben. Versucht ihm doch einmal klarzumachen, daß es im Grunde genommen nichts zu bedeuten habe, ob er acht oder zwölf Stunden schuftet, da er ja in dem einen und in dem anderen Falle doch nur Lohnsklave bleibe.Oder erklärt einmal der Frau aus dem Volke, die mit dem Lohn, den ihr der Mann am Sonnabend nach Hause bringt, die Bedürfnisse der Familie bestreiten muß, erklärt ihr, daß es an und für sich bedeutungslos sei, ob der Lohn so bemessen, daß sie damit nur trocknes Brot und Kartoffeln einhandeln kann, wie wir es ja in der Inflationsperiode erlebt haben und leider auch heute noch tagtäglich erleben müssen, oder so, daß es zur Bestreitung anderer Bedürfnisse auch noch langt. Erklärt ihr, daß ihr diese Dinge ganz gleich sein könnten, da ja dadurch der Bestand der kapitalistischen Gesellschaft nicht in Frage gestellt werde. Versucht einmal, ihr dieses klarzumachen, und diese einfache Frau aus dem Volke wird ob eurer Weisheit bloß die Achseln zucken und euch für hirnverbrannte Narren halten.Diese kleinen Verbesserungen oder Verschlechterungen in der proletarischen Lebenshaltung haben für die einzelne Arbeiterfamilie eine ganz eminente Bedeutung, und man muß tatsächlich blind sein, wenn man sich dieser Tatsache verschließen will. Denn schließlich lebt der Arbeiter - auch der radikalste Sozialist und Revolutionär - doch in der heutigen Gesellschaft, deren Bannkreis er sich nicht entziehen kann. Seine tägliche Arbeit bildet für ihn den wesentlichen Inhalt seines Lebens, die materielle Basis seiner individuellen und gesellschaftlichen Existenz, durch welche jede andere Betätigung, die er ausübt, mehr oder weniger bestimmt wird. Aus diesem Grunde kann er an Dingen nicht gleichgültig vorübergehen, die aufs engste mit seiner persönlichen Existenz verbunden sind.Wer den Arbeitern stets nur von dem großen Endziel zu erzählen weiß und ihnen im übrigen einzureden versucht, daß jede Verbesserung innerhalb der heutigen Gesellschaft für sie zwecklos, ja unmöglich ist, der handelt ungeachtet seines angeblichen „Radikalismus“ nicht anders wie die Pfaffen, die den Hungrigen das Himmelreich versprechen, damit sie sich leichter über die Hölle ihres irdischen Daseins hinwegtäuschen. Was anderes ist denn die stete Anpreisung auch des schönsten Ideals, wenn man darüber die naheliegenden Aufgaben des täglichen Kampfes vergißt und dem Arbeiter die Überzeugung beizubringen sucht, daß dieser Kampf für ihn keinen Wert hat?Will man sich davon überzeugen, daß es wohl einen Unterschied in der Lebenshaltung des Proletariers gibt, so ist es übrigens gar nicht nötig, die Proleten der frühkapitalistischen Periode als Beispiel heran; zuziehen. Es genügt vollständig, die Erfahrungen der deutschen Arbeiterschaft während der letzten Jahre etwas näher ins Auge zu fassen und dieselben mit ihrer Lebenshaltung vor dem Kriege zu vergleichen. Man könnte mit diesem Material ganze Bücher ausfüllen, aber einige Beispiele genügen für unseren Zweck vollständig.So ist vor einigen Monaten von Fritz Reuter eine Schrift erschienen, welche die Exportmöglichkeiten der deutschen Maschinenindustrie behandelt. In diesem Werkchen befindet sich auch eine statistische Lohntabelle, in welcher die Löhne, die während der letzten Jahre in der englischen und deutschen Metallindustrie gezahlt wurden, zum Vergleich herangezogen werden. Hinter diesen trockenen Zahlen verbirgt sich die ganze beispiellose Tragödie der deutschen Arbeiterklasse nach dem Kriege. Vor dem Kriege betrug der Minimallohn des deutschen Metallarbeiters ungefähr 70 Pfennig die Stunde, während es der englische Metallarbeiter auf 83 Pfennig Stundenlohn brachte, mithin ungefähr 20% mehr verdiente wie sein Berufskollege in Deutschland.Wie sich dieses Verhältnis später gestaltet hat, davon möge die folgende Tabelle Zeugnis ablegen:

1922DeutschlandEngland
In Goldpf.
p. Stunde
In Proz. des
Vorkriegslohns
In Goldpf.
p. Stunde
In Proz. des
Vorkriegslohns
30. Januar2537137165
06. März18,426139168
1. Mai29,1541,5136164
31. Juli17,7325,4138166
23. Oktober11,216133169
20. November9,513,55136164
04. Dezember13,519,6139168
1923
29. Januar8,211,7141170
05. März25,536,5141170
14. Mai1420134161,5
04. Juni9,613,7131158
02. Juli22,8632,7132159
24. September52,6375,2134161,5
01. Oktober35,751135163
05. November5274,3134161,5
31. Dezember4868,5131158
   
1924  
14. Januar4868,513115

Während der Lohn des englischen Metallarbeiters vor dem Kriege ungefähr 20 Prozent höher stand wie der seines deutschen Berufsgenossen, verdient er heute nahezu das Dreifache. Während der Inflationsperiode aber verdiente er oft zehnmal und fünfzehnmal soviel als der deutsche Metallarbeiter. Und nun behaupte einer, daß es keine wesentlichen Unterschiede in der Lebenshaltung des Proletariers gebe!In der Kohlenindustrie ist der Unterschied nicht ganz so kraß, immerhin noch alarmierend genug. Nach der letzten statistischen Berechnung beträgt der Minimallohn des englischen Bergmanns bei einer Schicht von sieben Stunden etwas weniger wie elf Schilling täglich. Das ist ungefähr doppelt soviel, als der deutsche Bergmann an Lohn erhält. Ähnlich ist das Verhältnis in vielen anderen Industrien. Die allgemeine Lebenshaltung des deutschen Arbeiters hat sich also unzweifelhaft in einem erschreckenden Maße verschlechtert. Zieht man dabei noch in Betracht, daß die Preise der notwendigsten Lebensmittel die Vorkriegspreise um vieles übersteigen, Gebrauchsgegenstände des täglichen Bedarfs, wie Kleider, Schuhe, Wäsche usw., aber fast unerschwinglich geworden sind, so wird das Bild von der Lebenslage des deutschen Arbeiters nur noch trostloser. Macht man sich nun noch klar, daß das deutsche Volkseinkommen durch Steuern, Abgaben und Zölle mit 46% pro Kopf der Bevölkerung belastet ist, während die Belastung in Frankreich nur 22% und in England nur 18% beträgt, die besitzenden Klassen aber kein Mittel unversucht lassen, um von dieser Belastung soviel als irgend möglich ist, auf die Schultern des werktätigen Volkes in Deutschland abzuwälzen, so begreift man erst richtig den Leidensweg der deutschen Arbeiterklasse seit der Beendigung des Krieges.Sogar die verspäteten Verfechter des Lassalleschen Lohngesetzes dürften bei einigermaßen gutem Willen daraus ersehen, daß die Frage der Lebenshaltung für die Arbeiterschaft nicht so unwesentlich ist, wie sie glauben, und daß jenes angebliche „Gesetz“ jeder tieferen Begründung ermangelt.Vergessen wir dabei nicht, daß diese ungeheuerliche Senkung der proletarischen Lebenshaltung zu einer Zeit vor sich ging, als die deutsche Schwerindustrie unter Führung von Stinnes fabelhafte Gewinne einheimste und unsere Großagrarier das deutsche Volk „bei vollen Scheunen langsam verhungern“ ließen. In derselben Zeit aber suchte sozialdemokratische Führerweisheit und zentralverbändlerische Abgeklärtheit dem Arbeiter einzureden, daß man nach einem verlorenen Kriege mit Lohnforderungen zurückhalten müsse, wenn man das deutsche Wirtschaftsleben nicht völlig ruinieren wolle. Und die Arbeiter waren töricht genug, diesen Einflüsterungen stattzugeben, während Unternehmer, Agrarier und Börsenspekulanten sich die Taschen füllten. Diese Herren wurden nicht von dergleichen Skrupel geplagt; sie dachten gar nicht daran, sich angesichts des verlorenen Krieges mit kleineren Profiten zu begnügen, sondern rafften zusammen, was nur zu ergattern war, während die breite Masse der werktätigen Bevölkerung sich kaum noch mit trockenem Brote und Kartoffeln nähren konnte. Keinem dieser Schmarotzer kam es auch nur für eine Minute in den Sinn, daß ihre ungezügelte Gefräßigkeit ein ganzes Volk rettungslos dem Verderben preisgab.Tatsache ist, daß ein großer Teil der heutigen Preise, die in gar keinem Verhältnis zu den durchschnittlichen Arbeitslöhnen stehen, sich überhaupt nicht durch wirtschaftliche Ursachen, sondern nur psychologisch erklären lassen. In normalen Zeiten begnügt sich der Unternehmer und Kaufmann mit einem gewissen Profit, dessen Höhe zum großen Teile durch die gegenseitige Konkurrenz reguliert wird. Auf diese Weise entwickelt sich sogar eine gewisse Ethik unter Geschäftsleuten, die ein sogenanntes anständiges Geschäft von direktem Wucher wohl zu trennen weiß. Aber in der Zeit nach dem Kriege und besonders in der sogenannten Inflationsperiode gingen alle ethischen Begriffe und jeder natürliche Maßstab in die Brüche. Das laissez faire, laissez aller der Besitzenden verlor sich ins Uferlose. Jeder Unternehmer, jeder Kaufmann wurde in derselben Zeit Spekulant, Spekulant auf das grenzenlose Elend seines eigenen Volkes, und ergatterte Profite, von denen er früher nicht einmal zu träumen wagte. Raffke wurde Trumpf in Deutschland, der Schieber nahm den Platz des Geschäftsmannes vergangener Jahre ein. Kein Wunder, daß es vielen dieser Herren heute schwerfällt, sich in der Periode sogenannter Stabilität wieder zurechtzufinden. Die Preise legen dafür beredtes Zeugnis ab.Was nun die Behauptung anbetrifft, daß jede Steigerung der Löhne unwiderruflich eine Steigerung der Preise nach sich ziehen müsse und daß der Kapitalist das, was er mit einer Hand dem Produzenten mehr zahle, dem Konsumenten wieder mit der anderen Hand aus der Tasche stehle - eine Behauptung, mit der man heute wieder eifrig hausieren geht in sogenannten „radikalen“ Kreisen - so ist sie ebenso irrig wie das „eherne Lohngesetz“. Es war kein Geringerer als Marx in eigener Person, den viele unserer „Radikalen“ stets im Munde führen, welcher das Unzulängliche und Falsche dieser Behauptung überzeugend nachgewiesen hat. In seinem bekannten Vortrag im Generalrat der Internationale (1865) zerpflückte er die Ausführungen des Owenisten Weston, der jenen Standpunkt vertrat, so gründlich, daß von denselben überhaupt nichts mehr übrigblieb.In der Tat, jene Behauptung könnte erst dann einen gewissen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit machen, wenn man, wie Marx sagt, beweisen könnte: 1. „daß die Menge der nationalen Produktion etwas Feststehendes ist, eine gleichbleibende Menge oder Größe, wie der Mathematiker sagen würde; 2. daß der Betrag der wirklichen Löhne, d. h. der Löhne, gemessen an der Menge der Gebrauchsgegenstände, die mit ihnen gekauft werden können, ein feststehender Betrag, eine gleichbleibende Größe ist.“In diesem Falle könnte man die Behauptung wenigstens noch verständlich finden. Nun wissen wir aber, daß die allgemeine Produktion sich fortgesetzt steigert und daß dadurch dem Unternehmer allein schon die Möglichkeit geboten ist, Lohnerhöhungen wieder auszugleichen, ohne daß er gezwungen wäre, zu einer Steigerung der Preise seine Zuflucht zu nehmen.Wäre es wirklich eine ökonomische Tatsache, daß eine Steigerung der Löhne notwendigerweise eine Steigerung der Preise zur Folge habe, so wäre auf Grund dieser Tatsache eine Veränderung der proletarischen Lebenshaltung in der Tat unmöglich. In diesem Falle müßte aber der moderne Arbeiter noch immer unter denselben Verhältnissen leben, wie sein Vorgänger in der frühkapitalistischen Periode. Und da, wie bereits ausgeführt wurde, eine Entwicklung geistiger und sittlicher Bedürfnisse erst stattfinden kann, wenn sie durch die materielle Lebenshaltung ermöglicht wird, so müßten all diese Erscheinungen, die wir heute auf Schritt und Tritt innerhalb der Arbeiterbewegung wahrnehmen können, einfach auf optischen Täuschungen beruhen. Dann wären allerdings all die unzähligen Kämpfe der Arbeiterschaft gegen das Unternehmertum, um eine Besserung ihrer Lebenslage zu erzielen, rein für die Katz gewesen. Dann wären aber auch alle Versuche des Unternehmertums, die Löhne der Arbeiter bei jeder sich bietenden Gelegenheit herabzusetzen, ebenso belang- und zwecklos gewesen, da sie ja an dem Stand der Dinge nicht das Geringste ändern konnten. So viel Scharfsinn aber muß man dem Unternehmertum schon zutrauen, daß es nicht zwecklos Dinge provoziert, auf die die Arbeiter bei der ersten besten Gelegenheit wieder reagieren müssen und die mithin zu einer  ortgesetzten Erschütterung des Wirtschaftslebens führen, an welcher der Kapitalist absolut kein Interesse haben kann. Ein solches Vorgehen wäre nicht bloß töricht, es wäre der hellste Wahnsinn.Es ist überhaupt absurd, anzunehmen, daß der Kapitalist zu jeder Zeit imstande wäre, eine Erhöhung der Preise vornehmen zu können, sobald das Lohnverhältnis sich etwas zugunsten der Arbeiter verschoben hat. Bei der Bestimmung der Preise spielen eben noch ganz andere Faktoren eine Rolle, und auch der Kapitalist kann in dieser Hinsicht nicht einfach seinem Willen folgen, sondern ist vielmehr an gewisse Bedingungen gebunden, die er nicht willkürlich ändern kann, und die ihm in vielen Fällen direkt von der Konkurrenz aufgezwungen werden. Wäre das nicht der Fall, dann wäre, wie Marx sehr richtig sagt: „das Auf und Ab, die unaufhörliche Veränderung der Marktpreise ein unlösbares Rätsel“.Es würde zu weit führen, den Beziehungen zwischen Lohn und Preis hier in allen Einzelheiten nachzuspüren, da ja der Zweck dieser Schrift ein ganz anderer ist. Wer sich dafür interessiert, der lese das Schriftchen von Marx (Karl Marx: Lohn, Preis und Profit), welches diese Frage in erschöpfender Weise behandelt. Die ganze Behauptung, daß die Erhöhung der Löhne, zwangsläufig eine Erhöhung der Preise zur Folge haben müsse, ist nicht mehr wie eine Mystifikation, wie so viele andere ökonomische „Gesetze“, die nur dazu beigetragen haben, Verwirrung unter den Arbeitern anzurichten und sie auf Irrwege zu führen.Wohl ist es möglich, daß Lohnerhöhungen eine Steigerung der Preise nach sich ziehen können, aber auch das Gegenteil kann eintreten, wie Marx in einer Reihe von Beispielen treffend nachgewiesen hat, wo Lohnerhöhungen und eine Senkung der Preise gleichzeitig eintraten. Daß aber auch das Umgekehrte der Fall sein kann, haben wir ja zu unserem eigenen Schaden während der letzten Jahre hier genugsam erfahren müssen. Denn obwohl die Löhne in Deutschland sogar rein zahlengemäß noch lange nicht die Höhe der Vorkriegszeit erreicht haben, verhält es sich bei den Preisen gerade umgekehrt. Wäre aber die Behauptung richtig, daß eine Steigerung der Löhne automatisch eine Steigerung der Preise zur Folge habe, dann müßte nach derselben Logik nach einer Senkung der Arbeitslöhne auch eine Senkung der Preise eintreten. Der gegenwärtige Zustand in Deutschland ist der beste Beweis, daß dies nicht der Fall ist.Nein, alle sogenannten eisernen „Gesetze“ sind nicht imstande, den täglichen Kämpfen der Arbeiterschaft, dem Kampf ums tägliche Brot, auch nur ein Jota ihrer Bedeutung zu nehmen. Sie geben der Arbeiterbewegung ihren eigentlichen Charakter und sind mit ihrem innersten Wesen aufs innigste verwachsen. Allein diese Kämpfe haben nicht bloß eine unmittelbar praktische Bedeutung, sie bilden auch die notwendige Voraussetzung für die endgültige Befreiung des Proletariats vom Joche der Lohnknechtschaft und jeder anderen Form der Ausbeutung. Obwohl in der Gegenwart und in der praktischen Wirklichkeit des Lebens wurzelnd, tragen sie nichtsdestoweniger die Keime eines künftigen Werdens in sich, aus denen der Menschheit eine bessere Zukunft erstehen wird. Denn alles Neue und Kommende entspringt der unmittelbaren Wirklichkeit des lebendigen Seins. Nicht aus den luftleeren Räumen abstrakter Vorstellungen wird uns eine neue Welt geboren werden, aus den Kämpfen ums tägliche Brot wird sie emporwachsen, aus dem ununterbrochenen harten Ringen, das die Not und Sorge der Stunde erheischt, und das allen bitteren Notwendigkeiten Rechnung zu tragen weiß. Im fortgesetzten Kampfe gegen das Alte und Bestehende formt sich das Neue und reift seiner Vollendung entgegen. Wer die Errungenschaft der Stunde nicht zu schätzen weiß, wird nie imstande sein, sich selber und seinen Mitmenschen eine bessere Zukunft zu erkämpfen.Aus den täglichen Kämpfen der Arbeiter gegen das Unternehmertum und seine Verbündeten geht ihnen allmählich der tiefere Sinn dieser Kämpfe auf. Zunächst verfolgen dieselben nur den unmittelbaren Zweck, die allgemeine Lage des Produzenten innerhalb der heutigen Gesellschaft besser zu gestalten, bis sie den Arbeitern nach und nach die Wurzel des Übels enthüllen - das Lohnsystem, die kapitalistische Monopolwirtschaft. Zur Erringung dieser Erkenntnis bieten die Kämpfe des Alltags einen besseren Anschauungsunterricht wie die schönsten theoretischen Abhandlungen. Nichts kann den Geist und die Psyche des Arbeiters so stark beeinflussen, als dieser andauernde Kampf ums tägliche Brot, nichts macht ihn so empfänglich für die Gedankengänge des Sozialismus wie jenes fortwährende Ringen um des Lebens Notdurft.Und darin liegt letzten Endes die große soziale Bedeutung dieser Kämpfe, die auch dann bestehen bleibt, wenn die Arbeiter des öfteren als die Geschlagenen aus ihnen hervorgehen und ihre Energien scheinbar nutzlos vergeudet haben. Auch solche Niederlagen sind ungemein lehrreich und entwickeln in den Köpfen der Arbeiter mit unerbittlicher Logik das Verständnis für bessere und wirksamere Methoden des Kampfes, auch dann, wenn die erhaltene Schlappe sie zunächst mutlos macht und ihre Kampfesstimmung arg herabsetzt.Wie die leibeigenen Bauern zur Zeit der Feudalherrschaft durch zahllose Revolten und größere Insurrektionen, die zunächst nur den Zweck verfolgten, den Feudalherren gewisse Zugeständnisse zu entreißen und eine Besserung ihrer traurigen Lebenslage zu erzielen, gerade durch diese fortgesetzten Aufstände der großen Revolution den Weg ebneten und die Abschaffung der feudalen Rechte vorbereiteten, so bilden die zahllosen Arbeiterkämpfe ums tägliche Brot im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft sozusagen die Einleitung für die kommende soziale Revolution, aus der uns der Sozialismus erwachsen wird. Ohne die ununterbrochenen Revolten der Bauernschaft - Taine berichtet, daß von 1781 bis zur Erstürmung der Bastille über fünfhundert solcher Revolten fast in allen Teilen Frankreichs stattgefunden haben - hätte sich der Gedanke über die Verderblichkeit des ganzen Systems der Hörigkeit und des Feudalismus in den Köpfen der Massen nie eingenistet. Dieser Gedanke mußte erst aus den fortgesetzten Kämpfen der Bauern langsam heranreifen und allmählich Form und Gestalt annehmen, bis er endlich mit unwiderstehlicher Gewalt zur Abschaffung der Leibeigenschaft und der sogenannten Feudalrechte führte.Ebenso verhält es sich mit den wirtschaftlichen und sozialen Kämpfen der modernen Arbeiterschaft. Es wäre total falsch, wenn man dieselben lediglich auf ihren materiellen Ursprung hin und nach ihren praktischen Ergebnissen einschätzen wollte und ihre tiefe psychologische Bedeutung für die Aufrüttelung der Massen und die Erweiterung ihres geistigen Horizonts vollständig verkennen würde. Nur durch die täglichen Auseinandersetzungen zwischen Arbeiter und Unternehmertum konnte der Gedanke des Sozialismus, der in den Köpfen einzelner Denker zum Leben erwachte, erst Fleisch und Blut bekommen und jenen besonderen Charakter annehmen, der ihn zu einer Bewegung der Massen machte, zum Träger eines neuen sozialen Kulturideals.Ideen allein schaffen noch keine Bewegung, sind sie doch selber nur ein Ergebnis konkreter Lebensverhältnisse, der geistige Niederschlag bestimmter materieller Bedingungen. Bewegungen entstehen aus den unmittelbaren und praktischen Notwendigkeiten des Lebens und sind nie das Ergebnis rein abstrakter Vorstellung. Aber sie bekommen erst ihre unwiderstehliche Kraft und innere Siegesgewißheit, wenn sie von einer großen Idee befruchtet werden, die ihnen Inhalt und Seele gibt. Nur in diesem Sinne läßt sich das Verhältnis der revolutionären Arbeiterbewegung zum Sozialismus verstehen und richtig würdigen. Ist dies aber der Fall, so geht daraus sonnenklar hervor, daß revolutionäre Sozialisten aller Schattierungen dem Kampf ums tägliche Brot, welcher ja den ganzen Inhalt der gesamten Arbeiterbewegung bildet, nicht weltfremd gegenüberstehen können, sondern gerade in diesem Kampfe die unvermeidliche Vorbedingung für die endliche Verwirklichung des freiheitlichen Sozialismus erblicken müssen. Gerade ihre Aufgabe muß es sein, an den Alltagskämpfen der Arbeiterschaft aktiv teilzunehmen, alle Mittel anzuwenden, dieselben tiefgründiger und umfangreicher zu gestalten und den Massen den inneren Zusammenhang ihrer Forderungen mit dem großen Endziel der Bewegung immer wieder vor Augen zu halten.Wer da glaubt, daß er für diese Arbeit zu gut ist oder sich um dieselbe zu drücken sucht, unter dem nichtigen Vorwand, daß jede Hebung der proletarischen Lebenshaltung innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung unmöglich sei und nur die Arbeiter von ihrem eigentlichen Ziele ablenke, der mag sich nicht wundern, wenn er bei den Proleten kein Verständnis findet oder, wenn ihm gesagt wird, daß man seinen Rat entbehren könne. Die Tatsache allein, daß er den inneren Zusammenhang zwischen dem Kampf ums tägliche Brot und dem sozialistischen Endziel der Bewegung nicht begriffen hat, ist ein Beweis dafür, daß ihm der Wesensinhalt sowohl des Sozialismus als auch der Arbeiterbewegung bis dato ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist. Mag er sich immerhin seines „Radikalismus“ freuen, im Grunde genommen ist er nicht mehr wie einer jener billigen Mondscheinphilosophen, die jenseits von Raum und Zeit schweben und für die bittere Notdurft des Lebens kein Verständnis aufbringen.Solche Leute hat uns die Novemberrevolution eine ganze Menge beschert, die vorübergehend kurze Gastrollen in unserer eigenen und in verwandten Bewegungen gespielt haben und hie und da noch spielen. Meist sind es weiche, zwitterhafte Geschöpfe, die stets wie ein Rohr im Winde schwanken und nie richtig wissen, wo sie eigentlich hingehören. Sie haben von allen Parteien und Richtungen etwas genascht, kennen aber stets nur die Fassade der Dinge, da ihnen Energie fehlt, in die Tiefe zu schürfen und das Innerste einer Bewegung kennenzulernen. Da sie gelernt haben, ihre Weisheit mit dem nötigen Pathos an den Mann zu bringen und unreife Geister mit einem Gallimathias hohler und bombastischer Schlagworte besoffen zu machen, so hält sie der Unverstand Einzelner oft für „starke Männer“ und leistet ihnen vorübergehend Heeresfolge, bis die unvermeidliche Enttäuschung einsetzt, die in der Regel nicht lange auf sich warten läßt. Meistenteils haben sie die ganze Farbenskala aller Entwicklungsmöglichkeiten der sozialen Bewegung mit dem Fahrrad durchlaufen, waren Unabhängige, Kommunisten, Rätebündler usw., bis man sie eines Tages als „Buddhisten“ oder in dem angenehmen Kreise von Geistersehern, Tischklopfern usw. wiederfindet. Von dort geht die Reise gewöhnlich durch den Häusserbund, wo der eine oder der andere eines Tages entdecken mag, daß er selber das Zeug zum modernen Christus in sich trägt und mit der subalternen Rolle des Apostels nicht mehr zufrieden ist. Andere landen schließlich in einem stillen Winkel, wo sie in stiller Seligkeit und mit Wonnegrunzen die Schönheit ihres eigenen Nabels bewundern. Wir wollen sie nicht stören in dieser lieblichen Beschäftigung und hoffen nur, daß sie auch uns fürderhin ungeschoren lassen.Für das kämpfende Proletariat aber bleibt der alte Grundsatz bestehen: „Nur im Kampfe findest du dein Recht!“ Aus dem Kampfe ums tägliche Brot entwickelt sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit, die proletarische Solidarität, das Bewußtsein der menschlichen Würde. Nur auf diesen Pfeilern wird die Brücke gebaut werden, welche die Arbeiterschaft aus der Hölle des sozialen Elends und der industriellen Leibeigenschaft in das Neuland der sozialistischen Zukunft führen wird.Der Kampf ums tägliche Brot spielt sich nicht bloß auf Wirtschaftlichem Gebiete ab, er greift auch tief in die Sphäre des politischen und sozialen Lebens ein, und seine äußeren Formen sind zum großen Teil durch den jeweiligen politischen Zustand eines Landes direkt bedingt. Wir berühren hier ein Gebiet, über welches vielfach noch dieselben Unklarheiten verbreitet sind, wie in den Fragen des wirtschaftlichen Kampfes für eine bessere Lebenshaltung des Arbeiters. Und es ist auch hier wieder derselbe mißgeleitete und bis zum Zerrbild entstellte „Radikalismus“, welcher für diese Unklarheiten verantwortlich ist. Auch hier begegnen wir uns wieder mit jener vollständigen Verkennung gegebener Tatsachen, durch welche fortgesetzt Dinge miteinander verwechselt werden, die man, will man sich den klaren Blick nicht trüben lassen, unter keinen Umständen miteinander verwechseln darf.Weil wir den Standpunkt vertreten, daß die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf das innigste verwachsen ist mit der Beherrschung des Menschen durch den Menschen, daß folglich zusammen mit dem Monopol der Ausbeutung auch das Monopol der Macht aus dem Leben der Gesellschaft verschwinden muß, haben manche gefolgert, daß die besonderen politischen Formen eines Landes für die Arbeiterschaft und ihre Kämpfe keinerlei Interesse haben. Wozu sich um die Formen des Staates kümmern, wenn man sich über sein eigentliches Wesen und die Mission, die er erfüllt, einig ist? Solche Behauptungen hört man nicht selten. Wenn man des öfteren gezwungen ist, den Meinungen zu lauschen, die von „Überradikalen“ in öffentlichen Versammlungen vertreten werden oder in gewissen Blättern zum Ausdruck kommen, so stehen einem die Haare manchmal zu Berge, und man fragt sich vergebens, wie so etwas möglich ist. Es ist daher schon angebracht, daß wir uns auch mit dieser Frage etwas näher beschäftigen, um so mehr, als sie mit den Dingen, die wir bisher behandelt haben, eng verbunden ist.Im Gegensatz zu den verschiedenen staatssozialistischen Richtungen von der Sozialdemokratie bis zum Bolschewismus und allem, was dazwischen liegt, vertreten wir den Standpunkt, daß der Sozialismus nicht von oben herab durch irgendeine gesetzgebende Körperschaft oder Regierungsdiktatur dekretiert werden kann, sondern daß er sich vielmehr aus dem Schoße des Volkes organisch entwickeln muß, wobei ihm die revolutionäre Aktion der Massen Geburtshilfe leisten muß. Wir sind der Meinung, daß jedes staatliche System mit der jeweiligen Form der wirtschaftlichen Ausbeutung der breiten Massen durch privilegierte Minderheiten innerlich aufs engste verwachsen ist, und daß seine besonderen politischen Formen an dieser Tatsache selbst nichts ändern können, da ja der Staat nie etwas anderes gewesen ist, noch sein kann, als der Gewaltapparat der besitzenden Klassen, der Verteidiger der wirtschaftlichen Monopole und der Klassengegensätze innerhalb des gesellschaftlichen Verbandes. Mag er nun unter monarchistischer Flagge segeln oder das Banner der Republik entfalten, nie wird er dieser seiner Mission untreu werden können, die ja in seinem innersten Wesen begründet ist.Wir sind daher der Auffassung, daß zusammen mit dem System der Ausbeutung auch das System der Herrschaft fallen muß, und daß jeder Versuch in der Richtung zum Sozialismus unwiderruflich zum Scheitern verdammt ist, wenn die Initiatoren eines solchen Versuches den politischen Herrschaftsapparat aufrechterhalten und in Funktion belassen. Das Experiment der Bolschewisten in Rußland hat uns in dieser Hinsicht eine Lehre gegeben, die auch den Blindesten überzeugen müßte, wenn er nicht von vornherein die Absicht hat, sich nicht überzeugen zu lassen und jede Belehrung aus parteipolitischen oder anderen Gründen ablehnt.Jede neue Wirtschaftsordnung fordert kategorisch eine neue Form der politischen Organisation, innerhalb derer sie sich auswirken und in natürlicher Weise entwickeln kann. Aus diesem Grunde muß es eine der ersten Aufgaben des Sozialismus und der Sozialisten sein, das bestehende Staatssystem durch eine neue Form der politischen Organisation zu ersetzen, in welcher das Regieren der Menschen dem Verwalten der Dinge weichen muß.Von diesem Standpunkt ausgehend, erblicken wir in der Eroberung der politischen Macht keine Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus - eine Auffassung, wie sie von den Arbeiterparteien der verschiedenen Länder noch bis heute vertreten wird - unsere ganze Aufmerksamkeit ist vielmehr darauf gerichtet, jede politische Macht und Herrschaftseinrichtung aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschalten, weil dieselbe unvermeidlich zu neuen Formen der Ausbeutung führen müßte.Wir begnügen uns indessen keineswegs mit dem Zukunftsideal einer herrschaftslosen Gesellschaft, unsere Bestrebungen sind auch schon heute darauf eingestellt, die Wirkungssphäre des Staates, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bietet, zu beschränken und seinen Einfluß auf die verschiedenen Zweige des gesellschaftlichen Lebens nach Kräften einzudämmen. Es ist gerade diese Taktik, welche uns in erster Linie von den Methoden der sogenannten Arbeiterparteien unterscheidet, deren ganze Bestrebungen darauf gerichtet sind, den Wirkungskreis der staatlichen Macht fortgesetzt zu erweitern und dieselbe auch im weitesten Maße auf das Wirtschaftsleben auszudehnen, wodurch einer Periode des Staatskapitalismus der Weg geebnet wird, der seinem ganzen Wesen nach nur das Gegenteil von dem sein kann, was der Sozialismus eigentlich erstrebt.Diese Auffassung besagt aber keineswegs, daß die bestehenden politischen Formen eines Landes für uns gar keine oder nur nebensächliche Bedeutung haben. Gerade wir dürfen die allerletzten sein, welche die Arbeiter zu dem Wahn verführen wollen, daß ihnen die jeweilige Regierungsform gleichgültig sein kann und es für sie kein Unterschied ist, ob sie gezwungen sind, in einem zaristisch oder faschistisch regierten Staate leben zu müssen, oder ob sie sich gewisser politischer Rechte und Freiheiten erfreuen können, die ihnen sowohl für ihre täglichen Kämpfe gegen das Unternehmertum, als auch für jede Art der Propaganda, welche ihre soziale Befreiung zum Ziele hat, von allergrößter Wichtigkeit sind.Fragt doch einmal unsere syndikalistischen und anarchistischen Genossen in Italien und Spanien, fragt doch die organisierte Arbeiterschaft jener Länder, ob ihnen die Diktatur eines Mussolini oder eines Primo de Rivera in der Tat so ganz gleichgültig ist. Nur wer von den ungeheuerlichen Verfolgungen, welchen unsere Kameraden in jenen Ländern, besonders aber in Spanien während der letzten Jahre unterworfen sind, keinen blassen Schimmer hat, könnte etwas Ähnliches behaupten. In Spanien befindet sich die anarcho-syndikalistische Arbeiterschaft seit 1920 in einem unerbittlichen und furchtbaren Kampfe gegen die reaktionären Mächte des Staates und des Unternehmertums, der periodenweise den Charakter einer förmlichen Vendetta angenommen hatte und dem Hunderte unserer Kameraden zum Opfer gefallen sind. Wenn wir heute trotz alledem ein Erlahmen der Reaktion in Spanien wahrnehmen können, so ist dies sicher nicht zum wenigsten dem heldenmutigen Kampfe unserer spanischen Arbeitsbrüder zu danken, die auch unter den schwersten Verfolgungen nie den Mut verloren haben.Auch wir Revolutionäre und freiheitliche Sozialisten leben ja schließlich nicht auf dem Monde, sondern in einer Gesellschaft, die wir zwar bekämpfen, deren unmittelbaren Einflüssen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Natur wir uns aber vorläufig nicht entziehen können. Wir können daher nicht Dinge ignorieren, die uns fortgesetzt auf den Fingernägeln brennen und die, wenn wir schon mit ihnen nichts zu schaffen haben möchten, sich aber mit uns zu schaffen machen, ob es uns angenehm ist oder nicht.Wenn man daher behauptet, daß ja die verschiedenen Formen der staatlichen Macht an dem Wesen und der Existenz des Staates selbst nichts ändern könnten, und daß folglich die Frage, wer uns regiert und wie wir regiert werden, eine ganz untergeordnete Rolle spiele, so ist das ungefähr dasselbe, als wenn man den Standpunkt vertritt, daß es für die Arbeiter ganz gleich sei, ob sie acht oder zwölf Stunden arbeiten, ob ihre Entlohnung den Ansprüchen ihrer Lebensbedürfnisse angemessen ist oder nicht, da ja durch solche Kleinigkeiten an dem Bestehen der kapitalistischen Gesellschaft nichts geändert werde. Wir haben bereits in dem ersten Abschnitt dieser Abhandlung gezeigt, daß diese Auffassung der Dinge bedenklich hinkt und zu den Verderblichsten Schlußfolgerungen führen muß.Nein, ebensowenig wie die Frage seiner Lebenshaltung innerhalb der heutigen Gesellschaft dem Arbeiter gleichgültig sein kann, ebensowenig kann es ihm gleichgültig sein, welche Formen die politische Gestaltung seines Landes annimmt. Sowohl für seine unmittelbaren Bedürfnisse als auch für seine endgültige Befreiung aus wirtschaftlicher, politischer und sozialer Sklaverei benötigt der Arbeiter die denkbar größten politischen Freiheiten, die er sich gegebenenfalls erkämpfen muß, dort, wo sie ihm versagt werden, und die er mit aller Energie verteidigen muß, dort, wo die Reaktion Anstalten trifft, ihm dieselben zu entreißen. Man kann solche Dinge, die mit der gedeihlichen Entwicklung der Arbeiterbewegung aufs innigste verknüpft sind, nicht ignorieren oder mit ein paar leeren Phrasen abtun.Wie in so vielen anderen Fällen, so geht man auch in der Beurteilung dieser Frage vielfach von ganz irrigen Voraussetzungen aus und kann sich dann schließlich nicht wundern, wenn man zu solch ungereimten und verhängnisvollen Schlußfolgerungen kommt. Die meisten unserer Überradikalen messen politischen Rechten und Freiheiten innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung schon deshalb keinen Wert bei, weil dieselben in einer staatlichen Verfassung niedergelegt sind. Sie stoßen sich an der gesetzlichen Form, ohne sich auch nur einmal die Frage zu stellen, welche Kräfte am Werk gewesen sind, um die „Verankerung“ gewisser Rechte und Freiheiten in der Verfassung überhaupt zuwege zu bringen.In der Wirklichkeit ist diese Einstellung ja nicht neu. Sie war besonders unter den russischen Revolutionären ziemlich weit verbreitet und führte nicht selten zu den sonderbarsten Auffassungen. So faßte ein Teil unserer anarchistischen Genossen in Rußland im Jahre 1905 auf einer besonderen Konferenz den Beschluß, daß, falls Rußland sich infolge der damaligen Revolution in einen konstitutionellen Staat verwandeln werde, die Anarchisten unter keinen Umständen von gesetzlich garantierten Rechten und Freiheiten Gebrauch machen dürften, um die Arbeiter vor falschen Hoffnungen zu bewahren. Man beschloß daher, daß die Propaganda auch weiterhin und unter allen Umständen ihren geheimen Charakter beibehalten und die anarchistischen Blätter nach wie vor unterirdisch hergestellt werden sollten. Es wäre töricht, solche Beschlüsse allzu tragisch zu nehmen, und wir sind überzeugt, daß, wäre die Revolution von 1905 wirklich erfolgreich gewesen und Rußland in der Tat ein konstitutioneller Staat geworden, so würde sich auch jener Teil der Anarchisten seinen Beschluß noch zweimal überlegt haben. Immerhin verdienen solche Dinge schon etwas Aufmerksamkeit, denn sie zeigen uns, wie grausam auch die beste und schönste Idee mißverstanden werden kann, und zu welch hirnverbrannten Schlüssen man oft gelangen muß, wenn man der Entstehung gewisser Einrichtungen in der Gesellschaft jede Aufmerksamkeit versagt. Es ist übrigens bezeichnend, daß eine ganze Anzahl jener „Überradikalen“ sich später dem Bolschewismus angeschlossen hat und heute mehr oder weniger einflußreiche Mitglieder der Kommunistischen Partei Rußlands sind.Später entwickelte sich unter den russischen Revolutionären die Richtung der sogenannten „Machajewzes“, deren Anhänger nicht nur jedes sozialistische Gesellschaftsideal als religiöse Schwärmerei behandelten und Sozialdemokraten, Anarchisten und Syndikalisten alle in einen Topf warfen, sondern die auch den Standpunkt vertraten, daß jede öffentlich betriebene Propaganda und revolutionäre Tätigkeit der Arbeiter zu verwerfen sei, weil sie nur zu einer fruchtlosen Vergeudung der Kräfte führten. Von dieser Überzeugung ausgehend, redeten sie einer großen internationalen Verschwörung der Arbeiter das Wort, die sich nie mit Fragen der Zukunft, sondern ausschließlich mit den unmittelbaren Forderungen des Alltags befassen sollte. Und zwar sollten die Arbeiter alle Mittel des ökonomischen Terrors in Anwendung bringen, um ihren praktischen Forderungen Geltung zu verschaffen.Man konnte das Auftauchen solcher Richtungen in Rußland zur Not noch verstehen. In einem Lande, dessen Bevölkerung nie vorher politische Freiheiten irgendwelcher Art genossen hatte, sind solche Auffassungen immerhin verständlich. Daß man sich aber auch außerhalb Rußlands über diese Dinge noch nicht vollständig klar geworden ist, ist in der Tat bedauerlich.Man mag über Verschwörungen und geheime Bewegungen denken, wie man will, eines ist sicher, daß sie niemals zu Trägern großer Massenbewegungen werden können. Es gibt Zeiten, wo die Gründung geheimer Organisationen für die Arbeiter nicht zu umgehen ist. Wenn eine brutale, ungezügelte Reaktion die Entfaltung jeder öffentlichen Tätigkeit unterbindet und durch Ausnahmegesetze oder mit der Hilfe diktatorischer Gewaltmittel jedes freie Wort zu ersticken droht, dann bleibt den aktiven Elementen einer revolutionären Bewegung kein anderer Ausweg, als der Gewalt zu trotzen und zu konspirativen Verbindungen ihre Zuflucht zu nehmen. Dabei aber darf man niemals vergessen, daß diese Form der Bewegung nicht normal ist und ihr durch äußere Verhältnisse aufgezwungen wurde. In diesem Falle muß die Bewegung ihr ganzes Augenmerk darauf lenken, diese Verhältnisse bei der ersten Gelegenheit zu Fall zu bringen, damit sie wieder imstande ist, ihren natürlichen Charakter anzunehmen. Alle wirklich sozialen Bewegungen mit weitgesteckten Zielen bedürfen eben der breitesten Öffentlichkeit, um die Massen zu erfassen und in ihrem Sinne beeinflussen zu können, was eine Geheimbewegung nie zustande bringt. Schon von diesem Standpunkt aus gesehen erscheinen uns alle politischen Rechte und Freiheiten, welche sich im Laufe der Jahrzehnte in den verschiedenen Ländern durchgesetzt haben, in einem ganz anderen Lichte.Alle politischen Rechte, welche wir heute in mehr oder weniger beschränktem Maße genießen, haben die Völker nicht dem guten Willen oder der Gunst ihrer Regierungen zu danken. Im Gegenteil, die Regierungen haben alle Mittel, die ihnen nur zur Verfügung standen, angewendet, um das Zustandekommen solcher Rechte zu unterbinden und illusorisch zu machen. Große Massenbewegungen, ja ganze Revolutionen sind notwendig gewesen, um den herrschenden Klassen und Gewalten diese Rechte zu entreißen, zu denen sie sich freiwillig nimmer mehr entschlossen hätten. Ungeheuere Opfer waren nötig, um solche Rechte zu erkämpfen, die uns heute als etwas ganz Selbstverständliches erscheinen.an studiere doch einmal die Geschichte der letzten hundertfünfzig Jahre, um zu verstehen, welch unerbittliche Kämpfe notwendig gewesen sind, um jeden Zollbreit eines gewissen Rechtes den Klauen des Despotismus zu entreißen. Wieviel Ströme Blutes mußten erst vergossen werden, wieviel Märtyrertum war erforderlich, wieviel Verfolgungen haben in jedem Lande stattgefunden im Laufe langer Jahrzehnte, um einen mehr oder weniger freien Ausdruck der Meinung in Wort und Schrift zu ermöglichen! Lest doch einmal die Geschichte der Zensur, dieser verhaßten und fluchwürdigen Einrichtung, welche der geistigen Entwicklung Europas so lange an der Gurgel saß und teilweise noch immer sitzt! Wieviel ungeheuere Opfer und revolutionäre Erhebungen waren nötig, um jenem Monstrum in ununterbrochenen Zusammenstößen allmählich den Boden abzugraben!Und welch mühevolle und opferreiche Kämpfe mußten die Arbeiter fast in jedem Lande bestehen, um sich das Koalitionsrecht zu erringen, die Freiheit, sich mit ihresgleichen zu organisieren, um dem Unternehmertum eine geschlossene Front entgegensetzen zu können. Wir machen heute von diesen Rechten Gebrauch, aber die wenigsten geben sich Rechenschaft darüber ab, was dieselben die Arbeiterschaft gekostet haben. Wenn wir imstande waren, alle Opfer an Gut, Blut, Leben und Freiheit, welche die Arbeiter der verschiedenen Länder der Eroberung dieser Rechte bringen mußten, nur kurz wiederzugeben, so würde vor unseren Augen ein Bild entstehen, von dem wir uns jetzt sogar keine blasse Vorstellung machen können.Wie mußte zum Beispiel die englische Arbeiterklasse ringen und streiten, um sich das öffentliche Recht ihrer Organisation zu ertrotzen. Die berüchtigten Gesetze von 1799 - 1800 hatten es den Arbeitern unmöglich gemacht, öffentliche Verbindungen einzugehen, um ihre wirtschaftlichen Interessen gegen die unbegrenzte Habsucht des Unternehmertums zu verteidigen. So mußten sie sich denn in geheimen Körperschaften zusammenfinden, um den Kampf ums tägliche Brot zu führen und ihren Forderungen Geltung zu verschaffen. Aber wie groß war die Zahl derer, die in die Schlingen der Gesetze gerieten und auf administrativem Wege, das heißt, ohne Prozeß und öffentliche Gerichtsverhandlung, nach den Strafkolonien Australiens deportiert wurden, um niemals die Heimat wiederzusehen! Jede Zuwiderhandlung gegen den Buchstaben des Gesetzes wurde mit geradezu ungeheuerlichen Strafen geahndet. Und sogar nachdem im Jahre 1824 die sogenannten Trades Unions gesetzlich anerkannt wurden, hörten diese furchtbaren Verfolgungen noch lange nicht auf. Gewissenlose Richter, die in der offenkundigsten und zynischsten Weise die brutalsten Klasseninteressen des Unternehmertums wahrnahmen, verhängten über unbotmäßige Arbeiter Hunderte von Jahren Zuchthaus, und es vergingen noch Jahrzehnte, bis ein einigermaßen erträglicher Zustand eintrat. Doch mußten die Arbeiter stets auf ihrer Hut sein, um sich gegen neue Angriffe zu schützen, die sich bis in die letzte Zeit hinein fortsetzten.Und mußte nicht die französische Arbeiterschaft ähnliche Opfer bringen, um sich ihr Organisationsrecht zu erringen? Sogar der „revolutionäre Konvent“ versagte ihnen dieses Recht und bedrohte jedes Zuwiderhandeln mit dem Tode. Erst die Februarrevolution des Jahres 1848 verschaffte der französischen Arbeiterklasse das Koalitionsrecht, das in jener berühmten von Louis Blanc entworfenen Erklärung der Provisorischen Regierung folgenden Ausdruck fand: „Die Provisorische Regierung der Republik verpflichtet sich, die Existenz des Arbeiters durch die Arbeit zu garantieren. Sie verpflichtet sich, allen Bürgern Arbeit zu verschaffen. Sie erkennt an, daß alle Arbeiter sich untereinander verbinden müssen, um den Ertrag ihrer Arbeit zu genießen."Allein die Arbeiter durften sich dieses Rechtes nicht lange erfreuen, denn als nach dem furchtbaren Aderlaß der Junischlacht Louis Bonaparte Präsident der Republik wurde, gingen diese Errungenschaften bald wieder zugrunde, und die ersten Ansätze der rasch entstandenen Arbeiterorganisationen fielen jenem infamen Gesetz zum Opfer, das die Zahl der Mitglieder einer Organisation auf zwanzig beschränkte und jede Verbindung unter den einzelnen Organisationen untersagte. Damit war der Zustand vor 1848 wiederhergestellt. Im Jahre 1864 anerkannte die kaiserliche Regierung zwar sehr gegen ihren Willen das Recht der Arbeiter, zu streiken, aber sie erlaubte ihnen nicht, Gewerkvereine zu gründen, ohne die das Streikrecht wenig Bedeutung hatte. Allein die Arbeiter, welche der Regierung das Streikrecht entrissen hatten, indem sie einfach auf das Verbot der Arbeitsniederlegung keine Rücksicht mehr nahmen, so daß die Regierung vor eine fertige Tatsache gestellt wurde, die sich nicht mehr rückgängig machen ließ, ertrotzten sich auch das Organisationsrecht, indem sie einfach trotz dem Gesetz gewerkschaftliche Verbindungen ins Leben riefen, ungeachtet aller Verfolgungen. Nach der Niederlage der Pariser Kommune, von 1871 bis 1878, suchte die republikanische Regierung diese Verbindungen mit allen Mitteln zu unterdrücken, aber sogar die schlimmsten Verfolgungen waren nicht mehr imstande, die Arbeiter dem Buchstaben des Gesetzes zu unterwerfen, bis man endlich im Jahre 1886 das Organisationsrecht gesetzlich anerkennen mußte, wobei man den einzelnen Organisationen noch immer genug Beschränkungen auferlegte. Ohne diese fortwährenden Kämpfe der Arbeiterschaft um ihr Vereinigungsrecht gäbe es in der französischen Republik noch heute kein Koalitionsrecht. Erst nachdem die Arbeiter das Parlament vor vollendete Tatsachen gestellt hatten, sah sich die Regierung genötigt, der neuen Lage Rechnung zu tragen und die Gewerkschaften gesetzlich zu sanktionieren.Und welch harte und blutige Kämpfe hatte die spanische Arbeiterschaft zu bestehen, ehe sie den Gewalthabern ihres Landes das Organisationsrecht abtrotzte. In der Provinz Katalonien bestanden schon seit 1840 gewerkschaftliche Organisationen, besonders in der Textilindustrie, die von dem Weber Munts gegründet wurden. Die Regierung setzte diesen Vereinigungen zunächst keinen Widerstand entgegen, aber nach einigen Jahren unterdrückte sie plötzlich die Organisationen der Arbeiter mit militärischer Gewalt. Die Arbeiter vereinigten sich nun in geheimen Verbänden, die immer größere Verbreitung fanden, bis im Jahre 1855 der General Zapatero, ein finsterer Reaktionär unseligen Angedenkens, die drakonischsten Maßregeln in Anwendung brachte, um die geheimen Verbindungen der Arbeiter, deren Stärke er allerdings nicht kannte, im Keime zu ersticken. Nun beschlossen die Arbeiter einen Generalstreik, und am 2. Juni 1855 verließen 50.000 Proleten die Betriebe. Von Barcelona verbreitete sich die Bewegung fast über ganz Katalonien. In Sans, Igualada und Vieh kam es zu blutigen Zusammenstoßen, die den Charakter eines bewaffneten Aufstandes annahmen. In Barcelona hatten die Arbeiter die Worte „Associación ó Muerte!" (Vereinigung oder den Tod!) auf ihre Fahne geschrieben.Die Lage wurde für die Regierung sehr kritisch, um so mehr als in den baskischen Provinzen um dieselbe Zeit ein neuer Aufstand der Karlisten ausgebrochen war. Der Gouverneur von Barcelona wandte sich endlich in einem bewegten Aufruf an die Arbeiter und beschwor sie, den Streik aufzugeben, da die Regierung alles tun werde, ihre gerechten Forderungen zu erfüllen. Darauf brachen die Arbeiter am neunten Tage den Streik ab, aber die Versprechungen, die man ihnen gegeben hatte, wurden in schnöder Weise gebrochen und ganz Katalonien mit Militär überschwemmt. Eine Anzahl Arbeiter wurde erschossen, Hunderte in die Gefängnisse geworfen oder nach den Philippinen verbannt.Aber die Aufstände wiederholten sich, bis sich die Regierung im Laufe der Jahre doch entschließen mußte, den Forderungen der Arbeiter nachzugeben, was zunächst unter allen möglichen Vorbehalten geschah, wobei die Arbeiter sich buchstäblich Stück für Stück ihrer Rechte erkämpfen mußten. Und sogar dann, als den Proletariern das Koalitionsrecht schon gesetzlich garantiert war, wurde es ihnen des öfteren durch Ausnahmegesetze und Proklamation der Militärdiktatur wieder entrissen, so daß sie stets von neuem in die Schranken treten mußten, um sich Recht zu verschaffen.Es würde zu weit führen, wenn wir hier alle Kämpfe registrieren wollten, welche die Arbeiter auch in anderen Ländern führen mußten, um sich bestimmte politische Rechte zu erobern, die ihnen als Grundlage ihrer Organisationen dienen mußten. Alle diese Rechte und Freiheiten mußten den herrschenden Klassen in endlosen Kämpfen direkt entrissen werden. Dies geschah stets mit innerem Widerstreben und immer erst dann, wenn die Unzufriedenheit der Massen größere Dimensionen angenommen hatte und sich in revolutionären Aktionen Luft machte, welche die Regierung zum Nachdenken zwangen. Ebensowenig wie das Unternehmertum den Arbeitern je die geringste Verbesserung aus eigenem Antrieb gewährte und immer erst durch die Aktion der Arbeiter dazu gezwungen werden mußte, ebensowenig hat je eine Regierung aus freien Stücken ihren Bürgern politische Rechte und Freiheiten verliehen. Diese Rechte mußten vielmehr in stetem Kampfe mit der Autorität des Staates errungen werden, und es gingen oft Jahrzehnte darüber hin, bis die Massen sich so stark fühlten, den Widerstand der Regierung zu brechen und ihren Forderungen Geltung zu verschaffen.Es ist daher eine vollständige Verkennung der geschichtlichen Tatsachen, wenn man den Standpunkt vertritt, daß politische Rechte und Freiheiten, wie sie in sogenannten konstitutionellen Staaten mehr oder weniger üblich sind, für die Arbeiter schon deshalb keinen Wert hätten, weil die Regierungen sie sonst nie und nimmer sanktioniert und gesetzlich bestätigt hätten. Nicht weil den Regierungen diese Rechte sympathisch waren, hat man sie gegeben, sondern weil sie stets durch den Druck der äußeren Umstände dazu gezwungen wurden, weil das Volk sie vor vollendete Tatsachen stellte, die man nicht mehr ungeschehen machen konnte und die man notgedrungen sanktionieren mußte, um ihnen einen gesetzlichen Anstrich zu geben. Anderenfalls hätte sonst das Volk leicht auf die Idee kommen können, daß es diese Errungenschaften seiner eigenen Kraft und nicht der Gnade seiner Regierung zu verdanken habe.Politische Rechte und Freiheiten werden nicht in den Parlamenten erworben, sie werden den Parlamenten vielmehr von außen her aufgezwungen. Sogar ihre gesetzliche Gewährleistung ist noch lange keine Garantie dafür, daß das, was unter gewissen Umständen gesetzlich niedergelegt wurde, nunmehr auch Bestand hat. Nein, und tausendmal nein! Ebenso wie das Unternehmertum jedes Zugeständnis, welches es den Arbeitern zu machen gezwungen war, bei der ersten Gelegenheit wieder rückgängig zu machen sucht, sobald ihm die Lage dazu günstig erscheint oder sobald sich in den Organisationen der Arbeiter Zeichen innerer Schwäche bemerkbar machen, ebenso sind Regierungen stets geneigt, gewisse politische Rechte und Freiheiten wieder aufzuheben, wenn sie glauben annehmen zu dürfen, daß ihnen draußen kein nennenswerter Widerstand entgegengesetzt wird.Das ist auch die Ursache, weshalb sogar in solchen Ländern, wo gewisse Rechte, wie z. B. die Freiheit der Presse, das Versammlungsrecht, die Koalitionsfreiheit usw. sich bereits seit langen Jahrzehnten beim Volke eingebürgert haben, die Regierung trotzdem immer wieder Versuche macht, diese Rechte zu beschränken oder ihnen durch juristische Spitzfindigkeiten eine andere Auslegung zu geben. England und Amerika haben uns in dieser Hinsicht manche interessante Lehre gegeben. Rechte bestehen eben nicht deshalb, weil sie auf einem Stück Papier gesetzlich niedergelegt sind, nein, Rechte bestehen nur dann, wenn sie zu einem unentbehrlichen Bedürfnis des Volkes geworden, ihm sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Und man wird sie stets nur so lange achten, als im Volke dieses Bedürfnis lebendig ist. Wo dies nicht der Fall ist, hilft auch keine parlamentarische Opposition und keine Berufung auf die Verfassung.Haben wir doch ein Schulbeispiel für die Richtigkeit unserer Behauptung in der berühmten, fast hätte ich geschrieben „berüchtigten“, Verfassung von Weimar. Die Weimarer Verfassung, die man mit Stolz als die freieste der Welt bezeichnet, garantiert ihren Bürgern, vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft aus gesehen, in der Tat ziemlich weitgehende Rechte und Freiheiten. Aber diese Rechte haben eben nur die kleine Unannehmlichkeit, daß man sie nie gebrauchen kann, wenn man sie am nötigsten hat, denn an jedem Regentag hebt man die Verfassung auf und verhängt über Land und Bürger den Belagerungszustand. Wobei wir es erleben mußten, daß sogar die „Schutztruppe der Republik“, die deutsche Sozialdemokratie, sich nicht entblödet hat, die sogenannte Regierungsgewalt in die Hand der Generäle zu legen, weil das Vaterland angeblich in Gefahr war. Und wann wäre das Vaterland nicht in Gefahr gewesen, sobald unsere Regierer ein Interesse daran haben?So geht es den guten Deutschen mit der Weimarer Verfassung, wie es den Franzosen mit der berühmten demokratischen Gesetzgebung von 1793 ergangen ist, die bekanntlich niemals in Kraft getreten ist. Man zeigt sie dem Volke an hohen Festtagen, wie der katholische Priester den Gläubigen in der Kirche für einen Augenblick die Monstranz zeigt, um sie gleich darauf wieder fürsorglich im heiligen Schrein zu verschließen.Politische Rechte und Freiheiten haben eben nur dann einen praktischen Wert, wenn sie einem Volke zur inneren Gewohnheit geworden sind und wenn jeder Versuch, dieselben zu beeinträchtigen, mit dem heftigsten Widerstand der Massen rechnen muß. Respekt erzwingt man sich, indem man seine Würde als Mensch zu wahren weiß. Das ist nicht bloß im Privatleben so, das ist auch im politischen Leben nie anders gewesen. Aus diesem Grunde haben die glutvollen Worte, welche Kropotkin vor nahezu einem halben Jahrhundert niederschrieb, auch heute noch ihre Richtigkeit. Ja, es ist wahr:„Wollen wir die Freiheit haben, zu sagen und zu schreiben, was uns gefällt, wollen wir uns versammeln und organisieren, so dürfen wir nicht von einem Parlamente die Erlaubnis dazu erbitten, wir dürfen nicht um ein Gesetz beim Senat betteln. Laßt uns eine organisierte Macht sein, fähig, jedesmal die Zähne zu weisen, wenn, wer immer es wagt, unsere Redefreiheit und unser Versammlungsrecht zu beschränken. Seien wir stark, und wir können sicher sein, daß niemand es wagen wird, uns das Recht streitig zu machen, all das zu sagen, zu schreiben, zu drucken, was wir wollen, und uns zu versammeln, wann und wo es uns Vergnügen macht. Am Tage, wo es uns gelungen ist, unter den Ausgebeuteten eine so starke Einigkeit zu schaffen, daß Tausende von Menschen bereit sind, in den Kampf für ihre Rechte einzutreten, oder dieselben zu verteidigen, an diesem Tage wird es niemand wagen, uns diese Rechte - und noch viele andere, welche wir dann fordern können - streitig zu machen. Dann, aber nur dann werden wir diese Rechte wirklich errungen haben, um die wir bei den Parlamenten jahrzehntelang betteln würden. Dann werden uns diese Rechte ganz anders gewährleistet sein, als wenn man sie wiederum auf ein Stück Papier aufzeichnen würde. Freiheiten werden nicht geschenkt, man muß sie sich nehmen!"Aber dies ist nur möglich, wenn wir jederzeit bereit sind, auch die kleinste Errungenschaft gegen jeden reaktionären Angriff zu verteidigen, und indem wir unermüdlich dafür wirken, in den Massen das Verständnis für die unbedingte Notwendigkeit bestimmter Rechte und Freiheiten wachzurufen. Denn nur dies allein ist imstande, sie für die Wahrnehmung und Verteidigung ihrer Rechte zu veranlassen. Dies aber geschieht nicht in den Parlamenten, dazu sind in erster Linie die wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiterschaft berufen, die ihr gleichzeitig als Bollwerk dienen müssen, hinter dem sie ihren Forderungen Geltung verschaffen kann.Politische Rechte und Freiheiten deshalb für die Arbeiterklasse als nebensächlich und bedeutungslos zu bezeichnen, weil dieselben von einer Verfassung gesetzlich gewährleistet werden, wäre ebenso töricht, als wenn man eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen nur deshalb ablehnen wollte, weil dieselbe von den Unternehmern offiziell anerkannt und bestätigt wurde.Nicht darauf kommt es an, daß Regierungen sich entschlossen haben, dem Volke gewisse Rechte zu gewährleisten, sondern darauf, weshalb sie sich entschließen mußten, dieselben zu gewährleisten! Hier liegt des Pudels Kern. Wer diesen Zusammenhang der Dinge nicht begreift, der wird auch nie imstande sein, ein klares Urteil über diese Frage zu fällen, dem mag es allerdings vorkommen, daß von der Kirchturmspitze des „reinen Prinzips“ betrachtet, diese Dinge für die Arbeiter keinen Wert haben.Es ist eine durchaus natürliche Erscheinung, daß, wenn ein Mensch zwischen zwei Übeln zu entscheiden hat, er das geringere wählt. Diese Maxime hat auch Geltung für das politische und soziale Leben. Wenn wir zwischen Dingen zu entscheiden haben, welche der Erfüllung unserer innersten Wünsche noch so ferne stehen, so bevorzugen wir trotz alledem die Sache, die uns relativ am besten erscheint und uns die größten Vorteile gewährt. Im politischen und sozialen Leben nennt man das „Stellung nehmen“. Und weil wir nun einmal in der heutigen Gesellschaft leben, ohne an dieser Tatsache etwas ändern zu können, so sind auch wir gezwungen, Stellung zu nehmen zu den verschiedenen Fragen, welche das praktische Leben auf wirft. Tun wir das nicht, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn andere uns keinerlei Bedeutung beimessen und ohne unser Zutun die Rechnung machen. Eine solche Rolle aber wäre gerade für Revolutionäre die blamabelste von allen.Wenn wir also die Wahl zu treffen haben zwischen acht Stunden Arbeitszeit und zehn Stunden Arbeit, zwischen einer besseren oder einer schlechteren Entlohnung für unsere Arbeitskraft, so entscheiden wir uns natürlich für die acht Stunden und den besten Lohn. Wohl wissen wir, daß damit an der Existenz der Lohnsklaverei nichts geändert wird, der wir auch weiterhin unterworfen sind. Aber wir haben unsere Entscheidung unter der Erwägung getroffen, daß zwei Stunden weniger Sklaverei und eine Entlohnung, die uns die Möglichkeit gibt, größere Bedürfnisse zu befriedigen, eine Errungenschaft sind, die kein vernünftiger Mensch unterschätzen wird. Außerdem sind wir der Meinung, daß wenn schon eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse uns den Sozialismus nicht bringen kann, eine Verschlechterung derselben oder stumpfe Gleichgültigkeit den gegebenen Verhältnissen gegenüber ihn uns sicher nicht bringen werden. Ein Mensch, der bereit ist, für seines Lebens Notdurft zu kämpfen, wird sich auch einsetzen, wenn es sich einmal um seine endgültige Befreiung handeln wird, ein Mensch aber, dem seine Lebenshaltung gleichgültig ist, ist weder für den Kampf des Alltags noch für das Ringen ums Ganze zu gebrauchen.Und wenn wir vor die Wahl gestellt werden, zwischen der Möglichkeit eines diktatorischen oder faschistischen Regierungssystems und einem bürgerlichen Verfassungsstaate zu entscheiden, so ziehen wir den letzteren unbedingt vor. Und indem wir dies tun, geben wir uns nicht der geringsten Täuschung hin. Wir wissen ganz gut, daß unser Entscheid uns nicht vom Joche der staatlichen Bevormundung noch von der Tyrannei der bürgerlichen Gesetzgebung befreien wird. Aber wir wissen auch, daß es ein Unterschied ist, ob wir gezwungen sind, unter einem unverhülltem Gewaltregime zu leben, wo jedes freie Wort erdrosselt, alle in zahllosen Kämpfen errungenen Rechte vernichtet, jede Betätigung für die Interessen der Unterdrückten im Keime erstickt werden und unsere menschliche Würde fortgesetzt mit Füßen getreten wird, oder ob wir unter einem politischen System leben, wo ein Ausdruck der Meinung in Wort und Schrift, die Möglichkeit, uns zu organisieren und eine gewisse Betätigungsfreiheit dem Einzelnen gewahrt ist, die ihm einen mehr oder weniger breiten Spielraum für die Wahrnehmung und Verteidigung seiner gesellschaftlichen Interessen geben.Es war diese Erwägung, welche einen Most veranlaßte, der Republik über die Säbeldiktatur des Kaiserreichs den Vorzug zu geben, die Bakunin seinerzeit den Sieg der französischen Republikaner über die monarchistische Reaktion begrüßen ließ und die erst vor kurzem unseren alten Freund Malatesta in einem ausgezeichneten Artikel, „Diktatur und Konstitution“ betitelt, dieselben Schlüsse ziehen ließ. Und das ist ganz natürlich, denn einen anderen Standpunkt in dieser Frage vertreten, hieße ja der Reaktion direkt in die Hände arbeiten. Die Arbeiter aber haben sicher kein Interesse daran, den Reaktionären ihr Spiel zu erleichtern, indem sie aus angeblichem Radikalismus errungene Rechte gleichgültig preisgeben. Hüten wir uns davor, solche Ideen unter den Massen zu verbreiten! Die Konsequenzen könnten furchtbar sein. Richten wir vielmehr unser ganzes Augenmerk darauf, daß unsere Tätigkeit den Schildträgern der Reaktion in keiner Weise Vorschub leistet. Auch für uns steht der schlimmste Feind rechts!Wer dies auch nur einen Augenblick lang vergißt, der fördert, wenn auch ungewollt, die Bestrebungen der monarchistischen und militaristischen Reaktion, die stets auf der Lauer liegt, um auch den letzten Errungenschaften der Revolution den Garaus zu machen. Weit genug ist der Zug nach rechts ja bereits gegangen. Aber das Schlimmste, was der deutschen Arbeiterklasse passieren könnte, wäre ein vollständiger Sieg jener stockreaktionären Meute, welche ihr früher schon zum Fluche wurde, und deren gewissenlose und beutehungrige Politik nicht zum wenigsten dazu beigetragen hat, jene schauerliche Katastrophe zu entfesseln, welche eine ganze Welt in Tod und Verderben stürzte. Wenn die deutsche Arbeiterschaft sich auch dieses noch bieten ließe, ohne ihr Veto einzulegen, so hätte sie allerdings nichts Besseres verdient.Die Begriffsverwirrung innerhalb der deutschen Arbeiterschaft hat schon zu manchen verhängnisvollen Dingen Anlaß gegeben. Haben wir es doch schon erleben müssen, daß ein eingefleischter Reaktionär wie Graf von Reventlow in dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei eine Gastrolle geben durfte, daß dieselbe Partei mit monarchistischen Offizieren und völkischen Nationalisten liebäugelte und ein Bündnis mit ihnen in Erwägung zog. Allerdings hat man später behauptet, daß man die anderen nur benutzen wollte, um sie später zu düpieren. Das ist ein gefährliches, ein frevelhaftes Spiel, und wer sich als Revolutionär darauf einläßt, der wird stets selbst der Düpierte sein. Denn es ist nur die Reaktion, die bei einem solchen Handel gewinnen kann, während es in den Reihen der Arbeiter nur bodenlose Verwirrung und heilloses Mißtrauen auslösen muß, das zuletzt jede Bewegung vergiftet.Hüten wir uns davor, das Chaos noch größer zu machen durch hohle Schlagworte und mißverstandene Begriffe! Wenn man freilich sich die zynischen Worte Lenins zu eigen macht und die Freiheit lediglich als „bürgerliches Vorurteil“ auffaßt, dann allerdings haben politische Rechte und Freiheiten für die Arbeiter keinerlei Bedeutung. Dann aber haben auch all die zahllosen Kämpfe der Vergangenheit, alle Aufstände und Revolutionen, denen wir diese Rechte verdanken, keinen Wert gehabt, und wir können uns ruhig den Luxus gestatten, alle Errungenschaften vergangener Massenaktionen kampflos preiszugeben, weil sie ihren Zweck ja doch verfehlt haben. Um diese Weisheit zu verkünden, wäre es allerdings auch nicht nötig gewesen, den Zarismus zu stürzen, denn auch die Zensur Nikolai des Letzten hätte sicher nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn man die Freiheit ein bürgerliches Vorurteil genannt hätte. Das haben übrigens, wenn auch mit anderen Worten, die großen Theoretiker der Reaktion, de Maistre und Bonald, auch getan, und die Träger des alten Absolutismus waren ihnen sehr dankbar dafür.Wir aber wollen uns von solchen billigen Spitzfindigkeiten den gesunden Sinn nicht trüben lassen. Wissen wir doch nur zu gut, daß sich hinter allen diesen Vorbehalten das Prinzip der Reaktion verbirgt. Und gerade deshalb stehen wir im Kampfe ums tägliche Brot, gerade deshalb begrüßen wir jede neue Errungenschaft der revolutionären Arbeiterbewegung auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens, gerade deshalb sind wir stets bereit, gewonnene Positionen gegen die Angriffe unserer Gegner zu verteidigen. Denn noch einmal sei es gesagt: Nur im Kampfe wird uns das Recht! Aus dem täglichen Ringen um die Notdurft des Lebens erwächst uns das Flammenzeichen einer neuen Zeit, das unserer Sehnsucht Flügel gibt. Und dieses Zeichen wird uns Wegweiser sein, bis daß die Zeit sich erfüllen wird, wo jede Form der Ausbeutung, jedes System der Herrschaft in Trümmer fallen wird, um Platz zu machen einer Welt der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.

Rudolf Rocker - Staat und Krieg

Sozialisten der verschiedensten Richtungen haben sich längst daran gewöhnt, die kapitalistische Wirtschaft für alle Sünden und Gebrechen der heutigen Gesellschaftsordnung verantwortlich zu machen und in ihr die eigentliche Ursache aller Kriege zu erblicken, die seit Jahrhunderten das soziale Leben der Völker schwer erschüttert und periodisch aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Diese Auffassung verdankt ihren Ursprung vornehmlich dem Glauben, alle gesellschaftlichen Übel auf dieselbe Ursache zurückführen zu müssen, der das Denken der Menschen dazu verleitete, nach einem bestimmten Universalmittel Ausschau zu halten, von dem man sich die völlige Beseitigung aller sozialen Mißstände versprach. Nachdem man sich unter dem Einfluß der marxistischen Lehre mit dem Gedanken vertraut gemacht hatte, in den jeweiligen Produktionsverhältnissen die treibende Kraft aller politischen und ideologischen Veränderungen in der Struktur der Gesellschaft entdeckt zu haben, ergaben sich alle weitere Folgerungen ganz von selbst.Wie die Bourgeoisie als Klasse das feudale - Wirtschaftssystem der Aristokratie verdrängt und durch die kapitalistische Wirtschaft ersetzt hatte, so wurde nunmehr dem Proletariat die historische Mission zugeschrieben, den Kapitalismus durch den Sozialismus abzulösen. Als notwendiges Übergangsstadium für diese große gesellschaftliche Wandlung betrachtete man die sogenannte Diktatur des Proletariats, der man die Aufgabe zudachte, die Klassenunterschiede zu beseitigen und nach getaner Arbeit pflichtgetreu abzudanken, damit sich die klassenlose sozialistische Gesellschaft als Assoziation der Produzenten frei entfalten könnte wie der Vogel Phönix aus der Asche. In der Theorie machte sich das alles auch sehr einfach; die ganze Sache war ja so klar, daß man sie mit den Händen greifen konnte. Daß man die neue Lehre anspruchsvoll als wissenschaftlichen Sozialismus ausgab, im Gegensatz zu den Traumgebilden der sogenannten Utopisten, trug nicht wenig dazu bei, ihren Anhängern jene kritiklose Sicherheit der Überzeugung einzuflössen, die sich über jedem Zweifel erhaben fühlte und jede andere Meinung als kleinbürgerlich in Verruf brachte. Generalisierungen sind immer ein bedenkliches Mittel, wenn es sich um die Begründung von Ideen handelt, da sie sich fast immer auf Hypothesen stützen, die noch durch keine praktische Erfahrung erprobt werden konnten. In sozialen Fragen aber sind sie doppelt gefährlich, besonders wenn man bestimmten gesellschaftlichen Vorgängen einen gesetzmäßigen Verlauf beizulegen versucht, für den im Voraus keine Beweise zu erbringen sind.Heute, wenn wir mit Wirklichkeiten zu rechnen haben, die niemand in ihrem vollen Umfang voraussehen konnte, begreifen wir das besser oder sollten es wenigstens besser begreifen, wenn wir uns wirklich Mühe geben, die furchtbaren Erfahrungen der letzten Vergangenheit nach ihren praktischen Ergebnissen zu beurteilen. Die oberflächliche Behauptung, daß der Kapitalismus die Ursache aller Kriege sei, erscheint uns heute doch etwas zu einfach, um von denkenden Menschen noch ernst genommen zu werden. Sie ist schon deshalb hinfällig, weil der Krieg nicht nur eine Erscheinung des kapitalistischen Zeitalters ist, sondern in allen Perioden der menschlichen Geschichte vorkam, als von einer kapitalistischen Wirtschaft noch keine Rede sein konnte. Es gibt überhaupt keine Epoche der Geschichte, die den Krieg nicht gekannt hätte, von den Feindseligkeiten halbwilder Völkerstämme um die besten Jagdgründe oder Weideplätze, bis zu den endlosen Kriegen, die nach der Gründung der ersten Staatsgebilde bis heute ihren Fortgang nahmen.Seinen eigentlichen militärischen Charakter erhielt der Krieg erst mit der Entwicklung der ersten Staaten, die durch die Einführung besonderer Armeen den Krieg erst zu einem Mittel der Eroberung machten. In allen Zeiten der bekannten Geschichte wurde der Krieg von Staaten sanktioniert, organisiert und ausgeführt. Seine unmittelbaren Ursachen waren sehr verschieden, wie sie es noch heute sind, obgleich dabei immer machtpolitische Interessen den Ausschlag gaben, was schon in den gegenseitigen Rivalitäten der verschiedenen Staaten begründet war. In vielen Kriegen spielten religiöse Glaubensgegensätze eine eine wichtige Rolle. Wie in den Kreuzzügen, in den jahrhundertelangen Fehden der islamitischen Staaten mit der christlichen Welt, m den Hugenottenkriegen, dein Dreißigjährigen Krieg usw., die mit besonderer Erbitterung geführt wurden wie alle Kämpfe, in denen es sich um religiöse Streitfragen oder ideologische Gegensätze anderer Art, handelte, wie z. B. in den Revolutionskriegen der verschiedensten Länder. Zahlreiche Kriege wurden durch dynastische Interessen oder durch das Ringen einzelner Großstaaten um die Hegemonie über Europa hervorgerufen. Dazu gehören der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich, der Spanisch-Österreichische Erbfolgekrieg und alle späteren bewaffneten Konflikte auf dem Kontinent von Napoleon bis Hitler.Zweifellos haben in all diesen Kämpfen, die häufig ganze Landesteile in Wüsten verwandelten, auch wirtschaftliche Fragen mitgespielt, da es sich ja in jedem Kriege um die militärische und politische Unterwerfung des Gegners handelt und jede politische Unterdrückung mit der wirtschaftlichen Ausbeutung des Besiegten verbunden ist. Es gibt zwischen all diesen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens innere Zusammenhänge, die keiner bestreiten wird, der sich ernstlich mit diesen Fragen beschäftigt. In den meisten Fällen sind die verschiedenen Formen des historischen Geschehens so eng mit einander verwebt, daß sie Überhaupt nicht zu trennen sind. Aus diesem Grunde ist jeder Versuch, in einem bestimmten Faktor der sozialen Lebensäußerungen die eigentliche Triebfeder aller geschichtlichen Vorgänge sehen zu wollen, ein ganz hoffnungsloses Unternehmen, das zu den schlimmsten Trugschlüssen verleitet, wie gerade heute jeder erkennen muß, der aus den Begebenheiten der jüngsten Geschichte überhaupt etwas gelernt hat.Indem man der kapitalistischen Wirtschaftsordnung die ganze Verantwortung für alle sozialen Unzulänglichkeiten, darunter auch die eigentliche Ursache für den Krieg aufbürdete, übersah man fast vollständig, daß der moderne Kapitalismus sich erst in einer Zeit entwickelte, als überall in Europa bereits eine ganze Reihe nationaler Großstaaten bestanden, an die sich die neue Wirtschaft anpassen mußte. Daß die Produktionsverhältnisse, die, nebenbei gesagt, nur einen Teil der Wirtschaft ausmachen, nicht allmächtig sind und nicht, wie Marx behauptete, "die gesellschaftlichen Bewußtseinsformen" und "den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt bestimmen", geht schon daraus hervor, daß der königliche Absolutismus in Europa jede Entwicklungsmöglichkeit der Produktionsverhältnisse durch seine unsinnigen Ordonnanzen und Reglementierungen jahrhundertelang verhindern konnte, obgleich das gesellschaftliche Bewußtsein längst vorhanden war, daß unter jenem Regime jede Verbesserung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen ausgeschlossen war, wie dies aus den Schriften der sogenannten Physiokratischen Schule deutlich genug hervorgeht. Erst nach dem Sturz der absoluten Monarchie und den großen politischen Veränderungen, die das Zeitalter der Revolutionen fast überall in Europa herbeiführte, konnte sich die neue Wirtschaftsordnung erst richtig herausbilden. Das kapitalistische Wirtschaftssystem, das nicht wie das alte vornehmlich auf lokalen und regionalen Bedarf eingestellt war, sondern auf Massenproduktion und daher auf den Import von Rohstoffen für seine Industrien und auf den Export fertiger Waren für fremde Märkte, war schon seiner Natur nach international, konnte aber trotzdem nicht den engen Rahmen des nationalen Staates sprengen und war gezwungen, sich diesem einzufügen, umsomehr, als seine Entwicklung von dem neuen Staat begünstigt wurde, der versuchte, es seinen machtpolitischen Bestrebungen dienstbar zu machen wie jede Institution innerhalb seiner Einflußsphäre. Wenn es auch wahr ist, daß die Träger der kapitalistischen Wirtschaft auf die Gestaltung des modernen Vertretungsstaates einen starken Einfluß hatten, so bleibt es' doch nicht weniger wahr, daß der neue Staat durch die Verleihung weit ausgedehnter Monopole der kapitalistischen Wirtschaft erst richtig auf die Beine geholfen hat und als der eigentliche Schöpfer aller Wirtschaftsmonopole betrachtet werden muß. Der Schacher mit Monopolen begann bereits in der Vorperiode des eigentlichen Kapitalismus, in der Ära des sogenannten Merkantilismus, und hat sich seitdem ununterbrochen fortgesetzt, bis er endlich heute in einer ganzen Anzahl von Ländern in einen teilweisen und in Rußland mit seinen Satelliten in einen totalitären Staatskapitalismus ausmündete.Kein Wirtschaftssystem, wie verkehrt und ungerecht seine Grundlagen immer sein mögen, hat am Kriege ein unmittelbares Interesse, schon deshalb nicht, weil die Wirtschaft ein viel zu kompliziertes Gewebe ist, dem jeder gewaltsame Eingriff gefährlich werden muß, und das nur in der Zeit des Friedens am besten gedeihen kann. Sogar der Umstand, daß manche Industrien aus den Vorbereitungen zum Kriege und dem Krieg selbst große Profite ergattern, ändert nichts an der Tatsache, daß der Krieg der Wirtschaft als Ganzes ungeheure Wunden schlägt, die nur im Laufe langer Zeiträume allmählich geheilt werden können. Über die unheimliche Rolle der sogenannten Rüstungsindustrien ist bereits sehr viel geschrieben worden, aber man vergißt dabei allzu häufig, daß diese Unternehmungen in der Wirklichkeit nichts anders als vom Staate sanktionierte Privatmonopole waren wie die Krupp-Werke in Deutschland, die Schneider-Werke in Frankreich, die Skoda-Werke in der Tschechoslowakei, die Putiloff-Werke in Rußland, die Armstrong-Werke in England und zahlreiche ähnliche Unternehmungen in denselben und anderen Ländern. Sie wurden vom Staate begünstigt, weil er sie zur Förderung seiner machtpolitischen Bestrebungen benötigte. So lange es sich um kurze Kriege zwischen einzelnen Ländern handelte, waren die Auswirkungen nicht so offensichtlich; heute aber, wo sich der kleinste Krieg zu einer Weltkatastrophe entwickeln kann, wo auf beiden Seiten sich ganze Koalitionen von Staaten gegenüberstehen, kann sich niemand mehr verhehlen, daß der Krieg der gefährlichste Feind der Wirtschaft ist. Wer sich darüber bisher noch nicht klar war, dem mußten die schauerlichen Ergebnisse der vergangenen beiden Weltkriege für die gesamte Weltwirtschaft eine Lehre erteilen, die nur ein geistig Blinder mißverstehen kann.Die ungeheuere Verwüstung ganzer Länder, die wahnsinnige Verschwendung kostbarer Rohstoffe für die Zwecke sinnloser Zerstörung, die gewaltsame Vernichtung aller normalen Handels- und Austauschbeziehungen zwischen den verschiedenen Ländern, die Tatsache, daß in vielen Staaten große Schichten der Mittelklasse völlig ausgetilgt wurden durch die sozialen Wirkungen des Krieges, das grenzenlose Elend, das er über ganze Erdteile gebracht hat, das sich heute immer mehr zu einer gefährlichen Bedrohung der gesamten herrschenden Wirtschaftsordnung auswächst, -  das alles zeigt klar und deutlich, daß fortgesetzte Katastrophen jede Wirtschaft in ein Chaos verwandeln und das gesellschaftliche Leben der -Auflösung und offenen Barbarei ausliefern müssen. Wer nach all diesen Erfahrungen noch immer behauptet, daß die kapitalistische Wirtschaft direkt am Kriege interessiert ist, der behauptet damit, daß ihre Träger ein direktes Interesse daran besitzen, Selbstmord zu begehen. Er vergißt, daß, abgesehen von den primitiven Gesellschaftsverbänden der Vorzeit, alle Kriege durch die Machtpolitik der Staaten hervorgerufen wurden, einerlei ob es sich dabei vornehmlich um politische, wirtschaftliche oder ideologische Ursachen handelte.Natürlich wäre auch der Staat nie imstande gewesen, die Menschen für den Krieg zu gewinnen, wenn es ihm nicht stets gelungen wäre, in allen Schichten der Bevölkerung Anhänger für seine Pläne zu finden, die sich entweder durch falsche Vorspiegelungen betören ließen oder aus eigenem Antrieb seinen Absichten entgegenkamen. Man kann daher auch nicht mit gutem Gewissen behaupten, daß die Bourgeoisie als angeblicher Träger der kapitalistischen Wirtschaft für den Krieg im allgemeinen oder auch nur für alle Kriege der kapitalistischen Periode allein verantwortlich sei. Daß die Eroberungskriege der Mazedonier, Perser und Römer oder die Raubzüge von Dschinghis-Khan, Tamerlan, Attila und die endlosen Fehden zur Zeit der Völkerwanderung, die jahrhundertelang große Gebiete Europas und Asiens mit Mord und Brand erfüllten, als Ergebnisse der jeweiligen Produktionsweise zu erklären sind, glauben heute nur noch wenige; obgleich es auch hier nicht an Stimmen fehlte, die jene Vorgänge als geschichtliche Notwendigkeiten bezeichneten, die durch die materiellen Verhältnisse der Zeit bedingt waren. Mit derselben Logik könnte man von einer historischen Mission des organisierten Gangstertums in Amerika sprechen, was auch nicht geistvoller wäre.Tatsache aber ist, daß sie in den vergangenen beiden Weltkriegen nicht nur die Bourgeoisie, sondern auf beiden Seiten Menschen aller Gesellschaftsschichten für den Krieg einsetzten, darunter auch die große Mehrheit der organisierten Arbeiterschaft. Auf die Beweggründe dieser Erscheinung werde ich noch bei einer anderen Gelegenheit zu sprechen kommen; vorläufig genügt es, diese unbestreitbare Tatsache selbst zu betonen. Wenn es sogar wahr wäre, daß die Produktionsverhältnisse die gesellschaftlichen Bewußtseinsformen bestimmen, wie Marx erklärte, so geht doch aus der oben erwähnten Tatsache klar hervor, daß das Bewußtsein der Menschen nicht durch ihre Klassenzugehörigkeit, sondern durch die Vorstellungen des Einzelwesens bestimmt wird, welcher Gesellschaftsschichte er immer angehört. Dies zeigt sich schon dadurch, daß in allen großen sozialen Kämpfen der Geschichte große Massen des unterdrückten Volkes sich dazu verleiten ließen, die Vorrechte ihrer Herren zu verteidigen, während sich gerade die vorgeschrittenen Teile der Privilegierten für eine Veränderung der sozialen Bedingungen einsetzten. Das gilt auch für den Sozialismus, denn die übergroße Mehrheit seiner geistigen Vorkämpfer ist nicht aus dem Lager des Proletariats, sondern aus den oberen Gesellschaftsklassen hervorgegangen. Sogar der Einwand, daß bei den Arbeitern häufig ihre Unwissenheit sie daran verhindert, ihre wirklichen Interessen zu erkennen, beweist gar nichts, denn Unwissenheit ist kein wirtschaftlicher, sondern ein psychologischer Faktor, dem man bei allen anderen Klassen und sogar bei den Intellektuellen ebensohäufig begegnet. Wäre dies nicht der Fall, so wäre das geistige Chaos, aus dem beide Weltkriege hervorgingen, und das ihnen folgte, überhaupt undenkbar.Wenn der Krieg eine Erscheinung ist, die bisher in allen bekannten Epochen der Geschichte zum Ausdruck gelangte, so hat es aber auch in keiner Zeit an Menschen und Bewegungen gefehlt, welche die furchtbaren Wirkungen des Krieges auf die gesellschaftlichen Lebensbedingungen richtig erkannten, von dem chinesischen Weisen Laotze bis Zeno und den späteren Stoikern. Große religiöse Bewegungen wie der Buddhismus und das ursprüngliche Christentum, bevor es unter den Einfluß der Kirche geriet, verdammten den Krieg und setzten sich für den Frieden unter den Menschen ein. Die zahlreichen christlichen Sekten des Mittelalters, von den Gnostikern, Manichäern und Bugomilen bis zu den Brüdern vom freien Geiste, die alle von der Kirche als Ketzer Verfolgt wurden, verfolgten dieselben Bestrebungen. An allen diesen Bewegungen beteiligten sich Menschen der verschiedensten Gesellschaftsklassen. Auch die größten Vertreter des europäischen Humanismus, die noch nicht von nationalistischen Vorurteilen verblendet waren und die menschliche Kultur als Ganzes im Auge hatten, verurteilten den Krieg mit Lionardo da Vinci "als die größte menschliche Dummheit". Aus ihren Reihen gingen die ersten Ansätze des Internationalen Völkerrechts hervor, das in dem Holländer Grotius seinen stärksten Vertreter fand. Auch in unserer Zeit hat es nicht an solchen Bestrebungen gefehlt, die aber nie an eine bestimmte Klasse gebunden waren. Tatsache ist, daß viele der bekanntesten Wortführer der heutigen Pazifistischen Bewegung aus dem Lager der Bourgeoisie und sogar der Aristokratie kamen. Über den großen moralischen Einfluß von Gandhis Tätigkeit soll hier gar nicht gesprochen werden, da sie allen bekannt ist.Gerade weil man die Wirtschaft zum Angelpunkt alles gesellschaftlichen Geschehens machte und im Kapitalismus die notwendige historische Voraussetzung für die Verwirklichung des Sozialismus gefunden zu haben glaubte, verkannte man den machtpolttischen Einfluß des Staates und ließ sich sogar dazu verführen, dem politischen Zentralismus immer größere Zugeständnisse zu machen, wie es die große Mehrheit der organisierten Arbeiterbewegung zu ihrem eigenen Unglück getan hat. Zu welchen Verschrobenheiten diese Ideengänge Menschen verleiten konnte, zeigte die Stellung Wilhelm Liebknechts zur Zeit des Südafrikanischen Krieges, der das Vorgehen Englands damit rechtfertigte, daß ebenso wie es im Interesse' der sozialen Entwicklung liege, daß das Kleinkapital vom Großkapital aufgesaugt werde, so läge es auch im Interesse des Fortschritts, daß die kleineren Staaten von den Großstaaten verdrängt würden. Nach dieser Logik gab es überhaupt ' keinen Unterschied mehr zwischen Recht und Unrecht. Die späteren Vertreter des totalitären Staates haben denn auch aus solchen Lehren die letzten Konsequenzen gezogen, indem sie einer politischen Maschine Geist und Seele des Menschen opferten. Gerade heute, wo wir auf der Schwelle einer neuen Epoche angelangt sind, welche die Zukunft der Menschheit auf lange Zeit hinaus entscheiden wird, ist die Erkenntnis dieser inneren Zusammenhänge doppelt notwendig, wenn wir den Kreislauf der Blindheit nicht von neuem beginnen und einem größeren Abgrund hilflos entgegentaumeln wollen.

Rudolf Rocker - Sozialdemokratie und Anarchismus

Der Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus ist nicht nur in der Verschiedenheit ihrer taktischen Methoden begründet, sondern muß in erster Linie auf prinzipielle Gegensätze zurückgeführt werden. Es handelt sich hier um zwei verschiedene Auffassungen über die Stellung des Menschen in der Gesellschaft, um zwei verschiedene Auffassungen des Sozialismus. Aus diesem Unterschiede in den theoretischen Voraussetzungen ergibt sich von selbst die Verschiedenartigkeit in der Wahl der taktischen Mittel.Die Sozialdemokratie, hauptsächlich in den germanischen Ländern und Rußland, nennt sich mit Vorliebe die Partei des "Wissenschaftlichen Sozialismus" und bekennt sich zur marxistischen Lehre, die ihrem Programm als theoretische Unterlage dient. Ihre Vertreter gehen von dem Standpunkt aus, daß der Werdegang der gesellschaftlichen Entwicklung als eine unendliche Reihe geschichtlicher Notwendigkeiten betrachtet werden muß, deren Ursachen in den jeweiligen Produktionsverhältnissen zu suchen sind. In den fortwährenden Kämpfen der durch verschiedene ökonomische Interessen in feindliche Lager gespaltene Klassen finden diese Notwendigkeiten ihren praktischen Ausdruck. Die ökonomischen Verhältnisse, d.h. die Art und Weise wie die Menschen produzieren und ihre Produkte zum Austausch bringen, bilden die eherne Grundlage aller anderen gesellschaftlichen Erscheinungsformen oder um mit Marx zu reden: "Die ökonomische Struktur der Gesellschaft ist die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer  Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen." - Religiöse Vorstellungen, Ideen, Moralanschauungen, Rechtsbegriffe, menschliche Willensäußerungen usw. sind lediglich Resultate der jeweiligen Produktionsbedingungen, denn es ist "die Produktionsweise des materiellen Lebens, die den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess ü b e r h a u p t bedingt." Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das die Verhältnisse, unter denen sie leben, formt, sondern umgekehrt, es sind die ökonomischen Verhältnisse die ihr Bewußtsein bestimmt.Somit ist der Sozialismus nicht eine Erfindung geistreicher Köpfe, sondern das logische und unvermeidliche Produkt der kapitalistischen Entwicklung. Der Kapitalismus mußte zuerst die Produktionsbedingungen schaffen - die Arbeitsteilung und die Zentralisation der Industrie - unter denen der Sozialismus verwirklicht werden kann. Seine Verwirklichung ist nicht abhängig von dem Willen der Menschen, sondern lediglich von einem bestimmten Entwicklungsgrad der Produktionsverhältnisse. Der Kapitalismus ist die notwendige und unvermeidliche Vorbedingung, die zum Sozialismus führen muß; seine revolutionäre Bedeutung besteht gerade darin, daß er von Anfang an den Keim seines eigenen Untergangs in sich trägt. Die moderne Bourgeoisie, die Trägerin des kapitalistischen Systems, mußte das moderne Proletariat ins Leben rufen, um ihre Herrschaft zu begründen und schuf damit ihren eigenen Totengräber. Denn die Entwicklung des Kapitalismus vollzieht sich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit in ganz bestimmten Bahnen, aus denen kein Entrinnen möglich ist. Es liegt eben im Wesen dieser Entwicklung, die kleinen und mittleren industrielle Unternehmungen aufzusaugen und an deren Stelle immer größere Betriebe zu erzeugen, so daß die sozialen Reichtümer sich in immer wenigeren Händen konzentrieren. Hand in Hand mit diesem Prozeß schreitet die Proletarisierung der Gesellschaft unaufhaltsam vorwärts, bis zuletzt ein Moment eintreten muß, wo eine ungeheure Mehrheit besitzloser Lohnsklaven einer verschwindend kleinen Minderheit kapitalistischer Unternehmer gegenübersteht. Und da der Kapitalismus bis dahin schon längst zu einem Hindernis der Produktion geworden ist, so muß notwendigerweise eine Periode sozialer Umwälzungen eintreten, in der "die Expropriation der Expropriateure" vollzogen werden kann.Damit das Proletariat imstande sei, die Übernahme des Grund und Bodens und der Produktionsmittel durchzuführen, muß es sich früher in den Besitz der Staatsgewalt setzen, die nach einer gewissen Übergangsperiode, d.h. nach der vollständigen Abschaffung der Klassen nach und nach absterben wird. Die Eroberung der Macht ist daher die vornehmste Aufgabe der Arbeiterklasse, und die Lösung dieses Problems vorzubereiten, ist es notwendig, daß sich die Arbeiter als selbständige politische Partei organisieren und als solche den politischen Kampf gegen die Bourgeoisie führen. Aus diesem Grunde hat die Sozialdemokratie die parlamentarische Tätigkeit zum Mittelpunkt ihrer Propaganda gemacht und ihr jede andere Form der Betätigung untergeordnet. Unter dem Einfluß der deutschen Sozialdemokratie haben die meisten ihrer Schwesterparteien in den anderen Ländern, mehr oder weniger ausgeprägt, denselben Charakter angenommen. Im Verlaufe der letzten fünfzig Jahre ist es ihr gelungen, Millionen Arbeiter in ihren Reihen zu organisieren, in allen gesetzgebenden Körperschaften des modernen Klassenstaates Fuß zu fassen und in zahlreichen Fällen sogar direkt in die Regierung einzudringen. Eine stark entwickelte Presse und Propagandaliteratur haben den sozialdemokratischen Ideen immer weitere Kreise in der Arbeiterwelt und dem Mittelstande erschlossen. Dieses Werk wird noch unterstützt durch eine ganze Armee fest angestellter Agitatoren und Parteibeamten, die im Interesse ihrer respektiven Organisation werben und wirken. Durch den Ausschluß der Anarchisten und anderer Richtungen, die die parlamentarische Tätigkeit ablehnen, war es der deutschen Sozialdemokratie gelungen, auf den internationalen sozialistischen Kongressen jede wirkliche Opposition systematisch auszumerzen. So entwickelte sich diese Partei überall, wo ihr größere Massen der Arbeiterschaft Heeresfolge leisteten, als ein Staat im Staate, und für lange Jahre war sie imstande, jede andere sozialistische Richtung mit planmäßiger und skrupelloser Rücksichtslosigkeit am Aufkommen zu verhindern. Erst die schauerliche Katastrophe im August 1914 enthüllte den eigentlichen Charakter der Sozialdemokratie, vernichtete ihr internationales Prestige und legte Bresche in ein Organisationsgebäude, das auf unabsehbare Zeit hinaus jedem feindlichen Angriff gewachsen schien.Der Anarchismus, d.h. diejenige Richtung in der Gedankenwelt des Sozialismus, die der Sozialdemokratie am unversöhnlichsten gegenübersteht, geht in seinen Anschauungen über die gesellschaftlichen Zustände und die Stellung des Menschen in der geschichtlichen Entwicklung von anderen Voraussetzungen aus. Seine Anhänger verkennen keineswegs den mächtigen Einfluß der ökonomischen Verhältnisse auf den allgemeinen Entwicklungsprozeß des gesellschaftlichen Lebens, doch lehnen sie die einseitige und fatalistische Fassung, in der Marx diese Erkenntnis zum Ausdruck brachte, ab. Sie sind vor allem der Meinung, daß man bei der Untersuchung und Beurteilung gesellschaftlicher Erscheinungsformen wohl nach wissenschaftlichen Methoden verfahren kann, daß aber Geschichte und Soziologie als solche keineswegs als Wissenschaften betrachtet werden dürfen. Die Wissenschaft anerkennt nur bestimmte Tatsachen, die durch die Erfahrung oder durch Experimente unumstößlich aufgestellt sind. In diesem Sinne kann man lediglich die sogenannten "exakten Wissenschaften", wie Physik, Chemie usw. als solche bezeichnen. Das berühmte Gravitationsgesetz des Isaak Newton, das allen Berechnungen unserer Astronomie zu Grunde liegt, ist ein wissenschaftliches, ein Naturgesetz, denn es hat sich stets als richtig erwiesen und niemals eine "Ausnahme von der Regel" zugelassen.Die Entwicklung der gesellschaftlichen Erscheinungsformen in der Geschichte vollzieht sich jedoch nicht mit derselben zwingenden Notwendigkeit, wie die Gesetze der Physik. So können wir über die gesellschaftliche Gestaltung der zukünftigen Lebensbedingungen wohl Vermutungen anstellen, aber es gibt keine Wissenschaft, die imstande wäre, die sozialen Verhältnisse der Zukunft im voraus zu berechnen und wissenschaftlich festzustellen, wie man etwa die Umlaufzeit eines Planeten berechnen und feststellen kann. Die Geschichte der menschlichen Gesellschaftsformen ist eben viel komplizierter und uns in ihren elementaren Einzelheiten noch viel zu wenig bekannt, als daß wir von einem eisernen Naturgesetze sprechen könnten auf Grund dessen wir imstande wären, die treibenden Kräfte des geschichtlichen Werdens in vergangenen Perioden auch nur einigermaßen mit Sicherheit zu beurteilen, und noch viel weniger die gesellschaftlichen Formen der Zukunft zu ergründen vermöchten. Aus diesem Grunde ist der Sozialismus keine Wissenschaft, kann er keine Wissenschaft sein, und alles Gerede von einem "wissenschaftlichen Sozialismus" ist eitle Selbstüberhebung und ein schnödes Verkennen der wahren Prinzipien der Wissenschaft.Der Bekenner der anarchistischen Weltanschauung teilt nicht den Glauben, daß die Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse unbedingt zum Sozialismus führen muß, daß das System des Kapitalismus den Sozialismus sozusagen schon im Keime in sich birgt und nur die Zeit der Reife abgewartet zu werden braucht, damit er die Hülle sprengen kann. Er sieht in diesem Glauben nichts anderes wie eine Übertragung des religiösen Fatalismus auf das wirtschaftliche Gebiet, der ebenso gefährlich wirkt, den Tätigkeitsinstinkt und das impulsive Empfinden des Menschen lähmt und anstatt der lebendigen und stets nach neuen Perspektiven ringenden Erkenntnis einen toten Dogmenglauben erzeugen muß. Der Anarchist sieht in der modernen Arbeitsteilung und in der Zentralisation der Industrie keineswegs Vorbedingungen des kapitalistischen Ausbeutungssystems, die im schärfsten Gegensatz zum Sozialismus stehen. Wohl kann uns die ökonomische Entwicklung zu neuen Phasen des gesellschaftlichen Daseins führen, aber sie kann uns auch ebensogut den Untergang aller Kultur bringen. Die furchtbare Katastrophe des Weltkrieges spricht in dieser Hinsicht eine beredte Sprache für alle, die Ohren haben zu hören. Gelingt es den Völkern Europas nicht sich aus dem jetzigen Chaos zu neuen und höheren Formen der gesellschaftlichen Kultur emporzuarbeiten, so ist kein Prophet imstande vorauszusagen, bis zu welchem Abgrund uns das Verhängnis treiben kann.Nein der Sozialismus wird uns nicht kommen, weil er kommen muß mit der Unabänderlichkeit eines Naturgesetzes; er wird uns nur dann kommen, wenn die Menschen den festen Willen und die notwendige Kraft aufbringen werden, ihn in die Wirklichkeit umzusetzen. Nicht die Zeit, nicht die ökonomischen Verhältnisse, nur unsere innerste Erkenntnis, unser Wollen, können die Brücke schlagen, die uns aus der Welt der Lohnsklaverei ins Neuland des Sozialismus führen. Daß die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsformen den Proletarier erst psychologisch für die Ideen des Sozialismus empfänglich macht, ist gleichfalls eine Voraussetzung, die der Anarchist nicht teilt. England, das Mutterland des modernen Kapitalismus und der modernen Großindustrie, hat trotzdem keine nennenswerte sozialistische Bewegung hervorgerufen, während Länder mit fast ausschließlicher Agrarwirtschaft, wie Andalusien und Süditalien seit langen Jahren über starke sozialistische Organisationen verfügen. Der russische Bauer, der noch unter ganz primitiven Produktionsverhältnissen wirtschaftet, steht den sozialistischen Ideengängen sehr nahe, da zwischen ihm und seinen Mitmenschen ein viel innerer sozialer Zusammenbund besteht, wie bei uns. Der Gemeinbesitz an Grund und Boden, unter dem der russische Bauer seit Jahrhunderten lebt, hat ihn mehr auf die fortwährende Betätigung gegenseitiger Hilfe und natürlicher Solidarität seinen Kameraden gegenüber angewiesen, so daß sich der soziale Instinkt bei ihm bis zu einem Grade entwickelt hat, den wir bei dem Industrieproletariat der mittel- und westeuropäischen Länder vergebens suchen dürften. Trotzdem aber haben die Theoretiker der russischen Sozialdemokratie im Namen der Wissenschaft verkündet, daß die veralteten Kommunalinstitutionen der russischen Bauernschaft zum Untergang verdammt seien, da sie nicht im Einklang mit der modernen Entwicklung ständen und folglich ein Hindernis für den Sozialismus bilden.Für die Anhänger des Anarchismus sind die Formen des Staates und der Gesetzgebung nicht lediglich der politische Überbau der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, sind Ideen, Rechtsbegriffe und andere menschliche Bewußtseinsformen, nicht einfach Produkte des jeweiligen Produktionsprozesses, sondern bestimmte Faktoren des menschlichen Geistes, die zwar in ihrer Entwicklung von den ökonomischen Verhältnissen beeinflußt werden, die aber in derselben Zeit zurückwirken auf die ökonomischen Bedingungen in der Gesellschaft. Dadurch entsteht eine unendliche Serie von Wechselwirkungen, so daß es vielfach ganz unmöglich ist, einen bestimmten Grundfaktor festzustellen. Man kann alle diese Erscheinungsformen als materielle betrachten und mit Proudhon der Ansicht sein, dass jedes Ideal einer Blume vergleichbar ist, deren Wurzeln in den materiellen Lebensbedingungen zu finden sind. Aber in diesem Falle sind die ökonomischen Verhältnisse nur ein Teil der allgemeinen materiellen Verhältnisse; sie bilden nicht die eiserne Grundlage, die den Entwicklungsprozeß aller anderen gesellschaftlichen Lebenserscheinungen ü b e r h a u p t bestimmt, sondern sind vielmehr derselben ununterbrochenen Wechselwirkung unterworfen wie alle anderen Faktoren des materiellen Lebens. So ist z. B. der Staat, ohne Zweifel, in erster Linie ein Produkt des Privatmonopols an Grund und Boden, eine Institution, die mit Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Klassen mit besonderen Interessen entstanden ist. Aber einmal in Existenz, wirkt er mit aller Kraft für die Aufrechterhaltung des Monopols und der Klassengegensätze, für die Verewigung der ökonomischen Sklaverei, und hat sich im Laufe seiner Entwicklung zur gewaltigsten Ausbeutungsinstitution der Menschheit emporgeschwungen. Solche Wechselwirkungen lassen sich in beliebiger Zahl und in allen denkbaren Erscheinungsformen feststellen, sie sind geradezu charakteristisch für den geschichtlichen Entwicklungsprozeß der Menschheit und so in die Augen springend, daß unsere Neo-Marxisten gezwungen sind, der Kritik ihrer Geschichtsauffassung fortwährend neue Zugeständnisse zu machen.Wenn die Eroberung der politischen Macht der Sozialdemokratie als die wichtigste Aufgabe erscheint, die der Verwirklichung des Sozialismus vorausgehen muß, so ist für den Anarchismus die Abschaffung jeder politischen Macht von ausschlaggebender Bedeutung. Der Staat ist kein willkürliches Gebilde, sondern eine Institution, die in einer gewissen Periode der menschlichen Geschichte ins Leben getreten ist, als eine Folge des Monopols und der gesellschaftlichen Klassenteilung. Nicht um die Rechte der Allgemeinheit zu schützen ist der Staat entstanden, sondern ausschließlich als Verteidiger der materiellen Interessen kleiner privilegierter Minderheiten auf die Kosten der breiten Massen. Der Staat ist nichts anderes als der politische Agent der besitzenden Klassen, die organisierte Gewalt, die das System der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Klassenherrschaft zusammenhält. Seine Formen haben sich verändert im Laufe der Geschichte, aber sein eigentliches Wesen, seine historische Mission ist dieselbe geblieben. Für die breiten Massen des Volkes war der Staat in allen Zeiten und in allen Formen seiner Existenz nur ein rücksichtsloses Werkzeug der Unterdrückung; aus diesem Grunde ist es unmöglich, daß er denselben Massen je als Werkzeug ihrer Befreiung dienen könnte. Die Sozialdemokratie, die in ihren verschiedenen Schattierungen noch vollständig von den Ideen des Jakobinertums durchdrungen ist, glaubt des Staates nicht entraten zu können, weil sie sich die Verwirklichung des Sozialismus nur von o b e n n a c h u n t e n mit der Hilfe von Regierungsdekreten und Staatserlassen vorstellen kann. Der Anarchismus, der die Zerstörung des Staates anstrebt, sieht nur einen Weg, den Sozialismus einzuführen, und zwar von unten nach oben durch die schöpferische Betätigung des Volkes selber und mit der Hilfe seiner eigenen wirtschaftlichen Organisationen.Hier erhebt sich eine Frage, die den fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Richtungen mit aller Schärfe erkennen läßt - die Frage über die Stellung des Menschen in der Gesellschaft. Für die Theoretiker der Sozialdemokratie ist der einzige Mensch nur ein unwesentlicher Bestandteil im allgemeinen Getriebe der gesellschaftlichen Produktion, eine "Arbeitskraft", ein seelenloses Werkzeug der ökonomischen Entwicklung, die sein geistiges Leben und seine Willensäußerungen unwiderruflich bestimmt. Diese Auffassung ist das notwendige Resultat ihrer ganzen Lehre. Soweit für sie das menschliche Einzelwesen überhaupt in Frage kommt, betrachten sie es stets als gesellschaftliches Durchschnittsprodukt, das mit dem Maßstab allgemeiner Begriffe gemessen werden muß. Sie haben sich von der lebendigen Wirklichkeit eine bestimmte Vorstellung zurechtgelegt und sind gewissermaßen die Opfer einer optischen Täuschung, indem sie die Fata morgana, die ihnen ihre Vorstellungskraft vorzaubert, mit der Wirklichkeit selbst verwechseln. Sie sehen in der geschichtlichen Entwicklung nur die toten Räder, den äußeren Mechanismus, und vergessen daher nur allzu leicht, daß hinter den Kräften und Bedingungen der Produktion lebendige Wesen stehen, Menschen von Fleisch und Blut mit persönlichen Wünschen, Neigungen und Vorstellungen, und da ihnen die individuelle Verschiedenartigkeit, die doch den wirklichen Reichtum des Lebens ausmacht, nur als belangloses Zubehör erscheint, so wird ihnen das Leben selber farblos und schemenhaft.Der Anarchismus verfolgt auch hier andere Wege. Der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen über das Wesen der Gesellschaft ist der einzelne, das Individuum. Nicht das Individuum als abstrakter Schattenbegriff, losgelöst von seiner gesellschaftlichen Umgebung, sondern als Sozialwesen, verbunden mit seinen Mitmenschen durch tausende materielle, geistige und seelische Beziehungen. Um den gesellschaftlichen Wohlstand, die Freiheit, die Kultur eines Volkes zu beurteilen, hält sich der Anarchist nicht an das Quantum der allgemeinen Produktionserzeugnisse oder an die formelle "Freiheit", die in irgendeiner Verfassung niedergelegt ist, noch an die Kulturhöhe einer bestimmten Periode. Er sucht vielmehr festzustellen, wie groß der persönliche Anteil des Wohlstandes ist, der auf jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft entfällt; auf wie weit das Individuum in der Lage ist, seine persönlichen Neigungen, Wünsche und Freiheitsbedürfnisse zu befriedigen im Rahmen der Allgemeinheit; und bis zu welchem Grade die allgemeine Kultur in jedem Einzelwesen ihren individuellen Ausdruck findet. Nach diesem Resultate fällt er sein Urteil über den Gesamtcharakter der Gesellschaft. Für den Anarchist ist die persönliche Freiheit keineswegs eine unbestimmte abstrakte Vorstellung, sie erscheint ihm vielmehr als die praktische Möglichkeit, für jeden einzelnen seine ihm von der Natur verliehenen Kräfte, Talente und Fähigkeiten voll entfalten zu können. Und da er in dem Persönlichkeitsgefühl den höchsten Ausdruck des menschlichen Freiheitsinstinktes erkennt, verwirft er grundsätzlich jedes Autoritätsprinzip, die Ideologie der brutalen Gewalt. Die volle Freiheit, auf dem Boden der ökonomischen und sozialen Gleichheit, erscheint ihm als die einzige Vorbedingung einer menschenwürdigen Zukunft. Nur in einem solchen Zustand ist, seiner Ansicht nach, die Möglichkeit gegeben, das Gefühl der persönlichen Verantwortlichkeit in jedem Menschen zur höchsten Blüte zu entwickeln und das lebendige Bewußtsein der Solidarität in ihm bis zu einem Grade zu entfalten, daß sich seine individuellen Wünsche und Bedürfnisse sozusagen als Resultate seines sozialen Empfindens offenbaren werden.Für den Charakter sozialer Bewegungen sind ihre Organisationsformen von entscheidender Bedeutung, da sie ihrem innersten Wesen am besten entsprechen; somit ist es nur natürlich, daß auch in dieser Hinsicht ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus vorhanden ist. Die Anhänger der Sozialdemokratie, ganz einerlei, ob sie sich als Mehrheitssozialisten, unabhängige oder "Kommunisten" geben, sind ihrer inneren Einstellung nach Jakobiner, Vertreter des Zentralisationsprinzips. Die Sozialdemokratie ist ihrem Wesen nach zentralistisch, ebenso wie der Föderalismus dem innersten Wesen des Anarchismus am besten entspricht. Der Föderalismus war von jeher die natürliche Organisationsform aller wahrhaft gesellschaftlichen Strömungen und Institutionen, die auf den Interessen der Allgemeinheit fußten, wie das z.B. bei den freien Stammverbänden der Urzeit, bei den Föderationen der Marktgenossenschaften im frühen Mittelalter, bei den Gildenorganisationen der Handwerker und Künstler in den freien Städten und bei den föderativen Verbänden der freien Kommunen, die Europa eine so wunderbare Kultur geschenkt haben, der Fall war. Diese Organisationsgebilde waren gesellschaftlich im vollen Sinne des Wortes. In ihnen fanden die freie Betätigung des einzelnen und die gemeinschaftlichen Interessen der Allgemeinheit einen harmonischen Ausdruck; es waren menschliche Gruppierungen, wie sie Notwendigkeiten des Lebens spontan hervorbrachten. Jede einzelne Gruppe war Herr ihrer eigenen Angelegenheiten und in derselben Zeit föderalistisch verbunden mit anderen Körperschaften zur Verteidigung und Förderung gemeinschaftlicher Interessen. Das Allgemeininteresse war der Mittelpunkt ihrer Bestrebungen, die Organisation von unten nach oben der vollendetste Ausdruck ihrer Betreibungen.Erst mit der Entstehung des modernen Staates beginnt die Ära des Zentralismus. Kirche und Staat waren seine ersten und vornehmsten Vertreter. Diesmal waren es nicht mehr die Interessen der Allgemeinheit, die in der neuen Art Organisation ihren Ausdruck fanden, sondern die Interessen privilegierter Minoritäten, die ihre Macht auf die Ausbeutung und Versklavung der breiten Massen begründeten. Der Föderalismus, die natürliche Organisation von unten nach oben, wurde durch den Zentralismus, die künstliche Organisation von oben nach unten ersetzt. Die Freiheit mußte dem Despotismus weichen, das alte Gewohnheitsrecht dem Gesetz, die Verschiedenartigkeit der Uniformität und Schablone, die Erziehung und Charakterbildung der geistigen Dressur, die persönliche Selbständigkeit dem blinden Gehorsam, der freie Bürger dem Untertan. - Es ist bezeichnend für den freiheitsfeindlichen Charakter der Sozialdemokratie, daß sie ihre Organisationsform der Rüstkammer des Staates entlehnt hat. Disziplin war und ist der vornehmste Wahlspruch ihrer Erziehungsmethode und mit denselben Mitteln, mit welchen der Staat loyale Untertanen und gute Soldaten heranzieht, erzieht sie disziplinfeste Parteigenossen: Sie hat Millionen Anhänger um ihre Fahne geschart, aber sie erstickte die schöpferische Initiative und die selbständige Aktionsfähigkeit in den Massen. Sie erzeugte eine öde Beamtenherrschaft, eine neue Hierarchie, eine Art politischer Vorsehung, vor der die freie Initiative und das selbständige Denken die Segel streichen mußten.Nur so ist es zu erklären, daß die Sozialdemokratie in ihrer praktischen Betätigung sich vollständig in der seichten Atmosphäre des bürgerlichen Parlamentarismus verlieren, daß die kleine und kleinlichste Tagespolitik das geistige Milieu ihrer ganzen Propaganda werden konnte. Sie hat ihre Wähler organisiert, wie der Staat seine Armeen, und wie er die geistige Impotenz zum Prinzip erhoben. Auf dem Wege zur politischen Macht hat sie alles, was ursprünglich an ihr sozialistisch war, zu Grabe getragen, so daß weiter nichts übrig blieb, wie ein verkappter Staatskapitalismus, den sie unter falscher Marke in den Handel brachte. Die Bourgeoisie hat vorläufig noch nicht ihren "eigenen Totengräber" gefunden, aber es ist wahrlich nicht die Schuld der Sozialdemokratie, daß sie nicht schon lange der Totengräber des Sozialismus geworden ist.Der Anarchismus als der unerbittliche Feind des Staates, verwirft prinzipiell jede Mitarbeit in den gesetzgebenden Körperschaften, jede Form der parlamentarischen Betätigung. Seine Anhänger wissen, daß auch das freieste Wahlrecht die klaffenden Gegensätze in der modernen Gesellschaft nicht zu mildern imstande ist und daß das parlamentarische Regime lediglich den Zweck hat, dem System der Lüge und der sozialen Ungerechtigkeit den Schein des legalen Rechts zu verleihen, den Sklaven zu veranlassen, seiner eigenen Sklaverei selbst den Stempel des Gesetzes aufzudrücken. Die taktische Methode des Anarchismus ist die direkte Aktion gegen die Verteidiger des Monopols und des Staates. Seine Bekenner suchen durch Wort und Schrift die Massen aufzuklären und sie zum Bewußtsein ihrer sozialen Lage zu bringen. Sie nehmen Anteil an allen direkten wirtschaftlichen und politischen Kämpfen der Unterdrückten gegen das System der Lohnsklaverei und die Tyrannei des Staates und versuchen [allen] Kämpfen durch ihre Mitwirkung eine tiefere soziale Bedeutung zu verleihen, die Initiative der Massen zu entwickeln und ihr Verantwortlichkeitsgefühl zu stärken. Die Anarchisten sind die eigentlichen Vorkämpfer der sozialen Revolution, die die Herrschaft und Ausbeutung der Menschen durch den Menschen in jeder Form den Krieg erklären und die die ökonomische und politische Befreiung der Menschen auf ihre Fahne geschrieben haben. Sie sind die Bannerträger des freiheitlichen Sozialismus, die Herolde einer neuen sozialen Kultur der Zukunft.