e-Portfolio von Michael Lausberg
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Reiseziel Tiflis

Margarete Lausberg

Tiflis ist die Hauptstadt des Landes und kultureller Mittelpunkt. Das Stadtoberhaupt von Tiflis ist der Bürgermeister. Stellvertreter des Bürgermeisters ist der Premier. Von 1991 bis 2005 wurden die Amtsinhaber vom georgischen Präsidenten ernannt. Seit 2006 werden sie vom Stadtrat gewählt.

Bürgermeister ist Giorgi Ugulawa (Vereinte Nationale Bewegung). Er war zuvor Leiter der Präsidialverwaltung. Seine Vorgänger seit der Unabhängigkeit Georgiens waren: Otar Litanischwili (1992-1993), Konstantine Gabaschwili (1993), Nikolos Lekischwili (1993-1995), Badri Schoschitaischwili (1995-1998), Iwane Sodelawa (1998-2004) und Surab Tschiaberaschwili (2004-2005). Amtierender Premier ist Temur Kurchuli. Ihm untersteht die Stadtverwaltung (georgisch Mtawroba) mit rund 1700 Mitarbeitern in 40 verschiedenen Abteilungen. Es gehört zu seinen Aufgaben, das Stadtbudget festzulegen.

Bürgermeister und Stadtverwaltung werden von dem alle vier Jahre gewählten Stadtrat (georgisch Sakrebulo) kontrolliert. Er hat 37 Mitglieder und tritt alle drei Monate zusammen. Der am 5. Oktober 2006 gewählte Stadtrat war bis Oktober 2010 im Amt. Mehrheitsfraktion im Stadtrat ist die Vereinte Nationale Bewegung mit 34 Sitzen (66,53 Prozent der Wählerstimmen). Jeweils einen Sitz haben das Wahlbündnis von Republikanischer Partei und Konservativen (12,04 Prozent), die Georgische Arbeiterpartei (10,65 Prozent) und die Rechte Opposition (6,08 Prozent). Stadtratsvorsteher ist Sasa Begaschwili. Sein Vorgänger von Juni 2002 bis Januar 2004 war Micheil Saakaschwili.

Tiflis hat sechs Stadtbezirke: Wake-Saburtalo im Westen,Mtazminda-Krzanisi im Süden, Didube-Tschugureti im Norden, Gldani-Nadsaladewi im Osten, Isani-Samgori im Südosten und Dsweli Ubani (dt. Altstadt) im Zentrum. Jeder Bezirk hat eine Bezirksverwaltung, die von einem Bezirkspremier geleitet wird.

Die Stadt entwickelt sich in den 2000er und 2010er Jahren schnell. Straßen und öffentlicher Nahverkehr wurden modernisiert und öffentliche Bauten farbig und wechselnd beleuchtet. Sehenswürdigkeiten werden restauriert und sind gut erreichbar.

Rustawelis Gamsiri ist eine Hauptverkehrsstraße im Zentrum von Tiflis. Die etwa 1,5 Kilometer lange Allee gilt als Prachtstraße der georgischen Hauptstadt. Sie erstreckt sich parallel zum Fluss Kura zwischen dem Freiheitsplatz (georgisch Tawisuplebis Moedani) und dem Platz der Republik (georgisch Respublikis Moedani) im Stadtteil Garetubani.

Die Straße hieß ursprünglich Sassachlis Kutscha (dt. Palaststraße). Sie bildete das Zentrum des im 19. Jahrhundert erbauten russischen Viertels von Tiflis, verlief entlang dem Palast des russischen Vizekönigs, erhielt etwa 1841 den Namen Golowin-Boulevard.

Unter der Regentschaft des Vizekönigs Fürst Michail Woronzow wurde er nach 1848 zur Prachtstraße ausgebaut. Er wurde zu beiden Seiten mit Platanen bepflanzt. Fürst G. Muchran-Batoni errichtete dort 1854 seinen Palast. Zwischen 1865 und 1869 wurde der Gouverneurspalast zum Vizekönigspalast ausgebaut (heute Jugendpalast). 1863 wurde zwischen dem Boulevard und der Kura der Alexandergarten eröffnet, ein großer öffentlicher Park nach Plänen des Landschaftsarchitekten Heinrich Scharrer.

Der georgische Name Tbilissi bedeutet so viel wie ‚warme Quelle‘,An den Nordosthängen des Mtabori sprudelt bis zu 46,5 °C heißes, kohlensäurehaltiges Schwefel-Quellwasser aus der Erde, das seit Jahrhunderten in Badehäusern genutzt wird.

Die Überlieferung berichtet, dass der georgische König Wachtang I. Gorgassali auf der Jagd in einem bewaldeten Tal einen Fasan erlegte. Das Tier fiel in eine heiße Quelle und wurde vom sprudelnden Wasser sofort gar gekocht. Der König ließ die Umgebung genau erforschen. Als er erfuhr, dass es dort viele heiße Quellen gab, gründete er 485 an diesem Ort die Stadt Tiflis.

1936 wurden durch Beschluss der sowjetischen Führung die amtlichen russischen Bezeichnungen verschiedener Städte modifiziert, meist den örtlichen Sprachformen angepasst. In diesem Zuge wurde die georgische Namensform Tpilissi gemäß dem Vorschlag georgischer Linguisten modernisiert. Am 20. September 2006 hielt das georgische Parlament eine Feierstunde zum 70. Jahrestag der Umbenennung ab.

Die meisten Sprachen haben die georgische Namensform übernommen. Im Deutschen ist Tbilissi eine häufig verwendete Namensform, in der DDR war es die offizielle Bezeichnung.

Ab dem 5. Jahrtausend v. Chr. verbreitete sich in Georgien die Metallverarbeitung, zunächst in Westgeorgien. Die Landwirtschaft setzte sich gegenüber der Jagd endgültig durch. In Niederkartlien begann die künstliche Bewässerung, angebaut wurden vor allem Hirse, Gerste und Weizen. Es wurden vor allem Rinder, seltener auch Schafe, gehalten. Reste von Siedlungen wurden unter anderem in Sagwardschile, Samele Kide, Samerzchle Klde und Tetramiza gefunden. Die Häuser bestanden aus Stampflehm. Die ostgeorgischen Siedlungen, darunter Chisaantgora, Didube, Nazargora, Imiri und Schulaweri, liegen teilweise über 1000 m hoch. Sie waren auf Hügeln errichtet, die Häuser hatten einen ovalen Grundriss. Keramikfunde weisen auf einen Handel mit den südlicheren Regionen bis zum Van-See hin

Zu Beginn des 2. Jahrtausends, in der mittleren Bronzezeit, entwickelte sich in Ostgeorgien die Trialeti-Kultur. Die Siedlungen verlagerten sich in das Bergland, viele Siedlungen der Kura-Araxes-Kultur wurden aufgegeben. Der Ackerbau wurde durch Viehzucht ersetzt, möglicherweise durch nomadische Einwanderer. Das Handwerk erreichte in dieser Zeit eine erste Blüte. Es wurden vor allem Kurgane, die Grabhügel gefunden, Siedlungen jedoch nicht. In Westgeorgien blieb die Kultur der frühen Bronzezeit mit Ackerbau und Siedlungen in den Niederungen erhalten, jedoch nahm auch hier die Viehzucht zu. Hier wurde das Bergland stärker besiedelt, Kontakte zur Trialeti-Kultur gab es jedoch kaum. Seit Mitte des 2. Jahrtausends war das Pferd in Georgien bekannt, zu Ende des Jahrtausends war es bereits weit verbreitet und wurde wirtschaftlich wie militärisch genutzt.

Ab Ende des 2. Jahrtausends nahm die Bevölkerung zu und Metallurgie und Ackerbau entwickelten sich weiter. Zinn wurde aus benachbarten Regionen im Iran oder Kleinasien importiert. Etwa ab dem 12. Jahrhundert v. Chr. begann in Innerkartlien die Eisenverarbeitung. Bis 800 v. Chr. setzte sich das Eisen gegen die Bronze durch. Zugleich entwickelte sich die Verwendung von Schwertern. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung entstanden größerer Wohlstand und größere besitzmäßige Unterschiede. Auch für Ostgeorgien gibt es für diese Zeit Funde von Dörfern und befestigten Siedlungen. In ihnen fanden sich häufig Kultstätten. Im Westen Georgiens entwickelte sich die Kolchis-Kultur, die sich bis nach Ostanatolien, in Teile Nordkaukasiens und nach Innerkartlien verbreitete. In ihr waren die Gebäude meist aus Holz, nur in den Bergen auch aus Stein, und der Ackerbau die ökonomische Grundlage. Im Handwerk entwickelten sich vor allem Textilherstellung und Töpferei. Metallurgische Zentren lagen bei Ghebi und im Tschorochi -Becken. Die Wirkung dieser Kultur auf die Griechen ist in die Argonautensag eingeflossen. Schließlich entwickelte sich in Ostgeorgien eine eigene Kultur und drängte die kolchische zurück.

337 konvertierte Georgien als einer der ersten Staaten der Welt zum Christentum. König Mirian III. von Iberien aus dem Geschlecht der Chosroiden führte das Christentum als offizielle Staatsreligion ein. Am 17. Januar 395 wurde die südwestliche Kolchis Teil des Oströmisches Reich. Ab 591 galt das oströmische Glaubensbekenntnis.

Im 5. Jahrhundert befreite der georgische König Wachtang I. Gorgassali (dt. Wolfshaupt) Tiflis, machte sie zu seiner Hauptstadt und baute sie zur Metropole aus. Wachtang I. Gorgassali war ein georgischer König aus der Dynastie der Chosroiden. Von 452 bis 502 herrschte er über das Königreich Iberien. Er führte einen Krieg gegen das Perserreich und gründete Tiflis, die heutige georgische Hauptstadt.

Wachtang I. Gorgassali wurde als Sohn des iberischen Königs Mirdat V. und der Königin Sagducht von Ran geboren. Der Beiname Gorgassali ist eine Abwandlung des persischen Worts Gorgaslan, Gurgaslan bzw. Gorgasar (dt. Wolfskopf). Er erhielt ihn von den persischen Kriegsgegnern, bezogen auf die Form seines Helms.

Wachtang war mit einer persischen Fürstin verheiratet. Er schützte die nördlich Iberiens gelegenen Gebirgspässe durch den Großen Kaukasus, besiegte die Alanen und nahm von 455 bis 458 an den persischen Feldzügen gegen das Byzantinische Reich und Indien teil, vermutlich auch an den Kriegen Schah Peroz’ I. gegen die Hephthaliten von 474 bis 476.

Er fühlte sich von Persien in seiner politischen Unabhängigkeit beeinträchtigt. Deshalb bemühte er sich, seine Position zu stärken, indem er die Autokephalie der georgischen orthodoxen Kirche unterstützte, die zu Byzanz gehörigen westgeorgischen Länder Egrisi, Lasika und Abchasien unter seine Herrschaft brachte, die iberischen Festungen ausbaute, ein Bündnis mit den Armeniern schloss und Vorbereitungen zu einem großangelegten anti-persischen Aufstand traf.

482 ordnete er an, Warsken, den Vizekönig einer iberischen Provinz und treuen persischen Vasallen, zu töten. Der Legende nach soll Warsken seine Frau Schuschanik 475 in den Kerker geworfen haben, weil sie nicht den persischen Glauben annehmen wollte (siehe Martyrium der Heiligen Schuschanik). Wachtang heiratete Fürstin Helena von Byzanz und ersuchte Kaiser Zenon um Hilfe. Doch die Hilfe blieb aus. Der georgisch-armenische Aufstand von 482 wurde niedergeschlagen und das Land 483 und 484 von persischen Strafexpeditionen verwüstet.

Nach kurzem Exil in Lasika schloss Wachtang mit den Persern Frieden und kehrte 485 nach Iberien zurück. Er weigerte sich jedoch, sich einem weiteren persischen Kriegszug gegen Byzanz anzuschließen. Daraufhin griff Schah Kavadh I. Iberien 502 an. Obgleich die Perser dreifach überlegen waren, gelang es den Iberern, ihre Grenzen in einer viertägigen Schlacht zu verteidigen.

Wachtang wurde am letzten Tag der Schlacht tödlich verletzt. Einer Legende zufolge erschoss ihn einer der königlichen Sklaven durch eine Öffnung seiner Rüstung an der Achsel. Seine Leibwächter brachten ihn in die befestigte Residenz Udscharma, wo er wenige Tage später verstarb. Er wurde in der Swetizchoweli-Kathedrale beerdigt.

Wachtang Gorgassali wurde ein georgischer Nationalheld. Seine Geschichte wurde im Laufe der Jahrhunderte mit Legenden umwoben. Er ist Inhalt verschiedener georgischer Volkslieder. Mehrere Jahrhunderte wurde die georgische Flagge nach seinem Beinamen Gorgasliani genannt. Heute ist der Orden Wachtang Gorgassali der höchste Orden Georgiens. Die Georgische Orthodoxe Apostelkirche hat ihn zum Heiligen ernannt. Seit 1967 grüßt das Reiterdenkmal König Wachtang I. die Besucher als ein Wahrzeichen der georgischen Hauptstadt.

Wachtang Gorgassali steht im Mittelpunkt der Legende über die Gründung von Tiflis: König Wachtang Gorgassali war auf der Jagd in einem Wald. Sein Falke erlegte einen Fasan. Der Vogel fiel in eine Quelle heißen Wassers. Der König und seine Diener sahen, wie Dampf aus dem Wasser stieg. Überrascht vom Überfluss an heißem Wasser, gab Wachtang den Befehl, an dieser Stelle eine Stadt zu bauen und sie Tphilisi (georgisch Tbilisi, „Platz der warmen Quellen“) zu nennen.

Georgien ist ein eurasischer Staat an der Grenze zwischen Europa und Asien in Transkaukasien, östlich des Schwarzen Meeres und südlich des Großen Kauskasus gelegen. Im Norden wird er von Russland, im Süden von der Türkei und Armenien, im Osten von Aserbidschan begrenzt. Die Landesteile Abchasien und Südossetien sind abtrünnig und werden nur von Russland und einigen weiteren Staaten als souverän anerkannt.

Mit rund 3,7 Millionen Einwohnern (2015) auf einer Fläche von 57.215 km² (ohne die abtrünnigen Landesteile) ist Georgien eher dünn besiedelt. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung lebt in der Hauptstadtregion um Tiflis.

Georgien liegt in Vorderasien, wird aber von seinen Bewohnern als Balkon Europas bezeichnet. Seine Fläche entspricht mit 69.700 Quadratkilometern ungefähr der von Bayern. Gebirge und Vorgebirge bedecken 87 Prozent des Landes. Im Norden liegt die Südabdachung des Großen Kaukasus.

Größte Städte sind Tiflis (1.258.085 Einwohner), Kutaissi (178.350 Einwohner), Batumi (118.297 Einwohner), Rustawi (112.624 Einwohner), Sochumi (81.546 Einwohner), Sugdidi (73.014 Einwohner), Gori (46.680 Einwohner) und Poti (46.112 Einwohner).

Im Südwesten Georgiens liegt die autonome Republik Adscharien, im Nordwesten Abchasien, im Norden das Gebiet Südossetien. Abchasien und Südossetien stehen derzeit nicht unter der Kontrolle der georgischen Regierung; die von ihnen beanspruchte staatliche Souveränität wird von fünf Staaten anerkannt und von 6.000 bis 10.000 Soldaten der Russischen Streitkräfte unterstrichen.

Der Kaukasus schützt Georgien vor Kaltluftwellen aus dem Norden und erlaubt dem Schwarzen Meer, das Land zu erwärmen. Die Klimazonen reichen von einem subtropisch -feuchten Klima im Westen bis hin zu einem trockenen und gemäßigten Kontinentalklima im Osten. Die durchschnittliche Lufttemperatur schwankt zwischen 15 °C im West- und 11 °C bis 13 °C im Ostteil. Der durchschnittliche Niederschlag im Westen beträgt 3000 mm, im Osten 400 mm. Der Frühling in Georgien ist kurz mit abrupten Klimaschwankungen, der Sommer oft sengend heiß. Der Herbst ist sonnig-warm, der Winter schneearm.

44 Prozent des Landes sind mit Wald bedeckt, fünf Prozent davon sind Urwald. 40 Prozent der Wälder sind in ihrer ursprünglichen Struktur erhalten geblieben. Oberhalb der Baumgrenze breiten sich subalpine und alpine Wiesen aus. Das Gebirge im Süden, die Tiefebene und die Transkaukasische Senke waren früher Steppen. Heute sind sie überwiegend kultiviert.

Das Land zählt ca. 4100 Pflanzenarten. Davon sind etwa 1000 dort endemisch und 1000 im Kaukasus. Nach einer Zählung des WWF sind in Georgien allein rund 400 Baum- und Straucharten zu Hause. 61 davon sind endemisch, 60 Arten gelten als weltweit bedroht und wurden in die Rote Liste aufgenommen.

Georgien beherbergt Hunderte verschiedene Wirbeltierarten. Darunter sind etwa 322 Vogelarten, 84 Fischarten, 52 Reptilienarten, 13 Amphibienarten und etwa 105 Säugetierarten. Der Vorschlag dazu stammte von dem russischen Botaniker Nicolai Kusnezwow (1864–1932), der die dort vorhandene, reichhaltige kaukasische Flora schützen wollte. Die Nutzung als Weideland, das Jagen und Fällen von Bäumen ist seither verboten. 1934 wurde der Nationalpark auf 17.688 Hektar ausgedehnt.

Das Wetter im Nationalpark variiert zwischen feucht-subtropisch in niederen Lagen und gemäßigter Witterung in höheren. Die Sommer sind warm mit durchschnittlich 20 bis 23 °C im Juli, die Winter mild, aber schneereich mit 0 bis -4 °C im Januar. Der durchschnittliche Niederschlag beträgt 1.070 mm pro Jahr, die relative Luftfeuchtigkeit 75 bis 80 %.Größter See des Nationalparks ist der Schawiklde-See mit 14 Metern Tiefe und einer Fläche von 21 Hektar. Nahe der aserbaidschanischen Grenze, in der Mazimi-Schlucht, liegt die mittelalterliche Tamara-Festung (auch Matschi-Festung).

Insgesamt wachsen im Park knapp 1500 verschiedene Pflanzenarten. Hinzu kommen fast 40 verschiedene Säugetier-, 120 Vogel-, 13 Reptilien-, 4 Amphibien- und 1300 Insektenarten.

Im Nationalpark sind Autos nicht erlaubt. Besucher können ihn erwandern oder auf Pferden reiten. Neben Zelten kann in einer Pension im Park und in der Wetterstation Lagodechi auf 2000 m Höhe übernachtet werden. Die Parkverwaltung bietet geführte Touren inklusive Übernachtungen und Reitpferden an. In der südlich des Parks gelegenen Stadt Lagodechi gibt es verschiedene Hotels, Restaurants und Cafés.

Georgien hat rund 3,7 Millionen Einwohner (2014). Seit der staatlichen Unabhängigkeit 1991 haben mehr als eine Million Menschen das Land verlassen. Zwischen 2000 und 2005 ging die georgische Bevölkerung jährlich um etwa ein Prozent zurück. Vor allem Einwohner mit hohem Bildungsgrad, die Arbeitsplätze zunächst in anderen Staaten der GUS – später auch in Westeuropa und den USA– finden konnten, verließen Georgien. Die größte georgische Gemeinschaft außerhalb des Landes existiert in Moskau, nach russischen Angaben rund 300.000 Menschen. Bis zum 2. Weltkrieg war Georgien ein landwirtschaftlich geprägtes Land. Heute leben 57 Prozent der Einwohner in den städtischen Ballungsgebieten, 43 Prozent in Dörfern und ländlichen Gebieten.

Bürgerkriege in Abchasien und Südossetien führten dazu, dass etwa 250.000 Menschen aus ihrer Heimat flohen oder vertrieben wurden. Georgien beherbergte 2004 rund 230.000 Vertriebene aus Abchasien und 12.200 aus Südossetien. Hinzu kamen etwa 3000 Flüchtlinge aus Tschetschenien.

In den Phasen des Nationalismus von 1918 bis 1921, während des Zweiten Weltkrieges und zu Beginn der 1990er Jahre wurden viele Volksgruppen in Georgien diskriminiert. 1941 ließ der sowjetische Diktator Stalin 40.000 Kaukasiendeutsche deportieren und 1944 die Mescheten aus Georgien vertreiben.

Kaukasiendeutsche waren deutschstämmige Einwohner des Russischen Reiches und der Sowjetunion, die in den Gebieten des Kaukasus siedelten. Sie kamen meist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Land. Es gab deutsche Kolonien im Nordkaukasus, Georgien, Aserbaidschan und Armenien. Die Siedlungen in Transkaukasien wurden stark von schwäbischen Auswanderern geprägt, im Nordkaukasus von Wolgadeutschen, die einen hessischen Dialekt sprachen.

Nach Georgien wanderten zwischen 1817 und 1819 2.629 schwäbische radikale Pietisten ein (in der Literatur auch „Separatisten“ genannt, da sie sich von der Landeskirche abspalteten). Sie hatten bei Zar Alexander I. um eine Genehmigung zur Ansiedlung nachgesucht. Sie wurde im Mai 1817 erteilt. Der erste Siedlertross traf im Dezember des gleichen Jahres in Georgien ein.

Etwa 500 Großfamilien gründeten 1818 nahe Tiflis, unterstützt von der russischen Regierung, acht Kolonien. In der Umgangssprache hießen sie bald die „Schwabendörfer“. Der größte Ort war Katharinenfeld, wo zunächst 95 Familien, später 116 Familien lebten. Der Name sollte die württembergische Königin Katharina, die Schwester von Zar Alexander I. ehren. Im Ort gab es fünf Fußballmannschaften, eine deutsche Zeitung, eine Grundschule, eine lutherische Kirche mit Chor, einen Jägerverein, eine Theatergruppe und einen Stadtpark. Marienfeld, Alexandersdorf und Petersdorf machten wegen ihrer schnurgeraden, gepflasterten Straßen von sich reden. Von diesen ersten Kolonien spalteten sie später weitere Siedlungen ab, wie Freudenthal (1842) und Alexanderhilf (1857).

Auch in Tiflis siedelten sich deutsche Kolonisten an. Sie bauten den deutschen Stadtteil Neutiflis, arbeiteten als Handwerker, Kaufleute und Hoteliers. Es entstanden ein deutsches Gymnasium und eine evangelisch-lutherische Kirche. In Abchasien entstanden die Siedlungen Neudorf, Lindau und Gnadenberg bei Sochumi. 1918 gab es in Georgien mehr als 20 von Kaukasiendeutschen gegründete Dörfer.

Von 1906 bis 1922 verlegte Kurt von Kutschenbach in Tiflis die deutschsprachige Wochenzeitung „Kaukasische Post“, die sich die „einzige deutsche Zeitung im Kaukasus“ nannte. Chefredakteur war der Schriftsteller und Journalist Arthur Leist.

Die erste deutsche Kolonie in Aserbaidschan war 1818 Alt Katharinenfeld (wurde 1819 wieder aufgegeben), eine weitere kurz darauf auf der anderen Seite des Flusses Schamchor in Annenfeld. Helenendorf, das heutige Göygöl, wurde 1819 von 194 schwäbischen Familien gegründet. Sie kamen über den Nordkaukasus und Tiflis nach Aserbaidschan. Helenendorf wurde zur größten deutschen Siedlung in Aserbaidschan. 1857 wurde dort die erste evangelisch-lutherische Kirche im Land errichtet.

Zwischen 1888 und 1914 entstanden sechs weitere deutsche Gemeinden: Georgsfeld (1888), Alexejewka (1902), Grünfeld sowie Eichenfeld (1906), Traubenfeld (1912) und Jelisawetinka (1914). In den 1920er Jahren kamen die deutschen Dörfer Marxowka und Kirowka hinzu. Ihre Gründer stammten aus den Ursprungsgemeinden um Helenendorf und Annenfeld. In den 1920er-Jahren gab es mehrere deutschsprachige, kommunistische Zeitungen, die auch staatliche Unterstützung erfuhren, darunter etwa Lenins Weg und Bauer und Arbeiter.

Der deutsche Konsul in Konstantinopel schätzte die Anzahl der in Aserbaidschan lebenden deutschen Kolonisten 1918 auf rund 6.000 Menschen. Sie machten die fruchtbare Vorgebirgssteppe urbar. Ab 1860 konzentrierten sie sich auf den Weinbau. Ende des 19. Jahrhunderts wurde 58 % des Weins im Gouvernement Elisabethpol von den Gebr. Vohrer und den Gebr. Hummel aus Helenendorf hergestellt.

Nach der Bildung unabhängiger Republiken im Südkaukasus nach 1917 schlossen sich die deutschen Kolonisten zum Transkaukasischen Deutschen Nationalrat mit Sitz in Tiflis zusammen. Nach der Okkupation Georgiens und Aserbaidschans durch die Sowjetunion 1921 wurde Katharinenfeld in Luxemburg, 1944 in Bolnissi umbenannt. Marienfeld wurde zu Sartischala, Elisabethtal zu Asureti und Helenendorf zu Xanlar. Alexandersdorf wurde von Tiflis eingemeindet.

In den 1930er Jahren waren die deutschen Kolonisten im Kaukasus in besonderem Maße politischen Verfolgungen ausgesetzt. 1935 wurden 600 Deutsche aus Aserbaidschan nach Karelien deportiert. Im georgischen Luxemburg wurden 352 Einwohner verhaftet, verschleppt oder ermordet.

1941 lebten in Georgien über 24.000 deutsche Kolonisten, in Aserbaidschan mehr als 23.000. Im gleichen Jahr siedelte Stalin alle Kaukasiendeutschen, die nicht mit Einheimischen verheiratet waren, innerhalb weniger Monate nach Kasachstan und Sibirien um. Grundlage war eine Verordnung des Staatlichen Verteidigungskomitees „Über die Aussiedlung der Deutschen, die das Gebiet der Georgischen, Armenischen und Aserbaidschanischen Sowjetrepubliken bewohnen“ vom 8. Oktober 1941. Über 45.000 Kaukasiendeutsche wurden zwischen dem 15. Oktober und 12. November 1941 deportiert. Die Häuser der deutschen Siedler wurden an Migranten aus anderen Regionen Transkaukasiens vergeben. Die evangelisch-lutherische Kirche in Tiflis wurde 1946 und 1947 von deutschen Kriegsgefangenen abgerissen.

Nur wenige Kaukasiendeutsche kehrten in der Nachkriegszeit in den Kaukasus zurück. Bis 1955 war es ihnen verboten, Zentralasien und Sibirien zu verlassen. 1979 durften 2.053 Deutsche nach Georgien zurückkehren. 2002 lebten in Bolnissi noch etwa 30 ältere Frauen, die von Deutschen abstammten. Es gibt dort ein deutsches Gemeindehaus. Auf dem unter Stalin eingeebneten deutschen Friedhof der Stadt steht heute ein Denkmal, das an die Kolonisten in Georgien erinnert.

1991 wurde in Tiflis der Verein Einung – Assoziation der Deutschen in Georgien gegründet. 2000 hatte er rund 2.000 Mitglieder. In jüngster Zeit interessieren sich vermehrt auch Jugendliche wieder für ihre deutschen Vorfahren und deren Kultur. Oftmals ist dies eng verbunden mit dem protestantischen Glauben, so dass sich die Evangelisch-Lutherische Kirche in Georgien in ihrer Jugendarbeit intensiv um diese jungen Leute bemüht.

Georgien hat inzwischen das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten ratifiziert. Das Parlament beschloss jedoch (völkerrechtlich unwirksame) Einschränkungen zur Anwendung der Artikel 10 und 11, in denen das Recht nationaler Minderheiten auf die Verwendung der Muttersprache anerkannt wird.

In einzelnen Regionen Georgiens bilden nicht-georgische Volksgruppen die Mehrheit. In Niedrkartlien leben etwa genau so viele Aserbaidschaner wie Georgier. In der Region Samzche-Dschawachetien, die an Armenien angrenzt, sind die Armenier sogar etwas in der Mehrheit. In der zu über 90 % armenisch besiedelten historischen Provinz Dschawachetien kam es 2005 und 2006 zu Protesten bzw. Unruhen. Die Demonstranten forderten wirtschaftliche Geichberechtigung und politische Autonomie. Ein weiterer Punkt war die Benachteiligung im Georgisch-sprachigen höheren Bildungswesen; dieses Problem sorgt auch international für Kritik.

Seit 1989 haben viele Angehörige von Minderheiten, insbesondere Russen, das Land verlassen. So sank der Anteil der russischstämmigen Bevölkerungsgruppe an der georgischen Bevölkerung innerhalb von 13 Jahren von 6,32 % Prozent auf nur noch 1,55 %. Die soziale Mobilität der russischen Diaspora und ihr hoher Bildungsgrad machte es relativ leicht, mit einem russischen Pass das wirtschaftlich besser gestellte Russland zu erreichen. Auch die Zahl der in Georgien lebenden Griechen, Armenier, Ukrainer, Juden und Osseten ist seit der Unabhängigkeit des Landes massiv gesunken.

Georgien ist ein christlich geprägtes Land, schon 337 wurde das Christentum zur Staatsreligion Iberiens erklärt. Seit dem Frühmittelalter ist die Orthodoxie ein Symbol der Nation. Ein Konkordat sorgt bei verfassungsmäßig garantierter Religionsfreiheit für eine herausgehobene Stellung der georgischen Orthodoxie, der als einziger Religionsgemeinschaft Steuerfreiheit sowie eine öffentlich-rechtliche Organisationsform zugebilligt werden. Diese Sonderstellung wurde im Oktober 2002 in einem Verfassungsabkommen festgeschrieben, welches die christliche Orthodoxie praktisch zur Staatsreligion erklärt.

In den 1990er Jahren wurden Kirchenbauten religiöser Minderheiten, unter anderem der Katholiken, enteignet und der Georgischen Orthodoxen Apostelkirche übergeben. Immer wieder kommt es zu religiös motivierten Ausschreitungen gegen Minderheiten, darunter gegen die Zeugen Jehovas und gegen die Baptisten. Georgien stand bis 2004 auf einer Liste der US-Kommission zur Religionsfreiheit in der Welt, die jene Länder nennt, in denen die Religionsfreiheit am wenigsten gewährleistet ist. Erst nachdem Georgiens Strafverfolgungsbehörden gehandelt hatten, ließ die Zahl der Überfälle nach und Georgien wurde aus der Liste entfernt. Am 7. Juli 2011 wurden per Gesetz auch die nichtorthodoxen Religionsgemeinschaften, die einen historischen Bezug zum Land haben oder einen entsprechenden Status in einem Mitgliedsland des Europarates besitzen (Katholiken, Baptisten, Juden, Moslems sowie die armenisch-apostolische Glaubensgemeinschaft) rechtlich abgesichert. Der Europarat begrüßte den dadurch gewährleisteten Schutz religiöser Minderheiten in Georgien ausdrücklich

Tiflis ist die Hauptstadt des Landes und kultureller Mittelpunkt.

Der georgische Name Tbilissi bedeutet so viel wie ‚warme Quelle‘,An den Nordosthängen des Mtabori sprudelt bis zu 46,5 °C heißes, kohlensäurehaltiges Schwefel-Quellwasser aus der Erde, das seit Jahrhunderten in Badehäusern genutzt wird.

Die Überlieferung berichtet, dass der georgische König Wachtang I. Gorgassali auf der Jagd in einem bewaldeten Tal einen Fasan erlegte. Das Tier fiel in eine heiße Quelle und wurde vom sprudelnden Wasser sofort gar gekocht. Der König ließ die Umgebung genau erforschen. Als er erfuhr, dass es dort viele heiße Quellen gab, gründete er 485 an diesem Ort die Stadt Tiflis.

1936 wurden durch Beschluss der sowjetischen Führung die amtlichen russischen Bezeichnungen verschiedener Städte modifiziert, meist den örtlichen Sprachformen angepasst. In diesem Zuge wurde die georgische Namensform Tpilissi gemäß dem Vorschlag georgischer Linguisten modernisiert. Am 20. September 2006 hielt das georgische Parlament eine Feierstunde zum 70. Jahrestag der Umbenennung ab.

Die meisten Sprachen haben die georgische Namensform übernommen. Im Deutschen ist Tbilissi eine häufig verwendete Namensform, in der DDR war es die offizielle Bezeichnung.

Ab dem 5. Jahrtausend v. Chr. verbreitete sich in Georgien die Metallverarbeitung, zunächst in Westgeorgien. Die Landwirtschaft setzte sich gegenüber der Jagd endgültig durch. In Niederkartlien begann die künstliche Bewässerung, angebaut wurden vor allem Hirse, Gerste und Weizen. Es wurden vor allem Rinder, seltener auch Schafe, gehalten. Reste von Siedlungen wurden unter anderem in Sagwardschile, Samele Kide, Samerzchle Klde und Tetramiza gefunden. Die Häuser bestanden aus Stampflehm. Die ostgeorgischen Siedlungen, darunter Chisaantgora, Didube, Nazargora, Imiri und Schulaweri, liegen teilweise über 1000 m hoch. Sie waren auf Hügeln errichtet, die Häuser hatten einen ovalen Grundriss. Keramikfunde weisen auf einen Handel mit den südlicheren Regionen bis zum Van-See hin

Zu Beginn des 2. Jahrtausends, in der mittleren Bronzezeit, entwickelte sich in Ostgeorgien die Trialeti-Kultur. Die Siedlungen verlagerten sich in das Bergland, viele Siedlungen der Kura-Araxes-Kultur wurden aufgegeben. Der Ackerbau wurde durch Viehzucht ersetzt, möglicherweise durch nomadische Einwanderer. Das Handwerk erreichte in dieser Zeit eine erste Blüte. Es wurden vor allem Kurgane, die Grabhügel gefunden, Siedlungen jedoch nicht. In Westgeorgien blieb die Kultur der frühen Bronzezeit mit Ackerbau und Siedlungen in den Niederungen erhalten, jedoch nahm auch hier die Viehzucht zu. Hier wurde das Bergland stärker besiedelt, Kontakte zur Trialeti-Kultur gab es jedoch kaum. Seit Mitte des 2. Jahrtausends war das Pferd in Georgien bekannt, zu Ende des Jahrtausends war es bereits weit verbreitet und wurde wirtschaftlich wie militärisch genutzt.

Ab Ende des 2. Jahrtausends nahm die Bevölkerung zu und Metallurgie und Ackerbau entwickelten sich weiter. Zinn wurde aus benachbarten Regionen im Iran oder Kleinasien importiert. Etwa ab dem 12. Jahrhundert v. Chr. begann in Innerkartlien die Eisenverarbeitung. Bis 800 v. Chr. setzte sich das Eisen gegen die Bronze durch. Zugleich entwickelte sich die Verwendung von Schwertern. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung entstanden größerer Wohlstand und größere besitzmäßige Unterschiede. Auch für Ostgeorgien gibt es für diese Zeit Funde von Dörfern und befestigten Siedlungen. In ihnen fanden sich häufig Kultstätten. Im Westen Georgiens entwickelte sich die Kolchis-Kultur, die sich bis nach Ostanatolien, in Teile Nordkaukasiens und nach Innerkartlien verbreitete. In ihr waren die Gebäude meist aus Holz, nur in den Bergen auch aus Stein, und der Ackerbau die ökonomische Grundlage. Im Handwerk entwickelten sich vor allem Textilherstellung und Töpferei. Metallurgische Zentren lagen bei Ghebi und im Tschorochi -Becken. Die Wirkung dieser Kultur auf die Griechen ist in die Argonautensag eingeflossen. Schließlich entwickelte sich in Ostgeorgien eine eigene Kultur und drängte die kolchische zurück.

337 konvertierte Georgien als einer der ersten Staaten der Welt zum Christentum. König Mirian III. von Iberien aus dem Geschlecht der Chosroiden führte das Christentum als offizielle Staatsreligion ein. Am 17. Januar 395 wurde die südwestliche Kolchis Teil des Oströmisches Reich. Ab 591 galt das oströmische Glaubensbekenntnis.

Im 5. Jahrhundert befreite der georgische König Wachtang I. Gorgassali (dt. Wolfshaupt) Tiflis, machte sie zu seiner Hauptstadt und baute sie zur Metropole aus. Wachtang I. Gorgassali war ein georgischer König aus der Dynastie der Chosroiden. Von 452 bis 502 herrschte er über das Königreich Iberien. Er führte einen Krieg gegen das Perserreich und gründete Tiflis, die heutige georgische Hauptstadt.

Wachtang I. Gorgassali wurde als Sohn des iberischen Königs Mirdat V. und der Königin Sagducht von Ran geboren. Der Beiname Gorgassali ist eine Abwandlung des persischen Worts Gorgaslan, Gurgaslan bzw. Gorgasar (dt. Wolfskopf). Er erhielt ihn von den persischen Kriegsgegnern, bezogen auf die Form seines Helms.

Wachtang war mit einer persischen Fürstin verheiratet. Er schützte die nördlich Iberiens gelegenen Gebirgspässe durch den Großen Kaukasus, besiegte die Alanen und nahm von 455 bis 458 an den persischen Feldzügen gegen das Byzantinische Reich und Indien teil, vermutlich auch an den Kriegen Schah Peroz’ I. gegen die Hephthaliten von 474 bis 476.

Er fühlte sich von Persien in seiner politischen Unabhängigkeit beeinträchtigt. Deshalb bemühte er sich, seine Position zu stärken, indem er die Autokephalie der georgischen orthodoxen Kirche unterstützte, die zu Byzanz gehörigen westgeorgischen Länder Egrisi, Lasika und Abchasien unter seine Herrschaft brachte, die iberischen Festungen ausbaute, ein Bündnis mit den Armeniern schloss und Vorbereitungen zu einem großangelegten anti-persischen Aufstand traf.

482 ordnete er an, Warsken, den Vizekönig einer iberischen Provinz und treuen persischen Vasallen, zu töten. Der Legende nach soll Warsken seine Frau Schuschanik 475 in den Kerker geworfen haben, weil sie nicht den persischen Glauben annehmen wollte (siehe Martyrium der Heiligen Schuschanik). Wachtang heiratete Fürstin Helena von Byzanz und ersuchte Kaiser Zenon um Hilfe. Doch die Hilfe blieb aus. Der georgisch-armenische Aufstand von 482 wurde niedergeschlagen und das Land 483 und 484 von persischen Strafexpeditionen verwüstet.

Nach kurzem Exil in Lasika schloss Wachtang mit den Persern Frieden und kehrte 485 nach Iberien zurück. Er weigerte sich jedoch, sich einem weiteren persischen Kriegszug gegen Byzanz anzuschließen. Daraufhin griff Schah Kavadh I. Iberien 502 an. Obgleich die Perser dreifach überlegen waren, gelang es den Iberern, ihre Grenzen in einer viertägigen Schlacht zu verteidigen.

Wachtang wurde am letzten Tag der Schlacht tödlich verletzt. Einer Legende zufolge erschoss ihn einer der königlichen Sklaven durch eine Öffnung seiner Rüstung an der Achsel. Seine Leibwächter brachten ihn in die befestigte Residenz Udscharma, wo er wenige Tage später verstarb. Er wurde in der Swetizchoweli-Kathedrale beerdigt.

Wachtang Gorgassali wurde ein georgischer Nationalheld. Seine Geschichte wurde im Laufe der Jahrhunderte mit Legenden umwoben. Er ist Inhalt verschiedener georgischer Volkslieder. Mehrere Jahrhunderte wurde die georgische Flagge nach seinem Beinamen Gorgasliani genannt. Heute ist der Orden Wachtang Gorgassali der höchste Orden Georgiens. Die Georgische Orthodoxe Apostelkirche hat ihn zum Heiligen ernannt. Seit 1967 grüßt das Reiterdenkmal König Wachtang I. die Besucher als ein Wahrzeichen der georgischen Hauptstadt.

Wachtang Gorgassali steht im Mittelpunkt der Legende über die Gründung von Tiflis: König Wachtang Gorgassali war auf der Jagd in einem Wald. Sein Falke erlegte einen Fasan. Der Vogel fiel in eine Quelle heißen Wassers. Der König und seine Diener sahen, wie Dampf aus dem Wasser stieg. Überrascht vom Überfluss an heißem Wasser, gab Wachtang den Befehl, an dieser Stelle eine Stadt zu bauen und sie Tphilisi (georgisch Tbilisi, „Platz der warmen Quellen“) zu nennen.

591 – nach dem Ende des vorletzten der Römisch-Persischen Kriege – wurde Tiflis oströmische Provinzhauptstadt. Im 7. Jahrhundert wurde sie von den Arabern erobert, ging danach in persischen, byzantinischen und 1068 in seldschukischen Besitz über.

1121 wurde sie nach der Befreiung durch David den Erbauer erneut georgische Hauptstadt und dank der befestigten Lage am Schnittpunkt von inzwischen sieben europäisch-asiatischen Handelswegen zu einer der reichsten Städte des Mittelalters. Marco Polo berichtete, es gäbe in Georgien eine herrliche Stadt namens Tiflissi, die von Vororten und vielen Festungen umgeben ist. Im 13. Jahrhundert wurde die Stadt von den Choresmiern verwüstet. Von 1386 bis 1402 gehörte Tiflis zum zentralasiatischen Reich Timur Langs.

Temür ibn Taraghai Barlas war ein zentralasiatischer Militärführer und Eroberer islamischen Glaubens am Ende des 14. Jahrhunderts.In der europäischen Geschichtsschreibung ist er besser bekannt als Timur auch Timur Lenk oder Timur Leng- Inzwischen ist fast nur noch außerhalb der Wissenschaften Tamerlan geläufig, wohingegen dies jenseits des deutschen Sprachraums weiterhin geläufig ist.

Aufgewachsen in der nomadischen Stammeskonföderation des Tschagatai-Chanats, strebte er die Wiederherstellung des Mongolischen Reiches unter seinem Supremat an. In der Stellung eines Emirs war er der Begründer der Dynastie der Timuriden, deren Reich im Zenit der Macht weite Teile Vorder- und Mittelasiens einschloss. Timurs Herrschaft ist gekennzeichnet durch Brutalität und Tyrannei, während er gleichzeitig als großzügiger Kunst- und Literaturförderer bekannt ist.

Timur wird in einigen persischen Quellen pejorativ als Timur-i Lang „Timur der Lahme“ bezeichnet. Aufgrund einer Verwachsung an der rechten Kniescheibe war sein rechtes Bein gelähmt, dazu kam eine Verwachsung an der rechten Schulter. Des Weiteren hatte ein Pfeilschuss die Beweglichkeit der rechten Hand eingeschränkt, wie sowjetische Wissenschaftler bei einer Untersuchung des Skelettes im Jahre 1941 feststellten. „Timur der Lahme“ wurde in Europa daher teils zu Tamerlan verkürzt.

Er selbst bezeichnete sich als gurkāni („Schwiegersohn“) und deutete damit auf seine Heirat in die Familie Dschingis Khans hin, um seine Herrschaftsansprüche zu untermauern.

Timur entstammte dem im 13. Jahrhundert in Transoxanien eingewanderten mongolischen Nomadenstamm der Barlas, welcher jedoch mit der Zeit eine Turksprache angenommen hatte und von den türkischen Nomaden Zentralasiens nicht mehr zu unterscheiden war. Der Stamm der Barlas teilte sich in mehrere Zweige auf, und Timurs Vater Taragai beherrschte als Stammesfürst die Gegend um Kesch und das Tal des Flusses Kaschkadarja. Die Barlas führten ihre Abstammung auf Qarchar Barlas zurück, einen militärischen Führer in Tschagatais Armee, und über diesen – wie einst auch Dschingis Khan – auf einen legendären mongolischen Kriegsherren mit dem Namen Bodon'ar Mungqaq. Die Kindheit Timurs liegt weitgehend im Dunkeln und wurde nach seinem Aufstieg stark mythologisiert. Seine Mutter Tikina-Chatun starb früh, er hatte drei Brüder und zwei Schwestern.

Als Heranwachsender trat Timur in die Dienste des Qaraunas-Emirs Kazagan (1346–1357), eine damals übliche Laufbahn für Kinder aus dem niederen Adel, und verblieb dort mehrere Jahre. Er nahm nach der Ermordung Kazagans durch einen Rivalen an den Bürger- und Stammeskriegen in Transoxanien teil und versuchte durch Intrigen und häufigen Positionenwechsel zwischen dem 1360 in diese Gegend eingefallenen Mongolenherrscher Tughluq Timur († 1363) und Hadschi Barlas, seinem Onkel, der den Widerstand gegen die Mongolen anführte, seine Machtbasis zu erhalten. 1361 fiel Tughluq Timur noch einmal in Transoxanien ein. Hadschi Barlas floh und kam auf ungeklärte Weise um. Tughluq Timur machte Timur, der sich als Erster der Macht des Mongolenfürsten unterwarf, zum Berater seines Sohnes und neuen Herrschers von ganz Transoxanien.

Timur versuchte, die Macht an sich zu reißen, jedoch überschätzte er seine Popularität, und sein Auflehnungsversuch wurde im Keime erstickt. Er musste fliehen und fand bei seinem Schwager Hussain, dem Enkel Kazagans, Unterschlupf. Da aber Hussain über keine ausreichende Machtbasis verfügte, zogen die beiden in Begleitung weniger Soldaten umher, bevor sie sich entschlossen, in Choresm um Hilfe zu ersuchen. Auf dem Weg dorthin wurde ihre Gruppe in einem Gefecht fast vollständig aufgerieben und Timur in der Nähe der Stadt Merw gefangen genommen. Bald war er wieder frei und sammelte um sich eine Gruppe von Abenteurern und Söldnern, die zum Schrecken Transoxaniens wurden.

1363 gelang es Timur und Hussain, die Truppen Ilias Hodschas zu schlagen und in die Stadt Kesch einzuziehen. Im selben Jahr besiegten sie den mittlerweile zum Khan aufgestiegenen Ilias Hodscha erneut. Er floh in sein östliches Stammland Mogulistan (Östliches Tschagatai-Khanat). Timur, der selbst keine Legitimation besaß, musste akzeptieren, dass von den versammelten Adligen ein Nachfahre Dschingis Khans namens Kabul Khan zum obersten Herrscher Transoxaniens gewählt wurde.

1365 wurden die transoxanischen Truppen vom wiedererstarkten Ilias Hodscha in einer Schlacht in der Nähe Taschkents vernichtend geschlagen. Die Mongolen besetzten große Gebiete und belagerten erfolglos Samarkand. Ilias Hodscha wurde wenig später von einem Rivalen umgebracht, und die Mongolen zogen sich nach Mogulistan zurück. Jedoch sah Timur sich starker Rivalität seines Schwagers Hussain ausgesetzt, der jetzt die Macht übernahm, und musste wiederum das unstete Leben eines Flüchtlings führen. Nach mehreren Scharmützeln und kleinen Auseinandersetzungen gelang es ihm, eine starke Armee aufzustellen. Er besetzte Baktrien und zog den Herrscher von Badachschan auf seine Seite. Kurz darauf stand seine Armee vor den Mauern von Balch. Hussain, von seinen Getreuen verlassen, unterwarf sich und ging als Pilger nach Mekka. Auf dem Weg dorthin wurde er – mutmaßlich auf Befehl Timurs – umgebracht. Am 10. April 1370 rief Timur sich zum Herrscher ganz Transoxaniens aus und nahm den Titel eines Emirs an.

Der Konflikt mit der Goldenen Horde unter Khan Toktamisch prägte während vieler Jahre die Politik Timurs und stellte für diesen eine ernst zu nehmende Herausforderung dar. Toktamisch erschien zum ersten Mal in Samarkand 1376, jedoch nicht als Gegner, sondern als Bittsteller. Da seine Thronambitionen von Urus Khan vereitelt wurden, suchte Toktamisch Timur auf, ihm zu seinem Erbe zu verhelfen. Toktamisch bekam sehr schnell die von ihm erbetenen Truppen und griff die Goldene Horde an, wurde jedoch von Urus Khan vertrieben. Dann nahm Timur den Kampf selbst auf und ging im Winter 1376/77 gegen Urus Khan mit großem Erfolg vor. Urus Khan wurde in einer Schlacht bei Otrar vernichtend geschlagen und verstarb bald darauf. Somit gewann Toktamisch die Macht in der Goldenen Horde nur dank der tatkräftigen Unterstützung Timurs.

1387 erschien Toktamisch mit einem starken Heer an der Grenze zu Transoxanien. Da Timur sich zu diesem Zeitpunkt in Karabach befand und auf einen Überfall nicht vorbereitet war, hatte er kaum Truppen, um Toktamisch aufzuhalten. Sein Sohn Miran Schah kam ihm jedoch rechtzeitig zur Hilfe und Toktamischs Truppen wurden vernichtend geschlagen. Timur befahl, entgegen den Gepflogenheiten der Zeit, die Gefangenen zu schonen und sie in ihre Heimat zu entlassen. Damit wollte er der Goldenen Horde zeigen, dass er kein Feind der Tschingisiden, also der Nachkommen des Dschingis Khan, war.

Toktamisch missverstand diese Geste des guten Willens. Bereits im Winter 1388/89 erschien sein Heer, das in sich die ganze Völkervielfalt der Goldenen Horde vereinigte – darunter auch Kaukasier, Russen und Bulgaren – wieder an den Grenzen von Timurs Reich. Im Januar 1389 kam es zur Entscheidungsschlacht in der Nähe von Chodschent. Die mit äußerster Härte geführte Schlacht wurde durch das unerwartete Eingreifen eines der Söhne Timurs, Omar Scheichs, entschieden, der die Nachhut des Gegners aufrieb und ihn in Panik versetzte. Die Truppen Toktamischs flohen und zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen.

Dieser Überfall zeigte Timur, dass er die Bedrohung durch seinen früheren Schützling ernst nehmen musste. Er konnte nicht mehr gefahrlos seine Macht in Iran und Afghanistan konsolidieren, da er mit ständigen Überfällen durch Toktamisch während seiner Abwesenheit rechnen musste. Um diese Bedrohung ein für alle Mal zu beseitigen, zog Timur im Jahr 1391 gegen Toktamisch. Er beschloss, die Steppengebiete so schnell wie möglich zu überqueren und seinen Gegner zu einer Entscheidungsschlacht zu zwingen. Ganze drei Monate bewegte sich sein Heer durch die Weiten der kasachischen Steppe, immer bestrebt, die Spuren der Nomaden zu finden. Bei Tobolsk wandt sich das Heer nach Nordwesten. In dieser Gegend, die im heutigen Sibirien liegt, wurden die Armeen aus Mittelasien zum ersten Mal mit dem Polartag konfrontiert, so dass die Mullahs das Abendgebet vorübergehend aussetzten. Nach fast viermonatiger Suche gelang es Timurs Sohn Omar Scheich, den Feind in der Nähe des Flusses Kondurtscha westlich des Urals zum Kampf zu stellen. Timurs Hauptstreitmacht erschien wenige Stunden, nachdem der Kampf begonnen hatte. Die Schlacht dauerte mit mehreren Unterbrechungen drei Tage lang, vom 18. bis 21. Juni 1391, und endete mit der vollständigen Niederlage Toktamischs, der vom Schlachtfeld floh.

Jedoch erwies sich Toktamisch als ein zäher Gegner. Unterstützt vom Moskauer Großfürsten Wassili I. erschien Toktamisch 1395 im Nordkaukasus, wo Timurs Truppen georgische Fürsten zu unterwerfen suchten. Toktamisch versuchte, die erst vor kurzem von Timur eroberten Gebiete von Aserbaidschan auf seine Seite zu ziehen und sich dadurch eine Operationsbasis zu schaffen, von wo aus er in Verbindung zu den syrisch-ägyptischen Mamluken der Burdschiyya-Dynastie treten wollte. Nachdem er angefangen hatte, Schirwan zu belagern, floh Toktamisch, sobald er von Timurs Herannahen hörte, und stellte sich am 15. April 1395 nördlich des Flusses Terek zur Schlacht. Den Nomaden gelang es, Timur zu umzingeln, der sich selbst verteidigen musste und nur durch seine Leibgarde, die fast ausnahmslos im Kampf umkam, gerettet wurde. Toktamisch verlor die Schlacht und mit ihr endgültig seine Stellung als Khan der Goldenen Horde. Er floh nach Litauen an den Hof von Großfürst Vytautas. Timurs Truppen plünderten im Wolgadelta und zerstörten Sarai, die Hauptstadt der Goldenen Horde.

Seit 1380 begann er die Eroberung des Südens von Chorasan, Irans und Iraks, wobei die Herrschaften der lokalen Dynastien wie die der Kartiden, Sarbadaren, Muzaffariden und Dschalairiden beseitigt wurden.

In den Jahren 1391 und 1395 errang Timur entscheidende Siege über die mongolischen Herrscher der Goldenen Horde an der Wolga, deren Reich danach unaufhaltsam in einzelne Khanate zerfiel. Bereits 1394 erstreckte sich die Einflusszone von Timurs Macht über ein Gebiet, das sich über Teile des heutigen Iraks mit Bagdad, Irans, Aserbaidschans, Usbekistans, Armeniens, Georgiens, Syriens und der Türkei erstreckte. Im Osten grenzte sein Reich unmittelbar an das (östliche) Tschagatai-Khanat der Mongolen.

1398 eroberte er Delhi, 1401 fielen Damaskus sowie (erneut) Bagdad in seine Hände.

Am 20. Juli 1402 fügte er – zu dem Zeitpunkt schon fast blind – dem osmanischen Heer unter Sultan Bayezid I. (genannt „der Blitz“) in der Schlacht bei Ankara (Angora) eine der schwersten Niederlagen in dessen Geschichte zu. Tausende von Soldaten waren verdurstet, noch ehe sie das Schlachtfeld erreichten, weil Timurs Soldaten alle Brunnen weit und breit zerstört hatten. Die tatarischen Truppen des Sultans liefen zu den Mongolen über. Die Truppen des hinkenden Herrschers waren den osmanischen um das (angeblich) Siebenfache überlegen (etwa 120.000 Mann). Nach beinahe zwanzigstündigem Kampf gaben auch die serbischen Hilfstruppen des Sultans auf und flohen (etwa 10.000 Serben unter Stefan Lazarević). Bayezid wurde gefangen genommen; Timur dadurch auch in Europa „berühmt“. Bayezid starb in mongolischer Gefangenschaft.

Timur verließ jedoch bald Anatolien, ohne auf das christliche Konstantinopel vorzustoßen. Die Gründe für diese Entscheidung sind nicht bekannt. Als ein letztes Problem sah Timur seine symbolische Vasallenstellung gegenüber dem Kaiserreich China der Ming-Dynastie, dem er eine Zeit lang hatte Tribut zahlen müssen. 1405 brach er mitten im Winter zum Feldzug nach China auf, starb aber in der Nähe des heutigen Schymkent in Kasachstan nach einem mehrtägigen Alkoholexzess.

Timur wurde in Samarkand bestattet. Sein Mausoleum Gur-e Amir ist eines der bedeutendsten Architekturdenkmäler dieser Zeit, es wurde unter Muḥammad Sultān Mirzā, dem Sohn von Jahāngīr Mirzā, also einem Enkel von Timur erbaut.

Timurs Reich zerfiel bald infolge von Nachfolgestreitigkeiten. Die Osmanen mussten nicht mehr mit einem übermächtigen Feind rechnen und setzten ihre Eroberungsfeldzüge nach einem zehnjährigen Interregnum fort.

Timur heiratete in das Haus Tschagatais, d. h. die Familie Dschingis Khans ein und wollte allem Anschein nach dessen Reich unter dem Vorzeichen des Islams erneuern. Das hinderte ihn aber nicht daran, Muslime töten zu lassen oder gegen die Herrschaft der Dschingisiden vorzugehen.

Dieser scheinbare Widerspruch wird erklärbar vor dem Hintergrund seiner Heimat: Der Respekt vor der mongolischen Tradition war ungebrochen und ein Maßstab der Politik, selbst wenn dem mongolischen Recht längst das islamische Recht gegenüberstand und die Dschingisidenprinzen selten besondere Persönlichkeiten darstellten. Ein Khan wurde Timur Lenk daher nie, er hatte stattdessen zwei Prinzen aus dem Haus Tschagatai als Schattenherrscher („Khane“) zur Legitimation seiner Herrschaft eingesetzt. Als „Emir“ beanspruchte er allerdings aufgrund der Heirat mit Sarai Mulk den Titel Gurgani (benutzt im Sinne von „Königlicher Schwiegersohn“, mongolisch: güregen – „Schwiegersohn“).

Er vollendete die Islamisierung der in Zentralasien eingewanderten Mongolen, die allerdings schon unter Tarmaschirin ihren Höhepunkt erlebt hatte. In der Theorie galt in seinem Reich die mongolische Jassa, in der Praxis eher die Scharia, das islamische Gesetz. Persönlich war er von einer volkstümlichen Frömmigkeit, die sich damals in Derwischorden und Qalandaren niederschlug, und wurde zu Füßen eines Derwischs begraben. Er galt als Sunnit, aber das Verhältnis ist widersprüchlich, denn in Syrien trat er als Schirmherr der Schia auf. Er hielt an turkomongolischen Traditionen fest, auch wenn sie mit der Scharia im Widerspruch standen.

Der Emir schuf eines der größten, wenn auch kurzlebigsten Reiche, die jemals in Zentralasien existierten. Dabei erlangte er den Ruf eines skrupellosen Eroberers, der die Bevölkerung in den unterworfenen Gebieten und Städten zu Hunderttausenden ermorden – unter anderem im Sultanat von Delhi und im Königreich Georgien – und Aufstände gnadenlos unterdrücken ließ. So wurden bei der Eroberung von Isfahan 1387 laut Hafiz-i Abru 28 Schädeltürme auf einer Stadtseite gezählt, sodass man von einer Zahl von 70.000 Toten ausgehen kann. In der Stadt Isfizar ließ er 2.000 Menschen lebendig einmauern. Gunnar Heinsohn nennt ihn den „zweiten mongolischen Megatöter der Geschichte mit mehreren Millionen Opfern“ und trägt unter anderem die Strangulierung von 100.000 Hindus in Delhi im Jahr 1398, die Ermordung von 90.000 Arabern in Bagdad im Jahr 1401 und die gewaltigen Schlachten zwischen Hunderttausenden Türken und Mongolen zusammen.

Trotz seiner die Mongolen übertreffenden Grausamkeit gab es dabei ein gewisses System: Die Spitzen der städtischen Aristokratie wurden für gewöhnlich verschont, die Geistlichkeit ohnehin, und man verzeichnet Verhandlungen um Freikaufpreise, Tributeintreibungen und seltener auch Requisitionsscheine. Timur hatte offensichtlich die Absicht, das im 13. und 14. Jahrhundert versunkene wirtschaftliche und kulturelle Niveau Transoxaniens durch eine Flut von erbeuteten Tieren, Waffen, Lebensmitteln, Gebrauchsgütern, Theologen, Gelehrten und Handwerkern zu heben.

Den Zerstörungen durch seine Soldaten steht sein Städtebau gegenüber, allerdings beschränkt dieser sich auf einige wenige transoxanische Städte und eine gelegentliche Wiederherstellung zerstörter Bewässerungsanlagen. Wirtschaftliche Planungen lassen sich dabei nicht erkennen. Das „Zentrum der Welt“ – seiner Welt: Samarkand, Buchara, Kesch – wurde prachtvoll ausgebaut. In Mittelasien entstand in der Folge ein eigener timuridischer Architekturstil (Gur-e Amir, Bibi-Chanum-Moschee usw.). Der iranisch geprägte Chorasan war für ihn dabei offenbar Inbegriff aller Kultur, der persische Geschmack war vorherrschend. Die Hauptstadt war Samarkand im heutigen Usbekistan. Dort empfing er unter anderem eine spanische Gesandtschaft unter Clavijo und Gesandtschaften der chinesischen Ming, letzteres, um sich in seinen unablässigen Kämpfen den Rücken freizuhalten.

In Samarkand ließ Timur zahlreiche Bauwerke errichten. Die Freitagsmoschee (sangīn) in der Nähe des eisernen Tores wurde von Steinmetzen aus Indien gestaltet. Über dem Eingang wurde ein Spruch aus dem Quran eingemeißelt (i, 24). Der vierstöckigen Kiösk, Gūk Sarāī lag in der Zitadelle. Hier wurden später die erfolglosen Thronprätendenten aus dem Geschlecht Timurs hingerichtet.

Timur ließ auch mehrere Gärten anlegen, den Bāgh-i-bulandī im Osten der Stadt, den Bāgh-i-dilkuschā, der durch eine Allee von weißen Platanen mit dem Türkistor verbunden war, den Naqsch-i-jahān am Rand von Kohik, oberhalb des Qara-Su, den Bāgh-i-chanār südlich der Stadtmauer, den Bāgh-i-schamāl im Norden sowie den Bāgh-i-bibischt. Der Naqsch-i-jahān war zu Baburs Zeiten bereits zerstört.

Timur Lenk versuchte sowohl der traditionellen Lebensweise der Nomaden als auch der Stadtkultur gerecht zu werden. Das lag auch darin begründet, dass sich seine Macht sowohl auf turkomongolische als auch in zunehmendem Maße auf iranische Truppenverbände, besonders aus Chorasan, stützte, sowie auf eine iranisch geprägte Verwaltung.

Außerhalb seines Kernlandes hinterließ Timur keine geregelte Verwaltung. Er setzte einige seiner Nachkommen als Fürsten in Persien und Mittelasien ein, beließ aber die Gebiete in Südrussland und Moghulistan bei mongolischen Prinzen und machte auch keine Anstalten zur Verwaltung des Vorderen Orients. Die Statthalterposten im Kernland, das heißt in Iran und Transoxanien, waren uneinheitlich bemessen und organisiert. So gab es große und kleine Statthalterschaften, erblich oder auch nur auf Zeit verliehen, steuerbefreit oder auch nicht. Die Organisation ließ dem Herrscher auch weitreichende Eingriffsmöglichkeiten offen, zum Beispiel indem den Statthaltern nur kleine Kontingente der jeweils ausgehobenen Truppen unterstellt wurden. So wurden offenbar Mängel in der Verwaltung durch die Furcht vor dem Terror, mit dem die Unterworfenen im Falle einer Auflehnung zu rechnen hatten, kompensiert.

Timur der Eroberer war in erster Linie ein zentralasiatischer Militärführer und selbst für damalige Maßstäbe ein grausamer Zerstörer, aber nicht ohne kulturelle Interessen und geistige Bildung. Er konnte weder lesen noch schreiben, beherrschte aber die osttürkische und die persische Sprache und bediente sich beider, pflegte auch den Umgang mit Vertretern des geistigen Lebens; so gab es z. B. Gespräche mit Ibn Chaldun während der Belagerung von Damaskus 1400/01. Die Beschreibung Ibn Chalduns, der Timur als intelligenten und berechnend argumentierenden Diskussionspartner schildert, aber selbst als einziger Zeitzeuge nicht an einer Idealisierung Timurs interessiert war, weil er nicht sein Untertan war, ließ viele Historiker von dem alten Bild pathologischer Grausamkeit Timurs Abstand nehmen. Offenbar handelte er aus einem bewussten Machtkalkül. Eine längerfristig orientierte Verwaltung schien ihm nicht wichtig gewesen zu sein. Daraus resultierte die Schwäche seiner Dynastie: Die Herrschaft war eine private Verfügungsgewalt und konnte auf militärischem Wege angefochten werden, was gleich nach seinem Tod geschah.

Sämtliche Bemühungen Timurs hoben das Niveau Transoxaniens nur einige Generationen hindurch, denn letztlich wogen die Zerstörungen und Eroberungen der un- und mittelbar angrenzenden islamischen Reiche schwerer und hatten zur Folge, dass das Europa der Renaissance in seiner Entwicklung die islamische Welt ein- und überholte. Konstantinopel, die Hauptstadt des christlichen Byzantinischen Reiches, erhielt eine Atempause vor der osmanischen Eroberung, und das Großfürstentum Moskau wurde durch Toktamischs Niederlage mittelfristig vom Druck der Goldenen Horde befreit und begann seinen langsamen Aufstieg zur Großmacht. Die Denk- und Lebensweise der Nomaden übte einen erneuerten Einfluss im Iran aus, wie man an der mangelhaften Staatsorganisation der Turkmenen im Verlauf des 15. Jahrhunderts sehen kann. Trotzdem war die von Timur begründete Dynastie der Timuriden nicht glanzlos: Sie verzeichnete Persönlichkeiten wie den „Astronomenprinz“ Ulugh Beg († 1449) und herrschte bis Anfang des 16. Jahrhunderts in Transoxanien (bis 1501) und Chorasan (bis 1507). Timurs Urenkel Zahir ad-Din Muhammad Babur gründete 1526 das Mogulreich in Indien.

Im 17. Jahrhundert fiel die Stadt unter türkische Herrschaft, wurde vom georgischen König Irakli II. zurückerobert und befestigt. Im 18. Jahrhundert bemächtigten sich die Türken abermals der Stadt, wurden aber 1735 von Nadir Schah von Persien wieder vertrieben, der den georgischen König Theimuras einsetzte. Dessen Sohn Irakli brachte die Stadt zu hoher Blüte.

1795 marschierten die Perser unter Schah Aga Mohammed Khan (georgisch Aga Mohammed Chan Irakli) in Georgien ein. Nach der Schlacht von Krtsanisi wurde Tiflis völlig zerstört und 22.000 Menschen in Sklaverei verschleppt. Im November 1799 besetzte der russische Generalmajor Lasarus die Stadt.

Nach der Annexion 1801 wurde Georgien Teil des Russischen Reiches und Tiflis Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements (Tiflisskaja Gubernija). Russland verwaltete von dort aus den Kaukasus. In der georgisch-orthodoxen Sioni-Kathedrale zwang der russische General Knorring am 12. April 1802 die georgische Aristokratie und Geistlichkeit mit Waffengewalt zum Eid auf die russische Zarenkrone.

Russland förderte andererseits den Handelsplatz, befreite einen Großteil der in Tiflis verkauften Waren sowie Transitgüter von Steuern. Die Stadt erblühte und die Bevölkerung wuchs von 8500 im Jahr 1811 auf 20.000 im Jahr 1825.

Das heutige Stadtbild prägte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus. Auf Initiative des russischen Vizekönigs Fürst Michail Woronzow wurde die Stadt nach 1845 modernisiert und erweitert. Er berief den Italiener Giovanni Scudieri als Chefarchitekten, gründete das erste Theater und die erste öffentliche Bibliothek in Transkaukasien. Die alten Stadtmauern wurden abgerissen und Tiflis dehnte sich nach Norden und Westen aus.

Im heutigen Stadtzentrum, an der Allee Rustawelis Gamsiri, wurden elegante Paläste, Hotels, Wohnhäuser und Museen im Stil des Klassizismus, des Barock und später des Jugendstils gebaut. Der deutsche Landschaftsarchitekt Heinrich Scharrer legte den Alexanderpark im Stadtzentrum an. Um den Handel zu stärken, wurde die Tiflisstraße gebaut und Tiflis 1872 per Eisenbahn mit Poti und 1883 mit Batumi sowie Baku verbunden.

Die Zahl der Industrieunternehmen wuchs von 138 im Jahr 1864 auf 228 im Jahr 1883. 1886 hatte Tiflis 104.024 Einwohner. Es handelte sich hauptsächlich um Armenier, Russen und Georgier, daneben Deutsche, Tataren, Perser und Polen. Bei der ersten gesamtrussischen Volkszählung von 1897 wurde für Tiflis eine Einwohnerzahl von 159.590 ermittelt. Zahlenmäßig stärkste Bevölkerungsgruppe mit knapp 30 Prozent waren damals noch die Armenier, gefolgt von den Russen mit 28 Prozent. Die Georgier stellten nur ein Viertel der Stadtbewohner.

Am 16. Mai 1918 wurde Tiflis Regierungssitz der Demokratischen Republik Georgien.

Die Demokratische Republik Georgien grenzte im Norden an Russland und die Gebirgsrepublik des nördlichen Kaukasus, im Südwesten an die Südwest-Kaukasische Republik und an die Türkei, im Süden an die Demokratische Republik Armenien und an die Demokratische Republik Aserbaidschan. Ihr Staatsgebiet umfasste etwa 107.600 Quadratkilometer und hatte 2,5 Millionen Einwohner. Wie heute war seine Hauptstadt Tiflis und die Amtssprache Georgisch. Die DRG wurde am 26. Mai 1918 nach dem Auseinanderbrechen der Transkaukasischen Föderation proklamiert und von der menschewistischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei geführt. Weil er ständig mit internen und äußeren Problemen zu kämpfen hatte, war der junge Staat nicht in der Lage, einer Invasion der sowjetrussischen Roten Armee zu widerstehen und brach während der Monate Februar und März 1921 zusammen.

Nach der Februarrevolution 1917 und dem Zusammenbruch des Zarenregimes im Kaukasus setzte die provisorische russische Regierung ein Besonderes Transkaukasisches Komitee (russisch Osoby Sakawkasski Komitet, kurz "Osakom") zur Verwaltung des Kaukasus ein. Es stützte sich auf die nach dem Vorbild des Petrograder Rates der Revolutionären Demokraten in Georgien gegründeten Räte, die fest in der Hand der Menschewisten war.

Die bolschewistische Oktoberrevolution änderte die Situation grundlegend. Die kaukasischen Sowjets weigerten sich, das Regime Lenins anzuerkennen. Die Bedrohung durch eine wachsende Zahl zu den Bolschewiki überlaufender Soldaten der früheren russischen Kaukasusarmee, ethnische Zusammenstöße und Anarchie in den Regionen, zwangen die georgischen, armenischen und aserbaidschanischen Politiker, am 14. November 1917 eine einheitliche regionale Regierung, das Transkaukasische Kommissariat, zu schaffen. Am 23. Januar 1918 wurde ein regionales Parlament, der Sejm, gegründet. Er rief am 22. April 1918 die Unabhängigkeit Transkaukasiens und die Gründung der Transkaukasischen Föderation aus.

Die transkaukasische Unabhängigkeit wurde in Georgien zwiespältig aufgenommen. Viele waren von den Ideen Ilia Tschawtschawadses und der Nationalbewegung des späten 19. Jahrhunderts beeinflusst und bestanden auf einer eigenen Staatlichkeit. Sie fühlten sich durch die Wiederherstellung der Autokephalie der Georgischen Orthodoxen Kirche am 12. März 1917 und die Gründung der Staatlichen Universität Tiflis, der ersten eigenständigen georgischen Universität, 1918 bestärkt. Demgegenüber betrachteten Menschewisten die Unabhängigkeit von Russland als vorübergehenden Schritt gegen die Oktoberrevolution und verurteilten die Rufe nach einem georgischen Staat als chauvinistisch und separatistisch.

Der Transkaukasischen Föderation war nur ein kurzes Leben beschieden. Sie wurde von wachsenden inneren Spannungen und dem Druck des Osmanischen Reiches unterlaufen. Um Georgien vor einer türkischen Eroberung zu bewahren, nahm die georgische Nationalversammlung (georgisch Dampudsnebeli Kreba) Verhandlungen mit Deutschland auf, das bereit war, ein unabhängiges Georgien vor dem Zugriff des Osmanischen Reiches zu schützen. Als Gegenleistung verlangte Berlin Privilegien bei der Ausbeutung von Mangan und Kupfer sowie dem Erdöltransfer vom Kaspischen Meer. Die Reichsleitung hatte bereits 3.000 deutsche Soldaten in Georgien stationiert, um die Belieferung der deutschen Schwerindustrie mit Rohstoffen zu sichern.

Kaiser Wilhelm II. plante 1918, einen von Deutschland protegierten Südostbund als antibolschewistisches Gebiet zwischen der Ukraine und dem Kaspischen Meer zu schaffen. Er sollte als "Brücke nach Zentralasien zur Bedrohung der englischen Stellung in Indien" fungieren. Deutsche Militärs, unter ihnen Erich Ludendorff, Erster Generalquartiermeister in der Obersten Heeresleitung (OHL), setzten auf einen unter deutschem Einfluss stehenden Kaukasusblock mit Georgien als Kern.

Am 26. Mai 1918 erklärte die Nationalversammlung Georgien als Demokratische Republik Georgien für unabhängig. Zwei Tage später erkannte Deutschland die georgische Republik als erster Staat an. Es folgten Rumänien, Argentinien, die Türkei. Sowjetrussland verzichtete in einem am 27. August 1918 in Berlin unterzeichneten Zusatzabkommen zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk auf Georgien.

Präsident der Nationalversammlung war Nikolos Tschcheidse. Erster Premierminister Georgiens wurde der Sozialdemokrat Noe Ramischwili. Er stand einer Koalitionsregierung aus menschewistischen Sozialdemokraten, National-Demokraten und Sozial-Föderalisten vor. Seine Regierung trat im Vertrag von Batumi am 4. Juni hauptsächlich von Muslimen bewohnten Regionen, einschließlich der Städte Batumi, Ardahan, Artvin, Achalziche und Achalkalaki an das Osmanische Reich ab. Mit Hilfe deutscher Truppen unter dem Befehl General Friedrich Kreß von Kressensteins gelang es Georgien, eine Eroberung Abchasiens durch die Bolschewiki abzuwenden.

Nach der Kapitulation Deutschlands und dem Sieg der Alliierten im Ersten Weltkrieg wurden die deutschen Streitkräfte aus dem Kaukasus abgezogen. An ihre Stelle traten britische Armeeeinheiten. Georgiens Regierung wechselte ihre außenpolitische Orientierung, nutzte die Situation und besetzte verschiedene Regionen, die sie im Frühjahr an das Osmanische Reich verloren hatte. Das von Großbritannien besetzte Batumi wurde allerdings bis 1920 nicht von Georgien kontrolliert. Am 25. Dezember 1918 wurden auch in Tiflis britische Streitkräfte stationiert.

Georgiens Beziehungen zu seinen Nachbarstaaten waren schwierig. Es gab Territorialkonflikte mit Armenien, Aserbaidschan und der Weißen Armee General Anton Iwanowitsch Denikins. Mit Armenien und der Denikin-Armee kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Die britische Militärmission versuchte zwischen den streitenden Parteien zu vermitteln, um alle antikommunistischen Kräfte in der Region zu vereinen.

Am 14. Februar 1919 wurden in Georgien Parlamentswahlen abgehalten. Alle Männer und Frauen über 20 Jahren konnten in freier und geheimer Wahl ihre Stimme abgeben. Sie votierten mit überwältigender Mehrheit für die Sozialdemokraten. Ihre Partei errang 81,5 % der Stimmen (408.541 Wähler). Für die Sozialföderalisten entschieden sich 6,7 % (33.630 Wähler), für die National-Demokraten 6,0 % (30.128 Wähler), für die Sozialrevolutionäre 4,28 (21.453 Wähler), für die Radikalen 0,61 % (3107 Wähler) und für die armenische Daschnak-Partei 0,46 % (2353 Wähler). Andere Parteien konnten insgesamt lediglich 0,39 % der Stimmen (2000 Wähler) auf sich vereinigen.

Am 21. März bildete der Vorsitzende der Sozialdemokraten Noe Schordania eine neue Regierung. Wegen wirtschaftlicher, ethnischer und sozialer Spannungen und wegen des Fehlens einer modernen Agrarreform kam es zu bewaffneten Bauernaufständen und ethnischen Konflikten in Abchasien und insbesondere Südossetien (siehe Georgisch-Südossetischer Konflikt (1918–1920)). Sie wurden von bolschewistischen Kräften ausgenutzt und von Sowjetrussland unterstützt.

Der menschewistischen Regierung gelang es schließlich, eine Agrarreform und eine umfassende Sozialgesetzgebung durchzusetzen. Sie führte den Acht-Stunden-Tag ein, ging hart gegen bolschewistische und separatistische Bewegungen vor. 1919 wurde das Justizsystem reformiert und die regionale Selbstverwaltung ausgebaut. Abchasien wurde staatliche Autonomie gewährt. Am 21. Februar 1921 verabschiedete die Nationalversammlung Georgiens erste Verfassung nach dem Vorbild der Schweiz. Trotzdem prägte ein rivalisierender Nationalismus das Land. Er trat vor allem 1920 in Südossetien zu Tage. Verschiedene Zeitgenossen beobachteten einen wachsenden Nationalismus auch unter den Menschewiken.

Im Jahre 1920 wuchs der Druck Sowjetrusslands auf Georgien. Nach dem Sieg der Roten Armee über die Weiße Armee und ihrem Vorrücken auf die Grenzen im Kaukasus wurde die Lage der Demokratischen Republik Georgien sehr angespannt. Im Januar bot die sowjetische Regierung Georgien, Armenien und Aserbaidschan ein Militärbündnis gegen die Weißen Armeen in Südrussland und im Kaukasus an. Die georgische Regierung lehnte es ab, dem Bündnis beizutreten. Sie verwies auf ihre Politik der Neutralität und Nichteinmischung, schlug aber vor, Verhandlungen über die Regelung der Beziehungen zwischen beiden Ländern aufzunehmen, weil sie hoffte, das werde schließlich zur Anerkennung der georgischen Unabhängigkeit durch Moskau führen. Die russische Führung reagierte mit harscher Kritik auf die Ablehnung und die einheimischen Kommunisten versuchten, verschiedene Massenproteste gegen die Regierung zu organisieren, hatten jedoch keinen Erfolg.

Im April 1920 etablierte die 11. Armee der Roten Arbeiter- und Bauernarmee das sowjetische Regime in Aserbaidschan und der Vorsitzende des Kaukasischen Büros der Russischen Kommunistischen Partei (Bolschewiki), Sergo Ordschonikidse, bat Moskau um Erlaubnis, nach Georgien vorrücken zu dürfen. Obgleich es keine offizielle Zustimmung von Lenin und der sowjetischen Führung gab, versuchten einheimische Bolschewiki am 3. Mai 1920 die Tiflisser Militärschule zu erobern. Sie wurden jedoch von den Kadetten der Schule unter dem Kommando von General Giorgi Kwinitadse zurückgeschlagen. Die georgische Regierung mobilisierte ihre Armee und ernannte Kwinitadse zum Oberkommandierenden. Währenddessen versuchten sowjetische Streitkräfte auf georgisches Staatsgebiet vorzudringen. Offiziell war es die Antwort auf eine angebliche Unterstützung aserbaidschanischer Rebellen gegen die Sowjetmacht in Gäncä. Die Stoßtrupps konnten von Kwinitadse nach Scharmützeln an der Roten Brücke zurückgeworfen werden. Nach wenigen Tagen wurden Friedensgespräche in Moskau aufgenommen.

Im Moskauer Friedensvertrag vom 7. Mai 1920 wurde Georgiens Unabhängigkeit anerkannt. Die georgische Regierung erlaubte den bolschewistischen Organisationen im Gegenzug eine freie Betätigung und garantierte Sowjetrussland, keine ausländischen Truppen auf georgischem Boden zu dulden. Obgleich Georgien eine Mitgliedschaft im Völkerbund zunächst verwehrt wurde, wurde es am 27. Januar 1921 von den Alliierten des Ersten Weltkriegs völkerrechtlich anerkannt.

Das schützte das Land jedoch nicht, nur einen Monat später von Sowjetrussland angegriffen zu werden. Nachdem auch Armenien 1920 von der Roten Armee besetzt wurde, war Georgien nach Norden, Osten und Süden von politisch feindseligen Sowjetrepubliken umgeben. Großbritannien hatte sich aus dem Kaukasus zurückgezogen und Georgien konnte nicht auf auswärtige Hilfe zählen.

Nach sowjetischen Angaben verschlechterten sich die Beziehungen mit Georgien nach angeblichen Verletzungen des Friedensvertrags, erneuten Inhaftierungen georgischer Bolschewiki, der Behinderung von Konvois der Roten Armee auf dem Weg nach Armenien und dem starken Verdacht, dass Georgien bewaffneten Rebellen im nördlichen Kaukasus helfen würde. Umgekehrt warf die Regierung in Tiflis Moskau die Organisation von Ausschreitungen in Georgien und die Provokation von Grenzzwischenfällen in der mit Armenien umstrittenen Region Zaqatala vor. Die neutrale Zone Lori war ebenfalls ein Zankapfel, nachdem Sowjetarmenien gefordert hatte, Georgien solle seine Truppen aus dem Gebiet abziehen, die dort nach dem Fall der armenischen Republik stationiert worden waren.

Der Frieden zwischen Russland und Georgien, der zunächst von Lenin stark unterstützt worden war, endete am 11. Februar 1921, als armenische und georgische Bolschewiki einen Aufstand in Lori initiierten. Die in Armenien stationierte 11. Armee der Roten Arbeiter- und Bauernarmee überschritt am 16. Februar 1921 die Grenze. Der verzweifelte Widerstand der schlecht organisierten georgischen Volksgarde wurde am 25. Februar bei Tiflis aufgerieben. Bei der Verteidigung der Hauptstadt fielen über 300 Kadetten der Tiflisser Militärschule. Die georgischen Bolschewiki proklamierten die Georgische Sozialistische Sowjetrepublik.

Die DRG-Regierung floh zunächst nach Kutaissi, nach dem Angriff der 9. Armee der Roten Arbeiter- und Bauernarmee von Westen nach Batumi. Am 18. März verließ sie mit dem französischen Schiff Ernest Renan Georgien. Die Nationalversammlung war einen Tag zuvor ein letztes Mal zusammengetreten und hatte beschlossen, dass die Regierung nach Frankreich ins Exil gehen sollte.

Die Unabhängigkeitserklärung vom 26. Mai 1918 unterstrich die Grundzüge der künftigen Demokratie. Darin "garantiert die Demokratische Republik Georgien jedem Bürger in ihren Grenzen gleiche politische Rechte, unabhängig von ihrer Nationalität, Glauben, sozialem Rang oder Geschlecht". Am gleichen Tag setzte die Nationalversammlung eine Regierung unter Führung von Noe Ramischwili ein. Im Oktober 1918 wurde die Nationalversammlung zum Parlament umbenannt und bereitete Neuwahlen zum 14. Februar 1919 vor.

Während seiner zweijährigen Tätigkeit von 1919 bis 1921 verabschiedete das neugewählte Parlament 126 Gesetze. Dazu gehörten das Gesetz über die Staatsbürgerschaft, Regionalwahlen, die Landesverteidigung, die Amtssprache, das Agrarsystem, das Rechtssystem, politische und verwaltungsmäßige Regelungen für ethnische Minderheiten (einschließlich eines Gesetzes über den Volksrat Abchasiens), öffentliche Bildung sowie verschiedene Gesetze und Regelungen zur Finanzpolitik, der Georgischen Eisenbahn, Handel und einheimische Produktion. Am 21. Februar 1921 verabschiedete das Parlament die Verfassung der Demokratischen Republik Georgien. Es war das erste moderne Grundgesetz in der georgischen Geschichte.

Der Premierminister war das höchste Amt der Exekutive. Sein Inhaber wurde vom Parlament auf ein Jahr gewählt. Die Amtstätigkeit konnte nur um jeweils ein Jahr verlängert werden. Der Premier ernannte die Minister und war dafür verantwortlich, das Land zu regieren und Georgien gegenüber dem Ausland zu vertreten.

Die Regierungsakten der Demokratischen Republik Georgien lagerten seit 1974 in der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. 1997 wurden sie dem Staatsarchiv in Tiflis übergeben. Die Grenzen Georgiens entstanden zwischen 1918 und 1921 aus Grenzkonflikten mit seinen Nachbarstaaten und den darauf folgenden Verträgen und Abkommen.

Im Norden grenzte Georgien an verschiedene Gemeinwesen (später: Sowjetische Gebirgsrepublik), die im russischen Bürgerkrieg entstanden waren, bis die Bolschewiki ihre Macht im Frühjahr 1920 etablierten. Die Grenze zwischen Sowjetrussland und Georgien wurde vom Moskauer Friedensvertrag vom 7. Mai 1920 geregelt. Im Sotschi-Konflikt mit der russischen Weißen Armee, geriet der Bezirk Sotschi zeitweise unter georgische Kontrolle.

Im Südwesten veränderte sich die Grenze mit der Türkei im Verlauf des Ersten Weltkriegs und wurde nach der Niederlage des Osmanischen Reichs erneut modifiziert. Georgien erlangte die Kontrolle über Artvin, Ardahan, Teile der Provinz Batumi, Achaltsiche und Achalkalaki. Batumi wurde vollständig der DRG einverleibt, nachdem sich Großbritannien 1920 aus dem Gebiet zurückzog.

Die Grenzkonflikte mit Armenien über einen Teil des Bezirks Bortschalo führte im Dezember 1918 zu einem kurzen Krieg zwischen den beiden Ländern. Die nach der britischen Intervention geschaffene "neutrale Zone" Lori wurde von Georgien nach dem Zerfall der armenischen Republik Ende 1920 zurückerobert.

Im Südosten grenzte Georgien an Aserbaidschan, das die Kontrolle über den Bezirk Zaqatala beanspruchte. Die Auseinandersetzung führte jedoch nie zu Kampfhandlungen und die Beziehungen waren bis zur Sowjetisierung Aserbaidschans im Allgemeinen friedlich. Sowohl die Konzepte der DRG-Regierung als auch die georgische Verfassung von 1921 gewährten Zaqatala wie Abchasien und Adscharien eine gewisse Autonomie.

Nach der sowjetischen Besatzung der Demokratischen Republik Georgien kam es zu grundlegenden territorialen Veränderungen, durch die Georgien fast ein Drittel seines Staatsgebiets verlor. Artwin, Ardahan und Teile der Provinz Batumi wurden an die Türkei abgetreten, Armenien bekam das Gebiet um Lori. Aserbaidschan erhielt den Bezirk Zaqatala. Ein Teil der georgischen Grenzgebiete im Großen Kaukasus wurde Russland einverleibt.

Die DRG-Regierung siedelte sich nach der Annexion der Demokratischen Republik Georgien durch Sowjetrussland zunächst in Frankreichs Hauptstadt Paris an, wo sie bis 1933 eine offizielle Botschaft, danach das sogenannte Georgische Büro betrieb. 1922 nahm sie ihren Sitz in Leuville-sur-Orge, 25 Kilometer von der französischen Hauptstadt entfernt.

Die Exilregierung unterstützte georgische Guerillaeinheiten beim Widerstand gegen die Besatzung. Im August-Aufstand 1924 versuchten sie die Macht der Demokratischen Republik zurückzuerobern. Doch der Versuch scheiterte. Tausende georgischer Regimegegner wurden in den folgenden Wochen ermordet. Einigen gelang es ins Ausland zu fliehen.

Georgien wurde als eigene Sowjetrepublik der Sowjetunion angeschlossen und war ab 1922 Teil der Transkaukasischen Sozialistischen Föderalen Sowjetrepublik, die 1936 aufgelöst wurde.

Die Volksgarde war die offizielle Armee des Landes. Sie wurde am 5. September 1917 zunächst als "Arbeitergarde" gegründet, wurde dann in "Rote Garde" umbenannt und erhielt schließlich ihren endgültigen Namen. Ihre Organisation war stark politisiert und unterstand unmittelbar der Kontrolle des georgischen Parlaments. Das Verteidigungsministerium hatte nur eingeschränkte Befehlsgewalt. Kommandeur der Garde von 1917 bis 1921 war der Menschewist Valiko Jugheli.

Die Demokratische Republik Georgien bildete auch eine reguläre Armee. Nur ein Teil von ihr stand zu Friedenszeiten unter Waffen. Die Mehrheit der Soldaten genoss Fronturlaub und wartete auf Befehle. Im Falle einer Bedrohung der Republik wären sie vom Generalstab zu den Waffen gerufen worden. Obgleich Georgien über knapp 200.000 Veteranen des Ersten Weltkriegs verfügte, darunter viele ausgebildete Generäle und Offiziere, gelang es der Regierung nicht, ein effektives Verteidigungssystem aufzubauen. 1921 trug das zum Fall der ersten Republik bei.

Das wichtigste kulturelle Ereignis in der Demokratischen Republik Georgien war die Gründung der Staatlichen Universität Tiflis 1918. Damit ging ein lang gehegter Wunsch der georgischen Intelligenz in Erfüllung, die sich vom zaristischen Regime seit Jahrzehnten zurückgesetzt fühlte. Einen Zugang zu höherer Bildung vermittelten neben der Universität auch Gymnasien in Tiflis, Batumi, Kutaissi, Osurgeti, Poti und Gori, die Militärschule in Tiflis, das Pädagogische Seminar in Gori und das Pädagogische Seminar für Frauen. Zudem gab es verschiedene Schulen für ethnische Minderheiten.

Die neuen Freiheiten der ersten Republik gaben dem literarischen Zirkel Blaue Hörner starken Auftrieb, der sich zunächst dem Symbolismus, dann dem Dadaismus verpflichtet fühlte und durch radikale literarische Experimente von sich Reden machte. Das Nationale Museum Georgiens, Theater in Tiflis und Kutaissi, das Nationale Opernhaus Tiflis und die Nationale Kunstakademie waren ebenfalls kulturelle Vorreiter.

Einflussreiche Zeitungen waren Sakartvelos Respublika (dt. Die Georgische Republik), Sakartvelo (Georgien), Ertoba (Einheit), Samshoblo (Vaterland), Sakhalkho Sakme (Öffentliche Angelegenheiten). Auf englisch erschienen The Georgian Messenger und The Georgian Mail, auf deutsch die Kaukasische Zeitung.

Rückgrat der Wirtschaft der Demokratischen Republik Georgiens war die Landwirtschaft. Georgien war ein typisches Agrarland mit einer Jahrhunderte zurückreichenden Weinbautradition. Eine von der georgischen Regierung durchgesetzte Landreform trug zu einer gewissen Stabilität auf diesem Gebiet bei.

Die Manganförderung in Tschiatura hatte große Bedeutung als Rohstoff für die westeuropäische Schwerindustrie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen 70 % des weltweit geförderten Mangans aus Georgien. Zudem war Georgien 1918 bereits seit Jahrzehnten der wichtigste Durchgangskorridor für Erdöl-Transporte vom Kaspischen Meer. Wichtigster Exporthafen war Batumi, wo die Transkaukasische Eisenbahn vom aserbaidschanischen Baku endete.

Die fehlende internationale Anerkennung und die nicht völlig erfolgreiche Politik der Regierung auf wirtschaftlichem Gebiet behinderte die Entwicklung des Landes und Georgien durchlief eine Wirtschaftskrise. In den Jahren 1920 und 1921 gab es jedoch erste Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung.

Die Unabhängigkeit Georgiens zwischen 1918 und 1921 war zwar kurzlebig, doch prägte sie nachhaltig die Entwicklung des Nationalgefühls der Georgier. Sie war der wesentliche Grund, weshalb das Land zu einer der aktivsten Kräfte wurde, die auf mehr Unabhängigkeit in der Sowjetunion drängten. Anführer der Nationalbewegung in den späten 1980er Jahren bezogen sich immer wieder auf die Demokratische Republik Georgien als einem Symbol des Sieges über das Russische Reich und zogen Parallelen zur zeitgenössischen Situation.

Als Georgien am 9. April 1991 seine Unabhängigkeit erklärte, stellte es sich in die Rechtsnachfolge der Demokratischen Republik Georgien. Der Oberste Sowjet Georgiens beschloss dazu ein Gesetz über die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Georgiens. Die staatlichen Symbole der DRG wurden durch das Parlament übernommen und wurden bis 2004 verwendet. Der Gründungstag der DRG, der 26. Mai, ist in Georgien Unabhängigkeitstag und staatlicher Feiertag.

Auch das Selbstverständnis der deutschen Sozialdemokratie gegenüber der KPD wurde von der Geschichte der ersten Republik Georgiens nachhaltig geprägt. Sie galt ihr als Musterbeispiel des Umgangs der Kommunistischen Partei Russlands mit Sozialdemokraten anderer Nationen. Die von Karl Kautsky 1921 verfasste Schrift Georgien: Eine sozialdemokratische Bauernrepublik wertet das Vorgehen der Roten Armee als "Moskauer Bonapartismus". Bolschewismus sei zu einem "Synonym für ständigen Krieg, Hunger und Armut und auch für die Aufhebung jeglicher Freiheit für Proletarierbewegungen geworden".

Unter sowjetischer Herrschaft dehnte sich die Stadt von 53 Quadratkilometern im Jahr 1920 auf 365 Quadratkilometer im Jahr 1989 aus. Durch Industrieansiedlung in den 1940er Jahren wuchs die Bevölkerung von Tiflis enorm an. In der Stadt bestand das Kriegsgefangenenlager 236 für deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Tote wurden auf zwei Kriegsgefangenenfriedhöfen in Einzel- oder Massengräbern beerdigt. Schwer erkrankte wurden im Kriegsgefangenenhospital 1563 versorgt. Auf dem Hospitalfriedhof wurden bis 1946 bereits mehr als 3400 Verstorbene beerdigt.

1956 demonstrierten Studenten und Schüler gegen die sowjetische Herrschaft in Georgien. Mindestens 80 von ihnen wurden beim Massaker von Tiflis getötet. Ab 1951 entstanden große Neubaugebiete mit einförmigen Wohnblöcken. 1966 wurde die erste, 1979 die zweite U-Bahnlinie eröffnet, 1972 auf dem Berg Mtazminda ein Fernsehturm von 274,5 Meter Höhe errichtet.

1989 kam es in Tiflis zu Demonstrationen gegen die Kommunistische Partei und für staatliche Unabhängigkeit. Das Vorgehen sowjetischer Fallschirmjäger unter Führung von Oberst Alexander Lebed gegen Hungerstreikende im Zentrum von Tiflis am 9. April mit scharf geschliffenen Spaten und Giftgas endete mit 20 Toten.

Nach der Unabhängigkeit des Landes 1991 wurde Tiflis die Hauptstadt Georgiens. Ein Militärputsch gegen Präsident Swiad Gamsachurdia führte zwischen Dezember 1991 und Januar 1992 zum Tbilisser Krieg, bei dem die Innenstadt um den Rustaweli-Boulevard durch Panzer, Artillerie und Raketen stark beschädigt wurde. Im November 2003 fand vor und im Parlamentsgebäude die samtene Revolution (Rosenrevolution) statt, die eine reformerische Wende in Georgien einleitete.

Rund 30 Prozent der Einwohner Georgiens leben heute in Tiflis und Umgebung. Während 2005 innerhalb der Stadtgrenzen 1.049.498 Einwohner lebten, laut der Volkszählung 2002 1.073.345, betrug die Anzahl der Einwohner in Tiflis und Umgebung im gleichen Jahr 1.258.085. Georgiens Hauptstadt ist multikulturell. In Tiflis sind nach der Zählung 2002 rund 84 Prozent der Bevölkerung Georgier, 7,6 Prozent Armenier, 3,0 Prozent Russen, 1,6 Prozent Kurden, 1,1 Prozent Aserbaidschaner, 0,95 Prozent Osseten, 0,4 Prozent Griechen, 0,3 Prozent Ukrainer und 0,04 Prozent Abchasen.

Die Religionen sind vielfältig. Tiflis beherbergt alte Kirchengebäude der Georgischen Orthodoxen Apostelkirche, der Armenisch-gregorianischen Apostelkirche und der Römisch-katholischen Kirche. Es gibt eine sephardische und zwei aschkenasische Synagogen, eine sunnitische Moschee, einen zoroastrischen Tempel und eine lutherische Kirche.

Unter dem russischen Kaiser Alexander I. wurden württembergische Pietisten im Südkaukasus angesiedelt, die sich aus religiösen Gründen hier niederließen. Zwei von Kaukasiendeutschen bewohnte Siedlungen wurden im Laufe der Zeit mit Tiflis vereinigt, nämlich die 1817 gegründeten Siedlungen „Neu Tiflis“ und Alexanderdorf, die im heutigen Stadtteil Didube-Tschugureti liegen. 1941 wurden auf Erlass Stalins die deutschstämmigen Bewohner nach Sibirien deportiert, womit deren Präsenz in Tiflis jählings endete. Im Bereich des ehemaligen Neu Tiflis befinden sich heute die Botschaft Deutschlands und das ehemalige Wohnhaus der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner. Da sich zahlreiche Vertretungen von Wirtschaftsunternehmen und Büros von politischen sowie Hilfsorganisationen aus Deutschland, darunter ein Goethe-Institut, in Tiflis befinden, hat sich eine deutsche Gemeinde entwickelt, für die 2010 die Eröffnung einer „Deutschen Internationalen Schule“ erfolgte.

Es folgten das Hotel Rossija (1884), das Militärhistorische Museum (1885, heute Staatliche Gemäldegalerie), das Haus der Georgischen Künstlergesellschaft mit einem beliebten Keller-Café (1887, heute Staatliches Rustaweli-Theater), das Hotel Orient (1895, heute Haus der georgischen Maler) und das Schatz-Opernhaus (1896, heute Staatliches Sachari-Paliaschwili-Theater für Oper und Ballett). Es entstanden elegante Wohnhäuser der georgischen Aristokratie im Stil des Klassizismus, des Barock und des Jugendstils. Eine andere Reaktion auf Industrialisierung und Verstädterung entstand mit dem europäischen Jugendstil. Die Zeit der Jahrhundertwende war geprägt von bürgerlichem Wohlstand einerseits und Proletarisierung der Arbeiterschaft andererseits. So war fast die Hälfte der Wiener Bevölkerung um 1900 in der Industrie tätig. Bahnhöfe, Fabriken und Hochhäuser wurden überall gebaut. Für diese neuen Bauaufgaben ließen sich die Architekten von verschiedenen historischen Stilen inspirieren. Bei der industriellen Produktion von Massenware schließlich waren künstlerische Dienstleistungen überhaupt nicht mehr gefragt. In England, wo die Industrialisierung ihren Anfang genommen hatte, begannen Künstler nach der Jahrhundertmitte jedoch, sich auf alte Handwerkstraditionen zu besinnen. Ob Schreiner oder Kunstschmiede, ob Keramiken oder Glasarbeiten, Buchkunst oder Architektur, hervorgehoben wurde der Gegensatz zur industriellen mechanischen Produktion. Der Ansatz dieser Arts-and-Crafts-Bewegung rund um John Ruskin und William Morris blieb nicht folgenlos, auch wenn die billige Massenware sich schließlich durchsetzte.

Der Jugendstil ist in der Zeit zwischen 1890 und 1910 anzusiedeln. Er lässt sich jedoch nicht klar abgrenzen vom vorangehenden Historismus des 19. Jahrhunderts und der nachfolgenden Kunst der Moderne im 20. Jahrhundert. Die Übergänge sind fließend. Die alten Lehrmeister, deren Lehre sich am Historismus orientiert, prägen an den Hochschulen durch ihre Kunstauffassung und Techniken die jungen Künstler. So wird wieder altes mit dem neuen vermischt. Zum fließenden Übergang von Jugendstil in die Moderne ist zu sagen, dass zum Beispiel aus der abstrakt- geometrisierenden Richtung des Jugendstils die moderne Sachlichkeit hervorgegangen ist. Man kann den Jugendstil somit als sehr kurze Kunstphase bezeichnen. Die Hauptbauten der Architektur des Stils entstehen erst in den späten 1890er Jahren und schon nach 1905 werden die floralen Muster durch die schlichten und abstrakten Formen der Moderne abgelöst.

Diese neue Form der Kunstgattung lud den Betrachter zur ästhetischen Andacht ein. Das formschöne, ornamental geschmückte Kunstwerk soll ihn "bezaubern". In Anlehnung daran wird der Jugendstil oft auch als Dekorationskunst bezeichnet. Eine neue Kunst der ästhetischen Ornamentik entsteht durch den neuen Stil. Die Künstler wollen weg von der Stilimitation des Historismus und sich durch neue Formen bewusst von diesem abgrenzen. So suchte der Jugendstil eine neue, unverbrauchte Formensprache zu entwickeln...diese sollte „natürlichen Ursprungs“ sein: die Natur mit ihrer Flora und Fauna wurde zur unmittelbaren Inspirationsquelle.

Zur gleichen Zeit macht sich auch im Bereich der Biologie und Naturwissenschaft ein deutlich steigendes Interesse an biologischen Vorgängen und der Pflanzenkunde bemerkbar. Man interessiert sich für den Ursprung und die Geschichte der neuen Formen. Die Natur ist voll im Trend und damit auch ihre Wissenschaft. Das Ornament des Jugendstils liebt als Motive kleine Tiere und Pflanzen meist der Unterwasserwelt. Als geheimnisvolles, naturbelassenes, weitgehend unerforschtes Reich der Fabel- und Fantasiewesen bietet es unendlich viele Formen für die neue Kunst.

Durch die lebendigen natürlichen Formen versuchen die Künstler des Jugendstils, ihr Werk mit einer ästhetischen Dynamik zu versehen. Leitmotive sind Frauen und Jungfrauen, sanfte Mädchengesichter mit langem fließendem mit Blumen verziertem Haar. Beliebte Motive sind außerdem vor allem lange schlanke Körperformen, wie Seerosen, Schilfpflanzen, Libellen und Fische. Als Blütenpflanzen werden Blumen mit schmalen Blättern und langstengligen Konturen wie Tulpen, Lilien und Chrysanthemen bevorzugt, die Orchidee nimmt aufgrund ihres exotischen Reizes, ihrer fleischigen Blütenblätter und lasziven Farbigkeit eine Sonderstellung unter den Blumen des Jugendstils ein. Auffallend ist besonders, dass alle genannten Leitbilder des Stils ganz unter dem Primat der Schönheit und Ästhetik stehen. Die Motive sind deshalb so beliebt in der Kunst dieser Zeit, weil sie sich alle durch schlanke, lineare Formen auszeichnen. Geschwungene, verschlungene Linien asymmetrisch und unterschiedlich dick kurven sie durch das Ornament und sind somit nicht mehr nur als Kontur, sondern als eigenes, selbstständiges Ornament im selben zu sehen. Dieses Durcheinander von Linien und Muster erzeugt eine lineare Dynamik und wirkt rhythmisierend. Eins der ersten Jugendstilwerke, auf das die Masse der Bevölkerung aufmerksam wird, ist der Bau des Fotoateliers Elvira in München. 1898 verziert der junge Künstler August Endell eine glatte Fassade aus der Gründerzeit mit einem Dekor aus Stuck, das ein buntes, mit Pflanzenmotiven geschmücktes Gebilde eines riesigen Drachen darstellt. Hier wird auch die Stilmischung deutlich zwischen der Architektur der vorangegangenen Jahre, die als Podium für die neue Kunst mit derselben verschmilzt. Dieses Kunstwerk erregte ein solches Aufsehen, weil es dem alten, bereits bekannten etwas radikal Neues entgegensetzt. Die neuen Formen und die Farbigkeit erfordern das Wissen und das Kennen der phantastischen und natürlichen Natur- und Pflanzenwelt.

Der Jugendstil wurde der erste Stil, der auf fast alle Bereiche des Lebens Einfluss nahm. Vor allem durch das Kunstgewerbe, wo die Jugendstilkünstler versuchten einen Einheitlichen Stil zu schaffen, dem Eklektizismus der vorangegangenen Jahre entgegengesetzt. Hier gibt es allerdings schon zwei Richtungen. Auf der einen Seite standen die Künstler, die auch die modernen Produktionsmittel für ihre Arbeit benutzten und eine Art "Volkskunst" etablieren wollten, wie zum Beispiel van der Velde. Auf der anderen Seite hingegen standen die Verfechter des Handwerks, die gegen die moderne Industrie eingestellt waren, und wieder traditionell produzierten. Hier sieht man auch noch größere Unterschiede. Die einen stellen ihre Gegenstände Zweckorientiert her, die Form gibt dem Gegenstand die Schönheit, auch entgegengesetzt dem Historismus, der überall an einem Stuhl noch Dekorationen anbrachte. Kurt Bauch beschreibt hingegen einen Stuhl van der Veldes folgendermaßen: "In seiner Form ist er nicht als Architektur, sondern als Gerät verstanden, vom Sitzen und Lehnen her entwickelt in durchlaufenden Flächen und Streben. Bequem und gepflegt, wenn auch ohne jeden Schmuck, erfüllt er seinen Sinn.". Hier weist der Jugendstil schon auf die Neue Sachlichkeit hin, ist also progressiv.

Meistens allerdings ist der Jugendstil Ästhetizismus, geht vom Gegenstand weg, wird abstrakt, nur noch ornamental. Auch mit dieser Abstraktheit zeigt er schon künftige Entwicklungen an. Hier ist das abstrakte Ornament vervollkommnet. Nun aber wird er immer mehr nur noch dekorativ, exklusiv und es zeigt sich in ihm immer mehr die Dekadenz des fin de siècle. Er ist nicht mehr so formgebunden, sondern oft nur noch dekorativ, zur Ergötzung der Augen. Hier fällt er wieder zurück in die Gebiete die er eigentlich verlassen wollte. Kleine Eliten flüchten sich in ihre eigene kleine Welt, eben diese vollkommene Insel in einer bedrohlichen Umwelt. Diese Dekadenz wird dann aber von der Moderne überwunden. Man kann also im Jugendstil einen Zwischenschritt zu ihr sehen, da er viele Ansätze besitzt, die später weiter verfolgt werden. Der Jugendstil ist also auf der einen Seite progressiv, auf der anderen Seite allerdings reaktiv.

In der Literatur gibt es den Jugendstil nicht in so großem Maße wie in der bildenden Kunst. Er beschränkt sich eher auf die kleinen Formen, wie vor allem Gedichte. Man muss hierzu anmerken, dass keiner der folgenden Dichter sich als Jugendstildichter verstanden hat, da der Begriff erst nachträglich gebildet worden ist, um eine Einordnung zu ermöglichen. Daher muss zuerst festgelegt werden, was Jugendstil in der Lyrik bedeuten soll.

Man kann zum einen von den Motiven und den Vorstellungen der Dichter ausgehen. So will der Jugendstil die Gesellschaft und Politik in biologische Naturformen zurückbringen. Dieses biologische Denken geht auch von der damaligen Trieblehre aus: "sie leugnete die moralische Verantwortung des Menschen für ererbte Defekte und angeborene Eigenschaften;". Geht man von dieser Seite heran, so ist zum Beispiel Wedekind ein Vertreter des Jugendstils. Der Jugendstildichter entnimmt seine Gestalten meist aus Mythen, zum einen um eine gewisse Exklusivität zu zeigen, zum anderen aber auch, um zu beweisen, dass man die Geschichte nicht für die Kunst braucht. Die Person ist nicht wichtig. Der Jugendstildichter lässt nicht mehr die Natur auf sich wirken, er erschafft seine eigene, erlesene Natur. Der Künstler sieht sich somit als Schöpfer einer eigenen, elitären Welt. Diese Welt ist ornamental.

Dies ist sozusagen die Technik des Jugendstils. Das Ornament macht vor allem die Sprachgebärde aus. Volker Klotz definiert sie als "gemessen hinweisende Bewegung, ein sichtbares Tun, dessen Zweck vor dem Wie erlischt". Hier sieht man das auch hier nicht der Gegenstand, die Tat wichtig ist, sondern die Art ihrer Beschreibung. Eine Gebärde ist aber nach dieser Definition nicht irgendein Wie, sondern eins das jeden Sinn übersteigt. Um diese Gebärde nun zu betonen muss der Dichter die Aufmerksamkeit von der Tat, das heißt dem Verb, ablenken. Er kann dies tun, indem er die Aufmerksamkeit durch modale Adverbien auf das Wie der Tat lenkt. Zugleich schränkt er das Verb dadurch ein, das es kein Objekt hat, oder höchstens das Subjekt selber. Dadurch entstehen "Bilder", die stillzustehen scheinen. Soll einmal doch eine Aktion entstehen, so kann er nicht ein Verb benutzen.

Stattdessen wird diese Aktion dem Gegenstand entnommen und als Adjektiv vorangestellt (z.B. feuerbergende Fläche). So erscheint die Handlung in das Bild gelegt worden zu sein, sie muß nicht geschehen, sie ist vorhanden. Auffallend beim Jugendstil ist normalerweise auch der Rahmen, das ornamentale. Er wird im Gedicht vor allem durch Adjektive erzeugt. Der Jugendstildichter benutzt sehr viele Adjektive, die sich oftmals gar nicht mehr direkt auf das Subjekt beziehen, eben Randwerk, Ornament sind. Volker Klotz schreibt dazu: "Die Adjektive und Adverbien sollen nicht mehr charakterisieren - sie typisieren gewaltsam und lösen damit die Dinge aus dem gewohnten Zusammenhang, oder sie entziehen sich vollends ihrer dienenden Aufgabe.". Somit sieht man in der Literatur viele Parallelen zur bildenden Kunst. Beide ornamentalisieren, beide flüchten in eine selbstgeschaffene Welt, bei beiden ist diese Welt wie eingefroren und von einer elitären Exquisität. Auch bleibt der Jugendstildichter in der Beschreibung seiner Welt meist in der zweiten Dimension.

Die Arts- and-Crafts-Bewegung in Großbritannien hatte folgende Hintergründe: Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Großbritannien zu einer der mächtigsten Nationen der Welt. Technisch und wirtschaftlich führte Großbritannien neben den USA den westlichen Kulturkreis ins Maschinenzeitalter. Das Großbürgertum wurde immer wohlhabender. Das schnelle Wachstum der Industrie führte zu einer Vielzahl an geschmacklosen Produkten, da sie keine ästhetische Tradition besaß und sowohl die Möbelherstellung als auch das Kunstgewerbe mechanisierte. In der industriellen Fertigung wurden Stile nachgeahmt und vervielfältigt.

Der Entwicklung der Dampfmaschine verdankt England den Aufstieg zum Mutterland der Industriellen Revolution mit allen ihren Auswüchsen. Nach dem Siegeszug durch die englische Baumwollindustrie ist die Dampfmaschine nicht mehr aufzuhalten. Sie findet schnell überall dort Einsatz, wo Handarbeit durch die Dampfmaschine als Grundlage der Energieerzeugung mechanisiert werden konnte. Die herkömmlichen Prozesse der Produktion wurden durch Neues ersetzt: „menschliche Fertigkeit und Anstrengung durch die ebenso schnell wie gleichmäßig, präzise und unermüdliche Arbeits-Maschine“; “Verwendung neuer Rohmaterialien in größeren Mengen, vor allem die Ersetzung pflanzlicher und tierischer Substanzen durch anorganische und schließlich synthetisch hergestellte Materialien.“

Auf diese Weise entstand eine ganz neue Art des Produzierens: die Massenfertigung, die eigenen, ebenfalls neuen Prinzipien unterliegt. Stark simplifiziert betrachtet unterliegt die Massenproduktion folgenden Gesetzmäßigkeiten:

  1. Arbeitsteilung (jeder Arbeiter hatte nur wenige Schritte im Produktionsverfahren zu realisieren, die strikt kontrolliert wurden. Dies führte zu einer geringeren Verantwortung der Arbeiter, einer kleineren Fehlerquote und einer höheren Effizienz)
  2. Standardisierung (Die Einzelteile mussten in bestimmten Normen hergestellt werden, da sie sonst in den weiteren Arbeitsschritten nicht mehr verwendet werden konnten. Jegliche Abweichung vom Toleranzbereich musste als teurer Ausschuss klassifiziert werden.)
  3. Fertigungsverfahren und Organisationsstruktur ( Das Fertigungsverfahren wurde detailliert analysiert und in Unterschritte aufgeteilt die Organisationsstruktur eines Betriebes hatte Einfluss auf dessen Wirtschaftlichkeit)
  4. Fließbandfertigung (Die Arbeit sollte im Fluss bleiben, die Maschinen sollten Tag und Nacht laufen und ein einheitliches Arbeitstempo sollte erreicht werden. So ließ sich die Arbeitsdauer pro Werkstück enorm verringern)
  5. Niedrige Kosten und Preise (Größere Menge an produzierten Gütern brauchten auch mehr Abnehmer. Diese ließen sich durch niedrige Preise gewinnen. Da der Preis an die Kosten gebunden ist, musste der Lohn der Arbeiter so gering wie möglich gehalten werden- und so gelangt man schnell wieder an die soziale Frage.
  6. Gleichzeitig mussten die Ausgangsstoffe für die Produkte so günstig wie möglich sein.

Die tiefen Einschnitte in das Leben der Menschen und besonders die Veränderungen der Arbeitswelt verliefen nicht konfliktfrei. Bereits 1851 zur ersten „Great Exhibition“, der ersten Weltausstellung im Londoner Kristallpalast wurde der grenzenlose Fortschrittsoptimismus und die Unbedenklichkeit, mit der die Fabrikanten die Maschinen einsetzten, um in Massen minderwertige Waren auf den Markt zu bringen, mit großem Unbehagen registriert. So zieht etwa der deutsche Architekt Gottfried Semper, der die Ausstellung besucht, eine wenig positive Bilanz: „Das Schwierigste und Mühsamste erreicht sie (die Maschine) spielend mit ihren von der Wissenschaft erborgten Mitteln; der härteste Porphyr und Granit schneidet sich wie Kreide, poliert sich wie Wachs, das Elfenbein wird weich gemacht und in Form gedrückt, Kautschuk und Guttapercha wird vulkanisiert und zu täuschenden Nachahmungen der Schnitzwerke in Holz, Metall und Stein benutzt, bei denen der natürliche Bereich der fingierten Stoffe weit überschritten wird. Metall wird nicht mehr gegossen oder getrieben, sondern mit jüngst unbekannten Naturkräften auf galvanoplastischem Wege deponiert (…) Die Maschine näht, strickt, schnitzt, malt, greift tief ein in das Gebiet der menschlichen Kunst und beschämt jede menschliche Geschicklichkeit“

Die Massenproduktion ist eine Fertigung in Serie. Bestimmend ist ein spezieller Aspekt der Serialität: ein Musterstück soll so kostengünstig wie möglich in großer Stückzahl produziert werden. Hierbei wird eine erzielbar genaue Kopie des Musterstückes angestrebt. Es entstehen also Reproduktionen des Originals in möglichst großer Stückzahl und in möglichst geringer Variation. Eine Serie besteht hier im Original und seinen identischen Klonen. Abweichungen vom Original werden als Ausschuss deklariert und vernichtet.

Der italienische Ästhetikprofessor Gillo Dorfles fand hierzu folgende Kriterien: Das Objekt muss seriell produzierbar sein; das Objekt muss auf einer mechanische Produktion beruhen; das Objekt muss eine eigene ästhetische Qualität aufweisen, die keiner späteren Nachbearbeitung bedarf, sondern bereits im Planungsprozess berücksichtigt wurde. Frühe Objekte aus handwerklicher Produktion dienten vornehmlich praktischen und nützlichen Zwecken und ließen wenig Raum für ursprüngliche ästhetische Qualitäten. Der Gestaltungsschwerpunkt lag stets auf der Funktionalität eines Objektes. Erst seit Beginn der industriellen Revolution lassen sich Modelle in der heute gewohnten Ausführlichkeit planen und auf mechanischem Wege umsetzen und unbegrenzt reproduzieren. Diese Objekte erhielten stets schon während der Planungs- oder Definitionsphase ästhetische Werte, die keiner manuellen Nachbearbeitung bedürfen. Erst jedoch, wenn der ästhetische Aspekt bewusst bei der Gestaltung eines Objektes berücksichtigt wird, spricht man von industrieller Formgestaltung. Hier liegt der Unterschied zu aufweisen, deren äußere Eigenschaften aber auf technischen Faktoren industriell gefertigten Objekten, die zwar ästhetische Qualitäten statt auf kreativer Gestaltung beruhen. Bedingt durch die neue Möglichkeit der seriellen Produzierbarkeit wurde es möglich, Prototypen zu fertigen und so ein Objekt vor der Produktion prüfen zu können. Der Prototyp ist das Ergebnis der gestalterischen Arbeit: alle folgenden Objekte, die nach seinem Vorbild angefertigt wurden, gleichen dem Prototypen vollständig.

Bei der Planung eines Produktes gilt es meist zwei wichtige Gestaltungskriterien zu beachten: die Funktionalität eines Objektes und die vorherrschenden Marktgesetze. Zudem muss das Produkt den Ansprüchen genügen, die die Konsumgesellschaft stellt. Doch ist ein Produkt nicht immer nur Träger ästhetischer und funktioneller Werte, sondern unter Umständen auch informativer Elemente. Darunter ist zu verstehen, dass ein Produkt etwas über seinen Benutzer oder Konsumenten aussagt. Das Objekt fesselt die Aufmerksamkeit des Konsumenten durch spezielle formale Merkmale, die dadurch eine Art Symbolcharakter erlangen. Der Käufer möchte sich mit einem Produkt identifizieren können und nutzt es häufig als Mittel der Imagebildung. So entsteht das Phänomen des Statussymbols, wie es in unserer heutigen Gesellschaft zu beobachten ist.

Die Techniken und Prinzipien der Massenfertigung hielten auch schnell Einzug in die angewandte Kunst. Die serienmäßige Herstellung von Kunstgewerbe, die Massenfertigung unter Verwendung billiger Rohstoffe, vor allem die so entstehende seelenlose Einheitlichkeit und Austauschbarkeit der Produkte wurde von den Kunstschaffenden mit Abscheu betrachtet. Es kam zu einer Glorifizierung der Handfertigkeit und des Kunsthandwerkes auf Kosten der Mechanisierung. Mit dem Siegeszug der Massenfertigung offenbart sich ein Konflikt, der sich vereinfacht als Alt versus Neu beschreiben ließe.

Auf der Seite Neu begegnet einem das Kunstwerk, bei dem immer etwas Neues entsteht. Ein Kunstwerk ist auratisch und erhält seine besondere Ausstrahlung durch den ihm innewohnenden Geist der Inspiration, die den Künstler ereilt hat bei der Erschaffung des Kunstwerkes. Ein Kunstwerk ist (zumindest zu dieser Zeit noch) einzigartig, nicht reproduzierbar und insofern auch immer neu. Hier hat die Fotografie eine Ausnahmestellung der sich unter anderem Walter Benjamin angenommen hat. Auf der Seite Alt ist das in Serie gefertigte Werkstück der Massenproduktion. Es hat nichts Innovatives, nichts Einzigartiges und es ist auch nichts Neues. Es ist lediglich eine Kopie von etwas schon Dagewesenem.

In seinem Aufsatz zur Serialität und Reproduktion geht Hartmut Winkler ebenfalls, wenn auch indirekt, auf diesen Konflikt ein: „Umso erstaunlicher ist, unter welch extremen Spannungen und gegen welche Widerstände das serielle Prinzip der Warenproduktion sich hat durchsetzen müssen. Konfrontiert mit einem Handwerk, das seine Muster gerade nicht mechanisch reproduzierte und die Produktgestalt den wechselnden Kontexten seiner Verwendung anpassen konnte, mußte die industriell gefertigte Ware als kalt und ´tot` erscheinen, und ihr Siegeszug als ein Sieg der Ökonomie über den Gebrauchswert, als die Durchsetzung einer verselbständigten Rationalität gegen das menschliche Maß und eine menschlichere Vergangenheit“

John Ruskin und William Morris verlangten eine Abkehr von den überladenen und unzeitgemäßen Repräsentations–Stilen und sprachen sich für handwerklich solide, dem praktischen Zweck angepasste Bauten und entsprechendes Mobiliar aus.16 Das Dekor sollte allenfalls nur das Funktionelle betonen. Die Arts and Crafts–Bewegung hatte zum Ziel, im Zeitalter der Massenproduktion minderwertiger Gebrauchsgüter das Kunsthandwerk wieder zu beleben und zu reformieren. Ruskin stellte sich gegen die Nachahmung von historischen Stilen und gegen die „Unehrlichkeit von Material und Form“17 bei den Industrieerzeugnissen. Als Professor der „Schönen Künste“ in Oxford lehrte er unermüdlich das „Evangelium der Schönheit“.

Allmählich kamen in England immer mehr Architekten und Designer zusammen und sprachen sich gegen die künstlerisch minderwertige Massenanfertigung der Kunstfabrikanten aus. Sie erreichten, dass Ende des 19. Jahhunderts ästhetisch und qualitativ bessere Waren hergestellt wurden.

Im Jahre 1857 richtete sich Morris in London eine Atelierwohnung mit zweckmäßigen, stilfreien Möbeln ein. Die Industrie bot noch keine derartigen Möbel an, so stellte er sie selbst her. Später entwarf Morris das so genannte „Red House“, das Aufsehen erregte, weil hier zum ersten Mal organisch, d. h. von der Funktion der Räume her, von innen nach außen und ohne jeden Schmuck und Stilelemente gebaut wurde: „Diese Architektur wächst vom Innenraum und den Verhältnissen der Räume und Stockwerke zueinander zum Außenbau, an dem sich die Anordnung der Innenräume und deren absichtlich gesuchte Niveau–Unterschiede abzeichnen.“

Um 1867 erhielt die Firma Morris den Auftrag zur Ausstattung eines Speisezimmers im South Kensington Museum, dem heutigen Victoria and Albert Museum in London. Der Raum erscheint wie ein Rittersaal mit hoher Decke, großen, schmalen, mit Butzenscheiben ausgefüllten Fenstern und wenigen Möbeln. Die flächige Dekoration der Wände zeigt feine Naturornamentik, die auf Morris’ Tapetenmuster „Fruit“ zurückzuführen ist. Auch auf der Holzleiste mit eingelassenen Keramikfliesen zeigen sich unterschiedliche Pflanzen– und Früchtemotive. Die Glasfenster enthalten figürliche Motive. Die typischen Farben des Jugendstils sind hier gut zu erkennen: Verschiedene Grüntöne, Braun, Ocker und Gelb sind die dominierenden Farben.

Morris war ein „Macher“, ein „auf-die-Barrikaden-Geher“, ein Mann der Tat und vor allem auch ein sehr vielseitiger Gestalter. Der Präraffaelit, Kunsthandwerker, Sozialkritiker und Architekt gab radikale Zeitschriften und Bücher heraus, ging mit den Arbeitern auf die Strasse, entwarf Häuser, Gegenstände des täglichen Bedarfs. Er malte, entwarf Muster und Textilien, schrieb und errichtete Werkstätten. Das hob ihn ab von John Ruskin, der für ihn, aber auch für viele Anhänger der Arts & Crafts Bewegung eine Art gedanklicher Mentor war. Ruskin war ein Schöngeist und Vordenker, ein viel umjubelter Sozialphilosoph, der sich mit den notwendigen Schaffensbedingungen der Künstler auseinandersetzte und früh schon den Kapitalismus sowie die maschinelle Produktion, durch die der Bezug des Gestalters zum Endprodukt verloren ging, verteufelte und der Freude an der Handarbeit zusprach, jedoch nicht, wie William Morris als Gestalter tätig war.

In England war die einfache, sinnvolle und offen gezeigte Konstruktion charakteristisch für die Formgebung. Diese wurde primär aus Zweck, Material und Herstellungsverfahren abgeleitet und war nicht selten von etwas „trockener Nüchternheit“20. Geometrische Formen wurden bevorzugt, das Ornament, das vor allem dem Zweck der schönen Ausgestaltung und weniger der Funktion eines Objektes diente, wurde nur selten verwendet. Die Vertreter des Modern Style blieben bei ihren soliden Möbelformen und naturalistischen Textilmotiven und verhielten sich gegenüber dem im übrigen Europa aufkommenden dynamisch–floralen Stil ziemlich abweisend. „Das dynamisch–bizarre Linienspiel war dem mehr rational– statischen Naturell der Inselbewohner fremd.“

Auch die Kunst Japans beeinflusste viele Kunstschaffende und Architekten in England sowie in Frankreich und Deutschland und wurde Bestandteil der Jugendstilkunst: „Das Jugendstilornament übernimmt von der japanischen Kunst die Vorliebe für Naturmotive und ihre Symbolik, die flächige Darstellungsweise, die Dezentralisierung der Motive und ihre asymmetrische Anordnung im Randbereich sowie die Einbeziehung der leeren Fläche als gestaltender Form. Wie in der japanischen Kunst wird im Jugendstil das ornamentale Motiv vereinzelt, separiert und erhält dadurch über den dekorativen Aspekt hinaus einen symbolischen Gehalt.“

Infolge seiner geschäftlichen und kolonialen Bindung an den Osten gab es in Großbritannien viel Verständnis und Bewunderung für die fernöstliche Kunst. 1854 und 1862 fanden in London große Ausstellungen japanischer Kunst statt. 1858 schloss England ein Handelsabkommen mit Japan; japanische Holzschnitte, Möbel, Keramiken und Lackarbeiten wurden in großer Anzahl nach England importiert. Es wurden Keramikprodukte hergestellt, die sich ganz im japanischem Stil darstellten: asymmetrische Muster aus Tieren, Vögeln, Insekten und Blumen. Die japanische Seidelstickerei veranschaulicht eine asymmetrische Gestaltungsweise. Darüber hinaus wird an ihr die flächige Klarheit, die elegante Linienführung, die Einfachheit und Natürlichkeit der Motive deutlich. Eine Fläche ohne modellierende Schatten und ohne perspektivische Tiefe erleichtert dem Betrachter, das Verhältnis von Form, Farbe und Motiv schneller zu erfassen. Das Prinzip der Einfachheit wurde als Anregung für die Innenarchitektur im Jugendstil verwendet.

Von England aus breitete sich das Gedankengut der Reformbewegung in Europa aus. Ein Kennzeichen für die Kunst um 1900 ist der enge Kontakt unter den Künstlern. Bildende Künstler beschäftigen sich nicht nur mit ihresgleichen, sondern halten auch Kontakt zu Autoren und Dichtern. Auch Philosophen, Psychologen, Mäzene und Kritiker gaben wichtige neue Impulse. Ein Zeichen der engen Zusammenarbeit zwischen diesen verschiedenen Vertretern ist die Gründung von Illustrierten. Sie war auch gleichzeitig eine Hilfe bei der Verbreitung des Jugendstils. Die Presse war ein für die technologische Gesellschaft typisches Propagandamittel.

Ende des 19. Jahrhunderts entstanden einige Zeitschriften, die die Neue Kunst bekannt machten. Hier zu nennen sind die 1885 in München erschienene Zeitschrift „Kunst für alle“ und die 1889 von den Natansons in Paris herausgebrachte „Revue Blanche“. Diesen folgten in London 1893 „The Studio“, 1894 „The Yellow Book“ und 1895 „The Savoy“. 1895 erschien auch die Zeitschrift “Pan”, die jedoch zu teuer war und recht bald eingestellt wurde. Ein Jahr später folgte dann die bereits erwähnte „Jugend“, aus der sich der Name Jugendstil ableitet. Neben Werbezwecken waren diese Zeitschriften für die Künstler Mittel zur Förderung des Ideenaustauschs untereinander. Auch wurde durch sie die Kunst einem breiten Publikum nahe gebracht. Sie wurden „zum Umschlagplatz für Moden, Trends und Meinungen aus der Kunstszene um 1900“. Ein anderer Aspekt für die rasche Ausbreitung des Jugendstils war der Aufschwung der Verkehrs- und Kommunikationstechnik. Dies erleichterte den Kontakt zwischen Menschen über größere Entfernungen.

Die deutsche Bezeichnung Jugendstil geht auf die avantgardistische Münchener Zeitschrift Jugend zurück. Beeinflusst vom englischen Modern Style und dem französischen Art Nouveau sowie der japanischen dekorativen Kunst entwickelte sich auch in Deutschland vor der Jahrhundertwende ein neuer Kunstgedanke.

In Deutschland begannen in den Gründerjahren und mit zunehmender Industrialisierung der westlichen Welt die „Architekten und die Kunstgewerbler nach dem Willen ihrer reich gewordenen Auftraggeber mit protzigen Neuauflagen aller vergangenen Stile“. Die von der industriellen Revolution erfasste zivilisierte Welt, jede Wohnung der oberen oder mittleren Klasse war ausgestattet mit Möbeln und Gegenständen, die Formen der Klassik, der Renaissance, des Barocks und des Rokokos nachahmten. In den meisten Fällen handelte es sich um geistlose Kopien, Erzeugnisse einer fortschreitenden Industrialisierung, die für eine neureiche Klasse produzierte, der man damit das Gefühl geben wollte, einen guten Geschmack und wirkliche Kunstwerke zu besitzen. Ihre Wohnhäuser drückten außen und innen diesen Geschmack aus, ebenso wie ihre öffentlichen Gebäude, die Rathäuser, Museen, Bahnhöfe und Bibliotheken, die den Tempeln der Griechen ähnelten, die an Renaissancepaläste oder gotische Kirchen erinnerten.

Viele Künstler konnten die nachahmende Kunst und die maschinell hergestellten Produkte nicht mehr vertreten. Sie wollten zum Handwerk, zur Einfachheit und zur Natur zurück. Sie forderten, dass die Erzeugnisse der Kunst auch der Gesellschaft der Gegenwart entsprechen sollten. Der Architekt Otto Wagner schrieb 1895, dass der neue Stil nicht eine Wiedergeburt, sondern eine Geburt wäre. Das gegenwärtige Leben müsste die Grundlage jeder künstlerischen Schöpfung sein. Dieser Anspruch wurde jedoch niemals vollkommen verwirklicht. „Man muss einräumen, dass viele Künstler der Jugendstilbewegung den Blick zurück wandten, doch die meisten der geschaffenen Gegenstände zeigten selbständige Formen und waren ein echtes Zeugnis der Zeit, in der sie entstanden sind.“ Der Jugendstil ist somit eine eigenständige Kunstepoche mit neuen Ausdrucksformen und Stilmitteln und leitet auch in der Wohnraumgestaltung ein neues Jahrhundert ein.

Erstmals kam die Bezeichnung Jugendstil anlässlich der „Ausstellung für das Grafische Gewerbe“ 1897 in Leipzig auf, wo die Zeitschrift „Jugend“ wegen ihrer neuartigen und schwungvollen Randverzierungen und Vignetten mit Blumenmotiven von Otto Eckmann Aufsehen erregte und zunächst spöttische Kritik auf sich zog. In der Tat waren die ersten Titelblätter durch ihre Motive revolutionär. Sie zeigten z. B. tanzende Mädchen, die den alten kleinen Hofmaler Menzel – als Vertreter der Konservativen – mit fortreißen, was den neuen Geist der Zeitschrift hervorheben sollte. Der neue Stil wurde von den Fortschrittlichen begrüßt und von den Konservativen zunächst abgelehnt, da er in ihren Augen den traditionellen Verfall bedeutete. Die „Jugend“, Münchner Illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, herausgegeben von Georg Hirth, erhob den Anspruch, nicht nur der Kunst, sondern auch einer neuen Kultur zu dienen. Der Begriff Jugend wurde wegen seines zutreffenden Sinns rasch populär.

Die Hauptzentren des Jugendstils lagen in München, Berlin und Darmstadt. Mehr als 100 Künstler, Maler und Bildhauer, schlossen sich zum so genannten „Münchner Kreis“ zusammen und gründeten die „Vereinigten Werkstätten in Kunst und Handwerk“36. Sie alle hatten zum Ziel, eigene künstlerische Ideen zu verwirklichen und die entstandenen Werke auszustellen. Gründungsmitglieder und Künstler waren unter anderem Peter Behrens, Max Liebermann, Walter Leistikow, Viktor Weishaupt und Josef Maria Olbrich. München wurde zur Hochburg des dynamisch–floralen Jugendstils, der hier vor allem in der Möbel– und Innenraumgestaltung Anwendung fand. Die Künstler verstanden es, eine Zimmereinrichtung zu einer Einheit verschmelzen zu lassen, die Möbel „unlösbar“37 mit dem Innenraum zu verbinden.

Der Raum, den Josef Maria Olbrich auf der Pariser Weltausstellung präsentierte, veranschaulicht die Verschmelzung der Einrichtungsgegenstände als das besondere Gestaltungsprinzip des dynamisch–floralen Jugendstils. So erscheint das Sofa durch Ausbuchtungen der Wände unlösbar mit dem Raum verbunden.

1891 anlässlich der Großen Internationalen Kunstausstellung in Berlin kam es zum Eklat in der deutschen Kunstszene. Der Streit ging um die Abteilung der norwegischen Künstler, der sich im Folgejahr zuspitzte, nachdem die Kommission des Vereins Berliner Künstler die Bilder von Edvard Munch abgelehnt hatte. Im Februar 1892 schlossen sich unter der Führung von Walter Leistikow, Franz Skarbina und Max Liebermann einige Maler zu einer „freien Vereinigung zur Veranstaltung von künstlerischen Ausstellungen“ zusammen und organisierten im Frühjahr 1892 als Die Elf eine Kunstausstellung, ohne allerdings den Verein Berliner Künstler zu verlassen oder den jährlich stattfindenden Salon – die „Große Berliner Kunstausstellung“ – zu meiden. In München hatte sich die Freie Vereinigung der XXIV gegründet und stellte unter diesem Namen in Berlin aus.

Doch im November 1892 kam es zum Skandal, als eine Ausstellung der Werke von Edvard Munch diesmal von einer Mehrheit der Mitglieder des Vereins Berliner Künstler geschlossen wurde und Munchs Bilder als „abstoßend, hässlich und gemein“ bezeichnet wurden. Die opponierende Gruppe der Maler war aber noch nicht stark genug, um das etablierte Ausstellungswesen zu verlassen. So kam es zur „Freien Berliner Kunstausstellung 1893“ parallel zur Großen Berliner Kunstausstellung, in die wiederum die Münchener Secession eingebettet war, der sich inzwischen eine Reihe von Künstlern angeschlossen hatten (u.a. Adolf Brütt, Max Kruse, Walter Leistikow, Reinhold Lepsius, Lesser Ury und Max Liebermann).

Von der Jury der Großen Berliner Kunstausstellung 1898 wurde ein Landschaftsgemälde des Malers Walter Leistikow zurückgewiesen. Jetzt war der Beweis endgültig erbracht, dass die „moderne Kunst“ von den bestehenden Organisationen keine Unterstützung zu erwarten hatte. Als Konsequenz gründeten 65 Künstler die Berliner Secession mit Walter Leistikow als Organisator. Unter den 65 Gründungsmitgliedern waren auch drei Künstlerinnen, unter ihnen Julie Wolfthorn und Käthe Kollwitz. Max Liebermann wurde zum Präsidenten gewählt. Den Vorstand bildeten neben dem Präsidenten Liebermann und Walter Leistikow die Künstler Otto Heinrich Engel, Ludwig Dettmann, Oskar Frenzel, Curt Herrmann und Fritz Klimsch. Liebermann forderte einen eigenen Raum für die Secession auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1899; nachdem dies abgelehnt wurde verließen die Mitglieder der Secession geschlossen den Verein der Berliner Künstler. Fortan galt es auch geeignete eigene Ausstellungsräume zu finden, die die Secession neu errichten wollte.

Liebermann warb die Kunsthändler Bruno und Paul Cassirer an, und bot ihnen an, geschäftsführende Sekretäre der Secession zu werden. Sie traten 1899 bei und hatten zusammen einen Sitz im Vorstand jedoch ohne Stimmrecht. Ihnen oblag die Planung und Ausführung des Gebäudes, das nach Plänen von Hans Grisebach an der Kantstraße 12 errichtet wurde. Am 19. Mai 1899 wurde in der Charlottenburger Kantstraße das Gebäude mit einer Ausstellung von 330 Bildern und Grafiken sowie 50 Skulpturen eröffnet. Von den 187 Ausstellern lebten 46 in Berlin und 57 in München. Ausländische Beiträge fehlten noch, sollten aber in einer späteren Auflage folgen. Das Publikum aus 2000 geladenen Gästen zeigte sich beeindruckt, die Exponate wurden als Überwindung der vorherrschenden Mittelmäßigkeit wahrgenommen. Zur zweiten Ausstellung wurde der internationale Anspruch eingelöst, von den 414 Exponaten waren über zehn Prozent von ausländischen Künstlern, darunter Pissarro, Renoir, Segantini und Whistler. Dies verprellte nationalistische Kreise, sodass sich eine konservative Minderheit bis 1902 wieder von der Secession trennte. Neben den Sommerausstellungen fanden auch Winterausstellungen statt, die unter dem Titel „Schwarz-Weiß-Ausstellungen“ Grafiken vorbehalten waren. Auf der Ausstellung von 1902 wurden erstmals Werke von Kandinsky, Manet, Monet und Munch gezeigt.

Lesser Ury war einer der bedeutendsten Vertreter der Berliner Secession. 1890 hatte Lesser Ury auf Empfehlung von Adolph Menzel den Michael-Beer-Preis erhalten, der mit einem Stipendium der Berliner Akademie der Künste einherging. Dies ermöglichte ihm eine mehrmonatige Reise durch Italien, mit Aufenthalt in der Villa Strohl-Fern in Rom. Lovis Corinth holte Ury an die Berliner Secession. Zu seinen bevorzugten Motiven gehörten die Straßen Berlins und die Landschaft der Mark Brandenburg. Vor allem für die Weltstadt Berlin empfand Ury ab dem ersten Moment eine ganz besondere Sympathie.

In der Ölmalerei stellte Ury Blumenbilder, Stillleben sowie die für ihn typischen Kaffeehaus- und Straßenszenen dar. In seinen Pastellen gelang es Ury, Luft- und Lichtspiegelungen in der Landschaft nuancenreich wiederzugeben. Ury, als Mensch eher ein Einzelgänger, beschritt auch in der Kunst einen einzelgängerischen Weg, während die Berliner Zeitgenossen Max Liebermann, Max Slevogt und Lovis Corinth gemeinsame künstlerische Interessen verbanden. Vielleicht aus Konkurrenzgründen war Max Liebermann, dem Präsidenten der Akademie und einflussreichen Wortführer der Kunstszene, der zunehmende Bekanntheitsgrad Urys ein Dorn im Auge: Liebermann versuchte mit allen Mitteln, Urys Karriere zu blockieren. Ury konnte erst regelmäßig und erfolgreich in der Berliner Secession ausstellen, als Corinth Nachfolger Liebermanns wurde. 1921 wurde er Ehrenmitglied der Secession. Ury begab sich in diesem Jahrzehnt mehrmals auf Reisen nach London, Paris und in verschiedene deutsche Städte. Von jeder Reise brachte der Künstler jeweils eine Fülle neuer Bilder mit.

Ernst Oppler war ein deutscher Künstler von internationalem Rang. Er zog im Sommer 1886 zum Studium an der Akademie der Bildenden Künste nach München.

Anschließend reist Oppler ins nordfranzösische Dieppe, (wo zuvor schon Carl Spitzweg und Frits Thaulow gemalt hatten) und malt vornehmlich Strandszenen. Ausflüge unternimmt er auch nach Belgien. Anfang 1904 fand in Brüssel die belgische Kunstausstellung statt, welche den Titel „Exposition des peintres impressionnistes“ trug. Zur großen Kunstausstellung in Dresden zeigte Oppler sein „Selbstbildnis“, das ihn in seiner Eigenschaft als jungen Kunstsammler zeigt, auf der Künstlerbund-Ausstellung der Münchener Sezession neben einem Stillleben das Damenporträt „Auf der Terrasse (Portrait der Miss B.)“.

1904 zog er auf Empfehlung von Paul Baum nach Berlin und wurde schnell in der Berliner Kunstszene bekannt. In Deutschland zurück war er der wohl erste Freiluftmaler. Vorerst kehrte er zur akademischen Malerei zurück und kombinierte sie mit einer impressionistischen Pinselführung. Die freie farbintensive Phase wich mit der Zeit strengeren Formen, Oppler wurde nun auch zu einem gefragten und angesehenen Porträtisten. Bereits 1905 war er Jurymitglied der Secession und beteiligt sich auch an der Nordwestdeutschen Kunstausstellung in Oldenburg. Diese wurde im Nachhinein als „opulente Gesamtschau der zeitgenössischen Kunst um 1900“ betrachtet (und wurde 100 Jahre später wieder gezeigt). Zur großen internationalen Kunstausstellung 1907 in Mannheim zeigte Oppler sehr tradierte Bilder Interieurs mit Bauernmädchen, die von der Kunstkritik sehr gelobt wurden. Oppler war neben Paul Cassirer und Max Liebermann einer der Protagonisten der Berliner Sezession und beteiligte sich bis 1912 regelmäßig an deren Ausstellungen. Auf der 20. Ausstellung der Secession wird das Werk „Tennismatch in Westende“ gezeigt. Allgemein bereichert Oppler die Secession auch um Radierungen und Lithographien. Auch während des Ersten Weltkrieges gehörte Oppler, neben Corinth und Eugen Spiro, zu denen, die den Stammtisch der Secession in einer kleinen Bierkneipe am Wittenbergplatz regelmäßig besuchten. 1911 kam es zum Bremer Künstlerstreit.

Der Bremer Künstlerstreit war eine Kontroverse um den Stellenwert der modernen Kunst und um den Einfluss von Galerieleitern, Kunstkritikern und -händlern auf die Entwicklung der deutschen Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zunächst nur in Bremer Kunstkreisen ausgetragen, erlangte der Künstlerstreit 1911 deutschlandweites Interesse. Die sich im Zuge der Kontroverse zeigende Spaltung der Kunstschaffenden und ihres Publikums in einerseits Verteidiger einer traditionellen Historien-, Landschafts- und Porträtmalerei und andererseits Unterstützer neuer Strömungen wie der Freilichtmalerei, des Expressionismus und des Jugendstils kann als Teil des umfassenden gesellschaftlichen Wandels um die Jahrhundertwende herum verstanden werden. ,

Mit dem Aufkommen reformorientierter Kräfte in Politik und Kultur wurde die bis dahin in der Hansestadt vorherrschende, von der Kaufmannschaft und dem Großbürgertum geprägte, konservative Kunstauffassung in Frage gestellt, was wiederum die traditionsorientierten Kräfte zu einer vehementen Kritik an den neuen Entwicklungen veranlasste.

Die Anfänge des Künstlerstreits gehen bis auf das Jahr 1899 zurück, als der Kunstverein in Bremen mit dem Kunsthistoriker Gustav Pauli einen ersten wissenschaftlichen Leiter an die Kunsthalle Bremen berief. Bald nach seiner Anstellung zeigt sich sein Interesse an neuen Tendenzen in der Malerei durch eine erste Ausstellung von Werken der damals noch weitgehend unbekannten Worpsweder Malerin Paula Becker. Der wohl renommierteste bremische Künstler jener Zeit, Arthur Fitger, Vorsitzender des Kunstvereins, verfasste daraufhin in der Weser-Zeitung eine harsche Kritik, in die er später auch die Arbeiten Heinrich Vogelers einbezog. Ein erster Schlagabtausch in der Presse entwickelt sich, als der Worpsweder Maler Carl Vinnen, ebenfalls Mitglied im Kunstverein, die Künstlerin in einem Artikel im Bremer Courier in Schutz nahm, obwohl er ihre Kunst selbst auch als „unreife Schülerarbeiten“ einstufte. Neben dieser Kritik an neuen künstlerischen Stilrichtungen, zeigte sich um die Jahrhundertwende ein zweiter Kernaspekt des sich anbahnenden Künstlerstreits, als Pauli 1906 anlässlich des Ankaufs des Bildes Dame im grünen Kleid (Camille) von Claude Monet vorgeworfen wurde, „die ausländische Kunst zum Nachteil der einheimischen deutschen zu begünstigen“.

Ungeachtet dessen führte Pauli seine Ankaufspolitik fort und erwarb 1910 für 30.000 Mark das Bild Mohnfeld von Vincent van Gogh für die Sammlung der Kunsthalle. Paulis Assistent Gustav Friedrich Hartlaub beschrieb in diesem Zusammenhang das Sammlungskonzept des Museumsdirektors in der Kunstzeitschrift Die Güldenkammer wie folgt: „Neben der Gruppe der Worpsweder Künstler (…) soll stets ein Hauptgewicht auf den Erwerb von Bildern französischer und derjenigen deutschen Meister [gelegt werden], die aus der französischen Entwicklung den größten Nutzen zogen.“ Dies führte zu einer zunächst internen Auseinandersetzung im Kunstverein, als Vinnen bemängelte, dass die zeitgenössische deutsche Kunst in Paulis Konzept unterrepräsentiert sei. Pauli widersprach diesem Eindruck und listete in einem Brief an Vinnen jüngere Erwerbung deutscher Kunst an, darunter Werke von Franz von Stuck, Wilhelm Trübner, Heinrich von Zügel und anderen.

Den Beginn des offen ausgetragenen Künstlerstreits markiert ein im Januar 1911 in den Bremer Nachrichten veröffentlichtes Mahnwort an den Kunstverein von Vinnen, in dem er die Sammlungspolitik Paulis kritisierte und forderte, den Erwerb von Kunstwerken in die Hand einer Kommission zu legen. Vinnen wendete sich in diesem Artikel außerdem gegen die vermeintliche „große Invasion französischer Kunst“ in Deutschland und die durch Spekulation im Kunsthandel verursachten überhöhten Preise, zu denen eben jene Werke angekauft wurden. Pauli belegte daraufhin in einer Gegendarstellung am 8. Januar, dass er in den vergangenen Jahren mehr deutsche als französische Werke für den Kunstverein erworben habe. Darüber hinaus betonte er die besondere Bedeutung der französischen Malerei für die Entwicklung der modernen Kunst und argumentierte, dass die hohen Preise der Werke einzig durch die hohe Qualität der Kunst bedingt seien.

In der Folge begann die Auseinandersetzung deutschlandweite Kreise zu ziehen, beginnend mit dem Artikel Phantasien in der Bremer Kunsthalle vom 11.Januar im Berliner Lokal-Anzeiger. Darin wurde van Gogh als „Vertreter des Farbenirrsinns“ bezeichnet und der Ankauf des Mohnfeldes durch Pauli als Beweis für die gefährliche Macht des Kunsthandels gedeutet. Am 16.Januar bezichtigte der Schriftsteller und Kritiker Karl von Perfall in der Kölnischen Zeitung progressive Museumsleiter wie Pauli, aber auch Alfred Lichtwark und Hugo von Tschudi, Gehilfen des Kunsthandels zu sein. Es folgte eine Verteidigung der Beschuldigten unter dem Titel Wieder eine Hetze gegen einen Museumsdirektor in der National-Zeitung aus Berlin, in der Vinnen als Urheber der Kritik ausgemacht und als reaktionär bezeichnet wurde, woraufhin sich dieser in einer Gegendarstellung vom 21. Januar entschieden von Perfalls Standpunkt distanzierte. Derweilen veröffentlichte Pauli in den Bremer Nachrichten und der Güldenkammer zwei Texte, in denen er seine Sammlungspolitik darlegte und noch einmal die historische Bedeutung van Goghs betonte, der „auf dem Weg vom Impressionismus zu einer monumentalen, im hohen Sinne dekorativen Ausdrucksform gelangte.“

Ende Januar 1911 sandte Vinnen den Entwurf eines Textes mit seiner Kritik am deutschen Kunstmarkt unter der Überschrift Quousque tandem (‚Wie lange noch?‘) an Pauli und bat diesen um eine Stellungnahme dazu. Pauli antwortete, dass er Vinnen in vielen seiner Kritikpunkte durchaus zustimme, auch er lehne „die absurden Nachahmungen der allerneusten Franzosen, wie wir sie in Düsseldorf usw. kennengelernt haben. (…)“ ab und fügte an, dass auch er „von unserer deutschen Art keinen Deut preisgeben (wolle).“ Dieser Annäherung der Standpunkte zum Trotz, begannen beide „Lager“ Unterstützer ihrer Positionen zu kontaktieren und Stellungnahmen für eine Veröffentlichung zu sammeln.

Am 17. April wurde unter dem Titel Ein Protest deutscher Künstler eine 80-seitige Broschüre Vinnens im Verlag Eugen Diederichs in Jena veröffentlicht. Darin schlossen sich 123 Künstler dessen Kritik an – einige davon mit eigenen Stellungnahmen. Die Unterstützer des Protestes kritisierten insbesondere die Überfremdung des Kunstmarktes und der Sammlungen in Deutschland. Als Gegenentwurf plädierten sie für Wahrung der bestehenden Traditionen und die Förderung einer eigenen „nationale Kunst“: „Wir wollen keine chinesische Mauer, kein Schutzzoll für unsere Kunst, keine chauvinistische Deutschtümelei, kein Absperren gegen Wertvolles, bloß weil es von jenseits der Grenzen kommt. Sonst müssten wir uns ja auch gegen die alten Meister wenden, gegen Werke, die allen Völkern und allen Zeiten verehrungswürdig waren und bleiben. (…) Darum, keine Zollrevision im Reiche des Ideals, sondern freien, edlen Wettkampf der Geister, gegenseitiges Befruchten hoher Kulturen! Aber eben im Namen dieser Freiheit Kampf gegen eine in Deutschland so übermächtig gewordene Interessengruppe und deren Bundgenossen, die Ästheten und die Snobs! Indem wir so versuchen, Kunstwerte wieder auf ihr eigenes Maß zurückzuführen, glauben wir nicht nur der deutschen Kunst, sondern der Kunst überhaupt zu dienen.“

Im Juni 1911 erschien beim Piper Verlag in München die 182-seitige Antwortschrift auf Vinnens Publikation unter dem Titel Im Kampf um die Kunst. Die Antwort auf den „Protest deutscher Künstler“. In dieser Broschüre verteidigten 47 Künstler und 28 Galerieleiter, Schriftsteller und Kunsthändler die angegriffenen Museumsleiter und den französischen Impressionismus – wie bereits in Paulis Schreiben an Vinnen anklang, stimmten die Unterstützer Paulis in der Frage nach einer eigenständigen nationalen Kunst der Kritik Vinnens durchaus zu, lehnten jedoch dessen pessimistisch-kritische Haltung ab: „Wir glauben in der Kunsthallen lediglich [den] von Vinnen angezogenen Tatsachen Rechnung getragen zu haben, indem wir eben jene französischen Meister, welche die deutsche Kunst befruchtet haben, in charakteristischen Werken sammelten. Besieht man die Deduktionen Vinnens genauer, so bleibt es nur übrig, dass seiner Ansicht nach die grosse Zeit der französischen Malerei eben jetzt vorübergegangen sei. Nun, darüber werden sich wohl die allermeisten einigen können. Aber was beweist das?(…) Die Entwicklung hört nie auf, sie geht immer weiter, so lange die Erde sich dreht, so lange Menschen auf ihr leben, lieben und kämpfen. Nur wissen wir noch nicht, welchen Weg die Entwicklung über Cézanne und van Gogh hinaus nehmen werde, da wir keine Propheten sind (…).“(Gustav Pauli: Im Kampf um die Kunst. Die Antwort auf den „Protest deutscher Künstler“)

Zu den Unterzeichner der Antwortschrift zählten unter anderem Max Beckmann, Lovis Corinth, Wassily Kandinsky, Gustav Klimt, Georg Kolbe, Max Liebermann, August Macke, Franz Marc, Otto Modersohn, Carl Moll, Ernst Oppler Max Pechstein und Max Slevogt.

In den folgenden Monaten erschienen noch zahlreiche Artikel und weitere Stellungnahmen zum Künstlerstreit in der deutschen Presse: über 30 allein in der bremischen Presse und über 60 in der überregionalen deutschen Presse, aber sogar in Wien, Paris und New York wurde über den Disput berichtet. Des Weiteren wurden im Herbst 1911 noch zwei Publikationen veröffentlicht, die sich der Kritik Vinnens anschlossen: Carl Vinnen und seine Gegner. Ein Beitrag zum deutschen Künstlerstreit von August Piening und Die Herabsetzung der deutschen Kunst durch die Parteigänger des Impressionismus von Theodor Alt – letztere Schrift ging dabei in ihrer kategorisch antimodernen Haltung jedoch weit über Vinnens Kritik hinaus.

An seinem Ausgangspunkt in Bremen setzte sich der Künstlerstreit auch zum Jahreswechsel 1911/1912 noch fort, als Gustav Pauli zunächst 51 Werke van Goghs aus der Hamburger Galerie Commeter in der Kunsthalle ausstellte und anschließend Arbeiten des Deutschen Künstlerbundes zeigte, darunter auch Werke der Neuen Künstlervereinigung München und der Neuen Berliner Secession, die die Diskussion um den Stellenwert der modernen Kunst in der Stadt erneut anfachten. Auf Einladung der Kritiker Paulis hielt Theodor Alt am 28. Februar unter dem Titel Über Machtfragen in der Kunst einen Vortrag in Bremen, in dem er den Leiter der Kunsthalle angriff. Gustav Pauli antwortete am 29. März mit dem Vortrag Die Aufgaben des modernen Kunstmuseums, in dem er wiederum Alt attackierte. Eine darauf folgende Beleidigungsklage Alts gegen Pauli wurde abgewiesen.

Als die Bremer Bürgerschaft Anfang 1913 die Aufstockung der Zuschüsse für die Kunsthalle beschloss, wurde auf Antrag konservativer Abgeordneter festgelegt, dass die Ankaufskommission der Kunsthalle um zwei Vertreter aus der Bürgerschaft und einen aus dem Senat zu ergänzen sei. Kurz darauf musste die Regelung jedoch rückgängig gemacht werden, nachdem sie in der Öffentlichkeit stark kritisiert und als Angriff auf die Unabhängigkeit der Kunst gewertet wurde. Somit blieb der vom Kreis um Vinnen initiierte Disput letztendlich ohne konkrete Wirkungen, zumal auch der Nachfolger von Pauli, Emil Waldmann, dessen Ankaufspolitik fortführte und neben Gemälden des 19. Jahrhunderts die Sammlung des Kunstvereins um weitere Werke des Impressionismus und jüngerer Kunst ergänzte.

Später kamen das Historische Museum (1923, heute Staatliches Simon-Dschanaschia-Museum), das Regierungsgebäude Georgiens (1938, heute Parlamentsgebäude), ein Kino mit 1.200 Plätzen (1939), ein Warenhaus (1975) sowie verschiedene Ministerien hinzu.

Neben dem dichten Platanendach geben Blumengärten, kleine Parks und Rasenflächen, Trinkwasserfontänen und Skulpturen dem Boulevard eine eigene Atmosphäre.

1915 wurde im Keller-Café des Hauses der Künstlergesellschaft die Schriftstellergruppe Blaue Hörner gegründet. 1918 gab die Demokratische Republik Georgien dem Boulevard den Namen des georgischen Nationaldichters Schota Rustaweli. In der Sowjetunion wurde er nach dem russischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin benannt. In der Spätphase der Sowjetunion erhielt er wieder den Namen von 1918.

Die Flaniermeile war immer wieder ein Schauplatz politischer Veränderungen in Georgien. 1956 zogen junge Demonstranten mit Anti-Regierungs-Parolen über die Straße. Sowjetische Panzer vertrieben sie beim Massaker von Tiflis. Im April 1989 töteten sowjetische Truppen vor dem Regierungsgebäude 20 Hungerstreikende mit Giftgas und scharf geschliffenen Spaten. 1991 und 1992 wurde dort der Tifliser Krieg ausgetragen, ein Putsch der Warlords Dschaba Iosseliani und Tengis Kitowani gegen den gewählten Präsidenten Swiad Gamsachurdia. Die Geschosseinschläge von Panzern, Artillerie und Raketen sind noch heute am Parlamentsgebäude zu sehen. 2003 demonstrierten während der Rosenrevolution zehntausende Menschen auf dem Boulevard gegen die Regierung Eduard Schewardnadses und zwangen sie schließlich zum Rücktritt. Im November 2007 kam es erneut zu Massenprotesten auf dem Boulevard, um Neuwahlen für das Amt des Staatspräsidenten herbeizuführen.

Der Boulevard beherbergt einige der bekanntesten Cafés der Stadt. Zu ihnen zählen das Vincent, das vor allem von Künstlern und Studenten frequentiert wird, und das Laghidse, ein 1904 gegründeter Traditionsbetrieb mit Limonaden aus Mineralwasser, Frucht- und Kräutersirupen eigener Herstellung.

Mit dem Zusammenbruch der georgischen Wirtschaft sind zu Beginn der 1990er Jahre Holzbuden auf dem Boulevard eingezogen, an denen Zigaretten und Getränke verkauft werden. Die meisten wurden Ende 2006 entfernt, da sie nicht legal waren. Sonntags war der Boulevard für Autos gesperrt. Den Platz der ehemaligen Holzbuden nahmen Verkäuferinnen auf Kisten oder Klappstühlen ein, die Blumen, Zeitschriften oder Sonnenblumenkerne anbieten. In der Nähe der Metro-Station Rustaweli verkaufen einheimische Künstler ihre Bilder, Ikonen sowie landestypische Souvenirs wie Trinkhörner, Schnitzereien oder traditionelle Kopfbedeckungen

Die Verbindung mit Saarbrücken gehörte zu den ersten deutsch-sowjetischen Städtepartnerschaften. Im März 2005 schloss Tiflis ein Kooperationsabkommen mit der kasachischen Hauptstadt Astana.

Das Straßennetz von Tiflis befindet sich allgemein in einem schlechten bis sehr schlechten Zustand. Insbesondere in den Vororten sind einstmals gepflasterte Straßen aufgrund unterbliebener Reparaturarbeiten äußerst ländlich anmutenden ungepflasterten Fahrbahnen gewichen. In der Innenstadt hingegen wird der Zustand der Straßen, insbesondere der der Hauptverkehrsachsen, internationalen Standards gerecht. Wegen der gebirgigen Geographie verträgt das Tifliser Straßennetz nach Berechnungen der UNO höchstens 4200 bis 4500 Fahrzeuge pro Stunde. Weil die Anzahl der privaten Kraftfahrzeuge, die als Statussymbole einen hohen Stellenwert besitzen, seit den 1990er Jahren stetig zugenommen hat, ist das Straßennetz häufig überlastet und Verkehrsstaus gehören zum Alltag. Die Regierung setzte teilweise 25 Hauptverkehrsstraßen und Kreuzungen in Stand.

Der öffentliche Personennahverkehr wird in Tiflis von einer Untergrundbahn, einem Omnibus-Liniennetz – beide von stadteigenen Betrieben unterhalten – und einem städtisch regulierten, aber privat betriebenen Minibus-Liniennetz (Marschrutka) sowie nicht zuletzt von unzähligen privatwirtschaftlich agierenden und offenbar kaum regulierten Taxiunternehmen bestritten. Noch vereinzelt verkehrende Seilbahnen ergänzen dieses öffentliche Transportsystem. Schienengebundenen öffentlichen Nahverkehr gibt es so gut wie nicht. Das Straßenbahnnetz, 1883 als Pferdestraßenbahn begründet und ab 1904 elektrifiziert, wurde am 4. Dezember 2006 stillgelegt. Eine neue Straßenbahn mit neuen Fahrzeugen soll demnächst in Betrieb genommen werden. S-Bahn-Verkehr gibt es mit Ausnahme eines sporadisch vom Zentralbahnhof zum Flughafen verkehrenden Zuges nicht.

Seit 1966 gibt es in Tiflis ein U-Bahn-Netz. Es umfasst zwei Linien und hat eine Länge von 26,3 Kilometern. Eine dritte Linie soll sich ab den späten 1980er Jahren im Bau befunden haben, der aufgrund fehlender Finanzmittel nach 1991 jedoch bis auf Weiteres wieder eingestellt wurde. Die U-Bahn verkehrt von 6 bis 24 Uhr, in Spitzenzeiten im Drei-Minuten-Takt, und verbindet die Vororte mit dem Zentrum. Der Fahrpreis beträgt 50 Tetri und kann an allen Stationen an Schaltern entrichtet werden. 2008 ist eine RFID-Karte eingeführt worden, die nach Aufladung an einem der Schalter einen elektronisch gesteuerten Zugang zur Metro gewährt. Seit 2011 ist diese Karte für die Nutzung der Metro obligatorisch. Sie kann für einen Lari an jedem Schalter erworben und wieder zurückerstattet werden. Innerhalb eines Verkehrstages gibt es für den Nutzung Skaleneffekte bei der Preisberechnung: So kostet die erste Entwertung 50 Tetri, die zweite 30 Tetri und jede weitere 20 Tetri am Tag. Das Ticket ist in der Metro und in Bussen der Tifliser Verkehrsbetriebe gültig. Tages-, Wochen-, Monats-, Jahreskarten oder andere Abo-Angebote werden nicht angeboten.

Das traditionelle öffentliche Verkehrsmittel war seit 1937 der Oberleitungsbus. In den 1970er und 1980er Jahren verkehrten in der Hauptstadt rund 300 Oberleitungsbusse der Marke Škoda. 1990 gab es davon noch 137 Stück, deren Anzahl bis 2004 auf 80 sank, von denen allerdings lediglich 40 funktionsfähig waren. Der Oberleitungsbusverkehr wurde am 4. Dezember 2006 eingestellt.

2004 wurden erstmals wieder neue Omnibusse für ein neu errichtetes Busliniennetz angeschafft. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung hat der Tifliser Verkehrsgesellschaft 2005 einen Kredit über 3,1 Millionen Euro gewährt, mit dem Omnibusse aus der Ukraine und aus den Niederlanden erworben worden sind. Diese mit einem gelben Anstrich versehenen Omnibusse bedienen seither ein Liniennetz, das einen preisgünstigen öffentlichen Transport bis in entlegenere Stadtteile garantiert.

Die seit den 1990er Jahren verkehrenden privaten Kleinbusse, Marschrutki oder Minibus genannt, stellen das vorletzte Glied des öffentlichen Transportwesens jenseits der Omnibuslinien dar. Es handelt sich meist um aus Westeuropa importierte, mit sechzehn Sitzplätzen ausgestattete, handwerklich umgebaute Kleintransporter. Sie verkehren in von zunächst 72 auf inzwischen 223 von der Stadtverwaltung festgelegten Linien von frühmorgens bis etwa 23 Uhr und stellen ein preisgünstiges öffentliches Transportmittel dar, das teils in Konkurrenz zu den Omnibuslinien steht, teils das Busliniennetz bis in die entlegensten Stadtteile ergänzt. Der behördlich festgelegte Fahrpreis in Höhe von 80 Tetri, für gewisse Kurzstrecken am Stadtrand 40 Tetri, wird bei Erreichen des Ziels beim Fahrer entrichtet. In Marschrutki neueren Typs, erkennbar an ihrer gelben Farbe und dem digitalen Linienschild, ist ebenfalls die Bezahlung mit RFID-Karte möglich.

Als letztes Glied des öffentlichen Transportwesens fungiert das Taxigewerbe. In Tiflis gibt es eine überproportional hohe Anzahl von Taxis, die rund um die Uhr in der gesamten Stadt verkehren. Sie werden üblicherweise vom Straßenrand aus herangewinkt; es gibt kaum feste Taxistehplätze. Der Fahrpreis für das Taxi ist deutlich höher als der für die Omni- und Minibusse und wird mit dem Fahrer, möglichst vor Fahrtantritt, individuell ausgehandelt (innerhalb des Stadtgebietes je nach Entfernung etwa zwischen 2 und 10 Lari). Da sich offenbar jeder Fahrzeugbesitzer als Taxiunternehmer betätigen kann, ist die Zahl der Taxis im Tifliser Straßenbild exorbitant hoch und der technische Zustand der Fahrzeuge höchst unterschiedlich. Seit 2008 erscheinen Taxiketten auf dem Markt, deren Fahrzeuge technisch und bei der Ausstattung einen Standard nach internationalen Maßstäben garantieren wollen und über Taxameter verfügen.

Eine Besonderheit des Tifliser Nahverkehrs waren öffentliche Hängeseilbahnen, die das Stadtzentrum beziehungsweise tiefer gelegene Teile mit den Bezirken auf den Plateaus oberhalb der steilen Berghänge verbanden. Wegen fehlender Mittel zur Instandhaltung war bis 2009 von ehemals einem Dutzend Linien nur noch eine einzige im Stadtteil Wake zum Schildkrötensee hinauf in Funktion, die zudem eher touristischen Zwecken dient. Seit 2010 ist diese außer Betrieb. Am 18. Juni 2012 wurde eine neu errichtete Seilbahn eröffnet, die den Rike-Park mit der Nariqala-Festung verbindet und ebenso eher touristisches Publikum ansprechen dürfte. Gebaut wurde die modernde Gondelbahn vom italienischen Unternehmen Leitner ropeways.

Die Stadtverwaltung ist derzeit bemüht, die hohe Zahl von Kleinbussen und Taxis zu reduzieren, um Staus aufzulösen und die überaus hohe Schadstoffbelastung der Luft insbesondere im tiefer gelegenen Innenstadtbereich zu verringern.

Seit 1872 ist Tiflis an das Eisenbahnnetz angeschlossen, das heute von der Georgischen Eisenbahn betrieben wird. Vom Zentralbahnhof aus, dessen Hauptgebäude bis 2010 grundsaniert und wiedereröffnet wurde, verkehren regelmäßig Züge unter anderem nach Batumi, Bordschomi, Kutaissi, Poti sowie international nach Baku und Jerewan. Von Tiflis aus verkehren von verschiedenen Omnibushöfen (Didube, Zentralbahnhof, Isani) sowohl Busse als auch Minibusse zu zahlreichen Zielorten innerhalb Georgiens.

Der Flughafen von Tiflis liegt 20 Kilometer südöstlich der Innenstadt in Lotschini und verfügt seit 2007 über ein internationalen Standards gerecht werdendes Terminalgebäude. Er ist mit dem Bus an die Innenstadt angebunden. Zusätzlich verkehren seit 2007 Züge zum Flughafen.

Mit der Eisenbahn können Ziele in Armenien und Aserbaidschan erreicht werden. Die Bahnverbindung von Tiflis nach Russland auf dem Landweg ist wegen des Konflikts mit Russland unterbrochen.

Per Omnibus sind von Tiflis aus Ziele in Italien, Griechenland (Athen), Russland (Moskau) sowie allen Nachbarländern Georgiens zu erreichen.

Tiflis verfügt über eine vielfältige Theaterszene mit 33 Bühnen. Zu den wichtigsten zählen das 1845 gegründete Gribojedow Theater für russisches Drama, das 1921 gegründete Staatliche Akademische Theater Schota Rustaweli, das 1851 gegründete Staatliche Sachari-Paliaschwili-Theater für Oper und Ballett sowie die zwischen 1969 und 1971 erbaute „Große Halle“ des Staatlichen Sinfonieorchesters Georgiens. Daneben gibt es Theater der armenischen, aserbaidschanischen, ossetischen und jüdischen Volksgruppen. Es gibt zwei Jugend-, ein Komödien-, ein Musical-, ein Filmschauspieler-, ein Pantomimen- und ein Marionettentheater. Am Heldenplatz steht der im stalinistischen Baustil errichtete Zirkus, Heimat des Georgischen Staatszirkus.

Am 16. November 1896 wurde in Tiflis das erste Kino Georgiens eröffnet. In den 1920er Jahren wurde die Stadt zum Standort der Studios von Kartuli Filmi und Produktionsort aufwändiger Spielfilme. Zwei größere Kinos von internationalem Standard zeigen in der Innenstadt aktuelles internationales Kino. Im Spätherbst findet in ihnen jährlich das Tbilisi International Film Festival statt.

Tiflis hat zwölf große Museen. Die bedeutendsten sind das Staatliche Museum der Künste Georgiens nahe dem Freiheitsplatz und das Staatliche Simon-Dschanaschia-Museum Georgiens am Rustaweli-Boulevard. Ersteres beherbergt Gold- und Silberschätze der georgischen Könige, darunter das Brustkreuz der Königin Tamara sowie Zeugnisse georgischer Malerei des 18., 19. und 20. Jahrhunderts mit einer wertvollen Sammlung des georgischen Volksmalers Niko Pirosmani. Das zweite zeigt Dokumente der Geschichte Georgiens und des Kaukasus von der Altsteinzeit über die Antike bis zur Gegenwart.

Das Geldmuseum der Georgischen Nationalbank präsentiert eine Schau zur Geschichte regionaler Zahlungsmittel, die vier Jahrtausende zurückreicht. Das Ethnographische Museum ist ein Freilicht-Museum, das das georgische Leben in verschiedenen Epochen zeigt. 22 private Kunstgalerien und sechs Ausstellungshallen präsentieren regelmäßig zeitgenössische georgische Kunst.

Tiflis ist Georgiens wissenschaftliches Zentrum. Die Staatliche Universität Tiflis (TSU) wurde 1918 gegründet. Heute studieren dort rund 35.000 Studenten an fünf Fakultäten. Die Universitätsbibliothek umfasst über 3,7 Millionen Bücher und Periodika. Daneben beherbergt Tiflis die Staatliche Ilia-Universität, die Georgische Technische Universität (GTU), die Georgische Agrarwissenschaftliche Universität (GAU), die Staatliche Medizinische Universität und die Staatliche Universität für Sprache und Kultur.

Außerdem gibt es verschiedene private Hochschulen, darunter die Georgische Universität für Sozialwissenschaften, die Grigol-Robakidse-Universität, Internationale Schwarzmeer-Universität, die European School of Management, das Georgian Institute of Public Affairs (GIPA) und die Caucasus Business School (CBS). In der Hauptstadt sind mehr als 20.000 Menschen in Forschungseinrichtungen beschäftigt.

Die Akademie ist Mitglied der Europäischen Föderation der Nationalen Akademien für Natur- und Geisteswissenschaften. Sie gibt die wissenschaftliche Zeitschrift Bulletin of the Georgian Academy of Sciences heraus.

Neben der Georgischen Akademie der Wissenschaften gibt es die Georgische Akademie der Agrarwissenschaft, die Georgische Akademie der Biomedizinischen Wissenschaft und die Abchasische Regionale Akademie der Wissenschaften. Auch sie haben ihren Sitz in Tiflis.

Iwane Dschawachischwili war ein georgischer Wissenschaftler. Er war Professor der Geschichtswissenschaft und Mitbegründer der Staatlichen Universität Tiflis.

Er wurde als Sohn des Erziehungswissenschaftlers Aleksandre Dschawachischwili geboren, legte 1895 am 1. Klassischen Gymnasium in Tiflis das Abitur ab. 1899 schloss er ein Studium an der Fakultät für Orientalische Sprachen der Universität Sankt Petersburg ab. Es folgte ein zweijähriges Magister-Aufbaustudium. 1898 lernte er in Königsberg deutsch.

Von 1901 bis 1902 war er Gastwissenschaftler an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, studierte bei Adolf von Harnack und Karl Krumbacher, übersetzte geschichtswissenschaftliche Quellen aus dem Georgischen ins Deutsche. Vergeblich versuchte Harnack ihn für die Berliner Universität zu gewinnen.

1902 ging er mit Nikolai Jakowlewitsch Marr auf eine wissenschaftliche Expedition zum Berg Sinai, sicherte dort alte georgische Manuskripte. 1903 bis 1917 war Dschawachischwili Privatdozent an der Armenisch-Georgisch-Iranischen Abteilung in der Fakultät für Orientalische Sprachen der Universität Sankt Petersburg mit dem Arbeitsgebiet Kartwelologie. In den Semesterferien hielt er öffentliche Vorträge über altgeorgische Geschichte, Philosophie und Kunst in Tiflis.

Dschawachischwili war die treibende Kraft bei der Gründung der Staatlichen Universität Tiflis. Er erarbeitete einen Gründungsplan, warb Mäzene. Am 30. Januar 1918 hielt er die erste Vorlesung der neu gegründeten Universität ("Die Persönlichkeit des Menschen und ihre Bedeutung im altgeorgisch-philosophischen Schrifttum"). 1919 bis 1926 war er Rektor der Universität und 1918 bis 1938 Dekan der historischen Fakultät. 1936 bis 1940 leitete er die historische Abteilung des Staatlichen Museums Georgiens. 1939 wurde Dschawachischwili Vollmitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften.

Mit der Kommunistischen Partei lebte Dschawachischwili über Jahrzehnte in Fehde. 1924 unterstützte er den August-Aufstand in Georgien. 1926 wurde er deshalb als Universitäts-Rektor abgelöst und für mehrere Jahre unter Hausarrest gestellt. 1936 lehnte es ab, Mitglied der KPdSU zu werden. Es kam zu organisierten Studentenprotesten, die seine Entfernung aus dem Universitätsdienst verlangten. Erst spät versöhnte sich die Partei mit Dschawachischwili und er wurde in das Parlament der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik gewählt.

Dschawachischwili verfasste 170 wissenschaftlichen Forschungsarbeiten und rund 20 Monografien, darunter eine vierbändige Geschichte Georgiens, eine dreibändige Geschichte des georgischen Rechts, eine zweibändige Geschichte der Wirtschaft Georgiens, eine Geschichte der georgischen Musik, eine Studie zur Verwandtschaft der kartwelischen und kauskasischen Sprachen, eine georgische Paläographie, eine georgische Münz und Messkunde, eine georgische Diplomatik und eine Arbeit über Quellen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Dschawachischwili starb an einem Herzinfarkt während eines Vortrags an der Universität Tiflis.

Nach seinem Tode wurde Dschawachischwili im Garten der Staatlichen Universität Tiflis begraben. Die Staatliche Universität Tiflis erhielt 1989 seinen Namen. Die höchste Auszeichnung der Universität heißt Iwane-Jawachischwili-Medaille, die höchste Auszeichnung der Georgischen Akademie der Wissenschaften Iwane-Dschawachischwili-Preis. Sein Porträt ist auf der Vorderseite des georgischen Fünf-Lari-Geldscheins abgebildet.

Die ältesten Kunstgegenstände aus dem Erbe der Völker, die das heutige Gebiet Georgiens bewohnt haben, stammen aus vorgeschichtlichen Zeiten. Es wurden Gegenstände der materiellen Kultur aus dem Paläolithikum und Neolithikum gefunden. Die Werke aus der Bronzezeit bezeugen die hohe Kultur damaliger Einwohner Georgiens. In den Grabhügeln wurden u.a. reich geschmückte silberne Gefäße gefunden. Die Stilistik deutet auf Einflüsse der Urartu-Kultur hin.

Aus der hellenistischen Epoche stammen Kunstwerke mit reichem Flechtwerkornament mit stilisierten Tiergestalten. Der Goldschatz aus Achalgori stammt aus dem 5. Jahrhundert n. Chr.

In der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts wurde das Christentum zur Staatsreligion erklärt. Es entstanden erste Kirchen, als zentrale Kuppelbauten oder langgestreckte dreischiffige Basiliken mit einer Kuppel über der Vierung, die eine Ähnlichkeit mit den frühromanischen Kirchenbauten Westeuropas aufwiesen. Die figuralen Basreliefs und steinerne Flechtwerkornamente beweisen die Fähigkeiten damaliger Steinmetze. In den Apsis-Halbkuppeln erschienen Mosaiken.

Im 10. Jahrhundert wird der Einfluss der arabischen und persischen Kultur sichtbar, besonders in der Stilistik der Miniaturmalerei von Handschriften. Die Freskenmalereientwickelte sich unter dem Einfluss der byzantinischen Kunst und wirkte sich im 12./13. Jahrhundert motivisch und stilistisch auch auf die Bemalung armenischer Kirchen aus, besonders der 1215 datierten Gregorkirche des Tigran Honents in Ani, der Hauptkirche des Klosters Kobayr (Ende 12. Jahrhundert) und der Muttergotteskirche (Surb Astvatsatsin) des Klosters Achtala (Anfang 13. Jahrhundert), die beiden letztgenannten in der armenischen Provinz Lori.

Die georgischen Goldschmiede schufen reich geschmückte Kultgegenstände, u.a. Reliquiare und Kruzifixe. Die Einbände der Gebetbücher wurden mit getriebenem Silberblech verkleidet. Als wertvollstes Kunstwerk dieser Art gilt der Einband des Berder Evangeliars – Werk von Beschken und Beka Opizari. Eine wichtige Rolle spielte die Kunst des Zellenschmelzes (cloisonné). Diese Technik fand bei der Schaffung des Marientriptychons aus Chachuli Anwendung.

Gleichzeitig mit dem Wachstum der georgischen Monarchie verfeinerte sich die georgische Kunst, bis zum Gipfel im 12. und 13. Jh. Vom 17. Jh. an begann der Niedergang des georgischen Staates – und auch der georgischen Kunst. Europäische Einflüsse werden bemerkbar.

Die russischen Einflüsse im 19. Jh. verursachten eine Abkehr von den Nationaltraditionen. Die georgischen Künstler besuchten die St. Petersburger Kunstakademie. Das Bürgertum fand Gefallen an der europäischen akademischen Kunst.

Sogar der naive Maler Niko Pirosmanaschwili (1860–1918) musste seine Bilder nach dem Geschmack seiner ungebildeten Kunden – Geschäfts- und Restaurantbesitzer – schaffen; trotzdem entstanden bedeutende Kunstwerke aus seiner Hand.

In der Sowjetzeit haben die georgischen Künstler es vermieden, die Regeln des Sozialistischen Realismus zu befolgen. Die georgische Kunst dieser Epoche bediente sich der Monumentalität statt des konventionellen Akademismus. Damals wurde die Treibarbeit im Kupferblech – die sog. Tschekanka – nach den uralten Vorbildern von den Künstlern neu entdeckt und erfreute sich großer Popularität.

Typische Motive der Literatur dieser Epoche sind die Helden des Aufbaus der sowjetischen Gesellschaft. Es herrscht ein „Arbeiter- und Arbeitskult“. Die beispielhafte Leistung, die durch die Industrialisierung eines bis dahin überwiegend agrarisch geprägten Landes durch die Menschen erbracht werden musste, benötigten Helden eines neuen, sowjetischen Typs. Piloten, Flugpioniere und Schiffsbesatzungen waren handelnde Personen. Später wurde, um die Verteidigungsbereitschaft gegenüber dem faschistischen Ausland zu stärken, eine enge Verbindung von Schriftstellern mit der Roten Armee aufgebaut. Bereits 1930 wurde die Literaturorganisation der Roten Armee (LOKAF) gegründet, der auch Maxim Gorki angehörte. Auch in anderen Bereichen wurden Literaturschaffenden ganz konkrete gesellschaftliche Aufgaben zugewiesen.

Eine Verschmelzung von klassischen Heldenepen (wie zum Beispiel Eugen Onegin) und bürgerlichem Roman (wie etwa Krieg und Frieden) führte zu der für den Sozialistischen Realismus typischen Gattung des Roman-Epos (Roman-Epopö). Hier wurden bedeutende historische Epochen mit den Einzelschicksalen ihrer Helden verknüpft und in epischer Breite dargestellt. Alexei Tolstoi mit seinem Epos Der Leidensweg oder Scholochows Der stille Don trugen zu dieser Gattung bei.

Eine weitere bedeutende Gattung des Sozialistischen Realismus, der Roman, gliederte sich in drei Nebenzweige:

Der kulturelle Umschwung war begleitet von rigoroser Zensur sowie Verfolgung und „Säuberungen“ nicht systemkonformer Literaten („Schädlinge“, „Volksfeinde“), wobei das Ausmaß der Verfolgung seinesgleichen suchte. Aufgrund von Archivfunden der Lubjanka wird geschätzt, dass insgesamt rund 2000 Schriftsteller verhaftet wurden, von denen 1500 entweder im Lager starben oder hingerichtet wurden. Typisch für eine diktatorische Herrschaft war dabei, dass Stalin bei allen Repressionen willkürlich auch einzelne Personen verschonte und sie geradezu unter seinen Schutz zu nehmen schien. Die Fokussierung der Verfolgungen auf Kulturschaffende (Formalismusstreit in der DDR) demonstriert die immense Bedeutung, die man diesem Personenkreis beimaß. Dem gegenüber stand ein umfassendes System von wirtschaftlicher Förderung der systemkonformen Literaturschaffenden: Wohnungs- und Datschenbeschaffungen, Sanatorienaufenthalte und eine Renten- und Krankenversicherung gehörten dazu. Der ungarische Komponist György Ligeti beschrieb die Lage so:

„So entstand in Budapest eine Kultur des ‚geschlossenen Zimmers‘, in der sich die Mehrheit der Künstler für die ‚innere Emigration‘ entschied. Offiziell wurde der ‚sozialistische Realismus‘ oktroyiert, d. h. eine billige Massenkunst mit vorgeschriebener politischer Propaganda. Moderne Kunst und Literatur wurden pauschal verboten, die reiche Sammlung französischer und ungarischer Impressionisten im Budapester Kunstmuseum beispielsweise hängte man einfach ab. […] Nicht genehme Bücher verschwanden aus Bibliotheken und Buchgeschäften (unter anderem wurden auch Don Quijote und Winnie the Pooh eingestampft). […] Geschrieben, komponiert, gemalt wurde im Geheimen und in der kaum vorhandenen Freizeit: Für die Schublade zu arbeiten galt als Ehre.“

Im Klima von Repressionen, Zensur und engen künstlerischen Dogmata konnten von der offiziellen Linie abweichende Arbeiten nur im Verborgenen entstehen und existieren. Trotz der „Säuberungen“ in den dreißiger Jahren schufen Dichter wie Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam, Andrej Platonow, Michail Bulgakow und andere bleibende Werke, die in ihrer Gesamtheit eine weitverzweigte Gegenströmung zu den literarischen Produkten des Sozialistischen Realismus bilden.

Im sowjetisch kontrollierten östlichen Deutschland, der SBZ, entstand unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine, der Kommunistischen Partei Deutschlands nahestehende Bewegung zum Aufbau eines sozialistisch geprägten Kulturbunds, aus dem später der Kulturbund der DDR wurde. Die Warnungen sowjetischer Politiker vor einer „Anhimmelung der bürgerlichen Literatur und Kunst, die sich im Zustand der Fäulnis und Zersetzung“ befänden, die „schädlich“ seien und in „Büchern und Zeitschriften keinen Platz finden“ dürften, gaben Politiker wie der spätere DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht direkt an die Mitglieder des Kulturbundes weiter. Anfang September 1948 kritisierte Ulbricht eine vom „Formalismus“ (siehe: Formalismusstreit) beherrschte Kunst, mit der man die Arbeiterschaft nicht erreichen könne. Er forderte von in der SED organisierten Künstlern eine „wirklich volkstümliche realistische Kunst“. Zwar sollten Künstler, die sich nicht danach richteten, nicht unter eine parteiinterne Säuberung fallen, „aber als Partei haben wir einen ganz bestimmten Standpunkt, den des Realismus, und dieser Standpunkt muss […] auf jede Weise durchgesetzt werden.“

Die sowjetische Militäradministration SMAD hatte eine eigene Kulturabteilung, deren Leiter, der russische Literaturwissenschaftler Alexander Lwowitsch Dymschitz, die Richtlinien für die neue Kunst in die SBZ trug. Individualismus, Subjektivismus, Emotionen und Fantasien seien Ausdruck bürgerlicher Dekadenz und somit abzulehnen. Sein am 19. November 1948 in der Zeitung Tägliche Rundschau erschienener Artikel gilt als Auslöser für eine Kehrtwende in der Kunst Ostdeutschlands im Sinne einer wenig später „sozialistischer Realismus“ genannten Doktrin. Zwei Wochen später wies die Abteilung „Parteischulung, Kultur und Erziehung“ der SED die Landesparteien an, Diskussionen über den Dymschitz-Artikel zu organisieren. Im Januar 1949 regte die SED an, die Dymschitz-Thesen auch auf andere Teile der Kunst als die Malerei auszudehnen. In zahlreichen Veranstaltungen, unter anderem auch des Kulturbunds, begannen nun verordnete Grundsatzdiskussionen mit, wie Magdalena Heider in ihrem Buch über den Kulturbund ausführt, auch vielen kritischen Stimmen. So hielten Teilnehmer einer Diskussionsveranstaltung des „Arbeitskreises Bildende Kunst im Kulturbund“ im thüringischen Hildburghausen die Einteilung von Kunst in richtig und falsch, in gut und böse, für falsch. „Die Brandmarkung als entartet bzw. dekadent“ erinnere an die NS-Zeit.

Einer der bekanntesten Georgier ist Otar Wassiljewitsch Taktakischwili. Er war ein georgischer Komponist.

Taktakischwili begann seine musikalische Ausbildung 1938 an der Musikfachschule in Tiflis. 1942 wechselte er an das dortige Konservatorium, um bis 1947 Komposition zu studieren. Schon während seiner Studienzeit machte er sich als Komponist einen Namen. 1947 ging er zunächst zur Staatskapelle der Georgischen SSR, wo er bis 1952 als Dirigent und anschließend bis 1956 als Direktor wirkte. Inzwischen hatte sich Taktakischwili nicht nur als georgischer Nationalkomponist, sondern auch als bedeutender sowjetischer Komponist etabliert. 1959 wurde er als Dozent ans Konservatorium in Tiflis berufen und war von 1962 bis 1965 dessen Direktor. Im Jahre 1966 wurde er Professor. Taktakischwili nahm Posten im georgischen und sowjetischen Komponistenverband wahr. Von 1965 bis 1984 war er georgischer Kulturminister. Immer wieder trat er als Dirigent vorwiegend eigener Werke international in Erscheinung. Taktakischwili erhielt zahlreiche Orden und Auszeichnungen; er war u.a. dreifacher Staatspreisträger und Träger des Leninordens.

Grundlage von Taktakischwilis Schaffen ist die georgische Volksmusik, an welche er sich in Melodiebildung, Harmonik und Rhythmik anlehnt. Teilweise werden sogar Volksmusikinstrumente imitiert. Taktakischwili bewegt sich im Rahmen einer modal eingefärbten Tonalität, die durch abrupte Tonartwechsel gekennzeichnet ist. Seine Frühwerke zeichnen sich stellenweise durch großes Pathos aus und folgen den Richtlinien des sozialistischen Realismus. Ihre Tonsprache ist sehr traditionell und bewegt sich überwiegend auf dem Boden der Musik des 19. Jahrhunderts. Seine ab Mitte der 1970er Jahre komponierten Werke wirken dagegen introvertierter und harmonisch freier, bleiben aber eindeutig tonal. Besonders in seinen späteren Werken lassen sich auch neoklassizistische Züge erkennen. Zu Lebzeiten hatte er großen Erfolg; seine Oper "Mindia" galt z.B. als eine der wichtigsten georgischen Opern. Er wurde als georgischer Nationalkomponist gefeiert und besaß internationale Reputation. Heute ist seine Musik allerdings weitgehend unbekannt.

Niko Pirosmani, geboren als Nikolos Pirosmanaschwili war ein georgischer Kunstmaler. Der Autodidakt malte Szenen aus dem georgischen Volksleben. Erst nach seinem Tode fand seine naive Kunst internationale Anerkennung.

Pirosmanis genaues Geburtsdatum ist unbekannt. Er war das jüngste von drei Kindern einer kachetischen Bauernfamilie. Die Familie besaß einen kleinen Weinberg, einige Kühe und Ochsen. Nach dem Tod des Vaters 1870 und bald darauf auch seiner Mutter brachte ihn seine Schwester nach Tiflis. 1872 trat er als Haushaltshilfe in die Dienste begüterter Familien, lernte georgisch und russisch lesen und schreiben, brachte sich selbst das Malen bei.

1890 arbeitete er als Schaffner bei der Georgischen Eisenbahn, eröffnete drei Jahre später mit einem Partner ein Milchgeschäft in Tiflis.

Etwa 1901 verließ er die Firma, lebte obdachlos im Bahnhofsviertel von Tiflis. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit dem Malen von Kneipenschildern und Gelegenheitsarbeiten. Er tauschte seine Gemälde in den Kaschemmen gegen Essen, Trinken oder einen warmen Platz zum Übernachten ein.

Pirosmani starb am 9. April 1918 an Unterernährung und Leberversagen. Zuvor hatte er drei Tage lang krank und hilflos in einem Keller gelegen. Er wurde auf dem St.-Nino-Friedhof begraben. Die genaue Lage des Grabs ist mangels Registrierung unbekannt.

Pirosmani malte in naiver Manier Menschen vom Lande bei der Arbeit, beim Feiern, bei der Jagd und mit ihren Kindern. Es entstanden Porträts von historischen Persönlichkeiten, Prostituierten, Stillleben, Gemälde von georgischen Landschaften und Tieren. Farben und Tiere drückten für ihn Stimmungen und Tugenden aus. Je nach finanzieller Lage malte er in Öl auf Leinwand, Karton oder Eisenplatten. Eines der bekanntesten Bilder ist Die Schauspielerin Margerita. Es galt der französischen Sängerin Margot de Sèvres, die Pirosmani liebte und mit Blumen überhäufte.

1912 wurde er von den russischen Futuristen Kyrill und Ilja Zdanevič sowie Michail Le-Dantju entdeckt. Auf einer Ausstellung naiver Malerei in Moskau im Januar 1913 wurden vier seiner Gemälde erstmals öffentlich vorgestellt. Die georgische Tageszeitung Temi berichtete über ihn.

1916 wurde er auf Betreiben des Kunstsammlers Dito Schewardnadse zur Gesellschaft der Bildenden Künste in Tiflis eingeladen. Im gleichen Jahr organisierten die Brüder Kyrill und Ilya Zdanevič im Hause ihrer Eltern in Tiflis eine Gesamtschau der Werke Pirosmanis.

Ihren internationalen Durchbruch erfuhr die Kunst Pirosmanis erst nach dessen Tode. Kunsthistorikern gilt er neben dem französischen Maler Henri Rousseau heute als wichtigster Exponent der naiven Malerei. 1972 zeichnete Pablo Picasso ein Porträt seines georgischen Kollegen für eine Buchveröffentlichung. Die UNESCO entschied, 1996 zum Jahr Pirosmanis zu erklären.

Die Mehrzahl seiner Bilder hängt im Staatlichen Museum der Künste in Tiflis. Darunter die Gemälde Zecherei, Die Schauspielerin Margerita sowie Kinderloser Reicher und kinderreicher Armer.

Die Stadt Tiflis hat ihm 1975 in einer Grünanlage an der Gorgassalistraße ein Denkmal errichtet. Niko Pirosmanis Porträt ist auf der Vorderseite der aktuellen georgischen 1-Lari-Banknote abgebildet; die Rückseite ziert ein von ihm 1913 gemalter Hirsch

Die Stadt Kutaissi hat 200.611 Einwohner (Volkszählung 2013) und dehnt sich über 60 km² aus. Sie liegt in der Kolchischen Tiefebene am Ufer des Rioni und ist das wirtschaftliche, industrielle und kulturelle Zentrum West-Georgiens. Seit Mai 2012 tagt das Parlament Georgiens in einem neuerrichteten spektakulären Gebäude in Kutaissi.

Im 8. Jahrhundert v. Chr. war Kutaia die Hauptstadt der Kolchis. Der Name der Stadt entstammt dem altgeorgischen Wort kuata und bedeutet „steinig“. Im 3. Jahrhundert v. Chr. wurde die Stadt im Poem Argonautika von Apollonios von Rhodos erwähnt.

792 machte der abchasische König Leon sie zu seiner Residenz. Vom 10. Jahrhundert bis 1122 war Kutaissi die Residenz der georgischen Könige. Im 13., 15. und 16. Jahrhundert war Kutaissi die Hauptstadt des westgeorgischen Königreichs Imeretien. 1666 wurde Kutaissi von den Osmanen erobert. 1769 vertrieben russische Korps unter General Tottleben sie aus der Stadt. 1810 wurde Kutaissi durch Russland annektiert und Hauptstadt der gleichnamigen Provinz.

1877 erhielt die Stadt mit einer 8 km langen Stichstrecke vom Abzweigbahnhof Rioni an der Bahnstrecke Tiflis–Poti einen Eisenbahnanschluss. In den georgischen Gründerjahren 1880 bis 1900 wuchs die Einwohnerzahl Kutaissis auf 32.500. Der Herzog von Oldenburg, ein Verwandter des russischen Zaren. errichtete eine Sekt- und Branntweinfabrik, der russische Unternehmer Iwanowski eine Saftkelterei und Mineralwasserproduktion. 1883 lebten 13.000 Einwohner vom Handel.

1921 war Kutaissi für 14 Tage Sitz der menschewistischen Regierung der Demokratischen Republik Georgien, die von der Roten Armee aus Tiflis vertrieben worden war. Am 10. März 1921 wurde auch Kutaissi von der Roten Armee besetzt.

Größte Arbeitgeber der Stadt sind die Akaki Zereteli Universität und die Nikolos Muschelischwili Technische Universität, die Georgische Akademie der Wissenschaften, die nahegelegene Wasserkraftwerkskaskade Warziche, Auto-, Traktor-, Flugzeug- und Chemiefabriken. 1951 wurde das Kutaissier Automobilwerk (KAS) gegründet. Es produziert bis zum Ende der Sowjetunion Lastkraftwagen.

Kutaissi verfügt über fünf Theater, darunter ein dramatisches, ein komödiantisches und ein Maskentheater, ein Opernhaus und eine Musikhochschule.

Das 1840 gegründete Georgische Gymnasium Kutaissi (heute Akaki Zereteli Klassisches Gymnasium) brachte Persönlichkeiten von Weltruf, wie den Linguisten Nikolai Marr, den Psychologen Dimitri Usnadse, die Dichter Wladimir Majakowski und Grigol Robakidse sowie Georgiens Parlamentspräsidentin Nino Burdschanadse und den Geschäftsmann Shalva Tschigirinsky hervor.

Kutaissi liegt an zwei Eisenbahnstrecken, die beide von der Strecke Poti–Baku abzweigen, der Bahnstrecke Rioni–Tqibuli und der Bahnstrecke Brozeula–Zqaltubo. An ersterer liegt der Bahnhof Kutaissi Tschawtschawadsis Kutscha, ein Kopfbahnhof im Fahrplan auch als „Kutaissi 1“ bezeichnet. An der zweiten Strecke liegt der Bahnhof „Kutaissi 2“. Der Personenverkehr wird weit überwiegend über den Bahnhof Kutaissi 1 abgewickelt. Lediglich die Strecke nach Zqaltubo wird von Kutaissi 2 aus mit Nahverkehrszügen bedient, ein Zugpaar ist von dort nach Kutaissi 1 durchgebunden.

Das mittelalterliche Stadtbild ist noch heute sichtbar. Zu den Sehenswürdigkeiten zählt die Bagrati-Kathedrale, 1003 vom georgischen König Bagrat III. erbaut und vom türkischen Sultan 1696 gesprengt. Die Kathedrale wurde mittlerweile vollständig rekonstruiert. Sie steht heute auf der UNESCO-Welterbeliste. Nahe der Kirche liegen die Ruinen der Stadtfestung und des Königspalastes. Ebenfalls zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört die Klosteranlage Gelati unweit der Stadt.

Mangels staatlicher Mittel sind verschiedene historische Sehenswürdigkeiten Kutaissis baufällig. Die im 18. Jahrhundert erbaute Weiße Brücke über den Rioni-Fluss musste im Juni 2004 wegen Einsturzgefahr für Fahrzeuge geschlossen werden.

In der Umgebung der Stadt liegen der Naturpark Sataplia sowie die Ruinen mehrerer alter Festungen, darunter der Festen Tamar und Warziche (dt. Rosenburg). Die Georgier nennen Kutaissi auch die Stadt der Rosen und des Mai.

In Kutaissi stand bis Dezember 2009 ein Denkmal zur Erinnerung an die im Zweiten Weltkrieg über 200.000 gefallenen Soldaten Georgiens. Dieses Bauwerk bestand aus einem 46 Meter hohen Hauptblock aus Stahlbeton, der eine überdimensionierten Torbogen symbolisierte. In seinem tympanonartigen Feld war ein überdimensionales Flachrelief aus Bronze mit figuralen Szenen angeordnet. Darüber lag eine horizontal verlaufende Bogengalerie, die über eine Treppe erreichbar war und als Aussichtspunkt diente. Am oberen gewölbten Abschluss befand sich eine Gruppe aus vereinzelten Bronzefiguren. Eine einzeln angeordnete Reiterstatue aus Bronze wurde abtransportiert und unweit vom alten Standort aufgestellt. Das Ensemble war ein Werk des georgischen Bildhauers Merab Berdsenischwili.Das Monument wurde am 19. Dezember 2009 gesprengt. Dabei kamen eine Frau und ihr Kind durch über 200 Meter weit geschleuderten Fragmente ums Leben. Im Vorfeld hatte es zwischen Georgien und Russland einen Austausch diplomatischer Protestnoten gegeben, weil der Umgang mit dem Denkmal strittig war und in der Öffentlichkeit beider Länder geführt wurde. Eine Wiedererrichtung in Moskau wurde ebenso öffentlich diskutiert. Auf der freigewordenen Fläche wurde 2012 das neue nationale Parlamentsgebäude Georgiens errichtet.

Die Region "Kaukasien" gliedert sich in fünf Naturräume: das nördliche Kaukasusvorland, den "Großen Kaukasus", die Transkaukasische Senke, den "Kleinen Kaukasus" und das Hochland von Armenien. Ihre spezifische geopolitische Lage und die äußerst wechselvolle Geschichte an den Peripherien mehrerer Großreiche hat sie, die zwei Prozent des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion mit ca. 30 Millionen Menschen umfasst, kulturräumlich zu einer äußerst interessanten Nahtstelle zwischen Europa und Asien werden lassen. Die räumliche und zum Teil zeitliche Überlagerung der verschiedenen äußeren Einflüsse und inneren Entwicklungen einerseits und die Interferenz ethnischer und konfessioneller Zugehörigkeiten andererseits bedingen den Übergangscharakter des Raumes und sind für eine Struktur verantwortlich, die bezüglich ihrer Heterogenität ihresgleichen sucht. Wer heute also von "Kaukasien" spricht und damit vor allem Erdöl, geopolitische Machtinteressen und bewaffnete Konflikte verbindet, verkennt nicht nur das Potential und die Probleme der Region, sondern auch die Herausforderung für eine Analyse von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Völker Kaukasiens. "Die historischen, kulturellen, wirtschaftlichen, religiösen, ethnischen und nicht zuletzt politischen Schichten, die (...) einander überlagern und durchdringen, sind zu facettenreich und komplex, als dass man sie auf einen gemeinsamen Nenner bringen könnte." Trotz dieser Schwierigkeit sollen nachfolgend Grundzüge der historischen Entwicklung dieser Region aufgezeigt werden.

Nordkaukasien stellt hinsichtlich seiner räumlichen Gliederung, seiner Sprachen- und Völkervielfalt und kulturellen und politischen Geschichte die differenzierteste Region im postsozialistischen Raum dar. Innerkaukasische Wanderungen unter dem Druck stärkerer Nachbarn oder schwindender Lebensgrundlagen, die Zuwanderung iranischer und turksprachiger Volkgruppen, Um- und Aussiedlungen haben die gegenwärtige ethnische und religiöse Struktur geprägt: Tscherkessen setzten sich gegen Kimmerer und Skythen zur Wehr, Sarmaten und Hunnen (6./7. Jh.) breiteten sich wie Araber (8. Jh.), turksprachige Kiptschaken (9.-13. Jh.), Nogaier und Krimtataren (15./16. Jh.), buddhistische Kalmyken (17. Jh.) und schließlich Kosaken und Siedler aus den zentralrussischen Gebieten aus. Waren nordkaukasische Völker in größere staatliche Zusammenhänge integriert, dann in externe Reichsbildungen wie das Chazarische Chanat (7.-9. Jh.), das Imperium der Goldenen Horde (13.-15. Jh.) oder das Krim-Chanat (15.-18. Jh.). In enger Verbindung mit den religiösen Verhältnissen in den jeweiligen externen Zentren steht die Frage der konfessionellen Zugehörigkeit. Neben heidnischem Volksglauben breiteten sich Judentum, Christentum und Islam in verschiedenen Wellen aus. Letzterer setzte sich insbesondere im Osten (Inguschetien bis Dagestan) in einer stark von sufischen Bruderschaftstraditionen geprägten Form durch, die das Phänomen der geistlichen Lehrer-Schüler-Beziehungen mit traditionellen Strukturen von Ziehvaterschaft, Ehrenkodex und Gefolgschaft verwob. Bis auf die Osseten, die zum Teil der russisch-orthodoxen Kirche angehören, sind die namensgebenden Nationalitäten der "Gebirgsrepubliken" mehrheitlich kaukasisch- und turksprachig und muslimisch, während der Anteil der russischen und überwiegend christlich-orthodoxen Bevölkerung stark rückläufig ist. Sie zogen - wie auch tausende Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten Süd- und Nordkaukasiens - vor allem in die vorgelagerten südrussischen Gebiete, die über deutliche russische Bevölkerungsmehrheiten verfügen und stark in einer kosakischen (Wehr-)Tradition stehen. Dieser Befund bietet nicht nur eine breite Basis für Diskussionen um die Frage, welche Volksgruppen wo als "autochthon" und welche als "zugewandert" gelten sollen und entsprechend längere bis gar keine Rechte auf Besitz und bürgerliche Gleichbehandlung beanspruchen dürfen, sondern führt zu einem politisch manipulierbaren Verhältnis zwischen der slawischen Bevölkerung und den Kaukasiern, die oft als Cernye ("Schwarze") und "Zugewanderte" gelten. Nirgendwo im Russischen Reich war die Unterwerfung nichtrussischer Völker so stark von Gewalt und Gegengewalt geprägt wie im Nordkaukasus, wo sich Russland seit Mitte des 18. Jahrhunderts zwischen die (krimtatarisch-)osmanischen und persischen Interessengebiete schob. Die Muridenbewegung unter Scheich Schamil versuchte im Namen des Islam die Gorcy (Bergbewohner) in einem Imamat zu vereinen und leistete den russischen Truppen in den 1830/40er Jahren erfolgreich Widerstand. Große Gebiete Nordkaukasiens wurden erst bis 1859 (Gefangennahme Scheich Schamils) bzw. 1864 (Tscherkessenvertreibung) leidlich unter russische Kontrolle gebracht, wofür Russland einen hohen Preis zahlte: ca. 350.000 Soldaten waren zuletzt im Einsatz, die Kosten der Kaukasuskriege übertrafen die des britischen Kolonialkrieges in Indien. Mit dem Jahr 1864, das als das Jahr der Unterwerfung der gesamten Region unter zarische Herrschaft gilt, wurde ein Prozess der "Internationalisierung" kaukasischer Konflikte manifest. Die Tscherkessen, bis dahin die zahlenmäßig stärkste Volksgruppe im Nordkaukasus, wurden bis auf einen geringen Überrest (1897: 44.000) aus ihrer Heimat vertrieben. Mehr als eine Million kaukasische Muslime flohen in Gebiete des Osmanischen Reiches. Flucht und Vertreibung und die Entstehung neuer Diasporagruppen im Ausland wurden zunehmend zu einem Faktor internationaler Politik, während sich unter anderem Russen, Ukrainer, Griechen, Armenier, Georgier und vereinzelt Deutsche in den Gebieten niederließen bzw. gezielt dort angesiedelt wurden. Gewaltbedingte Migrationsströme gab es auch im 20. Jahrhundert: Kosaken stellten die erste Volksgruppe, welche - als Kollektivstrafe - infolge der Bürgerkriege durch die Bolschewiki umgesiedelt wurden. Die Zwangskollektivierung ab 1929 war verbunden mit Umsiedlungen der Bergbewohner in die Täler und Ebenen, die "Stalin'schen Säuberungen" der 1930er Jahre dezimierten die im Zuge der Lenin'schen nationalen "Einwurzelungspolitik" geförderten nationalen Eliten entscheidend und leiteten den Prozess der Liquidierung einheimischer (Bildungs-, Glaubens-, Verwaltungs-)Institutionen über in einen sowjetischen Unifizierungs- und Russifizierungskurs. Die Folge war jedoch nicht ein Verschwinden, sondern eine Deformierung und Verdrängung in Bereiche, die sich der Kontrolle entzogen. Widerstand äußerte sich letztlich auch in der Beteiligung an Freiwilligenverbänden der deutschen Wehrmacht.Das deutsche Vordringen bis zum Elbrus, dem höchsten Berg im Kaukasus, diente dann auch als Vorwand, ganze Völkerschaften der Kollaboration zu bezichtigen und sie zu deportieren: Karatschaier vom November 1943 bis Februar 1944 (ca. 70.000 Deportierte), im Februar 1944 folgten Tschetschenen und Inguschen (380.000 bzw. 91.000) und im März 1944 Balkaren (ca. 37.000). Im Ergebnis nahm allein die Zahl der Tschetschenen um zwischen 1939 und 1959 um 22 Prozent ab und liefert dem tschetschenischen Widerstand bis heute das Argument, um von "Völkermord" zu sprechen und eine Kontinuitätslinie der russischen Gewalt gegen die Bergvölker vom 19. bis ins 21. Jahrhundert zu ziehen. Auch nach ihrer Rehabilitierung und Rückkehr in den Kaukasus dominierte die russische Nomenklatur bis zum Ende der Sowjetunion und ließ nur partiell Nordkaukasier an der Macht und den Ressourcen partizipieren. Konflikte waren auf diese Weise vorprogrammiert, kamen jedoch erst im Kontext des Niedergangs der Zentralgewalt zum Ausbruch. In ihrer ersten Phase ging es vor allem um nationale Autonomie und Unabhängigkeit. Nach zwei Kriegen, die Russland zuletzt in Tschetschenien geführt hat (1994 - 1996/97 und 1999 - 2000), gilt insbesondere Nordostkaukasien als politische und sozioökonomische Notstandsregion, in der mit Sondervollmachten regiert wird, eine hohe Dichte von Militärs und Geheimdienstlern ständig präsent ist und islamistische Attentate Ängste schüren. "Zu den merkwürdigsten Gegenden und zu den unbekannteren der alten Welt gehört der Kaukasus, der mit seinen langen schneebedeckten Rücken Asien und Europa trennend, als Grenzscheide beider Welten dasteht (...)", bemerkte der Orientalist Julius Klaproth in seinem Bericht über eine Kaukasusreise, die er 1807/08 unternommen hatte. So unbekannt war Kaukasien indes schon lange nicht mehr. Die fruchtbaren Täler des Südkaukasus waren bereits seit vielen Jahrhunderten eine Brücke zwischen den Kulturen des Mittelmeerraumes und Innerasien. Nicht weit von hier lag der biblische Garten Eden, der Berg Ararat mit Noahs Arche. Herodot, Strabo oder Plinius beschrieben die Bräuche im Kaukasus, wo Prometheus, Kulturstifter und Feuerbringer, von Zeus gefesselt für seine Taten büßen sollte. Hier lag das sagenumwobene Kolchis der Griechen, das Land Medeas und des Goldenen Vlieses. Und als Bestandteil der griechischen Mythologie und der biblischen Geschichte war Kaukasien in den Wissensschatz der Westeuropäer eingegangen, bevor die Herrschaft der Goldenen Horde und das Osmanische Vordringen nach Mitteleuropa diese Kenntnisse "verschütteten". Galt den antiken Menschen der Kaukasus noch als Ende der Welt, als Nachbar der Sterne, so wurde spätestens seit Alexander dem Großen, der 325 v. Chr. bis an den Indus gelangte, der Kaukasus zu einer Trennlinie, die zwischen den Steppenvölkern im Norden und den sesshaften Stämmen im Süden gezogen wurde. Gerade hier im Süden, in den fruchtbaren Ebenen und an den Küsten des Schwarzen und Kaspischen Meeres fanden sich blühende Stadtkulturen, die von der Lage in der Transitregion profitierten. Handel und Handwerk konnten sich auf natürliche Rohstoffe wie Gold, Silber, Kupfer und Edelgehölze gründen, was zugleich Begehrlichkeiten konkurrierender regionaler Potentaten und benachbarter Großreiche weckte. In der Peripherie der Hegemonialmächte Rom und Persien/Parthia gab es auch immer wieder Freiräume für frühstaatliche Entwicklungen, die mit Begriffen wie Kolchis/Egrisi, Iberia/Kartli, Albania und Armenia hier nur angedeutet werden können. Die Festigung von lokalen Stammesbünden und die Schaffung frühfeudaler Königsdynastien, ihre Emanzipation im Spannungsfeld zwischen Persien (Sassaniden) und Rom verlangte zugleich nach geistlicher Einheit, wofür das Christentum offensichtlich eine bessere Basis bot als heidnische Volkskulte, Zoroastrismus und Mazdaismus. Mittels früher Bibelübersetzungen wurden die Kirchen zur Integrationsinstanz, die auch in Zeiten der Fremdherrschaft Orientierung bot und kulturelle Identität durch die Zeiten trug. Der Armenisch-Apostolischen Kirche gehören heute fast 90 Prozent der Bevölkerung der Republik Armenien an. Eine Turkifizierung und eine neue Welle der Islamisierung großer Teile Kaukasiens brachten dagegen das Vordringen der Seldschuken (1038 - 1194) und der Mongolen (1222) sowie die Herrschaftszeit der "Goldenen Horde" (1237 - 1480) mit sich. Während im Ringen um das Erbe der Goldenen Horde die Osmanen am Schwarzen Meer und im Nordkaukasus an Einfluss gewannen, trugen die safawidischen Herrscher Irans (1501 - 1722) den 12er schiitischen Islam nach Südkaukasien, der bis heute von der Mehrzahl der Muslime in Aserbaidschan praktiziert wird. Bereits hier zeigt sich eine Kontinuitätslinie, die sich durch die gesamte Geschichte zieht: in Südkaukasien stabilisierten sich die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse jeweils nur dann, wenn der Einfluss der Nachbarreiche zurück ging und äußere Eingriffe in die Vielfalt der gesellschaftlichen Verhältnisse der Region abgewendet werden konnten. Leider gab es derartige "Auszeiten" relativ selten und doch brachten sie "goldene Zeitalter" hervor, die auch mit eigenen Ambitionen zur Expansion verbunden waren. Sie sind heute wichtige kollektive Bezugspunkte georgischer, armenischer und aserbaidschanischer Identität. Während sich jedoch das Osmanische und das Persische Reich konkurrierend um eine weitere Machtausdehnung bemühten und die Parteien im 16./17. Jahrhundert ihre Einflusssphären ständig neu aufteilten, erstarkte im Norden seit der Eroberung von Kazan und Astrachan (1552/56) das Moskowiter Reich als neuer Kontrahent um das Erbe der Goldenen Horde und Byzanz. Begann der russische Vorstoß nach Nordkaukasien bereits im 16. Jahrhundert mit der Gründung von Kosakengemeinden am Terek und Kuban, sollte es jedoch noch bis in das 18. Jahrhundert hinein dauern, bis sich Russland in Südkaukasien festsetzen konnte. Kein geringerer als Peter der Große (1672 - 1725) unternahm 1722 mit seinen Truppen einen ersten "Kaukasusfeldzug" unter dem Vorwand, den Persern gegen die Osmanen beizustehen, musste sich jedoch wieder zurückziehen. Erst unter Katharina II. (1729 - 1796), die im Vertrag von Kücük Kaynardschy (1774) die Krim für unabhängig (1783 annektiert) sowie die Kleine und Große Kabardei zu Russland gehörig erklären ließ, war die Eroberungspolitik dauerhaft erfolgreich. Die Gründung der Festung Wladikawkaz ("Beherrsche den Kaukasus") 1784 wurde zum Programm: 1801 wurde Georgien annektiert, bis 1813 folgten als Ergebnis des ersten Russisch-Persischen Krieges (Vertrag von Gülestan) und diverser Verträge mit den Lokalfürsten die Chanate von Karabach, Gäncä, Scheki, Schirwan, Derbend, Kuba, Baku und Talysch sowie Dagestan und Gurien, bis 1828/29 die Chanate Nachitschewan und Eriwan (Vertrag von Turkmantschaj), sowie Anapa, Achalcych, Acchur und Achalkalaki (Vertrag von Adrianopel).

Für die Völker Kaukasiens ist festzuhalten, dass sie am Ende des 18. bzw. zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1918 letztmalig als Subjekte internationalen Rechts in Erscheinung traten. Kaukasien war endgültig zum Objekt geopolitischer Konkurrenz und kolonialistischer Politik geworden. Russlands Kaukasienpolitik, die auf einem zivilisatorischen Missionsanspruch fußte und dabei christliche Volksgruppen den muslimischen als potentielle Bündnispartner vorzog, war bis 1917 unter anderem geprägt von:

Zwar gewannen auch die Ressourcen der Region eine herausragende Bedeutung, aber dominant blieb dennoch die geopolitische Rolle der Region - ihre Brückenfunktion zwischen Europa und Asien, die Russland im Gleichklang mit Frankreich und besonders Großbritannien zur "nahöstlichen" Kolonialmacht machte. Vor dem Hintergrund der Herausbildung neuer Eliten, deren "Europäisierung" über russische und westeuropäische Bildungsstätten sowie internationale Handelskontakte auch eine moderne Nationsidee förderte, formierten sich mit Beginn des 20. Jahrhunderts Nationalbewegungen. Die Versuche der Bildung einer "transkaukasischen Regierung" nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches scheiterten und mündeten 1918 schließlich in die Gründung unabhängiger demokratischer Republiken (Georgien: 26. Mai; Armenien und Aserbaidschan: 28. Mai), deren Grenzen jedoch von Beginn an umstritten waren. Kämpfe um die Macht polarisierten sich nach ethnisch-konfessionellen Kriterien und forderten schreckliche Opfer unter der Zivilbevölkerung. Bündnisse mit Deutschland (Georgien), dem Osmanischen Reich (Aserbaidschan) und der Entente (Armenien) sollten die Unabhängigkeit sichern, doch diese endete bereits 1920 bzw. 1921 (Georgien) mit der Auflösung der jungen Republiken. Der Sowjetisierung 1920/21 folgte bis 1936 der Versuch, die drei südkaukasischen Republiken in einer "Transkaukasischen Föderation" zusammenzufassen. Nach dem Prinzip der russischen Matroschka (ineinander geschachtelte Holzpuppen), wurden Autonome Gebiete, Bezirke und Kreise eingerichtet, die der Förderung der verschiedenen Volksgruppen dienen sollten, jedoch in keinem Fall ethnisch-konfessionellen Grenzen entsprachen. Einer anfänglichen Phase der Förderung einheimischer Sprachen, Kultur und der Toleranz von Glaubensbekenntnissen folgte eine Zeit, in der sich diesmal die Bolschewiki in der Rolle (nun sozialistischer) "Zivilisatoren" sahen. Auch wenn zahlreiche Kaukasier in Führungsspitzen von Partei, Regierung und Geheimdienst aufstiegen und den Stil der Staatsführung mitbestimmten, überlagerten, deformierten und zerbrachen atheistische Religionspolitik (ab Mitte der 1920er Jahre), Zwangskollektivierung und Industrialisierung (nach 1929) sowie Massenterror (1936 - 38) die kaukasischen Lebenswelten. Einer "Enthauptung" bürgerlicher Eliten und der ersten Generation nationaler Kader während der "Stalin'schen Säuberungen" folgten neue Funktionseliten (Nomenklatura) auf allen Ebenen des Partei- und Staatsapparates, das Entstehen einer multiethnischen Industriearbeiterschaft und eine neue Welle der Russifizierung. Der Zweite Weltkrieg und das gemeinsame Schicksal in den Reihen der Roten Armee förderten zwar - wie der zweite Erdölboom im Bakuer Revier durch den Beginn der Offshoreförderung ab 1949 - die Integration der "Peripherie", aber Kaukasien blieb außerhalb der Region oftmals ein Synonym für "Wildheit", "Schattenwirtschaft", "Korruption" und "Exotik", ein Raum, der kontrolliert, gezügelt, ja beherrscht werden musste, um die gelegten Feuerstätten und unterdrückten Konflikte nicht ausbrechen zu lassen. Tatsächlich formierten sich in den 1960er/70er Jahren Dissidentengruppen, welche die Auseinandersetzung um die Sprache und das kulturelle Erbe mit Fragen der Bürger- und Menschenrechte verbanden und die Zeit von Glasnost und Perstrojka nutzten, um nationale Interessen mit politischen Forderungen zu verbinden. In Kaukasien fanden nicht nur die blutigsten Kämpfe zwischen Bevölkerung und Roter Armee statt (Tbilissi bzw. Tiflis 19. April 1989, Baku 19./20 Januar 1990), sondern sie übertrafen die Ereignisse im Baltikum sowohl hinsichtlich ihrer Dauer als auch ihrer Ausmaße. Flüchtlings- und Migrationsströme wurden in Gang gesetzt, welche Schätzungen zufolge mindestens drei Millionen Menschen in Bewegung setzten und die ethnische, religiöse und soziale Struktur einer ganzen Region veränderten. Wenn es auch Unterschiede in der Motivation und der Gewichtung der Forderungen gab, so ist die Überlagerung verschiedener Konfliktebenen und -typen als charakteristisch für den Weg der drei südkaukasischen Staaten in die Unabhängigkeit zu bezeichnen: Das Ringen um größere Souveränität gegenüber der Moskauer Zentralgewalt ging einher mit vertikalen Konflikten zwischen Republiksgewalten und nationalen Gebietskörperschaften (Autonomen Republiken oder Gebieten), und der Ausbruch horizontaler Konflikte zwischen verschiedenen Ethnien war begleitet von politischen Kämpfen innerhalb der nationalen Eliten. Im Mai 1990 trat Swiad Gamsachurdia mit dem Wahlbündnis "Runder Tisch - Freies Georgien" als einziger Radikaler zu den Wahlen zum Obersten Sowjet Georgiens an und führte seinen Wahlkampf unter einer dunkelrot-schwarz-weißen Flagge, die bereits 1918 - 1921 Staatssymbol der Demokratischen Republik Georgien gewesen war. Rot stand für eine leuchtende Vergangenheit, Schwarz für die dunklen Erfahrungen unter russischer und sowjetischer Herrschaft und Weiß für die Hoffnungen auf eine friedliche Zukunft. Sicher ahnte zu dieser Zeit niemand, dass damit auch die Hauptprobleme der zukünftigen Entwicklung symbolisiert wurden: das stark mythologisierte historische Selbstverständnis als "alte georgische Kulturnation" stand im Gegensatz zu den geringen Erfahrungen moderner Staatsbürgerschaft. Das Verhältnis zur russisch-sowjetischen Vergangenheit blieb zwiespältig und setzte sich auf der außenpolitischen Ebene gegenüber der Russländischen Föderation in einem Konfrontationskurs fort. Die Hoffnung auf einen einheitlichen Nationalstaat in Frieden blieb Fiktion - die Auflehnung gegen Fremdbestimmung und Zentralismus mündete in einen Bruderkrieg. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage ging mit der Ethnisierung politischer und sozialer Konflikte einher. Bereits im März 1989 kam es zu Forderungen nach russischem Schutz für die Wahrung der autonomen Rechte Abchasiens gegenüber der Zentralmacht in Tbilissi. Gegenseitige Vorwürfe und abchasisch-georgische Übergriffe waren die Folge. Das Thema wurde zum zentralen Thema der Nationalbewegung. Am 26. August 1990 erklärte der Oberste Sowjet Abchasiens in Suchumi die Wiedereinsetzung der Verfassung von 1925 (und damit de facto die Unabhängigkeit), während Gamsachurdias Wahlbündnis die Wahlen gewann. Am 9. April 1991 erklärte Georgien seine Unabhängigkeit. Einen Monat darauf wurde Gamsachurdia mit 86 Prozent der Wählerstimmen zum ersten Präsidenten der Republik gewählt. Dieser unterdrückte in den folgenden Monaten sowohl die radikal-nationalistische als auch die demokratische Opposition, schränkte die Pressefreiheit ein und behandelte jede Kritik an seinem autoritären Regierungsstil als Majestätsbeleidigung und Vaterlandsverrat. Sein repressiver Kurs gegenüber ethnischen Minderheiten wirkte zusätzlich konfliktverschärfend. Spätestens seit Oktober 1991 starben Georgier an zwei Fronten: beim Sturz Gamsachurdias durch die putschende Nationalgarde und im Bruderkrieg in Abchasien. Auch der von der "Demokratischen Bewegung Georgiens" am 5. März 1992 eingesetzte militärische Staatsrat unter Vorsitz des ehemaligen sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse, der 1995 zum zweiten georgischen Präsidenten gewählt wurde, konnte die Situation nur allmählich entspannen. Nach einer gewissen Stabilisierung der politischen Verhältnisse zeigte sich erneut die "Kinderkrankheit" der Nationalbewegung: Von 54 bei den Parlamentwahlen 1995 angetretenen Parteien konnten nur drei mehr als fünf Prozent der Stimmen gewinnen. Die Zersplitterung nach pragmatischen Gesichtpunkten und in der Form von "persönlichen Gefolgschafts-" oder "Bruderschaftsparteien" setzte sich fort. Opposition, Parlament und Medien erwiesen sich als zu schwach, um die Macht des Präsidenten zu kontrollieren geschweige denn einzudämmen. Attentatsversuche gegen Schewardnadse, dem ein "Verzicht auf Abchasien", "Abhängigkeit von Russland" und Verfolgung politischer Dissidenten vorgeworfen wurde, verdeutlichten eine Radikalisierung politischer Gruppierungen und boten immer wieder Vorwände für die Wiederbelebung von Patronage- und Loyalitätsnetzwerken der Sowjetzeit und eine Monopolisierung der Macht. Spätestens seit Herbst 2001 veränderte sich die Parteienlandschaft zuungunsten des Präsidenten. Seine Anhängerschaft zersplitterte sich so, dass sie im Parlament ständig um neue Mehrheiten ringen musste, und Mehrheitsverhältnisse im Vorfeld der Parlamentswahlen 2003 nicht eindeutig bestimmbar waren. Wurde Georgien lange Zeit von europäischer (vor allem deutscher) Seite als primärer Partner in der Region angesehen, geriet die Regierung wegen Korruption und Reformstau zunehmend unter Kritik. Die spürbare Verarmung der großen Mehrheit der Bevölkerung bei gleichzeitiger Bereicherung von wenigen Clans, die zusätzlichen Belastungen des sozialen Netzes durch ca. 230.000 Flüchtlinge und nicht zuletzt die ungelösten Territorialkonflikte und das gespannte russisch-georgische Verhältnis setzen einen Protest breiter Bevölkerungsteile frei, an dessen Spitze sich die "jungen Reformer" (zum Teil politische "Ziehkinder" Schewardnadses) Michail Saakaschwili ("Nationale Bewegung"), Zurab Schwania ("Vereinigte Demokraten") und Nino Burdschanadse setzten. Als es in Folge der undemokratischen Parlamentswahlen am 2. November 2003 zu Massendemonstrationen kam, die am 22./23. November 2003 in der Stürmung der konstituierenden Sitzung des Parlaments kulminierten, trat Schewardnadse zurück. In den durch die "Rosenrevolution" notwendig gewordenen Neuwahlen im Januar 2004 wurde Saakaschwili mit rund 96 Prozent der abgegebenen Stimmen zum Staatspräsidenten gewählt. Trotz einiger Teilerfolge (Beilegung der Spannungen mit Adscharien, Schließung russischer Militärstützpunkte, Antikorruptionskampagnen in Polizei und Armee, Investitionsförderung, Infrastrukturprojekte, Stabilisierung des Staatsbudgets, Wirtschaftswachstum, erstmalig Kommunal- und Lokalwahlen) und einer gezielten Orientierung nach Westen (Bitte um Aufnahme in die NATO und EU) geriet auch Saakaschwili immer stärker in die Kritik. Die Verfassungsänderung von 2004 schrieb eine fast uneingeschränkte Macht des Präsidenten fest und wurde als Übergang von einem "semi-präsidentiellen" zu einem "super-präsidentiellen" System gewertet. Vor diesem Hintergrund konsolidierte sich im Herbst 2007 der größere Teil der zuvor schwachen und zersplitterten Opposition im Bündnis "Nationaler Rat" und forderte vorgezogene Parlamentswahlen. Der gewaltsamen Auflösung einer Demonstration im Stadtzentrum von Tbilissi folgten ein Ausnahmezustand mit weitgehender Einschränkung von Presse- und Versammlungsfreiheit und schließlich die Ankündigung von Neuwahlen. Mit knappen 53,47 Prozent der Stimmen wurde Saakaschwili im Januar 2008 im Amt bestätigt. Die Opposition reagierte mit Protesten gegen das Wahlergebnis, während die EU mit der Ablehnung einer nahen Aufnahme Georgiens ihrer Skepsis gegenüber den georgischen Entwicklungen Ausdruck verlieh. Wie recht sie damit behalten sollte, zeigte die verhängnisvolle Machtdemonstration des angeschlagenen Präsidenten im August 2008, als er glaubte, auf die ständigen Provokationen Russlands in der Südossetien-Frage mit einer militärischen "Nacht-und-Nebel-Aktion" reagieren zu müssen und das georgische Volk dafür bezahlen ließ. Im Unterschied zu Georgien und Aserbaidschan steht die Entwicklung Armeniens für eine frühe und dauerhafte Ablösung der kommunistischen Eliten durch nationalistische Akteure. In Fortsetzung der seit 1966 illegal agierenden "Nationalen Vereinigungspartei" forderte das Eriwaner Helsinki-Komitee seit Mitte der 1970er Jahre die "Wiederherstellung der nationalen Staatlichkeit auf dem gesamten Territorium des historischen Armeniens" und die nationale Wiedergeburt eines unabhängigen Armeniens. Glasnost und Perestrojka schienen günstige Bedingungen für Grenzverschiebungen zu bieten. Ab Februar 1988 kam es in Stepanakert, der Hauptstadt des zur Republik Aserbaidschan gehörenden Autonomen Gebietes Berg-Karabach, zu Demonstrationen, denen sich die Menschen in einigen Orten Armeniens schnell anschlossen. Erste Übergriffe und Flüchtlingsbewegungen von Aserbaidschanern aus Armenien markierten die Eskalation des Konfliktes. Gewalterfahrungen und Erfolge bei der "ethnischen Säuberung" Armeniens sowie der Beginn der aserbaidschanischen Blockade führten die verschiedenen Strömungen der Nationalbewegung um das 1987 gegründete "Karabach-Komitee" in der "Pan-Nationalen Bewegung" zusammen. Dessen Sprecher, Lewon Ter-Petrosjan, trat im Ergebnis der Neuwahlen zum Obersten Sowjet Armeniens als erster Nicht-Kommunist sein Amt als Parlamentspräsident an und verkündete am 23. August 1990 den Beginn des "Übergangs zur Erlangung staatlicher Unabhängigkeit". Am 21. September 1991 beschlossen 94 Prozent der wahlberechtigten Armenier in einem Referendum den Austritt aus der UdSSR, am 16. Oktober 1991 wurde Ter-Petrosjan in direkter Wahl mit 83 Prozent der Wählerstimmen zum ersten Staatspräsidenten gewählt. Mit der Wahl eines neuen Parlaments und der Verabschiedung einer neuen Verfassung 1995 war der politische Szenewechsel weitgehend vollzogen. Die neue Verfassung sah ein semi-präsidiales Regierungssystem vor, in dem neben der parlamentarisch verantwortlichen Regierung der vom Volk gewählte Präsident eine starke Stellung einnahm. Bereits 1995 geäußerte Befürchtungen über eine autoritäre Wende in der armenischen Politik bestätigten sich in mancher Hinsicht: Ein umstrittener Wahlsieg im September 1996, das Verbot der traditionsreichen und Diaspora gestützten Daschnakzutjun-Partei und eine konziliante Politik in der Karabachfrage führten im Februar 1998 zum Sturz Ter-Petrosjans durch den damals amtierenden Ministerpräsidenten und ehemaligen Präsidenten der (international nicht anerkannten) Republik Berg-Karabach, Robert Kotscharjan. Ein Attentat im Armenischen Parlament, bei dem acht Politiker getötet wurden, stürzte das Land 1999 in eine tiefe Führungskrise, der unter Kotscharjan eine regelrechte "Karabachisierung Armeniens" folgte: lokale und regionale Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft wurden durch gebürtige Karabacher besetzt, Ämterkauf, Begünstigung im Amt, Patronats- und Klientelbeziehungen sowie die "Immunisierung" von Oligarchen durch ihre Wahl ins Parlament gingen einher mit einem zunehmenden Ausverkauf der begrenzten Ressourcen des Landes. Nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit als Präsident gelang es Kotscharjan 2008, Sersch Sarkisjan als seinen Nachfolger durchzubringen. Doch die Ereignisse um dessen Wahl - Ter-Petrosjan war als Gegenkandidat in die Politik zurückgekehrt und hatte die Opposition zu einem Massenprotest gegen die Wahlfälschungen versammelt, welcher am 1. März blutig niedergeschlagen wurde - zeigten den Unmut der Bevölkerung über den Ausverkauf des Landes und die Monopolisierung der Macht in den Händen der Karabach-Armenier. Aserbaidschan ist der größte und ressourcenreichste südkaukasische Staat. Die mehrheitlich muslimische Bevölkerung fühlt sich sowohl Kaukasien und der Kaspischen Region als auch Europa zugehörig. Im Unterschied zu Georgien und Armenien kann in Aserbaidschan kaum über Dissidentengruppen als Vorläufer einer nationalen Volksfrontbewegung vor 1988 gesprochen werden. Die Träger nationaler Emanzipation in Aserbaidschan gingen vor allem aus der neuen nationalen Bildungselite der 1970er Jahre hervor, die darauf drängte, Führungspositionen einzunehmen. Zugleich erfolgte ein quantitatives und monetäres Wachstum jener Kräfte, die über den Schwarzmarkt agierten und zunehmend günstigere - offizielle - Verwertungs- bzw. Konsumbedingungen für das angestaute Kapital verlangten. Spielten - in Analogie zu Georgien und Armenien - Fragen der nationalen Identität bereits verstärkt seit den 1970er Jahren eine Rolle, so waren die Ereignisse um das Territorium Berg-Karabach der eigentliche Katalysator, um die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte ab 1988 in einer Sammlungsbewegung zu vereinigen. Unter dem Druck von Massenprotesten wurde bereits am 23. September 1989 in Aserbaidschan eine erste Souveränitätserklärung verabschiedet. Auslöser des Umbruchs von einer "Nur-Karabach"- zur Unabhängigkeitsbewegung war der Schock der Ereignisse vom Januar 1990 - der Einmarsch sowjetischer Truppen und der Tod von (offiziell) 131 Menschen. Es folgten der Bruch mit Moskau, Massenaustritte aus der KPdSU, aber auch Verhaftungen und Verbote im Lager der Opposition. Eine Spaltung der Bürgerbewegung in kleinere "Gefolgschaftsparteien" erleichterte den Übergang der Initiative von der Intelligenzija auf die reformbereite Nomenklatura aus Politik und Wirtschaft. Ajaz Mutalibov, ab September 1991 erster gewählter Präsident der neuen Republik, leitete mit seinem Programm (Machtstabilisierung, kontrollierter Übergang zur Marktwirtschaft, territoriale Integrität der Republik, d.h. gegen eine Ausgliederung Karabachs) wichtige Schritte zur wirtschaftlichen Transformation ein, scheiterte jedoch unter anderem an der Dynamik des Karabach-Problems. Nach dem Rücktritt Mutalibovs gewann Abulfaz Eltschibey, Vorsitzender der größten Oppositionsbewegung ("Volksfront"), die Neuwahlen 1992. In der öffentlichen Wahrnehmung hinterließ das einjährige "Experiment der Opposition" vor allem Erinnerungen an eine überstürzte Sprachenreform, Eigenmächtigkeiten von Ministern und vor allem den Verlust Karabach benachbarter Gebiete im Frühjahr 1993. Die Regierung verlor schließlich die Loyalität der Armee und musste nach dem "Marsch auf Baku" im Juni 1993 zurücktreten. Eltschibey verließ Baku fluchtartig, und der Ruf nach einer "starken Hand" wurde immer lauter. Als Vermittler war nun laut Verfassung der Parlamentspräsident Nachitschewans, Gejdar Alijew, am Zuge. Am 24. Juni wurde der ehemalige KGB-Chef und KP-Sekretär kommissarischer und am 3. Oktober 1993 gewählter Präsident der Republik. Sein Kurs zur Stabilisierung der Verhältnisse und zur Festigung seiner persönlichen Macht bedeutete unter anderem:

Der Prozess der Stabilisierung der Präsidialgewalt war mit der Wahl eines neuen Parlaments und einer neuen Verfassung im November 1995 weitgehend abgeschlossen. Schon zuvor hatte Alijew begonnen, jegliche Formen von Opposition auszuschalten. Dennoch war die Machtübergabe an seinen Sohn Ilham Alijew bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2003 von starken Protesten begleitet. Ilham Alijew führte die Strategie seines Vaters fort: Kurz vor den Parlamentswahlen im November 2005 entledigte er sich "im Kampf gegen die Korruption und Landesverrat" von einigen potentiellen Kontrahenten innerhalb der Regierung und demonstrierte damit seine Macht, während es der Opposition kaum gelang, aus ihrem Schattendasein herauszutreten. Nach seiner Wiederwahl im Oktober 2008 beschloss das Parlament, im März 2009 ein Referendum zur Änderung der Verfassung durchzuführen, um dem Präsidenten eine über zwei Legislaturperioden hinausgehende Amtszeit zu ermöglichen. Niemand zweifelt daran, dass dieses zu seinen Gunsten ausgeht. Ob Alijew eine unbefristete Präsidentschaft zur weiteren Diversifizierung der Wirtschaft, für die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und einen Durchbruch zu den normalen Formen einer Bürgergesellschaft nutzt, bleibt abzuwarten. Die Lösung des Territorialkonfliktes, eine ausgewogene regionale und internationale Politik kann auch hier - wie schon oft in der Geschichte der kaukasischen Völker - von zentraler Bedeutung sein.

Die Sowjetunion zerfiel in ihre Einzelteile. Kam dieser Zerfall für viele überraschend und plötzlich, so war doch die Lähmung des Regimes seit Beginn der 1980er Jahre unübersehbar gewesen. Das innenpolitische Klima hatte sich durch die Unterdrückung von Regimegegnern verhärtet, Reformversuche waren steckengeblieben, außenpolitisch stemmte sich die Großmacht gegen jede Veränderung, und ökonomisch lag sie am Boden. Der Rüstungswettlauf mit den USA bedeutete für die Volkswirtschaft eine Anstrengung, der sie nicht mehr gewachsen war. Die Reforminitiative mit Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung), eingeleitet durch Michail Gorbatschow, konnte das Ende der Sowjetunion nicht mehr aufhalten. Im Gegenteil, Gorbatschow wirkte letztendlich als Wegbereiter der Auflösung der Sowjetunion. 1987 verwarf er die Breschnew-Doktrin und erklärte bei einem Besuch in Prag, dass das gesamte Rahmenwerk der politischen Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten auf Unabhängigkeit basieren müsse. Jede Nation solle ihren Weg selbst wählen und über ihr Schicksal, ihr Territorium und ihre Ressourcen selbst bestimmen können. Nicht nur in den Staaten des Warschauer Paktes horchte man auf, auch in den verschiedenen Sowjetrepubliken. Die baltischen Staaten waren die ersten, die sich von der Sowjetunion lossagten. Am 11. März 1990 erklärten Litauen, am 20. und 21. August 1991 Estland und Lettland ihre Unabhängigkeit. Dabei hatten die baltischen Sowjetrepubliken immer den Ruf genossen, etwas Besonderes zu sein. In den Zwischenkriegsjahren zu Nationalstaaten geworden, wurden sie 1940 wieder ihrer Selbstständigkeit beraubt. In der Sowjetunion galten sie als potentieller Unruheherd, was durch die Ansiedlung einer russischen Minderheit und mit Massendeportationen bekämpft wurde. Ihre Kultur wurde zurückgedrängt und ihre Geschichte neu interpretiert, doch ist es vor allem die Interpretation ihrer Vergangenheit, auf die sich ihr Anspruch stützt, zu Europa zu gehören und dorthin zurückzukehren. Bereits 1989 nutzten sie den wind of change in Form von Gorbatschows Perestroika, um den gesamten Verbund der UdSSR in Frage zu stellen. Obwohl die Sowjetunion die Unabhängigkeit der baltischen Staaten am 6. September 1991 anerkannte, befürchteten die Litauer, Letten und Esten, dass ihre Unabhängigkeit nicht von langer Dauer sein könnte. Deshalb drängten die drei Staaten schon in den 1990er Jahren in Richtung NATO und Europäische Union (EU), denen sie 2004 schließlich beitraten. Als einzige Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben sich die baltischen Staaten in den Westen, seine ökonomischen und politischen Institutionen sowie seine Sicherheitsstrukturen integriert. Im Verlauf des Jahres 1991 folgten die Unabhängigkeitserklärungen Georgiens, Weißrusslands, der Ukraine, Moldaus, Kirgistans, Usbekistans, Tadschikistans und Armeniens sowie schließlich Aserbaidschans und Turkmenistans und zuletzt, am 16. Dezember 1991, Kasachstans. Viele dieser Staaten können auf keine Erfahrungen mit eigener Staatlichkeit zurückblicken. Losgelöst von der Sowjetunion, die durch die Schaffung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) am 21. Dezember 1991 offiziell aufhörte zu existieren, waren die alten Strukturen zerrissen, aber noch keine neuen geschaffen. Die Transformation zu Marktwirtschaft und Demokratie, aber auch die nationale Identitätsbildung stellen bis heute große Herausforderungen dar. Anders die Russische SFSR (Sozialistische Föderative Sowjetrepublik): Sie erklärte formal ihre Souveränität, nicht aber die Unabhängigkeit. Russland wurde Rechtsnachfolger der Sowjetunion bei den Vereinten Nationen, einschließlich des Sicherheitsrates. Auch Russland strebte die Transformation an. Unter Präsident Boris Jelzin schaffte es Russland nach 1991 aber nicht, Anschluss an den zügiger verlaufenden Demokratisierungs- und Transformationsprozess in Osteuropa zu finden. 1991 wurde die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet. Anders als die Sowjetunion ist die GUS ein loser Zusammenschluss ehemaliger Teilrepubliken der UdSSR (ohne die baltischen Staaten). Für Russland war von Beginn an klar, dass mit der GUS "kein Staat" zu machen sei. Wladimir Putin, ein Freund der klaren Aussprache, brachte es auf den Punkt: "Die GUS wurde gebildet, um einen zivilisierten Scheidungsprozess zu ermöglichen. Alles andere ist Beiwerk." Ihre Erlässe und Verträge sind oft Papiertiger geblieben, Mitglieder werden immer wieder abtrünnig. Putins und auch Dmitri Medwedjews Politik zielt auf veränderte Strukturen: Beide wollen die GUS durch ein Geflecht neuer politischer und wirtschaftlicher Beziehungen ersetzen, bei denen Russland eine zentrale Position einnimmt und versucht, einzelne Staaten stärker an sich zu binden. Beispiele sind die angestrebte Union mit Weißrussland, die 1999 vereinbart wurde, oder die Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrussland. Putins Idee ist die Gründung einer Eurasischen Union, die alle ehemaligen Sowjetrepubliken mit Ausnahme der baltischen Staaten umfassen soll. Dabei hat er sich einen höheren Grad an Integration als den in der EU zum Ziel gesetzt. Dies sei ein Weg aus der globalen wirtschaftlichen Krise. Zweifel an der Durchführbarkeit dieses Projekts kommen jedoch auf, da viele der potentiellen Mitglieder schlichtweg kein Interesse zeigen. Sicherheitspolitisch überschneiden sich heute die Interessen Russlands und des Westens. Die Neuorientierung der amerikanischen Außenpolitik, die 2009 einsetzte, zeigt, dass man zu einer gemeinsamen, weltweiten Bedrohungsanalyse finden und gemeinsam auf diese Bedrohungen reagieren kann. Der Westen ist auf ein stabiles Russland zur Abwehr islamistischer Gefahren angewiesen und kann aus wirtschaftlichen Gründen auf den großen Markt nicht verzichten. Insofern ist es durchaus vorstellbar, dass sich Europa und Russland in zehn oder 15 Jahren in einer neuen europäischen Partnerschaftsstruktur wiederfinden, welche auch die transatlantischen Beziehungen neu definiert. Trotz des Zerfalls der UdSSR und des Entstehens neuer Bündnisse bleiben Gemeinsamkeiten zwischen den Nachfolgestaaten der UdSSR bestehen. Die gemeinsame Sowjetvergangenheit wirkt in ihren ehemaligen Teilrepubliken nach. Sei es die Erinnerung an die Stalinzeit oder an den Afghanistankrieg, sei es die russische Sprache oder gemeinsame Traditionen: Vieles verbindet noch heute. Die Menschen, die in den Nachfolgerepubliken der Sowjetunion leben, sind durch Gewohnheiten und Erinnerungen aus den Nischen der Sowjetdiktatur miteinander verbunden geblieben. Von der Ukraine bis nach Kirgistan hört man die gleiche Musik, mag die gleichen Filme, pflegt die gleichen Bräuche und versteht die gleichen Witze. Die gemeinsame Sozialisierung in der Sowjetunion verbindet die Menschen - bis hin zu einer weit verbreiteten Sowjetnostalgie. Obwohl die Zustimmung zur Sowjetunion in Russland am höchsten ist, betrachtet man mittlerweile auch in anderen Nachfolgerepubliken die Sowjetunion mit nostalgischen Gefühlen. Selbst in Litauen, das sich 1990 zuerst und am kraftvollsten von Moskau losgesagt hatte, gaben 2009 über 50 Prozent der Befragten an, "dass es zu Sowjetzeiten mehr Demokratie und ein besseres Gesundheitssystem gab und dass Menschenrechte mehr respektiert wurden als heute". Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen in Lettland im September 2011 wurde der von ethnischen Russen dominierte Parteienblock "Harmoniezentrum" Wahlsieger. Erstmals wird damit eine dem linken Teil des Spektrums zugerechnete Partei, die noch dazu als pro-russisch gilt, stärkste Kraft. Obwohl der Wahlsieger nicht der Regierung angehören wird, stellt das Wahlergebnis eine deutliche Absage an die politische Elite und deren Politik seit der Finanz- und Wirtschaftskrise dar. Um ein selbständiges Nationalbewusstsein zu begründen und ihre eigene nationale Identität zu legitimieren, griffen manche ehemalige Sowjetrepubliken auf Personen, Volksgruppen oder Reiche zurück, die vormals auf ihrem Staatsgebiet existierten. Ihre neue Unabhängigkeit untermauern sie mit dem Verweis auf eine historische "Goldene Ära". Oftmals stießen die postsowjetischen Republiken auf Schwierigkeiten, an eine frühere Identität anzuknüpfen, da die heutigen Grenzen zumeist auf die Grenzziehungs- und Nationalitätenpolitik der Sowjetunion zurückzuführen sind. Zur Legitimation des neuen Nationalstaates mussten deshalb manchmal fragwürdige historische Rückgriffe vorgenommen oder einfach die nötigen Traditionen erfunden werden. Orte, Symbole und Ereignisse wurden mitunter aus dem historischen Kontext gerissen und in eine nationale Geschichte eingerückt. Doch ohne Rückgriff auf Mythen oder Legenden und ohne Zukunftsvisionen wäre es nicht möglich gewesen, ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem neuen Staatsvolk zu schaffen. Für Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion war die Suche nach nationaler Identität und nach dem Konzept eines neuen Staatsverständnisses besonders schwierig. Die Russische Föderation stand nicht nur innenpolitisch und ökonomisch vor enormen Transformationsaufgaben. Geopolitisch musste sich die einstige Weltmacht damit abfinden, diese Rolle auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte verloren zu geben, was bei den Eliten, aber auch bei der Mehrheit der Bevölkerung ein psychologisches Trauma auslöste. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde bereits in der Jelzin-Ara der Ruf nach Rückerlangung verlorener Stärke und Macht laut. Viele haben Boris Jelzin vor allem wegen seines Alkoholkonsums und einiger peinlicher Auftritte im Ausland in Erinnerung. Unter seiner Präsidentschaft schlitterte Russland von einer Krise in die nächste. Vom Westen als Demokrat gefeiert, betrachten die meisten Russen die 1990er Jahre unter Jelzin im Rückblick als eine Zeit, in der sie durch einen De-facto-Staatsbankrott im Jahre 1998 nicht nur ihr Hab und Gut verloren, sondern in der Clanwirtschaft und Oligarchentum entstanden. Jelzins Nachfolger Wladimir Putin schaffte es, Russland zu konsolidieren. Unter ihm wurde das Land wieder zu einem ernst zu nehmenden Akteur auf der Weltbühne. Die Popularität, die Putin in Russland genießt, verdankt er auch geschickten Rückgriffen auf die Sowjetvergangenheit. Als er für die von Jelzin verbannte Nationalhymne der Sowjetzeit 2001 einen neuen Text dichten und sie wieder zur Hymne der Russischen Föderation erheben ließ, waren ihm die meisten Russen zutiefst dankbar. Mit dieser Hymne verbanden sie nicht nur Heimat, sondern auch Größe. Sergej Michalkow, der Textdichter der Sowjethymne, schrieb bereitwillig auch die neuen Verse. Das ideologische Vakuum, das es nach dem Ende der Sowjetunion gab, wird in Russland zunehmend auch von der Russisch-Orthodoxen Kirche ausgefüllt. Der 1990 von der Heiligen Synode zum Patriarchen und damit Kirchenoberhaupt gewählte Alexej II., ein Kirchenmann mit vermuteter KGB-Vergangenheit, wurde trotz dieses Hintergrundes zu einem Symbol der Wiedergeburt der Orthodoxie und des Christentums nach der langen Zeit der inneren Diaspora während des Kommunismus. Kyrill, sein "Außenminister", war nicht nur für die Außenbeziehungen des Patriarchats der Russisch-Orthodoxen Kirche zuständig, er war ihr intellektueller Vordenker. Eine charismatische Persönlichkeit, genauso sehr Machtpolitiker wie Kirchenmann, ist er fest davon überzeugt, dass Russland seine moralische Stärke wiedergewinnen und der Westen, den er mittlerweile eher für schwach hält, die Allianz mit Russland in absehbarer Zukunft brauchen wird. Als Alexej II. im Jahr 2008 starb, wurde Kyrill sein Nachfolger. Überall im Land werden nun die Kirchen restauriert. Das Bild russischer Städte wird heute mehr und mehr von goldenen Kirchenkuppeln geprägt. Kyrill spart nicht an Geld für Kirchen in anderen früheren Sowjetrepubliken, deren Russisch-Orthodoxe Gemeinden seinem Patriarchat unterstehen. An Schulen lässt er den Religionsunterricht wieder einführen. Auf diese Weise wird eine Brücke zum vorrevolutionären Russland geschlagen und die Kontinuität der russischen Nation untermauert. Auf weltlicher Seite dienen historische Figuren wie Alexander Newski, Dmitri Donskoi, Peter der Große und Katharina II. diesem Ziel. Die monströse Skulptur Peters des Großen am Ufer der Moskwa, geschaffen vom georgisch-russischen Bildhauer und Maler Surab Zereteli, hätten die Moskauer wohl nicht als Ausdruck ihrer neuen nationalen Identität akzeptiert. Sie wurden jedoch nicht gefragt. Zereteli war der Lieblingskünstler des ehemaligen Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow. Trotz der Symbolkraft Peters des Großen für die russische Geschichtsschreibung kann zumindest dieser Versuch, ein neues Nationalbewusstsein aus Kupfer zu gießen, als gescheitert betrachtet werden. Solche Probleme sind in Weißrussland unbekannt. Dort mussten die sowjetischen Denkmäler erst gar nicht neuen Standbildern weichen. Lenin weist nach wie vor an seinem angestammten Platz, direkt vor dem Regierungssitz, den Weg in die Zukunft. Zunächst gab es nach der Unabhängigkeit Bemühungen, sich bei der nationalen Selbstfindung auf das Großfürstentum Litauen zu berufen, das bis 1791 Teile des heutigen Weißrusslands umfasste. Zwischen 1991 und 1995 führte Weißrussland die Pahonja, das Staatswappen dieses alten Reiches, wieder ein. Doch dann beschloss der autoritäre Präsident Aljeksandr Lukaschenka, keine grundsätzliche Abkehr vom sowjetischen Geschichtsverständnis zuzulassen. Während in den anderen postsowjetischen Staaten die Abgrenzung zur Sowjetzeit betont wird, knüpfte Lukaschenka an die alte Symbolik an. Die in einem Referendum 1995 eingeführte neue Staatsflagge entspricht exakt der Flagge aus der Zeit der Weißrussischen Sowjetrepublik, allein Hammer und Sichel wurden entfernt. Weißrussland ist den meisten Westeuropäern unter dem Etikett "letzte Diktatur Europas" geläufig. Für Lukaschenkas Regime zeichnet sich trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in dem sich die größtenteils immer noch nach planwirtschaftlichen Prinzipien geleitete Wirtschaft derzeit befindet, kein Ende ab. Der Präsident hat es über Jahre hinweg geschafft, Russland und die EU gegeneinander auszuspielen. In der Ukraine schwanken nationalistische Politiker, Journalisten, Schriftsteller und Historiker seit 1991 zwischen den Extremen. Manche sehen in der Kiewer Rus keinen russischen, sondern einen ukrainischen Staat und beschreiben damit das heutige Russland indirekt als Nachfolger eines ukrainischen Staatsgebildes. Andere wollen generell alles Russische verbannt sehen. 2008 wurde die Forderung erhoben, russische Fernsehkanäle aus den Standardnetzen der Kabelfernsehfirmen zu entfernen; in einem Land, in dem Russisch im Gegensatz zur Staatssprache Ukrainisch als Mutter- oder als Zweitsprache von fast allen Bewohnern gesprochen und verstanden wird, ein absurdes Anliegen.[5 ] Da die Ukraine kulturell in einen sehr russlandfreundlichen Ost- und einen ukrainischstämmigen, eher europaorientierten Westteil zerrissen ist, konnten sich solch extreme Forderungen nicht durchsetzen. Die Entwicklungen in der Ukraine in den 1990er Jahren standen in Bezug auf Chaos, Clanwirtschaft und der Entstehung eines Oligarchensystems denen in Russland in nichts nach. Allerdings löste sich die Ukraine erst relativ spät von ihrer Sowjetvergangenheit. Die Sowjetverfassung wurde erst 1996 ersetzt. 2004, nach Ende der Ära des Präsidenten Leonid Kutschma, nahm die "Orangene Revolution" ihren Lauf. Der "große Nachbar" Russland wurde durch diese Revolution bis ins Mark getroffen. Viele Russen empfanden damals: Je mehr sich die Ukraine dem Westen zuwendet, desto mehr verliert Russland von seiner Geschichte. Heute weht unter Wiktor Janukowitsch als Präsident wieder ein autoritärerer und pro-russischer Wind. Die Ukraine schwankt weiter zwischen Europa und Russland. Eine Sonderrolle kommt Litauen, Estland und Lettland zu. Fest in die Strukturen der EU integriert, haben die drei baltischen Staaten heute die größten Fortschritte bei der Demokratisierung und der Durchsetzung der Marktwirtschaft erreicht. Seit Ende der 1990er wuchs die Wirtschaft der drei Republiken zusehends. Ein böses Erwachen gab es 2008 im Zuge der weltweit einsetzenden Wirtschaftskrise: Offenbar hatte man lange über seine Verhältnisse gelebt. Für Litauen und vor allem für Lettland führte dies fast zum Staatsbankrott. Auch Estlands Wirtschaft war stark betroffen, doch das Land ist nach wie vor der Musterschüler des Baltikums. Die Esten gelten als "vorbildliches Nordlicht". Nichts machte Estland so berühmt wie seine elektronische Revolution. Das Land wirbt mit dem Logo "e-Estonia" für sich Der weltweite Siegeszug des Internettelefondienstes Skype begann in Tallinn. Der estnische Staat garantiert den kostenlosen Zugang zum Internet. Die meisten Einwohner erledigen ihre Bankgeschäfte online. Mit einigen Mausklicks bekommt man Einblick in seine Krankendatei. Wer eine Firma gründen will, profitiert von der in Europa einmaligen Digitalisierung des Staates. Das zog ausländische Kapitalgeber an wie kaum anderswo. Seit 2011 kann man in Estland mit dem Euro zahlen. Die Republik Moldau liegt wie die beiden anderen, direkten östlichen Nachbarn der EU, die Ukraine und Weißrussland, im Spannungsfeld zwischen Russland und der EU. Moldau ist seit der Unabhängigkeit ein gespaltenes Land. Nachdem es 1992 zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen moldauischen und transnistrischen Einheiten kam, griff Russland ein. Seitdem sind russische Truppen in Transnistrien stationiert, und Transnistrien ist de facto von Moldau unabhängig, eine Unabhängigkeit, die international nicht anerkannt wird. Dieses Schicksal teilt die Regierung in der transnistrischen Hauptstadt Tiraspol mit den Regierungen anderer separatistischer Gebiete auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion: Berg-Karabach, Abchasien und Südossetien. In den Kaukasusrepubliken Georgien, Armenien und Aserbaidschan waren Konflikte und Kriege in den vergangenen Jahren an der Tagesordnung. Sezessionsbewegungen von Abchasien über Südossetien zu Berg-Karabach machen den Südkaukasus zur kompliziertesten Konfliktregion der untergegangenen Sowjetunion. Vor allem in Berg-Karabach brechen alte und zur Zeit der Sowjetunion unterdrückte Konflikte wieder auf. Schon zu Sowjetzeiten hat Armenien für eine Angliederung des hauptsächlich von Armeniern besiedelten Gebietes an die eigene Sowjetrepublik geworben, was jedoch scheiterte. Heute stehen sich Armenien und Aserbaidschan nach wie vor unnachgiebig gegenüber, dem jeweils anderen die Schuld an der Situation zuschiebend. In Berg-Karabach sind armenische Truppen stationiert. Das Gebiet ist von Armeniern bewohnt. Dennoch gehört es weiterhin zu Aserbaidschan. Auch in Georgien kennt man diese Probleme, der Konflikt mit den abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien spitzte sich im August 2008 dermaßen zu, dass er in eine militärische Auseinandersetzung mit Russland mündete. Was das Nationalgefühl angeht, so dreht sich in Georgien alles um den Heiligen Georg, den Schutzpatron des Landes. Seit 2005 zieren fünf sogenannte Georgskreuze die Nationalflagge des südkaukasischen Landes. Die fünf mittelasiatischen Staaten Usbekistan, Kasachstan, Turkmenistan, Kirgistan und Tadschikistan, in denen heute über 63 Millionen Menschen mit über hundert ethnischen Zugehörigkeiten leben, existierten vor Gründung der UdSSR nicht. Mittelasien war in so genannte Khanate, aus Stämmen bestehende Staatsgebilde, aufgeteilt, die zum Großraum Turkestan gehörten. Bei der Aufgliederung der Region in fünf Sowjetrepubliken wurden die einstigen Khanatsgrenzen bewusst unberücksichtigt gelassen und die Völkerschaften vermischt. Ziel war es, regionale Spannungen zu schaffen, um die Völker von Aggressionen gegen die Zentralmacht in Moskau abzuhalten. Heutige ethnische Konflikte liegen in Mittelasien wie auch im Kaukasus unter anderem in dieser Nationalitätenpolitik Stalins begründet, die seine Nachfolger fortsetzten. Viele Länder haben sich mit ihren neuen Nationalideologien übernommen. In Taschkent steht das Denkmal von Amir Timur - im Westen bekannt als Timur Lenk oder Tamerlan -, dem Nationalhelden des neuen Usbekistan, auf demselben Sockel, auf dem zunächst der zaristische Generalgouverneur für Turkestan, Konstantin von Kaufmann, danach Josef Stalin und dann Karl Marx thronten. 1991, als in Usbekistan die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung verschwand, wurden in allen Teilen des Landes Historiker gesucht, die sich mit der Geschichte der Timuridenzeit auskannten. Derer gab es nicht viele. Tamerlan, der Mongolenführer aus dem 14. Jahrhundert, der nun der Nationalheld des neuen Usbekistan ist, hatte nicht zu den Arbeiterhelden der Sowjetgeschichtsschreibung gehört. Auf einem der zentralen Plätze der Hauptstadt Turkmenistans, Aschgabat, stand die 40 Meter hohe Statue des neuen turkmenischen Nationalhelden, des Turkmenbaschi ("Führer der Turkmenen"). Ihr architektonisch zweifelhafter Unterbau ähnelte einer Raketenabschussrampe. Darauf drehte sich ein vergoldeter Mann sonnengottähnlich um die eigene Achse und breitete seine Hände segnend über sein geliebtes Volk. Der Turkmenbaschi war niemand Geringeres als der damals noch lebende turkmenische Präsident Saparmurat Nijasow. Als KP-Chef hatte er das Land schon zu Sowjetzeiten regiert. Mangels anderer verfügbarer turkmenischer Nationalhelden entschied er sich, diesen Platz selbst einzunehmen. Sein Nachfolger, Gurbanguly Berdimuchamedow, seit 2007 an der Macht, beseitigte zwar einige der Auswüchse des Personenkultes, ohne aber das System als solches in Frage zu stellen. In Kirgistan diente der sagenumwobene Volksheld Manas zur Neu-Identifikation. Die persischsprachigen Tadschiken hingegen betrachten sich als arisches Volk und pflegen diesen Kult. Selbst ein "Haus der Arier" ist zu besichtigen. Den größten finanziellen Aufwand zur Stärkung der nationalen Identität seines Landes trieb Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew mit der kompletten Verlegung der Hauptstadt von Alma-Ata in die Steppe im Jahr 1999. Für mehrere Milliarden Dollar wurde die neue Metropole Astana mit futuristischer Architektur zum Zentrum Eurasiens und Mittelpunkt des kasachischen Heimatlandes stilisiert. Clanstrukturen und tiefe Spuren, die die Sowjetherrschaft in den Köpfen der Menschen hinterlassen hat, prägen zusammen mit neuen, mehr oder weniger stark ausgeprägten marktkapitalistischen Strukturen das Bild in allen Staaten der Region. Die Menschen sind patriotisch, Traditionen spielen im alltäglichen Leben eine große Rolle. Die Bevölkerungen Mittelasiens glauben an starke Führer und Autoritäten, Sippen- und Claninteressen herrschen vor, Meinungsvielfalt und Kompromissfähigkeit werden oft als Zeichen von Schwäche interpretiert. In der mittelasiatischen Region sind die Regierungssysteme autoritärer geprägt als in den übrigen postsowjetischen Staaten. Eine wichtige Ursache der Probleme in Zentralasien liegt in der Vernachlässigung regionaler Kooperationen in solch lebenswichtigen Bereichen wie der Regelung der Wasserverteilung oder der Bekämpfung des Drogenhandels. In einer funktionierenden regionalen Kooperation lägen große Chancen. Durch gemeinsames Handeln könnte sie die politischen und ökonomischen Voraussetzungen für eine spätere Weltmarktöffnung schaffen. Doch die fünf Staaten streben lediglich formal eine stärkere wirtschaftliche Integration an. Zwar sind sie Mitglieder in verschiedenen Integrationsgemeinschaften (GUS, Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft, Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit). Eine Politik, die zu einer funktionierenden regionalen Integration führt, ist aber nicht in Sicht, noch immer herrschen Misstrauen und Egoismus vor.

Die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien lehnen Schritte zur Wiederannäherung an Georgien ab. Im November 2014 bzw. Februar 2015 schlossen sie ein Allianzabkommen mit Russland. Die Verträge sehen eine Beistandsgarantie im Falle eines militärischen Angriffs sowie eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit vor. Abchasien und Südossetien haben den Schutz ihrer De-facto-Grenzen zu Georgien an Russland delegiert. Seitdem betreiben russische Einheiten die Demarkation und Befestigung der Grenzen. Da die Grenzziehung oft willkürlich durch von ethnischen Georgiern besiedelte Dörfer und landwirtschaftliche Nutzflächen verläuft, werden Zivilisten Opfer von Verhaftungen. Infolge des Verlusts von Ackerfläche verschlechtert sich die wirtschaftlich triste Situation in den vom Konflikt betroffenen Gebieten weiter. Die georgische Regierung protestiert gegen die illegale Grenzziehung und bezichtigt Moskau der schleichenden Annexion georgischen Staatsgebietes. Gewaltsame Zwischenfälle sind zwar, auch dank eines Krisenpräventions-Mechanismus der EU-Beobachtermission (EUMM), selten, doch verstärken die Grenzbarrieren die gegenseitige Entfremdung der lokalen Bevölkerung auf beiden Seiten.

Das georgisch-russische Verhältnis hat sich seit Ende 2012 durch die Stärkung der Handelsbeziehungen leicht entspannt. Die Differenzen im Hinblick auf die Rolle Russlands in Abchasien und Südossetien bleiben jedoch bestehen und blockieren internationale Gespräche zur Stabilisierung der Lage. Strittig bleiben die Frage der Rückkehr von Flüchtlingen sowie eines Nichtangriffs-Abkommens Georgiens mit Abchasien und Südossetien. Eine solche Zusicherung hat Georgien einseitig der Russischen Föderation gegeben; die Regierung in Tbilisi betrachtet Abchasien und Südossetien jedoch als Teil des georgischen Staatsgebietes und lehnt daher separate Abkommen mit den beiden Gebieten ab. Außerdem will Georgien diplomatische Beziehungen zu Russland erst wieder aufnehmen, wenn Moskau die Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens zurückgenommen hat. Innenpolitisch bleibt Georgien auf einem Kurs der Demokratisierung und wirtschaftlichen Modernisierung. Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in den Jahren 2012 und 2013 wurden als frei und fair anerkannt. Der Schutz der politischen und zivilen Menschenrechte wird von internationalen Akteuren größtenteils als für die Region vorbildlich gelobt. Die wirtschaftliche Lage verbessert sich allerdings nur schleppend: Arbeitslosigkeit, Armut und ein fehlendes soziales Sicherheitsnetz bleiben die Hauptsorgen der Bevölkerung.

Georgien ist ein multiethnischer Staat, der mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 seine Unabhängigkeit erlangte. Die ossetische und abchasische Minderheit (1989 etwa 3% bzw. 1,8% der Bevölkerung) verfügten in der UdSSR über Autonomiegebiete innerhalb Georgiens. Der in den 1980er Jahren in der UdSSR einsetzende Reformprozess begünstigte die in Georgien entstehende nationalistische Unabhängigkeitsbewegung. Die Minderheiten der Autonomiegebiete fürchteten daraufhin den Verlust ihres Status und unternahmen Schritte zur Loslösung von Georgien. Es konnte keine Einigung darüber erzielt werden, ob und in welchem Ausmaß sich Abchasien und Südossetien innerhalb des georgischen Staatsgefüges selbst verwalten und welche Rechte ethnische GeorgierInnen in den politischen Institutionen der beiden Gebiete spielen können. Gewaltsame Zwischenfälle zwischen den ethnischen Gruppen eskalierten zu bewaffneten Konflikten. Russland unterstützte dabei die sich abspaltenden Regionen, wobei das tatsächliche Ausmaß der russischen Beteiligung bis heute nicht geklärt ist. Zweifellos versuchte Moskau, sich in dem in Auflösung begriffenen Sowjetimperium Einflusssphären zu sichern, was sich aufgrund der Schwäche des russischen Staates Anfang der 1990er Jahre allerdings nicht in einer gezielten politischen und militärischen Strategie für den Umgang mit den Konflikten im Südkaukasus niederschlug. Im August 2008 heizte sich die Lage an der georgisch-südossetischen Demarkationslinie auf. Wiederkehrende Scharmützel eskalierten in der Nacht zum 8. August in einen georgischen Angriff auf Südossetien. Russische Truppen marschierten daraufhin in Südossetien und Abchasien ein und besetzten Teile des georgischen Kernlands. Die fünf Tage dauernden Kampfhandlungen wurden durch einen von der französischen EU-Ratspräsidentschaft vermittelten Waffenstillstand beendet. Wesentliche Punkte des Abkommens bleiben aber bis heute unerfüllt: so etwa der Zugang internationaler Beobachter zu Südossetien und Abchasien sowie die Reduzierung der dort stationierten russischen Streitkräfte auf den Status quo ante. Im Gegenteil, die russische Militärpräsenz hat sich seit 2008 durch den Aufbau russischer Militärbasen und die bereits erwähnten Allianzverträge weiter verstärkt. Russlands Interesse und Politik, seinen Einfluss in der Region zu erweitern, hat eindeutig eine geostrategische Dimension. Die während des letzten Jahrzehnts verstärkten Bestrebungen der Europäischen Union und der NATO, den Südkaukasus in euro-atlantische Strukturen zu integrieren, stoßen in Moskau auf Ablehnung. Russland betrachtet die Staaten der früheren UdSSR als natürliche Einflusssphäre und möchte das weitere Vordringen westlicher Interessen in der Region begrenzen. Obwohl Europa und die USA Georgiens pro-westlichen Kurs fördern, sehen weder die EU noch die NATO mittelfristig die Aufnahme Georgiens als Mitgliedsstaat vor. Ohne Beistandsgarantien des Westens wird Georgien damit zum Spielball der Ambitionen Russlands sowie der schwankenden Interessenlage der USA und der EU. Die georgische Bevölkerung unterstützt überwiegend eine Annäherung an den Westen, allerdings bröckelt dieser Rückhalt aufgrund immer wieder enttäuschter Erwartungen. Für Russland bietet sich damit die Möglichkeit, über regionale Zusammenschlüsse wie die Eurasische Union Anreize für eine wirtschaftliche Anbindung Georgiens zu setzen. Die Konflikte der 1990er Jahre zwischen Georgien und Südossetien bzw. Abchasien wurden durch ein durch russische Vermittlung erzieltes Waffenstillstandsabkommen beendet. Bei den nachfolgenden Verhandlungen unter Beteiligung der Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) konnte bis 2008 weder die Beilegung der politischen Streitfragen noch ein Friedensvertrag erreicht werden. Nach dem Augustkrieg 2008 wurden auf Betreiben Russlands die seit 1993 bestehenden Beobachtermissionen der UNO und der OSZE in Georgien beendet. An deren Stelle entsandte die Europäische Union unbewaffnete zivile Beobachter. Diese Mission (European Union Monitoring Mission – EUMM) besteht weiter und konnte durch einen Mechanismus zur Prävention gewaltsamer Zwischenfälle eine lokale Entspannung des Konflikts erreichen. Allerdings haben die BeobachterInnen der EUMM keinen Zutritt zu südossetischem und abchasischem Gebiet. Bemühungen zur Konfliktlösung verlaufen seit 2008 im Rahmen des sogenannten Genfer Prozesses zur Stabilisierung der Lage in der Region. Dort treffen unter dem Ko-Vorsitz von EU, UNO und OSZE die VertreterInnen Georgiens, Russlands, Abchasiens und Südossetiens zu Verhandlungen zusammen. In den bis Ende September 2015 durchgeführten 33 Gesprächsrunden wurden jedoch bislang keine substanziellen Fortschritte erreicht.

Georgien wurde nach kurzer staatlicher Unabhängigkeit (1918-1921) Teil der Sowjetunion. Südossetien wurde im Rahmen der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik (GSSR) in die UdSSR eingegliedert und erhielt 1922 den Status eines Autonomiegebiets. Abchasien wurde zunächst als eigenständige (allerdings mit der GSSR assoziierte) Sowjetrepublik in die UdSSR aufgenommen, 1931 aber auf Betreiben Josef Stalins zu einer Autonomierepublik herabgestuft. Als ethnisch definierte Autonomiegebiete waren nun sowohl Südossetien als auch Abchasien Teil der GSSR, verfügten aber über eigene politisch-administrative Institutionen. Die Ethnien lebten größtenteils friedlich zusammen; allerdings beklagten die Eliten der Autonomiegebiete wiederholt die politische und wirtschaftliche Diskriminierung ihrer Regionen. Die von Michail Gorbatschow eingeleitete Glasnost und Perestroika (ab 1986) führten in der UdSSR zu einer teilweisen Demokratisierung des politischen Systems. In den Unionsrepubliken, darunter in Georgien, wurden Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit laut. Die autonomen Gebiete fürchteten nun, in einem unabhängigen Georgien ihren Status und ihre Privilegien einzubüßen. Parallel zur georgischen Unabhängigkeitsbewegung entstanden ossetische und abchasische nationalistische Gruppierungen. Einigungsversuche scheiterten angesichts der fehlenden Erfahrung aller Seiten in der friedlichen Beilegung politischer Konflikte. Hinzu kam der Verlust des Gewaltmonopols des georgischen Staates: Paramilitärische Gruppen standen häufig nur noch nominell unter der Kontrolle der zusammenbrechenden staatlicher Institutionen. Nach Beendigung der gewaltsamen Phase beider Konflikte blieben Südossetien und Abchasien völkerrechtlich Bestandteil Georgiens. De facto wird aber seit den 1990er-Jahren die Bildung eigenständiger Staaten vorangetrieben, die sich politisch nach Russland orientieren und auch wirtschaftlich völlig von dem großen Nachbarn abhängig sind. Die staatliche Eigenständigkeit von Südossetien und Abchasien wird bisher nur von Russland, Nicaragua, Venezuela und Nauru anerkannt. Aufgrund des Engagements Russlands auf Seiten Abchasiens und Südossetiens waren die georgisch-russischen Beziehungen von Anfang an gespannt. Georgien betrachtete Russland nicht als neutralen Vermittler, sondern als Konfliktpartei. Es gelang Tbilisi jedoch nicht, eine seit 2004 betriebene Internationalisierung der Verhandlungsformate und Mechanismen zur Friedenssicherung durchzusetzen. Russland erkannte die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 als eine Möglichkeit, den Alleingang des Westens in der Kosovofrage zum eigenen Vorteil zu nutzen, und verstärkte seine politische und wirtschaftliche Unterstützung für Abchasien und Südossetien. Georgien intensivierte daraufhin sein Streben, der NATO-beizutreten. Ab Juli 2008 eskalierten Zusammenstöße zwischen georgischen Sicherheitskräften und südossetischen Milizen entlang der De-facto-Grenze, bei denen auch auf beiden Seiten Zivilisten zu Schaden kamen. Eine besonders intensive Phase solcher Zwischenfälle veranlasste schließlich Georgien dazu, Anfang August 2008 Südossetien militärisch anzugreifen. Der Angriff wurde mit Unterstützung russischer Truppen innerhalb weniger Tage zurückgedrängt, die in der Folge nicht nur Südossetien und Abchasien, sondern bis Mitte September 2008 auch Gebiete im georgischen Kernland besetzten. Die fünftägigen Kampfhandlungen forderten insgesamt 850 Menschenleben und führten zeitweilig zur Flucht von mehr als 130.000 Menschen.

Wohl nirgendwo in der Welt ist die Konzentration ungelöster regionaler Konflikte so hoch, wie im Kaukasus. Sie reichen zum Teil weit zurück in die Geschichte und werden mitunter im Namen der Religionen ausgetragen, die hier auf der relativ kleinen Fläche von 440.000 Quadratkilometern nebeneinander existieren: Sunnitische und schiitische Strömungen des Islam konkurrieren mit der orthodoxen christlichen Religion; zugleich setzt sich das Adat, das ungeschriebene Gewohnheitsrecht und die Regel für die Lebensweise der Nordkaukasier, gegen fundamentalistische islamische Strömungen zur Wehr; in der Ebene vor dem Nordkaukasus leben buddhistische Kalmücken; in den Bergen Dagestans und Aserbaidschans sind Bergjuden zu Hause, die ihre mosaische Religion mit den Bräuchen der Bergvölker, dem Adat, verbunden haben. Noch vielfältiger sind die nationalen Wurzeln der rund 30 Millionen Kaukasier. Zwischen 40 und 50 Völker werden dort gezählt. Berücksichtigt man die zahlreichen Dialekte, die in abgelegenen Gebirgstälern gesprochen werden, ist die Zahl der Sprachen sogar noch höher. Schon Plinius d. Ä. (23 o. 24-79 n. Chr.) berichtete, dass die Römer in Dioskurias (heute Suchumi in Abchasien) 130 Dolmetscher gebraucht hätten. Doch meist sind die religiös-ethnischen Differenzen lediglich Aspekte des selben Problems. Im Kern geht es letztlich um politische und wirtschaftliche Interessen, meist um Landbesitz. Denn die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen sind rar im Kaukasus. Der brisanteste Konflikt schwelt zwischen dem islamisch geprägten Aserbaidschan und dem christlich-orthodoxen Armenien, das sich auf die Hilfe Moskaus stützen kann. Das Verhältnis dieser beiden Länder, wenn man die Nichtexistenz von Beziehungen überhaupt so nennen kann, ist ganz und gar zerrüttet. Die Gräben zwischen beiden Ländern sind so tief, dass letztlich niemand weiß, wie angesichts dessen der Konflikt um Berg-Karabach - eine völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende, seit Anfang der 1990er Jahre aber von Armenien beherrschte Exklave - gelöst werden soll. Berg-Karabach ist mit 4400 Quadratkilometern etwa fünfmal so groß wie Rügen. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Gebiet, dessen Grenzen später - wie so viele im Kaukasus - von Stalin willkürlich gezogen wurden, ein Zankapfel zwischen beiden Ländern. Die Armenier glauben, Berg-Karabach, im Russischen Nagorno-Karabach, auf Armenisch Arzach, sei ihr historisches Siedlungsgebiet. Im Mittelalter hatten sich hier noch Reste des armenischen Staates in Form kleiner Fürstentümer halten können, als die anderen Teile des Landes schon okkupiert worden waren. Nachdem Armenien zunächst zwischen Byzanz und Iran, später zwischen Arabern und Türken geteilt worden war, siedelten sich in Arzach immer mehr Türken an. Sie kamen und nannten die Region Karabach - "Schwarzer Garten". Als der Transkaukasus im 19. Jahrhundert ans russische Imperium angegliedert wurde, geriet ein Teil von Karabach-Arzach unter die Verwaltung des Gouvernements Eriwan, der andere wurde dem Gouvernement Elisawetpolsk - heute Stepanakert - zugeschlagen. Nachdem die drei transkaukasischen Republiken Aserbaidschan, Armenien und Georgien nach dem Ersten Weltkrieg kurzzeitig unabhängig geworden waren, gehörte Berg-Karabach zeitweilig zu Armenien. Mit dem türkisch-sowjetrussischen Friedensschluss von 1921 wurde die Region dann aber als Autonomie Aserbaidschan zugeschlagen. Zu sowjetischer Zeit war es somit ein autonomes Gebiet innerhalb der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik, in dem Aserbaidschaner und Armenier - gezwungenermaßen - zusammenlebten. Damals, so die Klage in Eriwan, hätten die Machthaber in Baku absichtlich die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Karabach-Armenier gebremst, ihre ethno-kulturelle Identität unterdrückt und eine zielgerichtete Veränderung der Demografie im Interesse der Aserbaidschaner betrieben. Die Armenier hätten sich immer dagegen gewehrt. In einer Anhörung vor dem armenischen Parlament im März 2005 machte der damalige Sekretär des Sicherheitsrates und Verteidigungsminister Sersch Sarkisjan, seit April 2008 Präsident des Landes, das Zentralkomitee der kommunistischen Partei in Moskau für den erneuten Ausbruch des Konflikts 1988 verantwortlich. Von dort seien widersprüchliche Signale ausgegangen, "die einerseits die armenische Seite ermunterten, den Weg für die demokratische Selbstbestimmung der Armenier in Nagorno-Karabach zu suchen, und die andererseits Aserbaidschan aufstachelten, jeder Status-Veränderung von Karabach hart entgegenzutreten und dabei die Prinzipien der territorialen Integrität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten zu betonen". Es gebe Grund zu der Annahme, sagte Sarkisjan weiter, "dass die massenhaften Pogrome und Morde an der friedlichen armenischen Bevölkerung von Sumgait, Kirowabad und Baku, aber auch die ethnische Säuberung in Nord-Arzach mit Wissen des ZK der KPdSU stattgefunden haben".Pogrome hatte es freilich auch schon sehr viel früher immer wieder gegeben. So kam es 1905 in Baku in revolutionär aufgeheizter Atmosphäre zu einem Massaker, nachdem eine Gruppe von Armeniern im Zentrum der Ölstadt einen aserbaidschanischen Ölarbeiter erschossen hatte. Dieses rächte der armenische Fürst Andronik auf blutige Weise, nachdem er 1918 mit seiner Privatarmee nach Baku eingerückt war. 1919, nach dem Einmarsch türkischer und deutscher Truppen durften sich wiederum die Aserbaidschaner drei Tage lang aus Rache für das Massaker von 1918 in der Stadt austoben, während Türken und Deutsche von außerhalb der Stadt zuschauten. "Man rächte sich gründlich und nach allen Regeln der Vergeltung. Zum Grundsatz wurde die Parole erwählt, für einen Mohammedaner zwei Armenier, und zwar unter Berücksichtigung der Klassenzugehörigkeit der Armenieropfer. Für einen mohammedanischen Arzt wurden nun zwei armenische Ärzte getötet, für einen mohammedanischen Rechtsanwalt zwei armenische Rechtsanwälte und so weiter (...)." Unter sowjetischer Herrschaft schwelte der Konflikt weiter, kam aber unter dem Deckel einer weit überlegenen Militärmacht zunächst nicht zum Ausbruch. Nach dem Pogrom von Sumgait 1988 brachen dann allerdings alle Dämme. Die Zentralmacht in Moskau hatte schon nicht mehr die Kraft, die angestaute Wut auf beiden Seiten einzudämmen. Im Sommer des gleichen Jahres erklärten die noch existierende kommunistische Parteiführung von Berg-Karabach und die dortige Verwaltung den Anschluss an Armenien. Moskau unterstellte Karabach seiner direkten Verwaltung, was am Ort keine Folgen mehr hatte: Karabach und Armenien erklärten im Dezember 1989 ihre Vereinigung. Daraufhin brachen in Aserbaidschan erneut anti-armenische Pogrome aus. Moskau versuchte 1990 mit der Entsendung von Truppen nach Baku einzugreifen, verschärfte die Lage damit jedoch zusätzlich. Ein blutiger Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Gebirgsregion forderte bis zum Waffenstillstand von 1994 auf beiden Seiten bis zu 50.000 Tote. Fast 800.000 Aserbaidschaner und rund 300.000 Armenier wurden zu Flüchtlingen. In dieser militärischen Auseinandersetzung konnten sich die paramilitärischen Einheiten von Berg-Karabach gegenüber der regulären, aber schlecht ausgerüsteten und unzureichend ausgebildeten aserbaidschanischen Armee auch deshalb durchsetzen, weil sie unterstützt wurden von den verbliebenen armenischen Bruchstücken der sowjetischen Armee und russischen Einheiten. Die Armenier eroberten zunächst einen direkten Zugang zu Karabach, den sie später erweiterten. Heute haben sie rund 20 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums okkupiert. Im offiziell zu Aserbaidschan gehörenden Berg-Karabach leben heute etwa 145.000 Einwohner mit eigener Regierung und Verfassung, die meisten sind Armenier. Die ehemals dort siedelnden Aserbaidschaner wurden vertrieben. Die sogenannte Republik Berg-Karabach ist international nicht anerkannt. Die Regierung in Baku verlangt Karabach nebst den angrenzenden, von Armenien besetzten Regionen wieder zurück. Sie beruft sich dabei auf das völkerrechtliche Prinzip der Unverletzlichkeit der territorialen Integrität und wird dabei von internationalen Gremien unterstützt. Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete 1993 vier Resolutionen zur Berg-Karabach-Frage, die ebenfalls den Abzug der armenischen Truppen aus den besetzten aserbaidschanischen Bezirken forderten. Am 14. März 2008 verabschiedete die UN-Vollversammlung mit 39 Stimmen, bei sieben Gegenstimmen und 100 Enthaltungen, noch einmal eine Resolution zum Konflikt um Berg-Karabach, in der sie von Armenien erneut einen "sofortigen und vollständigen Abzug der Truppen aus den besetzten aserbaidschanischen Gebieten" forderte. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew reichte das nicht, er wollte Taten sehen und gefiel sich in gelegentlichen militärischen Drohgebärden. Unmittelbar vor seiner Wiederwahl zum Präsidenten im Oktober 2008 hatte er noch einmal in markigen Worten klar gemacht, dass er die Abtrennung von Berg-Karabach auf keinen Fall hinnehmen werde. Er kündigte einen "totalen Angriff auf Armenien" auf allen Ebenen an - diplomatisch, politisch, ökonomisch, propagandistisch und militärisch. 4,5 Milliarden US-Dollar hat Alijew in den fünf Jahren seiner Amtszeit für die Rüstung ausgegeben. Er versprach, dass die Ausgaben für das Militär auch in den kommenden Jahren die anderen Etatposten übersteigen würden.

Das war allerdings zunächst nicht mehr als Theaterdonner. Der Krieg um Südossetien vom August 2008 hat die Regierungen in Baku und Eriwan aufgeschreckt. Vor allem in Aserbaidschan geht die Furcht um, ähnliches - ein Krieg mit nachfolgender Anerkennung der Souveränität der Separatisten durch Russland - könnte sich möglicherweise in Berg-Karabach wiederholen. Das wollen die Aserbaidschaner auf keinen Fall, womit die militärische Option zur Rückgewinnung ihrer Gebiete weitgehend unwahrscheinlich geworden ist. Das Risiko, alles zu verlieren, ist nach den Erfahrungen der Georgier zu groß. Im Herbst 2008 ergriff der russische Präsident Dimitri Medwedjew die Initiative und lud die Staatschefs beider Länder, Ilham Alijew und Sersch Sarkisjan, nach Moskau ein. Nach dem Krieg mit Georgien und der einseitigen Anerkennung der Separatistenregimes von Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten, was außer Nikaragua kein anderer Staat der Welt nachvollziehen wollte, sah Moskau Handlungsbedarf. Es wollte sich nun in der Rolle des Friedensstifters und Krisenmanagers präsentieren, der eingefrorene Konflikte elegant und waffenfrei zu lösen vermag. Dagegen wäre letztlich, so es gelingt, nichts einzuwenden. Nur hat Russland schon in der Abchasien- und der Südossetien-Frage einseitig Position gegen Georgien bezogen und die "eingefrorenen Konflikte" benutzt, um Druck auf Tbilissi auszuüben. Im Karabach-Konflikt steht Russland hinter Armenien, das sich mit seinen beschränkten Ressourcen die Besetzung fremder Gebiete ohne russische Rückendeckung gar nicht hätte leisten können. Die Rolle des neutralen Vermittlers für Moskau erscheint deshalb zumindest zweifelhaft. Dennoch reisten beide Präsidenten Anfang November 2008 in die russische Hauptstadt. Im frisch restaurierten Schloss Meiendorf am Stadtrand von Moskau präsentierten sie eine Deklaration der drei Staaten, in der sie sich zur Regulierung des Karabach-Konflikts mit politischen Mitteln verpflichteten. Der "direkte Dialog zwischen Aserbaidschan und Armenien unter Vermittlung Russlands, der USA und Frankreichs als Co-Vorsitzende der Minsker Gruppe der OSZE" solle auf der Grundlage des Völkerrechts fortgesetzt werden. Auf diese Weise wolle man günstige Bedingungen für "die wirtschaftliche Entwicklung und die allseitige Zusammenarbeit in der Region" schaffen. Die Präsidenten Aserbaidschans und Armeniens verpflichten sich in dem Dokument, ihre Bemühungen in dieser Richtung fortzusetzen, unter anderem auch durch Kontakte auf höchster Ebene. Diese Vereinbarung war bewusst so allgemein und letztlich nichtssagend gehalten, damit sie auch die Staatschefs der tief zerstrittenen Länder Aserbaidschan und Armenien unterzeichnen konnten. Der ursprüngliche Standpunkt Armeniens - Selbstbestimmung für Karabach und die aserbaidschanische Forderung nach Rückgabe der geraubten Territorien - blieben auch nach Verabschiedung der Deklaration von Schloss Meiendorf unverändert. "Es gibt im Moment, objektiv betrachtet, keine Lösung des Konflikts, die für alle Seiten zufriedenstellend sein würde", analysierte Alexej Malaschenko, ein ausgezeichneter Kenner der kaukasischen Verhältnisse vom Moskauer Carnegie-Zentrum. "Deswegen ist es so wichtig, sich regelmäßig zu treffen und in aller Ruhe nichtssagende Papiere zu unterschreiben, denn dies erzeugt die wohltuende Illusion, der Konflikt werde doch irgendwie gelöst." Brandgeruch, den manch einer schon vergessen glaubte, liegt auch im Nordkaukasus wieder in der Luft. Die Einwohner der zu Russland gehörenden autonomen Republik Inguschetien fordern vom Nachbarn Nordossetien den Prigorodny Rayon zurück. Im Dezember 2008 wandten sich die Vertreter von elf inguschetischen gesellschaftlichen Organisationen mit dem Aufruf an ihren Präsidenten Junus-Bek Jewkurow, er möge das umstrittene Gebiet, das die Inguschen während ihrer Deportation nach Mittelasien verloren hatten, wieder unter die inguschetische Verwaltung zurückführen. "Das Land unserer Vorfahren ist heilig!" erklärten sie in der für die kaukasischen Völker so charakteristischen blumigen Sprache. Sie sahen den "Augenblick der Wahrheit" gekommen, "der zeigt, wer wir sind: Ein Volk mit dem Bewusstsein seiner eigenen nationalen Würde, seiner Ehre, seinem Stolz, das fähig ist, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, oder eine graue und prinzipienlose Masse, der alle diese Qualitäten würdevoller Menschen abgehen". Vom föderalen Zentrum, von Moskau also, erwarten diese Inguschen bereits keine Hilfe mehr. Sie sehen sich vor die "harte Notwendigkeit" gestellt, eine eigene Wahl zu treffen, denn: "Die historische Heimat der Inguschen kann unter keinen Umständen zum Gegenstand eines Handels, der Spekulation, des Zurückweichens sein." Der Hinweis auf die "historische Heimat" birgt einige Brisanz. Denn die Inguschen lebten in den vergangenen Jahrhunderten auch in Gebieten, die heute zum Teil zu Tschetschenien, vor allem aber zu Nordossetien gehören. Die heutige nordossetische Hauptstadt Wladikawkas wurde 1924 im Zusammenhang mit der Gründung des Inguschetischen Autonomen Kreises sogar zunächst zu dessen administrativem Zentrum. 1934 verfügte Stalin den Zusammenschluss der Inguschen und Tschetschenen im Tschetscheno-Inguschetischen Autonomen Kreis, der 1936 in die Tschetscheno-Inguschetische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik umgewandelt wurde. Eine der finstersten Stunden schlug den Inguschen und Tschetschenen, die beide unter dem Oberbegriff Wainachen zusammengefasst werden, als Stalin sie 1944 zu Hunderttausenden nach Mittelasien und Kasachstan deportieren ließ und ihre Republik aufgelöst wurde. Zur Begründung führten die Machthaber in Moskau an, Inguschen und Tschetschenen hätten mit den deutschen Truppen kollaboriert. Zwar war dieser Vorwurf in Einzelfällen berechtigt, denn manch ein Kaukasier hegte damals die illusorische Hoffnung, die Bergvölker könnten sich mit Hilfe der Hitlerarmee von der Herrschaft Moskaus befreien. Aber natürlich rechtfertigte dies in keiner Weise die kollektive Abstrafung ganzer Völker, zumal die Deportation und die an den Verbannungsorten herrschenden unmenschlichen Lebensbedingungen so viele Opfer forderten, dass Tschetschenen und Inguschen dem Aussterben nahe waren. Erst 1957, vier Jahre nach Stalins Tod, wurden sie rehabilitiert. Die Tschetscheno-Inguschetische Republik wurde wiederhergestellt und die Vertriebenen durften in ihre Heimat zurückkehren. Doch gab es eine entscheidende Änderung: Der Prigorodny Rayon, der etwa die Hälfte des inguschetischen Siedlungsgebiets ausmachte, verblieb dank der Unterstützung aus Moskau bei Nordossetien. Damit entstand ein Unruheherd, der bis heute wie eine Zeitbombe wirkt. Zwar zogen die Inguschen nach ihrer Rückkehr aus der kollektiven Verbannung auch wieder in den von Nordosseten beherrschten Teil ihrer Heimat. Sie bauten die zerstörten Häuser wieder auf oder kauften den Osseten die Häuser wieder ab, die früher in inguschetischem Besitz waren. Aber wegen dieser als zutiefst ungerecht empfundenen Situation, wegen der ossetischen Verwaltung und des ossetisch geprägten Bildungssystems baute sich im Laufe der Jahre großes Konfliktpotential auf. Die Eskalation folgte kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Am 31. Oktober 1992 brach der Konflikt um den Rayon Prigorodny offen aus. 12.000 russische Soldaten stellten sich auf die Seite der Osseten, 600 Menschen starben auf beiden Seiten. Die Inguschen wurden aufgrund der Übermacht geschlagen, 30.000 Menschen mussten erneut ihre Häuser verlassen und ins inguschetische Kernland fliehen. Ihre Ansprüche haben die Inguschen deshalb noch lange nicht aufgegeben. Das Problem gewann zusätzlich an Brisanz, nachdem Russland im August 2008 Abchasien und Südossetien als unabhängig anerkannte. Das oppositionelle "Volksparlament Inguschetiens" begann umgehend mit einer Unterschriftensammlung. Nach dem Krieg in Georgien und dem gewaltsamen Tod Magomed Jewlojews, eines oppositionellen Unternehmers, wollten seine Mitglieder auf diese Weise den Austritt ihres Landes aus der Russischen Föderation erzwingen. Sie verwiesen darauf, dass Russland ja schließlich auch die Unabhängigkeit der Abchasen und Südosseten anerkannt habe und leiteten daraus ihr eigenes Recht auf einen souveränen Staat ab. Die russische Verfassung sieht allerdings kein Austrittsrecht für seine Regionen vor. Als die Tschetschenen es in den 1990er Jahren dennoch versuchten, überzog Moskau sie mit zwei vernichtenden Kriegen. Unstimmigkeiten gibt es inzwischen auch mit dem Brudervolk der Tschetschenen. Dort wird immer offener der Gedanke einer Wiedervereinigung beider Republiken vorgetragen, was die Inguschen aber ablehnen. Man wolle ja das Recht der Inguschen auf ihre eigene Souveränität nicht schmälern, doch ein Zusammengehen würde der Stabilisierung im Nordkaukasus dienen, heißt es aus inoffiziellen Quellen in Grosny. Wobei hier natürlich die Stabilität gemeint ist, die ein von Moskau eingesetzter tschetschenischer Präsident Ramsan Kadyrow mit seiner brutalen, bis an die Zähne bewaffneten Garde zu bieten in der Lage ist. Im April 2006 ging der damalige Sprecher des tschetschenischen Parlaments noch weiter. Dukuwacha Abdurachmanow schlug einen Zusammenschluss der drei nordkaukasischen Republiken Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan vor. Er griff damit teilweise die Idee des im gleichen Jahr in Inguschetien getöteten tschetschenischen Feldkommandeurs Schamil Bassajew auf. Bassajew hatte einen von Russland unabhängigen Staat im Nordkaukasus schaffen wollen, allerdings unter islamischen Vorzeichen. Magomedsalam Magomedow, damals noch Präsident in Dagestan, dem diese Idee überhaupt nicht gefiel, verwies darauf, dass ein solcher Zusammenschluss nur über ein Referendum realisierbar wäre und sich die Mehrheit der Dagestaner in einer solchen Volksabstimmung ganz sicher gegen einen Zusammenschluss aussprechen würde. Ramsan Kadyrow, der aufmerksam auf die Stimmung in Moskau achtet, die ebenfalls gegen einen Zusammenschluss ist, lehnte diese Idee im Oktober vergangenen Jahres ebenfalls ab. Es fiel jedoch auf, dass auf der offiziellen Website der Regierung in Grosny im Dezember ein Aufruf aus dem Büro des tschetschenischen Menschenrechtsbeauftragten Nurdi Nuchaschijew veröffentlich wurde, der sich genau dafür einsetzte. Nuchaschijew gilt als enger Vertrauter Kadyrows. In dem Aufruf wird auf die zahlreichen Gemeinsamkeiten beider "brüderlicher Völker" verwiesen.

Zwar preist Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow die vermeintliche Stabilität in seinem Lande als vorbildlich und exportwürdig an, aber mit der Realität stimmt das nicht überein. Allein im Oktober 2008 starben in Tschetschenien zehn Vertreter der Staatsmacht beziehungsweise Angehörige von Miliz und Militär. Im gesamten Nordkaukasus wurden im selben Monat 25 Terroranschläge verübt, bei denen mindestens 40 Militärs der Innentruppen und der Rechtsschutzorgane starben. Zum Vergleich: Den Kämpfen in Südossetien fielen 66 Militärangehörige zum Opfer. Nicht nur in Tschetschenien, auch in Inguschetien, in Dagestan, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien gärt es unter der Oberfläche. Überfälle und Mordanschläge gehören dort ebenfalls zur Tagesordnung. Zielobjekte sind in der Regel Beamte der russischen Regionalbehörden oder Landsleute, die für die russischen Behörden und Rechtsschutzorgane arbeiten.Mamuka Areschidse vom Kaukasus-Institut für strategische Studien bringt das unter anderem mit einer neuen muslimischen fundamentalistischen Organisation in Verbindung, dem so genannten Kaukasischen Emirat, auf Tschetschenisch Imarat, das seit Oktober 2007 existiert. Der ehemalige tschetschenische Rebellen-Präsident Doku Umarow - vom Nationalisten zum Islamisten gewandelt - hat diese quasi-staatliche Struktur ins Leben gerufen. "Ein großer Teil derer, die noch mit der Waffe in der Hand gegen die föderalen Truppen und die Moskau gegenüber loyalen Machthaber kämpfen, ließen sich auf Doku Umarow einschwören."Der Regierungschef der Rebellen, Achmed Sakajew, den Umarow für entlassen erklärt hatte, protestierte umgehend in seinem Londoner Exil gegen die Spaltung der Rebellenbewegung im Nordkaukasus. Das führte zu einer sonderbaren Wendung in der undurchsichtigen Gemengelage. Kadyrow, der Sakajew bislang bekämpft hatte, beginnt den Exilanten zu umwerben. Denn nun haben er und Sakajew mit Umarow einen gemeinsamen Feind. Das macht aus dem eben noch Verfemten einen Bundesgenossen. Es ist bisweilen sogar die Rede von Sakajews Rückkehr nach Tschetschenien, was in Moskau ganz und gar nicht gern gesehen wird. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hält mehrere Klagen gegen ihn bereit, darunter wegen Mordes, bewaffneten Aufstands und Terrorismus, und drängt die britischen Behörden seit Jahren vergeblich, Sakajew nach Russland auszuliefern. In dieser Situation wirkt der Alleingang der Kadyrow-Mannschaft wie eine demonstrative Insubordination. Man betrachte Sakajew nicht als Helfershelfer der Bojewiki in den Bergen, auch lehne dieser terroristische Methoden ab und habe sich keiner schweren Verbrechen schuldig gemacht, betonte Lema Gudajew, ein hochrangiger Mitarbeiter in der Administration von Kadyrow. Noch ist unklar, was Kadyrow mit dieser Herausforderung seiner Moskauer Gönner bezweckt. Tatsache ist allerdings, dass der vom damaligen Präsidenten Wladimir Putin protegierte Tschetschene inzwischen über ein Maß an Eigenständigkeit und Bewegungsfreiheit verfügt, wie kein anderer der Moskauer Statthalter im nördlichen Kaukasus bisher. In Moskau fragt man sich inzwischen besorgt, ob Kadyrow seine wachsende Macht auf Dauer tatsächlich im Interesse Moskaus einsetzen wird, oder ob er die Fäden zur Zentrale nach und nach kappt. Zu den Unsicherheiten, die Kadyrows Alleingänge auslösen, kommen aktuell noch die wachsenden Probleme der um sich greifenden Wirtschaftskrise hinzu. Moskau konnte den wachsenden Unmut der islamisch geprägten Nordkaukasier in jüngster Zeit vor allem deshalb kanalisieren, weil genügend Geld vorhanden war, um die örtlichen Eliten ruhig zu stellen. Jetzt geht die Sorge um, das wirtschaftliche Probleme zu sozialen Unruhen führen könnten. In bekannter Manier werden schon jetzt "extremistische Gruppierungen" für mögliche Protestaktionen verantwortlich gemacht. Nikolaj Fedorjak, der stellvertretende Bevollmächtigte des russischen Präsidenten im Föderalbezirk Süd, warnte davor, dass "politische Gruppierungen" den Mord am Bürgermeister von Wladikawkas zu politischen Zwecken ausnutzen könnten.

Ende des 19. Jahrhunderts diente der Begriff des "Great Game" als Metapher für die imperialistische Rivalität zwischen dem russischen Zarenreich und der britischen Krone rund um das Pamirgebirge. Seit einigen Jahren kursiert nun die Vokabel von einem "New Great Game". Mitte der neunziger Jahre beschrieb die Neuauflage dieses Begriffes allein den Wettstreit internationaler Energiekonsortien bei der Ausbeutung der kaspischen Erdöl- und Erdgasvorkommen. Heute ist dieser außerdem Sinnbild für das Konfliktknäuel im Zusammenhang mit der Neuverteilung strategischer Einflusssphären entlang Russlands exsowjetischer Südperipherie. Die oft konfliktträchtig konnotierte Spielmetaphorik wird in der wissenschaftlichen und journalistischen Debatte vor allem zu der Beschreibung der russischen Zentralasienpolitik verwendet. Kritiker bemängeln, dass derartige Rückgriffe sachlich wenig begründet seien, weil durch die damit verbundene Überbewertung geopolitischer und etatistischer Wahrnehmungsmuster der Blick auf die kooperativen Seiten der russischen Zentralasienpolitik verstellt würde. Letztlich werden weder ausschließlich konfliktive noch rein kooperative Perzeptionen der Analyse russischer Zentralasienpolitik gerecht. Vielmehr oszilliert das Engagement des Kreml in der Region zwischen Kooperation und Konfrontation. Welcher außenpolitische Habitus gerade akzentuiert wird, hängt von der herrschenden Ideologie und dem Weltbild der amtierenden Herrschaftseliten ab. In der Moskauer Haltung gegenüber Zentralasien lassen sich deshalb auch verschiedene Phasen unterscheiden.

Bis 1993 vertrat die Gruppe der "Atlantiker" die offizielle außenpolitische Philosophie Russlands. Sie schenkte der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und damit auch Zentralasien wenig Beachtung. Vielmehr diente ausschließlich der Westen als Bezugspunkt für Russlands Identitätssuche sowie als Blaupause für die innen- und wirtschaftspolitische Modernisierung des Landes. Die herrschenden Reformkräfte erachteten das rückständige Zentralasien, aus dem man weder politische noch wirtschaftliche Impulse erwartete, eher als Last für den eigenen Transformationsprozess. Einige Stimmen, darunter die des Schriftstellers Alexander Solschenizyn, forderten sogar die Abkoppelung Russlands von seiner "fremdkulturellen Kolonialperipherie. Im Kreml glaubte man, sich diese Gleichgültigkeit leisten zu können, da die zentralasiatischen Republiken als Neulinge in der Weltpolitik ohnehin auf Russland angewiesen sein würden.

Der national-kommunistische Putschversuch und das Erstarken restaurativ-neoimperialer Kräfte in der russischen Staatsduma 1993/94 sowie die Ernennung Jewgeni Primakows - einem Verfechter hegemonistischer Großmachtambitionen - zum russischen Außenminister beendeten Mitte der neunziger Jahre den Höhenflug der atlantischen Strömung. Die außenpolitische Denkschule des "Eurasismus" oder "liberalen Nationalismus", der seine eifrigsten Vertreter in den Reihen des Militärs, des Sicherheitsapparates und des militärisch-industriellen Komplexes hat, begann sich durchzusetzen. Der postsowjetische Raum sollte fortan im Sinne einer adaptierten Monroe-Doktrin gegen externe Einflüsse (verbal) verteidigt und mit Hilfe verschiedener wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Kooperationsformate unter russischer Führung reintegriert werden. Die wirtschaftliche und militärische Schwäche Russlands sowie Empfindlichkeiten der zentralasiatischen Republiken gegenüber dem Paternalismus des ehemaligen "großen Bruders" erwiesen sich jedoch als kaum überbrückbare Hindernisse auf diesem Weg.

Der Eurasismus der Primakow-Ära erfuhr mit dem Aufstieg Wladimir Putins eine Relativierung. Putin erachtet die ökonomische Erneuerung Russlands als conditio sine qua non für den Wiederaufstieg des Landes zur Großmacht und ersetzte hegemonistische Schutzbekundungen durch einen an der Modernisierung Russlands orientierten Pragmatismus. Moskaus außenpolitische Maxime lautete fortan schlicht: "an der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist Russlands Aufgabe Russland und nicht die Welt". In diesem Kontext ist auch Moskaus Plazet zu den zentralasiatischen "Aufmarschplänen" der Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 zu sehen. Wohlwissend, dass dieser Schritt von der außenpolitischen Elite Russlands sowie von der Mehrheit der eigenen Bevölkerung mit Skepsis aufgenommen wurde, hoffte Putin auf eine "strategische Rente" für sein Entgegenkommen; beispielsweise auf Unterstützung für Russlands WTO-Beitritt, den Erlass alter Sowjetschulden oder die Aufhebung des diskriminierenden Jackson-Vanik-Amendments der USA von 1974 (ein Relikt des Kalten Krieges, das Handelsbeziehungen zu Russland mit der jüdischen Minderheit in Russland gewährten Rechten in Zusammenhang bringt). Die Vereinigten Staaten offerierten aber - sieht man von einer weitgehenden Verstummung der Kritik an Russlands Tschetschenienpolitik ab - keine nennenswerten "quid-pro-quos". Vielmehr setzte Washington eine Reihe diplomatischer Erniedrigungen in Gang: Hierzu zählen der einseitige Rückzug aus dem Anti Ballistic Missile (ABM)-Vertrag Ende 2001 genauso wie die Ausstrahlung von Hörfunksendungen in tschetschenischer Sprache durch "Radio Liberty" im Sommer 2002. Kurz darauf drangen die Vereinigten Staaten in einen weiteren "russischen Hinterhof" ein und entsendeten Militärberater und Elitetruppen nach Georgien. Nahezu unüberbrückbar wurde die Kluft zwischen Russlands Hoffnung auf eine ausgewogene Partnerschaft und Washingtons interessengeleitetem Unilateralismus mit dem US-Einmarsch im Irak. Die Diplomatie der Bush-Administration hat der außenpolitischen Elite Russlands eindrucksvoll vermittelt, dass eine Kooperation auf gleicher Augenhöhe bis auf Weiteres ein Wunschtraum bleiben wird. Diese Erkenntnis mündet seit Anfang des Jahres 2003 in einer teilweisen Revision des Primats der ökonomischen Modernisierung zugunsten eines zunehmend realistischen Außenpolitikverständnisses. Flankiert wird diese Neujustierung durch die Militarisierung der Schaltstellen russischer Außenpolitik. Vor allem in der russischen Präsidialadministration wächst der Einfluss der sogenannten "Silowiki, allesamt Vertreter des staatlichen Gewaltmonopols. Der Handlungsspielraum liberaler Kräfte wird dadurch zusätzlich eingeengt und stimuliert die Formulierung der Kreml-Politik im Kontext (geo-)strategischer Überlegungen. Für Zentralasien ist diese Entwicklung besonders virulent, prallen hier doch russische Schutzmachtinteressen und amerikanische Geostrategie aufeinander wie in keiner anderen exsowjetischen Region. Moskaus nach wie vor eingeschränkte Fähigkeit zur militärischen Machtprojektion wird dabei durch zwei Einflusskanäle kompensiert. Zum einen kraft einer "Butter statt Kanonen"-Politik, die Russlands konsolidierte Wirtschaftskraft für den eigenen Wiederaufstieg zur Großmacht instrumentalisiert. Zum anderen durch die Annäherung der innenpolitischen Ordnungsvorstellungen des Kreml an die der autokratischen Patriarchen Zentralasiens, greifbar in dem zunehmend geringen Stellenwert von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten innerhalb des Putinschen Systems der "gelenkten Demokratie".

Im Gegensatz zu den neunziger Jahren gilt Russland als wirtschaftlich gestärkt. Das Land ist nicht mehr auf westliche Finanzhilfen angewiesen, der Außenhandel boomt, die anhaltend hohen Ölpreise bescheren seit Jahren beträchtliche Haushaltsüberschüsse. Russlands Einfluss auf die zentralasiatischen Volkswirtschaften ist entsprechend gewachsen. Dies gilt nicht allein mit Blick auf den zentralasiatischen Außenhandel, der seit jeher auf Russland fixiert war. Es ist vor allem Russlands Bedeutung als Auffangbecken für das überschüssige Arbeitskräftepotenzial der Region, die sich immer mehr als wirksamer Einflusshebel der Moskauer Zentralasienpolitik erweist. Dies gilt vor allem mit Blick auf Kirgistan und Tadschikistan, den Armenhäusern der Region mit Arbeitslosenraten von stellenweise 70 Prozent. Schätzungen gehen davon aus, dass rund zehn Prozent der erwerbsfähigen tadschikischen Bevölkerung in Russland arbeitet, wo das Lohnniveau etwa fünfmal so hoch ist. Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Arbeitsmigration nach Russland ist enorm. Die Geldsendungen der tadschikischen Gastarbeiter Richtung Heimat belaufen sich auf etwa 1,2 Mrd. US-Dollar jährlich. Dies übersteigt bei Weitem die Staatseinnahmen der tadschikischen Regierung. Wiederholt hat Moskau mit der Verschärfung der Visa-Bestimmungen gedroht, um an anderer Stelle - etwa bei der Stationierung russischer Streitkräfte - Entgegenkommen zu erpressen.

Russland nimmt überdies wachsenden Einfluss auf den für die künftige ökonomische Entwicklung Zentralasiens wichtigen Energiesektor. Zwar spielt Moskau aufgrund der Tatsache, dass nahezu alle Erdöl- und Erdgaspipelines aus Zentralasien Richtung Weltmarkt über russisches Territorium führen, seit jeher eine wichtige Rolle bei der Nutzbarmachung der dortigen Energievorkommen. In den letzen Jahren gelang es aber, diese Position durch langfristige Energie-Lieferverträge mit den zentralasiatischen Patriarchen weiter zu festigen. Dies gilt insbesondere für einen 2003 mit dem turkmenischen Präsidenten Nijasow ausgehandelten "Jahrhundertvertrag". Darin hat sich Turkmenistan, das immerhin über die weltweit viertgrößten Gasvorkommen verfügt, für die nächsten 25 Jahre verpflichtet, den Großteil seines Erdgases an die russische Gasexport, ein Tochterunternehmen des Staatsmonopolisten Gazprom, zu verkaufen. Um die zentralasiatischen Patriarchen zur Unterzeichnung derartiger Abkommen zu bewegen, ist Moskau zu weitreichenden Zugeständnissen bereit. Im Falle des turkmenischen Gasdeals beispielsweise musste die Gazprom auf Druck des Kreml fast doppelt so viel zahlen wie ursprünglich geplant. Ein ähnliches Abkommen verhandelt Moskau derzeit mit Kasachstan: Russland strebt eine Lieferbindung für kasachisches Erdgas im Umfang von jährlich 15 Mrd. Kubikmeter mit einer Laufzeit von 20 Jahren an. Dadurch kämen mehr als 80 Prozent der aktuellen kasachischen Erdgasproduktion unter russische Verfügungsgewalt. Für das kasachische Erdöl bestehen überdies langfristige Transitvereinbarungen über die russischen Energieknotenpunkte Noworossisk und Samara Richtung Europa, dem Hauptabnehmer zentralasiatischer Energieträger.

Die Motivation des Kreml, die sich hinter dem Abschluss derartiger Energiekooperationen verbirgt, ist nicht eindeutig. Einerseits spielen sicher Probleme der russische Energiewirtschaft bei der Erfüllung ihrer Exportverpflichtungen eine Rolle. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die im Oktober 2000 unterzeichnete europäisch-russische Energiepartnerschaft, deren Umsetzung ohne Erdgaszukäufe aus Kasachstan und Turkmenistan gefährdet wäre. Andererseits hat der Kreml in der Vergangenheit wiederholt bewiesen, dass er seine starke Stellung auf dem Energiemarkt der GUS auch als effektives Instrument seiner Außen- und Sicherheitspolitik einzusetzen weiß. So sind die zentralasiatischen Herrschaftseliten stets angehalten, Moskaus entgegenkommende Energiekontrakte durch den Abschluss (sicherheits-)politischer Kooperationsvereinbarungen zu goutieren. Im Juni 2004 beispielsweise unterzeichneten die russische LUKoil und Uzbekneftegaz ein Abkommen zur gemeinschaftlichen Ausbeutung südusbekischer Erdgasfelder. Gleichzeitig vereinbarten Moskau und Taschkent ein bilaterales Sicherheitsabkommen, das russische Modernisierungs- und Ausbildungshilfen für die usbekischen Streitkräfte sowie die Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten umfasst. Aber auch gegenüber energiearmen Staaten wie Tadschikistan und Kirgistan weiß Russland sein "Energieimperium" einzusetzen. Just in dem Moment, als die tadschikische Führung Mitte 2004 den Abzug einer im Land stationierten russischen Gebirgsdivision verfügen wollte, unterbreitete Moskau dem Rachmonow-Regime ein lukratives Angebot, das die kostengünstige Modernisierung der hydroelektrischen Infrastruktur Tadschikistans durch den russischen Strommonopolisten Unified Energy Systems (UES) sowie den Erlass eines Großteils der tadschikischen Außenschulden im Austausch für den Verbleib der russischen Truppen vorsah.

Als weiterer Transmissionskanal russischer Zentralasienpolitik gilt die stete Thematisierung der Gefahr islamistischer Zersetzung postsowjetischer Gesellschaften und Staaten. Dies stößt bei den zentralasiatischen Regierungen, die in der islamistischen Oppositionsbildung mit ihrer Forderung nach der(Wieder-)Errichtung des Kalifats eine derHauptherausforderungen für ihre nur schwach legitimierte Herrschaft sehen, auf offene Ohren. Wiederholt hat Russland seine islamische Krisenperipherie in Tschetschenien und Dagestan als zentrales Segment eines globalen, aber vor allem eurasischen Terrorbogens dargestellt und damit die Grundlage einer gemeinsamen Bedrohungsperzeption gelegt. Daran anknüpfend, propagierte Moskau Ende der neunziger Jahre gegenüber allen fünf zentralasiatischen Republiken eine Reihe multilateraler Initiativen und bilateraler Sicherheitsgarantien gegen den islamistischen Terrorismus. Derartige Bemühungen mündeten aber alsbald in einer "Diskrepanz zwischen erklärten Zielen, lauter Rhetorik und dem tatsächlich Machbaren". Dies gilt insbesondere für die Jahre 1999/2000, als die Taliban-nahe "Islamische Bewegung Usbekistans" (IBU) wochenlange Guerillafeldzüge in Kirgistan und Usbekistan unternahm, Moskaus ressourcenaufreibender Tschetschenien-Konflikt ein militärisches Eingreifen aber nicht zuließ. Vollmundige Ankündungen, wie etwa mit gezielten Vergeltungsaktionen Taliban-Lager zu vernichten, wurden nie in die Tat umgesetzt.

Nach der Stationierung westlicher Truppen in Usbekistan und Kirgistan - als Folge der Ereignisse des 11. September - musste Russland die sicherheitspolitische Initiative in der Region an die USA abtreten: Der Hoffnung der zentralasiatischen Regime auf neue, effizientere Sicherheitspartnerschaften gegen militante Islamisten hatte Moskau nichts entgegenzusetzen. Zunehmende Differenzen in Demokratie- und Menschenrechtsfragen entzauberten aber alsbald die Beziehungen Zentralasiens zum Westen. Vor allem das Karimow-Regime in Usbekistan, das sich zwischenzeitlich zum regionalen Hauptverbündeten Washingtons entwickelte, nutzte das vermeintliche Damoklesschwert des islamischen Fundamentalismus als willkommene Gelegenheit zur Rechtfertigung seines diktatorischen Regierungsstils. Als Reaktion auf diese Entwicklung hielt Washington auf Druck des US-Kongresses bereits im Sommer 2004 Militär- und Wirtschaftshilfen in Höhe von 18 Mio. US-Dollar zurück. Das unnachgiebige Drängen der USA auf eine internationale Untersuchung des blutigen Massakers in Andischan im Frühjahr 2005 beendete die amerikanisch-usbekische Liaison unwiderruflich. Die Forderung Taschkents nach einem Abzug der im usbekischen Khanabad stationierten US-Truppen verschiebt das außenpolitische Koordinatensystem der bevölkerungsreichsten und militärisch stärksten zentralasiatischen Republik wieder Richtung Russland. Sichtbares Zeichen hierfür ist ein im November 2005 von Putin und Karimow unterzeichneter militärischer Beistandspakt, mit dem Russland faktisch das Patronat über das usbekische Regime übernommen hat. Moskau hatte zuvor die Handlungsweise der usbekischen Sicherheitskräfte als notwendigen Kampf gegen den militanten Islamismus gerechtfertigt. In einem Interview äußerte sich der russische Außenminister Lawrow mit den Worten: "an armed grouping that included militants from fundamentalist organisations and Talibs, among others, had long been planning an invasion of Uzbekistan's territory". Mit der Bereitschaft, unterschiedslos jede Art von Oppositionsbildung mit dem Terroristen-Etikett abzustempeln und menschenrechtsverachtende Militäraktionen gegen Zivilisten zu tolerieren, ist Russland der ideale Partner für die von Umsturzängsten geplagten Despoten Zentralasiens.

Der russische Verteidigungsminister Iwanow stellte Anfang 2005 vor dem Council on Foreign Relations in New York unmissverständlich klar, dass russische Interessen in der GUS für Moskau strategische Priorität besitzen und Russland deshalb sehr scharf auf Revolutionsexport innerhalb des postsowjetischen Raums reagieren wird. Derartige Äußerungen werden in Zentralasien mit Wohlwollen vernommen, vor allem weil die politischen Eliten in der aggressiven Demokratisierungsagenda der Bush-Administration eine wesentliche Ursache für die Entmachtung autoritärer GUS-Regime sehen. Von dieser Wahrnehmung profitieren nicht nur Russlands bilaterale Beziehungen mit den zentralasiatischen Staaten, sondern auch um Moskau zentrierte regionale Sicherheitsformate wie die "Organisation des Kollektiven Sicherheitsvertrages" (OKS), eine Weiterentwicklung des erodierten GUS-Sicherheitspaktes von 1992, sowie das Sicherheitsformat der "Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit" (SOZ). Letztere bietet den aktuell deutlichsten Beweis für diese These. Die von Russland und China dominierte Shanghai-Gruppe, der mit Ausnahme Turkmenistans alle zentralasiatischen Republiken angehören, hat sich seit ihrer Gründung 1996 wiederholt US-kritischer Rhetorik hingegeben. Divergierende strategische Loyalitäten unter den SOZ-Mitgliedern setzten den Vereinnahmungsversuchen aus Moskau und Peking bislang aber enge Grenzen. Dies trifft vor allem auf die traditionell schwierigen usbekisch-russischen Beziehungen zu. Lange Zeit verweigerte sich das Karimow-Regime allzu engen Bindungen an Russland und orientierte sich eher an von Moskau abgewandten Kooperationsformaten wie dem Konsultationsforum GUUAM oder dem Partnership for Peace-Programm der NATO. Selbst das Russland wegen seiner umfangreichen slawischen Minderheit traditionell freundlich gesonnene Kasachstan nannte betont "multivektoral" als Hauptattribut seiner Außenpolitik.

Im Juli 2005 aber überraschte die SOZ mit der Forderung nach der Beendigung der "zeitweiligen Nutzung" militärischer Infrastruktur durch die Vereinigten Staaten und die NATO in der Region, da die "aktive Phase des antiterroristischen Kampfes in Afghanistan abgeschlossen" sei. Damit hat diezentralasiatische "Nach-September-Welt" den Westen, allen voran die USA, zum ersten Mal geschlossen mit einem Gefühl des "Unerwünschtseins" konfrontiert. Die Rolle des ins Lager der "revolutionären Westler" gewechselten Kirgistans bei der Formulierung dieser Aufforderung bleibt unklar. Wahrscheinlich ist, dass das wirtschaftlich und militärisch schwache Land dem Druck der übrigen SOZ-Mitglieder nicht standzuhalten vermochte. Im Übrigen wurde der kirgisische Machtwechsel - anders als die vorausgegangenen Ereignisse in Georgien und der Ukraine - in russischen Kommentaren kaum unter geopolitischen Aspekten bewertet. Der Direktor des Moskauer GUS-Instituts, Konstatin Zatulin, stellte lapidar fest: "Hier gibt es keine anti-russische Verschwörung."

Strategische Rivalitäten zwischen Moskau und Peking, das seinen Einfluss in Zentralasien zum Missfallen Russlands in den letzen Jahren sukzessive ausgeweitet hat, lassen die Shanghai-Gruppe aber hinter die OKS als zentralem Vehikel russischer Reintegrationsbemühungen zurücktreten. Seit geraumer Zeit versucht Moskau, der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit der OKS-Mitglieder Russland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Armenien und Weißrussland mehr Substanz zu verleihen. Die bereits erwähnte Selbstherrlichkeit des Kreml gegenüber den einstigen Bruderrepubliken führte aber auch hier zu unterschiedlich starken Abwehrhaltungen. Die Attraktivität einer Mitgliedschaft im GUS-Sicherheitspakt bestand für die zentralasiatischen Staaten letztlich vor allem in dem Privileg, russische Rüstungsgüter zu den gleichen Konditionen beziehen zu können wie das russische Militär. Die Bereitschaft zu militärischer Reintegration war hingegen eher gering. Doch auch hier konnte der Kreml unlängst wichtige Fortschritte vorweisen. So haben Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan nicht nur der Errichtung eines gemeinsamen Luftverteidigungssystems im Rahmen der OKS zugestimmt. Sie unterstützen darüber hinaus die Bildung einer "Schnellen Eingreifgruppe" für Zentralasien, die sich der Eindämmung nichttraditioneller Sicherheitsrisiken wie Terrorismus und Drogenhandel widmen soll.

Die Stärkung des russischen Einflusses auf die zentralasiatischen Republiken lässt für das weitere Schicksal der Region wenig Gutes hoffen. Dies gilt zum einen mit Blick auf die bestehenden Herausforderungen der Systemtransformation. Es ist wenig wahrscheinlich, dass das Putinsche Russland bei den lokalen Herrschaftseliten für mehr Demokratie und Menschenrechtsschutz oder die Liberalisierung der größtenteils im Niemandsland zwischen Plan- und Marktwirtschaft stecken gebliebenen Volkswirtschaften werben wird. Aber gerade dies wäre für die Festigung zentralasiatischer Staatlichkeit essentiell. Zum anderen standen die politischen Entscheidungsträger im Kreml seit jeher vor der Frage, ob Stabilität oder nicht vielleicht doch Instabilität in Zentralasien für die eigenen Interessen vorteilhafter ist. Letztere konserviert schließlich kostengünstig alte Abhängigkeiten. Bereits in der Vergangenheit soll Russland hierzu erfolgreich in die Rolle des Konfliktmanipulators geschlüpft sein; so auch im Herbst 2002, als Moskau im Verdacht stand, bürgerkriegsähnliche Unruhen im südlichen Kirgistan zu schüren. Zuvor hatte sich Ex-Präsident Akajew gegen die Errichtung einer unter dem Banner der OKS stehenden russischen Luftwaffenbasis im kirgisischen Kant ausgesprochen.

Als Russland am 8. August 2008 unter Berufung auf den Schutz russischer Staatsbürger den georgischen Angriff auf die südossetische Hauptstadt Zchinwali mit Luftangriffen auf das georgische "Kernland" und dem Einmarsch in Südossetien beantwortet, ruft dies nicht nur in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken mit großen russlandstämmigen Minderheiten große Sorge vor einer russischen Invasion hervor. Auch viele Westeuropäer horchen bei der Begründung des Kampfeinsatzes auf. Sie fühlen sich an das Münchner Abkommen von 1938 erinnert, mit dessen Hilfe Hitler dem Deutschen Reich Teile der Tschechoslowakei eingliederte. Beängstigende Parallelen werden gezogen: Wieder werden das Selbstbestimmungsrecht und der Minderheitenschutz zur Legitimation von Machtpolitik herangezogen; wieder wird über die angemessene Gegenreaktion gestritten - Politik der Stärke oder Politik des Appeasements; wieder kann das Völkerrecht nicht seine friedensstiftende Kraft entfalten, sondern wird zum Spielball staatlicher Interessenpolitik; wieder wird ausgerechnet der Minderheitenschutz, eigentlich bestens geeignet zur Konfliktprävention, zum Wegbereiter der Konflikteskalation. Aus einem Friedensinstrument wird ein Kriegsinstrument. Menschenrechte werden nicht geschützt, sondern schwer verletzt. Anhand der jüngsten Entwicklungen in der Kaukasusregion wird im vorliegenden Beitrag die Instrumentalisierung der Minderheitenpolitik durch Machtpolitik dargestellt und hinterfragt. Aus der Konfliktanalyse des Augustkriegs wird ein Muster abgeleitet, mit dessen Hilfe sich die vielen Konflikte im Kaukasus besser verstehen und die ebenso vielfältigen Lösungsansätze einordnen und bewerten lassen. Diesem Konfliktmuster wird ein Verantwortungsmuster gegenübergestellt, um die unterschiedliche Verantwortung der Akteure im Minderheitenschutz herauszustellen. Dabei wird aufgezeigt, wo Politik und Völkerrecht ansetzen müssen, um blanker Machtpolitik in ethnischen Konflikten stärker Einhalt gebieten zu können. Die Konfliktlandschaft des Kaukasus ist so vielfältig und zerklüftet wie der Kaukasus selbst. Mehrere Konflikte überlagern sich, und die verschiedenen Akteure sind durch eine Vielzahl von Konfliktgegenständen miteinander verwickelt, wodurch eine Lösung erheblich erschwert wird. Angesichts der verfahrenen Lage im Südkaukasus, die trotz einigen Bemühens der internationalen Politik seit mehr als 15 Jahren nicht entschärft werden konnte, wurden diese Konflikte auch als frozen conflicts bezeichnet - eine sehr trügerische Beschreibung, wie sich herausgestellt hat. Während der Nordkaukasus auf russischem Staatsgebiet liegt, setzt sich der Südkaukasus aus den drei Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan zusammen. Diese Unterscheidung ist für die internationale Politik von großer Bedeutung, da sie im Südkaukasus aufgrund der geringeren Machtfülle dieser Staaten über mehr Handlungsmöglichkeiten verfügt. Die Entwicklungen im Nord- und Südkaukasus stehen jedoch in engem Zusammenhang, da die regionalen Akteure zum Teil grenzüberschreitend agieren und die Konflikte gegenseitig ausstrahlen. Zu den regionalen Akteuren zählen auch die Sezessionsgebiete, unter anderem Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach. Hinzuweisen ist auch auf die Republik Moldau und das dortige Sezessionsgebiet Transnistrien, die nicht direkt zum Südkaukasus gehören, jedoch eine ähnliche Konfliktstruktur aufweisen. Umrahmt wird der Südkaukasus von den drei großen Regionalmächten Russland, Türkei und Iran. Als externe Akteure treten die USA und die Europäische Union in der Region auf. Verschiedene Netzwerke weisen bereits auf wichtige Konfliktlinien hin. So kooperieren die Regierungen der Sezessionsgebiete ebenso untereinander, wie die von Sezession bedrohten Staaten. Zudem durchziehen zwei politische Achsen die Region: vertikal die Achse Russland - Armenien - Iran und horizontal die Achse Türkei - Georgien - Aserbaidschan. Durch die Aufnahme der drei südkaukasischen Staaten in die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) 2004, den avisierten NATO-Beitritt Georgiens und den Abschluss wichtiger Ölverträge hat sich zudem die euroatlantische Vernetzung intensiviert. Diese Netzwerke bieten allerdings nur eine erste grobe Orientierung. Genauer betrachtet sind die regionalen und internationalen Beziehungen weit differenzierter, wie das Beispiel Aserbaidschan zeigt, das einen (energie)politischen Spagat zwischen West und Ost versucht. Der Südkaukasus ist somit eine politisch in sich zerrissene Region, die - weit entfernt von einem stabilisierenden regionalen Integrationsprozess - noch lange nicht zu einer einheitlichen politischen Gestalt zusammengefunden hat. Dies befördert die Instrumentalisierung der regionalen Konflikte durch regionale und externe Akteure. Drei übergeordnete Konfliktgegenstände lassen sich hierbei erkennen, wobei im Folgenden nur auf den ersten Punkt näher eingegangen werden soll: (1) Fragen des Selbstbestimmungsrechts der Völker; (2) Fragen der Sicherheitspolitik; (3) Fragen der Energiepolitik

Ungelöste Fragen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker durchziehen als Konfliktlinien zwischen den Wohnsitzstaaten der Minderheiten/Völker und den Sezessionsgebieten den Nord- wie Südkaukasus. Die aus dem Selbstbestimmungsrecht abgeleiteten Sezessionsforderungen zielen direkt auf die territoriale Integrität der Wohnsitzstaaten, die diese aus dem Souveränitätsprinzip ableiten. Dieser ungelöste Konflikt zweier völkerrechtlicher Prinzipien - das dynamische Selbstbestimmungsrecht der Völker gegen das statische Souveränitätsprinzip der Staaten - eskalierte in den 1990er Jahren in der Kaukasusregion gleich mehrfach. Den nach Unabhängigkeit strebenden Parteien blieb ein entscheidender Erfolg jedoch verwehrt. Sie blieben de jure Bestandteil der jeweiligen Wohnsitzstaaten, auch wenn sie in vielen Fällen eine gewisse Form der Unabhängigkeit von der Staatsgewalt und somit eine de facto-Staatlichkeit erlangen konnten. Seither versuchen die Konfliktparteien ungeachtet der in den 1990er Jahren geschlossenen Waffenstillstände neben politischen auch weiterhin mit gewaltsamen Mitteln ihre entgegengesetzten Ziele durchzusetzen. Konfliktregelung statt Konflikteskalation verspricht das politische Instrument des Minderheitenschutzes. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Minderheitenschutz stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Beide Konzepte dienen der Herstellung von Freiheit vor Fremdherrschaft. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Reichweite. Während das sogenannte "äußere Selbstbestimmungsrecht" - unter sehr engen Voraussetzungen - nur "Völkern" zukommt und das Recht auf Sezession einschließt, beschränkt sich der Schutz der "Minderheiten" auf politische Lösungen, welche die Staatsgrenzen unberührt lassen. Die weitreichendsten Instrumente des Minderheitenschutzes sind Autonomieformen, etwa die Territorial- oder die Personalautonomie. Ein effektiver Minderheitenschutz hat damit das Potential, einen Ausgleich zwischen den Zielen beider Parteien - Abwehr von Fremdherrschaft und Wahrung der territorialen Integrität - herzustellen. Sollen Präzedenzfälle vermieden werden, die das Entstehen kaum überlebensfähiger Mikrostaaten befördern, ist der Minderheitenschutz damit die beste Option politischer Konfliktlösung. Zwingende Voraussetzung für eine solche Lösung ist das Vertrauen in die Politik. Dieses herzustellen stellt beim Minderheitenschutz eine hohe Hürde dar: Erstens gilt es das Misstrauen der Staaten zu beheben, dass die Minderheiten die Autonomie nicht dazu missbrauchen, um doch noch eine Sezession herbeizuführen; und zweitens das Misstrauen der Minderheiten abzubauen, dass die Staatsregierung echte Autonomie gewährt, die einen eigenen Staat als Garant für die Freiheit unnötig macht. Scheitern politische Lösungen am gegenseitigen Misstrauen, weiten sich die meisten Minderheitenkonflikte tatsächlich zu Sezessionskonflikten aus. Diese Entwicklung war auch auf dem Kaukasus zu beobachten. Zwar gelang es Georgien 2004 mit einem Autonomiestatut die Schwarzmeerprovinz Adscharien wieder näher an Tbilissi (Tiflis) zu binden. Das äußerst restriktive Autonomiestatut, das weiterhin viele Kompetenzen bei der georgischen Zentralregierung beließ, rief aber nicht nur die Kritik der Venedig-Kommission des Europarats hervor, sondern zerstörte auch Vertrauen in eine solche politische Lösung. Sämtliche weiteren Autonomieangebote wurden von den abtrünnigen Gebieten seither zurückgewiesen. Obwohl hierfür verschiedene Gründe ursächlich sind, die auf beiden Seiten liegen, spielt das durch die aggressive Kriegsrhetorik Georgiens und den Augustkrieg noch verstärkte Misstrauen dabei eine große Rolle. Dieses Misstrauen zu überwinden, wäre ein wichtiger Schritt zu einer dauerhaften Konfliktlösung. Die Staatengemeinschaft kann dazu beitragen in Form von Vermittlung bei der Aushandlung der Autonomiestatute, bei deren Überwachung und beim Aufbau von Vertrauen. Doch das dringend benötigte internationale Engagement wird ebenfalls durch Misstrauen erschwert, denn die Konfliktparteien trauen auch den externen Akteuren nicht, die aus ihrer Sicht eigene Interessen verfolgen bzw. zugunsten des Gegners agieren. Dies weist auf die beiden anderen Konfliktgegenstände hin, die hier nur gestreift werden können.

Die Herstellung von Sicherheit ist oberstes Ziel aller in der Kaukasusregion agierenden Akteure. Dies betrifft nicht nur die dort siedelnden Völker und Minderheiten, denn der Region wird in verschiedener Hinsicht auch für die Sicherheit weit entfernt lebender Völker geostrategische Bedeutung beigemessen: zum einen in Hinblick auf die Ausweitung von geopolitischen Einflusssphären, zum anderen in Hinblick auf die Bedrohungen durch schwache oder zerfallende Staaten (failed states), organisierte Kriminalität und Terrorismus. In ihrer Sicherheitsstrategie von 2003 weist die EU diesbezüglich explizit auf den Südkaukasus hin. Eine weitere Konfliktlinie entspannt sich entlang der Energiepolitik. Dabei geht es den verschiedenen Akteuren unter anderem darum, den Einfluss Russlands zu vergrößern bzw. zu verringern. Dem Südkaukasus als Transitregion kommt also auch hierbei große geostrategische Bedeutung zu. Aus sicherheits- und energiepolitischen Erwägungen ist damit die regionale Stabilität des (Süd)Kaukasus im Interesse der externen Akteure. Dieses Interesse an Stabilität teilten im August 2008 jedoch weder Georgien noch Russland. Beide Staaten suchten den Krieg, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Während für Georgien hauptsächlich die oben genannten Konfliktgegenstände (1) und in Teilen auch (2) ausschlaggebend waren - Georgien wollte die Reintegration der abtrünnigen Provinzen sowie seinen NATO-Beitritt durchsetzen -, waren für Russland neben innenpolitischen Motiven eher die Konfliktgegenstände (2) und (3) - Sicherheit und Energie - ausschlaggebend, wofür es den Konfliktgegenstand (1) - Fragen des Selbstbestimmungsrechts - jedoch argumentativ nutzte. Auffällig war dabei der Strategiewechsel der russischen Außenpolitik. War es in den 1990er Jahren noch ihr Ziel, die territoriale Integrität Georgiens zu stützen, um den auch im Nordkaukasus erhobenen Sezessionsforderungen entgegenzuwirken, änderte sich die Politik des Kremls mit der Annäherung Georgiens an den Westen, insbesondere an die NATO. Das Eindringen der fremden Macht in die russische Einflusssphäre erschien Moskau bedrohlicher, als die Rückwirkungen der georgischen Sezessionskonflikte. Die russische Regierung begann, die georgischen Konflikte weniger als Bedrohung, sondern vielmehr als Instrument zu betrachten, mit dessen Hilfe es seinen Einfluss auf die internationale Politik ausbauen konnte. Gestützt wurde diese Rationalität durch die in der NATO wiederholt vorgetragene Position, dass ihr nur Staaten ohne innere Konflikte beitreten könnten. Fortan baute Russland daher sein Instrument "georgische Spannungen" weiter aus, was dazu führte, dass sich letztlich zwei eng zusammenhängende Konflikte entwickelten: erstens der Sezessionskonflikt zwischen Georgien und seinen abtrünnigen Provinzen und zweitens der bilaterale Konflikt zwischen Georgien und Russland. Beide Konflikte sind zudem mit dem latenten Konflikt zwischen Russland und dem Westen in Fragen der Sicherheits- und Energiepolitik verknüpft. Eine Instrumentalisierung der innenpolitischen Sezessionskonflikte, um außenpolitische Ziele zu erreichen, wird nicht nur Russland vorgeworfen, sondern auch Georgien und den externen Akteuren. Da jedoch befürchtet wird, dass Russland diese Politik auch in anderen Regionen wiederholen könnte, soll hier nur auf das russische Vorgehen eingegangen werden. Russland bediente sich harter und weicher Instrumente zur Beeinflussung der ethnischen Konflikte - wovon hier nur einige genannt werden können - und ging dazu auf verschiedenen Ebenen vor. Zunächst sicherte es sich seinen unmittelbaren Einfluss im Krisengebiet, indem es die separatistischen Gebiete auf vielfältige Weise aktiv unterstützte. Durch die Ausgabe russischer Pässe vergrößerte es die russischen Minderheiten, die in den Genuss verschiedener Vergünstigungen kamen. Wichtige Posten in Abchasien und Südossetien wurden mit russischen Gewährsleuten besetzt. Im März 2008 hob Russland einseitig das Embargo gegen die beiden abtrünnigen Gebiete auf, das 1996 von der GUS verhängt worden war. Militärisch trat Russland als Sicherheitsgarant auf. Diese politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und militärische Verflechtung fand ihren (vorläufigen) Höhepunkt in der Anerkennung beider Gebiete als Staaten durch Russland. Mit beiden "Staaten" hat Russland seitdem militärische Beistandspakte geschlossen. Dies wirft Fragen auf: Warum können zwei Prinzipien des Menschenrechtsschutzes - das Selbstbestimmungsrecht und der Minderheitenschutz - von einem Staat derart für dessen Machtpolitik vereinnahmt werden, ohne dass dieser von der Staatengemeinschaft daran gehindert wird? Sind die Akteure ihrer Verantwortung für den Minderheitenschutz in geeigneter Weise nachgekommen oder tragen sie durch ein mögliches Fehlverhalten im Minderheitenschutz eine Mitverantwortung für die Eskalation der Konflikte? Antworten hierauf haben die Entwicklungen im internationalen Minderheitenschutz zu berücksichtigen. Dabei wird zwischen der primären und der sekundären Schutzverantwortung unterschieden. Primär liegt der Schutz der Minderheiten stets in der Verantwortung des Wohnsitzstaates und der Minderheiten, erst sekundär liegt er in der Verantwortung des Mutterstaates und - wie es hier bezeichnet wird - erst tertiär in der Verantwortung der Staatengemeinschaft Die primäre Schutzzuständigkeit, die sich aus dem Grundsatz der staatlichen Souveränität ergibt, ist in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und politischen Dokumenten geregelt. Besondere Erwähnung verdienen in Europa das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (RÜ) und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (SC). Beides sind völkerrechtliche Verträge des Europarats, die Minderheitenrechte benennen und über einen Monitoring-Mechanismus verfügen. Während Georgien die Sprachencharta bisher nicht unterzeichnet hat, ist das Rahmenübereinkommen im April 2006 in Georgien in Kraft getreten. Diese Entwicklungen, vor allem aber auch die von Misstrauen geprägte georgische Autonomiepolitik haben letztlich jedoch zu keiner einvernehmlichen Konfliktlösung geführt. Georgien hätte seine primäre Schutzverantwortung für die auf seinem Gebiet siedelnden Minderheiten und Völker glaubwürdiger herausstellen müssen. Aber wie verhält es sich mit den Minderheiten? Diese tragen ebenfalls primäre Verantwortung für die Konfliktlösung. Zwar gibt es keine völkerrechtlich verankerte "Loyalitätspflicht", dennoch wird in Artikel 20 des Rahmenübereinkommens festgehalten, dass die Angehörigen nationaler Minderheiten "die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und die Rechte anderer, insbesondere diejenigen von Angehörigen der Mehrheit oder anderer nationaler Minderheiten, zu achten" haben. Auch der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten (engl. HCNM) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) weist auf die Verantwortung der Minderheiten hin, "to participate in cultural, social and economic life and in public affairs, thus integrating into the wider national society." Statt nach Integration drängen Abchasien und Südossetien jedoch nach Sezession. Es kam zu Flucht und Vertreibung von ethnischen Georgiern aus beiden Gebieten. Da der Handlungsspielraum der georgischen Regierung in diesen Gebieten jedoch äußerst beschränkt ist, sind Abchasien und Südossetien diesbezüglich in die Pflicht zu nehmen. Es ist jedoch fraglich, ob sämtliche Eliten in den Sezessionsgebieten Interesse an einer Konfliktlösung haben. Zum einen lassen die engen Verbindungen nach Moskau daran Zweifel aufkommen, zum anderen bietet die "Nichtstaatlichkeit" ein breites Spektrum an Möglichkeiten zur Bereicherung. Auch wurden mitunter diverse Vermittlungsangebote seitens Dritter abgelehnt.

Die sekundäre Schutzzuständigkeit für den Minderheitenschutz liegt bei den Mutterstaaten, von denen einige diese Verantwortung sogar mit Verfassungsrang ausgestattet haben. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit bildet dabei das Konzept der Nation ein wichtiges Verbindungselement zwischen Mutterstaat und nationaler Minderheit. Seit den 1990er Jahren nehmen immer mehr Staaten diese Schutzzuständigkeit für "ihre" Minderheiten, die in anderen Staaten siedeln, wahr. Neben zwischenstaatlichen Verträgen sind einseitige (gesetzliche) Regelungen mit exterritorialer Geltung eine durchaus gängige Praxis. Nach Auffassung der Venedig-Kommission sollten derartige unilaterale Regelungen folgende völkerrechtlichen Prinzipien respektieren: a) das Prinzip der territorialen Souveränität, b) das Prinzip Pacta sunt servanda (Verträge sind einzuhalten), c) das Prinzip gutnachbarschaftlicher Beziehungen sowie d) das Prinzip der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, insbesondere das Diskriminierungsverbot. Wichtige internationale Gremien wie die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE), haben sich dieser Auffassung angeschlossen. Darauf aufbauend hat 2008 der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten Empfehlungen zum Umgang mit nationalen Minderheiten in zwischenstaatlichen Beziehungen herausgegeben. Damit verfestigen sich im Soft Law Bedingungen und Grenzen für das Zustandekommen und für den Inhalt von Minderheiten schützenden Maßnahmen durch Mutter- und Drittstaaten. Einen völkerrechtlichen Vertrag, der die sekundäre Schutzzuständigkeit umfassend regelt, gibt es bisher nicht. Allerdings enthalten einige völkerrechtliche Verträge Teilaspekte dieser sekundären Schutzzuständigkeit. Auch Russland hat sich auf seine Schutzverantwortung als Mutterstaat berufen, allerdings steht das russische Vorgehen in starkem Kontrast zu den Empfehlungen des HCNM. Demnach sollten Staaten unter anderem davon Abstand nehmen, ihre Staatsbürgerschaft en masse zu verleihen. Die unilateralen Maßnahmen sollten in Konsultation und mit Zustimmung des Wohnsitzstaates getroffen werden und insbesondere in Bereichen außerhalb von Kultur und Bildung eher die Ausnahme bleiben. Ferner sind sie nicht diskriminierend auszugestalten und sollten weder den sozialen Zusammenhalt noch die territoriale Integrität gefährden. Maßnahmen, die separatistische Tendenzen stützen könnten, sind zu unterlassen. Schließlich sollten die Mutterstaaten eine konsistente Minderheitenpolitik betreiben, das heißt, ihre Anstrengungen zum Schutz der Minderheiten im eigenen Staatsgebiet sollten mit den Schutzmaßnahmen für "ihre" Minderheiten in fremden Staaten vergleichbar sein. Ohne auf sämtliche Empfehlungen des HCNM einzugehen, ist es offensichtlich, dass Russland seine sekundäre Schutzverantwortung überaus extensiv interpretiert und ausgeübt hat.

Die "tertiäre Schutzverantwortung", wie sie hier bezeichnet wird, liegt bei der Staatengemeinschaft. Aufträge zum Minderheitenschutz und/oder der Achtung des Selbstbestimmungsrechts finden sich in den Regelwerken der meisten internationalen Organisationen. Wieweit diese Verantwortung bei innerstaatlichen Konflikten reicht, ist jedoch umstritten, da dem normativen Auftrag des Menschenrechtsschutzes das Interventionsverbot entgegensteht. Die Auflösung dieses völkerrechtlichen Konflikts folgt in der Praxis meist politischen Erwägungen. Doch selbst wenn eine internationale Responsibility to Protect befürwortet wird, ist dies eine rein subsidiäre Verantwortung. Es können an dieser Stelle nicht sämtliche Aktionen der Staatengemeinschaft, die zur Konfliktlösung im Kaukasus angestrengt wurden, nachgezeichnet werden. Allen ist jedoch gemeinsam, dass sie den Augustkrieg nicht verhindern konnten. Die Gründe reichen von ungenügenden eigenen Anstrengungen über Behinderungen durch die Konfliktparteien bis hin zu strukturellen Defiziten des Völkerrechts und der internationalen Politik. Daran lassen sich einige Ansatzpunkte erkennen, wo die Staatengemeinschaft aktiv werden sollte, damit ähnliche Konfliktszenarien in Zukunft verhindert werden können. Im Bereich der primären Schutzverantwortung hat die Staatengemeinschaft die Anwendung und Fortentwicklung der genannten völkerrechtlichen Verträge voranzutreiben. Die Staaten selbst sollten bei der Ausgestaltung ihrer Minderheitenpolitik noch stärker die internationalen Standards beachten und auf die Expertise der internationalen Beratungsorgane zurückgreifen. Im Bereich der sekundären Schutzverantwortung sind die juristisch bisher erst schwach ausgebildeten Regelungen von der Staatengemeinschaft politisch zu untermauern und völkerrechtlich weiterzuentwickeln. Da diese Regelungen Klarheit über die Bedingungen und Grenzen der Schutzpolitik der Mutterstaaten schaffen, können sie eine Koppelung verschiedener Konfliktgegenstände erschweren und damit die Instrumentalisierung des Minderheitenschutzes vermeiden helfen. Letztlich sind auch im Bereich des Selbstbestimmungsrechts weitere Entwicklungen nötig. In den meisten Fällen entscheidet nicht das betroffene Volk über sein äußeres Selbstbestimmungsrecht, sondern die Staatengemeinschaft. Diese hält mit dem Instrument der Anerkennung den Schlüssel für die Aufnahme des neuen Staates in ihre Gemeinschaft in der Hand. Das bringt sie in die Verantwortung, deutlich herauszustellen, aufgrund welcher Kriterien sie einem Volk das äußere Selbstbestimmungsrecht "gewährt". Eine solche ausführliche Begründung würde eine Systematisierung des Selbstbestimmungsrechts hervorbringen und die überaus problematische Berufung auf vermeintliche Präzedenzfälle erschweren. Auch wäre die Staatengemeinschaft gezwungen, selbst eine einheitliche Linie zu verfolgen. In der Europäischen Union wurde mit dieser Verregelung bereits begonnen. Seit Anfang der 1990er Jahre - und zuletzt im Falle des Kosovo - machen die EU-Staaten die Anerkennung als Staat unter anderem von der Gewährleistung von Minderheitenrechten abhängig. Daneben gilt es, die indirekte Instrumentalisierung des äußeren Selbstbestimmungsrechts durch einen Drittstaat auszuschließen. Will man im Kaukasus eine Situation vermeiden, wie sie auf Zypern entstanden ist, sollte sich die Staatengemeinschaft darum bemühen, so rasch wie möglich einen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu finden, die aus der vorzeitigen Anerkennung von Abchasien und Südossetien erwachsen. Dabei sollte sie darauf bestehen, dass wer auch immer die Herrschaft in Abchasien und Südossetien ausübt, auch die primäre Verantwortung übernehmen muss, die dortigen Minderheiten zu schützen - selbst wenn es sich um keine international anerkannten Staaten handelt. Es ist offensichtlich, dass das Völkerrecht bei der Regelung ethnischer Konflikte in seiner Reichweite begrenzt ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der internationale Verregelungsprozess diese Grenzen bereits erreicht hat. Aufgabe der Politik ist es, die Rechtsentwicklung weiter zu fördern und das Völkerrecht dort, wo es an Grenzen stößt, mit politischen Maßnahmen auszugleichen. Wo das Völkerrecht jedoch von Machtpolitik instrumentalisiert zu werden droht, muss die Politik entschieden und kohärent dagegen auftreten. Nur so kann sichergestellt werden, dass das große Potential des Minderheitenschutzes zukünftig nicht mehr zur Konflikteskalation, sondern zur Konfliktprävention eingesetzt wird.

Die sekundäre Schutzzuständigkeit für den Minderheitenschutz liegt bei den Mutterstaaten, von denen einige diese Verantwortung sogar mit Verfassungsrang ausgestattet haben. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit bildet dabei das Konzept der Nation ein wichtiges Verbindungselement zwischen Mutterstaat und nationaler Minderheit. Seit den 1990er Jahren nehmen immer mehr Staaten diese Schutzzuständigkeit für "ihre" Minderheiten, die in anderen Staaten siedeln, wahr. Neben zwischenstaatlichen Verträgen sind einseitige (gesetzliche) Regelungen mit exterritorialer Geltung eine durchaus gängige Praxis. Nach Auffassung der Venedig-Kommission sollten derartige unilaterale Regelungen folgende völkerrechtlichen Prinzipien respektieren: a) das Prinzip der territorialen Souveränität, b) das Prinzip Pacta sunt servanda (Verträge sind einzuhalten), c) das Prinzip gutnachbarschaftlicher Beziehungen sowie d) das Prinzip der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, insbesondere das DiskriminierungsverbotWichtige internationale Gremien wie die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE), haben sich dieser Auffassung angeschlossen. Darauf aufbauend hat 2008 der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten Empfehlungen zum Umgang mit nationalen Minderheiten in zwischenstaatlichen Beziehungen herausgegeben. Damit verfestigen sich im Soft Law Bedingungen und Grenzen für das Zustandekommen und für den Inhalt von Minderheiten schützenden Maßnahmen durch Mutter- und Drittstaaten. Einen völkerrechtlichen Vertrag, der die sekundäre Schutzzuständigkeit umfassend regelt, gibt es bisher nicht. Allerdings enthalten einige völkerrechtliche Verträge Teilaspekte dieser sekundären Schutzzuständigkeit. Auch Russland hat sich auf seine Schutzverantwortung als Mutterstaat berufen, allerdings steht das russische Vorgehen in starkem Kontrast zu den Empfehlungen des HCNM. Demnach sollten Staaten unter anderem davon Abstand nehmen, ihre Staatsbürgerschaft en masse zu verleihen. Die unilateralen Maßnahmen sollten in Konsultation und mit Zustimmung des Wohnsitzstaates getroffen werden und insbesondere in Bereichen außerhalb von Kultur und Bildung eher die Ausnahme bleiben. Ferner sind sie nicht diskriminierend auszugestalten und sollten weder den sozialen Zusammenhalt noch die territoriale Integrität gefährden. Maßnahmen, die separatistische Tendenzen stützen könnten, sind zu unterlassen. Schließlich sollten die Mutterstaaten eine konsistente Minderheitenpolitik betreiben, das heißt, ihre Anstrengungen zum Schutz der Minderheiten im eigenen Staatsgebiet sollten mit den Schutzmaßnahmen für "ihre" Minderheiten in fremden Staaten vergleichbar sein. Ohne auf sämtliche Empfehlungen des HCNM einzugehen, ist es offensichtlich, dass Russland seine sekundäre Schutzverantwortung überaus extensiv interpretiert und ausgeübt hat.

Die "tertiäre Schutzverantwortung", wie sie hier bezeichnet wird, liegt bei der Staatengemeinschaft. Aufträge zum Minderheitenschutz und/oder der Achtung des Selbstbestimmungsrechts finden sich in den Regelwerken der meisten internationalen Organisationen. Wieweit diese Verantwortung bei innerstaatlichen Konflikten reicht, ist jedoch umstritten, da dem normativen Auftrag des Menschenrechtsschutzes das Interventionsverbot entgegensteht. Die Auflösung dieses völkerrechtlichen Konflikts folgt in der Praxis meist politischen Erwägungen. Doch selbst wenn eine internationale Responsibility to Protect befürwortet wird, ist dies eine rein subsidiäre Verantwortung. Es können an dieser Stelle nicht sämtliche Aktionen der Staatengemeinschaft, die zur Konfliktlösung im Kaukasus angestrengt wurden, nachgezeichnet werden. Allen ist jedoch gemeinsam, dass sie den Augustkrieg nicht verhindern konnten. Die Gründe reichen von ungenügenden eigenen Anstrengungen über Behinderungen durch die Konfliktparteien bis hin zu strukturellen Defiziten des Völkerrechts und der internationalen Politik. Daran lassen sich einige Ansatzpunkte erkennen, wo die Staatengemeinschaft aktiv werden sollte, damit ähnliche Konfliktszenarien in Zukunft verhindert werden können. Im Bereich der primären Schutzverantwortung hat die Staatengemeinschaft die Anwendung und Fortentwicklung der genannten völkerrechtlichen Verträge voranzutreiben. Die Staaten selbst sollten bei der Ausgestaltung ihrer Minderheitenpolitik noch stärker die internationalen Standards beachten und auf die Expertise der internationalen Beratungsorgane zurückgreifen. Im Bereich der sekundären Schutzverantwortung sind die juristisch bisher erst schwach ausgebildeten Regelungen von der Staatengemeinschaft politisch zu untermauern und völkerrechtlich weiterzuentwickeln. Da diese Regelungen Klarheit über die Bedingungen und Grenzen der Schutzpolitik der Mutterstaaten schaffen, können sie eine Koppelung verschiedener Konfliktgegenstände erschweren und damit die Instrumentalisierung des Minderheitenschutzes vermeiden helfen. Letztlich sind auch im Bereich des Selbstbestimmungsrechts weitere Entwicklungen nötig. In den meisten Fällen entscheidet nicht das betroffene Volk über sein äußeres Selbstbestimmungsrecht, sondern die Staatengemeinschaft. Diese hält mit dem Instrument der Anerkennung den Schlüssel für die Aufnahme des neuen Staates in ihre Gemeinschaft in der Hand. Das bringt sie in die Verantwortung, deutlich herauszustellen, aufgrund welcher Kriterien sie einem Volk das äußere Selbstbestimmungsrecht "gewährt". Eine solche ausführliche Begründung würde eine Systematisierung des Selbstbestimmungsrechts hervorbringen und die überaus problematische Berufung auf vermeintliche Präzedenzfälle erschweren. Auch wäre die Staatengemeinschaft gezwungen, selbst eine einheitliche Linie zu verfolgen. In der Europäischen Union wurde mit dieser Verregelung bereits begonnen. Seit Anfang der 1990er Jahre - und zuletzt im Falle des Kosovo - machen die EU-Staaten die Anerkennung als Staat unter anderem von der Gewährleistung von Minderheitenrechten abhängig. Daneben gilt es, die indirekte Instrumentalisierung des äußeren Selbstbestimmungsrechts durch einen Drittstaat auszuschließen. Will man im Kaukasus eine Situation vermeiden, wie sie auf Zypern entstanden ist, sollte sich die Staatengemeinschaft darum bemühen, so rasch wie möglich einen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu finden, die aus der vorzeitigen Anerkennung von Abchasien und Südossetien erwachsen. Dabei sollte sie darauf bestehen, dass wer auch immer die Herrschaft in Abchasien und Südossetien ausübt, auch die primäre Verantwortung übernehmen muss, die dortigen Minderheiten zu schützen - selbst wenn es sich um keine international anerkannten Staaten handelt. Es ist offensichtlich, dass das Völkerrecht bei der Regelung ethnischer Konflikte in seiner Reichweite begrenzt ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der internationale Verregelungsprozess diese Grenzen bereits erreicht hat. Aufgabe der Politik ist es, die Rechtsentwicklung weiter zu fördern und das Völkerrecht dort, wo es an Grenzen stößt, mit politischen Maßnahmen auszugleichen. Wo das Völkerrecht jedoch von Machtpolitik instrumentalisiert zu werden droht, muss die Politik entschieden und kohärent dagegen auftreten. Nur so kann sichergestellt werden, dass das große Potential des Minderheitenschutzes zukünftig nicht mehr zur Konflikteskalation, sondern zur Konfliktprävention eingesetzt wird.

Eine entscheidende Grundlage für den politischen Austausch der letzten Jahre waren die Entwicklungen direkt nach der Erlangung der Unabhängigkeit der Ukraine und Georgiens im Jahr 1991. Nachdem im Juli 1992 diplomatische Beziehungen zwischen den Ländern aufgenommen worden waren, wurde am 13. April 1993 der "Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe zwischen der Ukraine und der Republik Georgien“ von den Präsidenten Leonid Kutschma und Eduard Schewardnadse unterzeichnet. Erst zehn Jahre später, mit der Rosen-Revolution in Georgien (2003) und der Orangen Revolution in der Ukraine (2004), konnten die Verbindungen aber entscheidend gestärkt und vorangebracht werden. Das Streben nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verband die beiden Länder nun in besonderem Maße. Gemeinsame Ziele der Außenpolitik waren die Integration in EU und NATO und eine Weiterentwicklung regionaler Kooperationen. Die Intensivierung politischer Beziehungen und das Bekenntnis zu demokratischer Entwicklung war von zahlreichen Treffen der Staatsoberhäupter begleitet. Bereits kurz nach der Orangen Revolution, sogar noch vor Juschtschenkos Vereidigung zum neuen Präsidenten, fand am 5. Januar 2005 ein Treffen zwischen ihm und Saakaschwili in den Karpaten statt. Hier wurde die "Karpaten-Deklaration“ unterzeichnet, die die Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass die "demokratische Welt“ beide Länder in ihrer weiteren Entwicklung unterstützen würde. "We are confident“, hieß es auf der Webseite von Präsident Saakaschwili, "that the Revolution[s] in Ukraine and Georgia represent the new wave of freedom in Europe, which will bring the ultimate victory of liberty and democracy throughout the European continent“. Schon kurze Zeit später, am 25. März 2005, unterzeichneten Juschtschenko und Saakaschwili in Kiew die "Deklaration über die Entwicklung strategischer Zusammenarbeit zwischen Georgien und der Ukraine“. Hierin wurde bekräftigt, dass eine strategische Beziehung schon deshalb bestehe, weil beide Länder zu Europa und dem euro-atlantischen Raum gehörten, und es sei gemeinsames Ziel, Georgien und die Ukraine in die EU und die NATO zu bringen. Man müsse unter anderem bei der Demilitarisierung der Schwarzmeer-Region zusammenarbeiten und für eine Weiterentwicklung der GUAM (1997 gegründeter Zusammenschluss von Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldova) sorgen. In Anknüpfung an die Karpaten-Deklaration wurde am 12. August 2005 die Bordschomi-Deklaration unterzeichnet. Sie enthält erneut das Bekenntnis zur Stärkung von Demokratie und Zivilgesellschaft und die Überzeugung, dass Georgien und die Ukraine Mitglieder der "Europäischen Familie“ seien, die europäischen Werte und Geschichte teilten. In der Deklaration wurde die Schaffung einer "Community of Democratic Choice“ angekündigt, die eine Gemeinschaft von Demokratien "in diesem Teil Europas“ darstellen sollte. Weitere Präsidenten aus Ländern an Ostsee, Schwarzem und Kaspischem Meer (Baltic-Black-Caspian Sea region), die "unsere Vision von einem neuen Europa teilen“, wurden zur Teilnahme aufgerufen. Die "Declaration of the Countries of the Community of Democratic Choice“ wurde schließlich am 2. Dezember 2005 von den Präsidenten der Ukraine, Georgiens, Litauens, Lettlands, Estlands, Rumäniens, Moldovas, Sloweniens und Mazedoniens in Kiew unterschrieben, wobei auch Beobachter aus den USA, von der EU und OSZE anwesend waren. Mit dem Amtsantritt von Wiktor Janukowytsch im Februar 2010 änderten sich die politischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Georgien: Die Initiativen zur Stärkung von Demokratie kamen weitgehend zum Stillstand. Von georgischer Seite hatte schon längere Zeit eine gewisse Skepsis gegenüber Wiktor Janukowytsch bestanden, weil jener sich während des Augustkriegs 2008 – Russland folgend – für eine Anerkennung der Unabhängigkeit Süd-Ossetiens und Abchasiens ausgesprochen hatte. Er nahm diese Forderung allerdings zurück, nachdem er zum Präsidenten gewählt worden war, was von georgischer Seite begrüßt wurde. Festzuhalten ist, dass Janukowytsch während seiner mittlerweile zweijährigen Amtszeit Tbilisi keinen offiziellen Besuch abgestattet hat. Anstelle von Präsidententreffen, wie sie in der Amtszeit Juschtschenkos stattgefunden hatten, finden Begegnungen nun auf Ebene der Minister statt. So war der georgische Außenminister Grigol Waschadse im Juni 2010 in Kiew, und im Juli 2011 besuchte der ukrainische Außenminister Kostjantyn Hryschtschenko Georgien. Die Stellvertretenden Ministerpräsidenten Serhij Tihipko und Giorgi Baramidse statteten einander mehrfach Besuche ab und nahmen an Sitzungen der Zwischenstaatlichen Wirtschaftskommission der Ukraine und Georgiens teil, woraus deutlich wird, dass die Interessen sich in jüngster Vergangenheit auf die Wirtschaft konzentrieren. Die Visumspflicht zwischen beiden Ländern bleibt weiterhin aufgehoben. Am 5. Oktober 2010 wurde das Protokoll über Veränderungen in der "Übereinkunft zwischen der Regierung der Republik Georgien und der Regierung der Ukraine über den Freihandel“ vom 9. Januar 1995 ratifiziert. Dieses Protokoll war von den Regierungen Georgiens und der Ukraine am 17. Juni 2009 unterzeichnet worden und soll der Belebung der wirtschaftlichen Beziehungen dienen. Die Ukraine ist nach der Türkei und Aserbaidschan drittgrößter Handelspartner Georgiens. Die Ukraine exportiert Tabak, Sonnenblumenöl, Getreide, Milchprodukte, Stahlprodukte und elektronisches Zubehör nach Georgien. Der Export betrug im Jahr 2000 ca. 35 Mio. US-Dollar, im Jahr 2011 stieg er auf 706 Mio. US-Dollar (siehe Grafik 1). Im Jahr 2008 hatte er schon einmal fast 658 Mio. US-Dollar betragen, war dann aber eingebrochen. Der Import in die Ukraine aus Georgien besteht hauptsächlich aus Obst, Gemüse, Medikamenten, Wein, anderen alkoholischen Getränken, Mineralwasser, Erdöl und Produkten aus Stahllegierung. In den Jahren 2000 bis 2011 wuchs der Import von ca. 11 Mio. auf ca. 141 Mio. US-Dollar (siehe Grafik 1), mit Einbrüchen in den Jahren 2004 und 2009. Der Transport von Gütern zwischen der Ukraine und Georgien wird hauptsächlich über das Schwarze Meer abgewickelt. Im Jahr 1998 wurde die Strecke Illitschiwsk/Odessa-Batumi, 1999 Illitschiwsk-Poti eröffnet. Diese Verbindungen werden von UkrFerry betrieben; laut Website des Unternehmens bestehen sie bereits seit Dezember 1996 im Rahmen von TRACECA (Transport Corridor Europe – Caucasus – Asia), auch "Neue Seidenstraße“ genannt. Besondere Bedeutung hatte der Schiffsverkehr direkt nach dem Augustkrieg, als der Landweg, der über Russland führt, nicht mehr genutzt werden konnte, weil der Grenzübergang Kasbegi/Oberer Lars geschlossen war. Eine wichtige wirtschaftliche Unterstützung Georgiens durch die Ukraine war die Erhöhung des Imports von georgischem Wein und Bordschomi-Mineralwasser, nachdem Russland die Einfuhr beider Produkte Ende März 2006 wegen angeblicher Qualitätsmängel verboten hatte und damit ein zentraler Absatzmarkt für Georgien weggebrochen war. Die Ukraine wurde zu einem der Hauptabnehmer georgischen Weins. 2010 gingen 46 Prozent des georgischen Wein-Exports in die Ukraine. Wein aus Georgien wird seitdem in der Ukraine aktiv beworben. 2006 wurde beispielsweise eine Wirtschafts- und Handelsabteilung an der Botschaft Georgiens in der Ukraine eingerichtet, die unter anderem für die "Popularisierung“ georgischen Weins zuständig war. Während eines Treffens der GUAM in Kiew im selben Jahr wurde mit großen Werbeplakaten für den Konsum georgischen Weins geworben. Auf ihnen war ein Glas zu sehen, in das Rotwein eingegossen wird, und die Aufrufe lauteten: "Probier den Wein der Freiheit“ und "In ihm ist mehr Freiheit, als erlaubt ist!“ (siehe Abbildung 1). Die Werbeslogans spielten mit zwei Stereotypen: zum einen mit der Vorstellung von Georgien als dem Land der unbesiegbaren Freiheit und zum anderen mit dem Bild vom Volk des Weins und der Lebensfreude. Relativ undurchsichtig ist das Thema Waffenhandel. Medienberichten zufolge war Georgien neben Kenia im Jahr 2008 – dem Jahr des Augustkriegs – der wichtigste Käufer ukrainischer Waffen. Nach dem Krieg machte Russland die Ukraine für Unregelmäßigkeiten im Waffenhandel mit Georgien verantwortlich, die bereits im Jahr 2007 erfolgt sein sollen. Daraufhin wurde vom Parlament am 2. September 2008 eine "Temporäre Untersuchungskommission zur Aufklärung der Umstände und Feststellung der Fakten zu den Lieferungen ukrainischer Kriegstechnik nach Georgien mit einer Verletzung der ukrainischen Gesetzgebung und von Normen des internationalen Rechts“ eingerichtet. Die Kommission stellte fest, dass die Waffenlieferungen von der Ukraine nach Georgien zwar gesetzmäßig und entsprechend den internationalen Abmachungen verlaufen seien. Allerdings sei die instabile Situation jener Zeit in Georgien nicht genügend berücksichtigt worden, und Waffenlieferungen im Vorfeld des Augustkriegs seien auf eine der Situation unangemessene Weise erfolgt. Die Ukraine habe damit nicht nur die Chance auf eine Vermittlerrolle vertan, sondern sei durch ihr unvorsichtiges Verhalten selbst beinahe in den Konflikt hineingezogen worden. Nach dem Augustkrieg hieß es Moskau gegenüber, man habe den Waffenhandel eingestellt. So sagte Julija Tymoschenko im April 2009, die Ukraine würde keine Waffen mehr nach Georgien liefern. Die Frage der militärischen Zusammenarbeit wurde Anfang Februar 2012 erneut zum Thema, als der georgische Stellvertretende Ministerpräsident und Staatsminister für Fragen der europäischen und euroatlantischen Integration Georgi Baramidse der Zeitung Dserkalo tyschnja gegenüber äußerte, dass es – auch unter Janukowytsch – "kein Problem“ im Waffenhandel zwischen beiden Ländern gebe. Das staatliche Unternehmen Ukrspezeksport dementierte die Meldung umgehend – seit fast zwei Jahren seien keine Lieferungen von Kriegstechnik mehr nach Georgien erfolgt. Der kulturelle Austausch zwischen der Ukraine und Georgien wird, wenn er staatlich gefördert wird, von der politischen Elite dazu genutzt, um die Freundschaftlichkeit der Beziehungen zu betonen. So werden zum Beispiel Tage der ukrainischen Kultur in Georgien oder der georgischen Kultur in der Ukraine ausgerichtet. 2005 wurde sogar das "Jahr Georgiens in der Ukraine“ veranstaltet, das vom Stellvertretenden Ministerpräsidenten der Ukraine und vom Minister für Kultur, Denkmalschutz und Sport Georgiens koordiniert wurde. Im April–Mai 2010 fand im Nationalmuseum Georgiens in Tbilisi die Ausstellung "Art Voyage“ statt, in der ukrainische Kunst von den 1950er Jahren bis heute gezeigt wurde. Aus Anlass des zwanzigjährigen Bestehens der Kulturbeziehungen seit der Unabhängigkeit fanden im Mai–Juni 2011 georgische Filmtage in mehreren Städten der Ukraine statt, die von der georgischen Botschaft in der Ukraine unterstützt wurden. Zum zwanzigsten Jahrestag der Unabhängigkeit Georgiens wurden in Kiew Ausstellungen gezeigt und Lesungen sowie Vorträge gehalten; die Veranstaltungen wurden unter dem Titel "Ukraine – Georgien: Zwei Herzen, eine Seele“ durchgeführt. Wichtige symbolische Momente waren die gemeinsamen Einweihungen von Denkmälern durch Juschtschenko und Saakaschwili. Dies betrifft unter anderem das Denkmal für den ukrainischen Dichter Taras Schewtschenko in Tbilisi im März 2007 (Abbildung 2), und das Denkmal für Schota Rustaweli im Juni 2007 in Kiew (Abbildungen 3 und 4). Gemeinsam legten Juschtschenko und Saakaschwili auch den Grundstein für das Freiheits-Denkmal in Tbilisi. Mit Unterstützung Juschtschenkos und Saakaschwilis wurde im März 2007 das „Institut für Ukrainistik“ an der Staatlichen Iwane Dschawachischwili-Universität in Tbilisi gegründet. An der Kiewer Nationalen Taras Schewtschenko-Universität wurde entsprechend ein Lehrstuhl für Kartwelologie geplant. Auf der größten Buchmesse in der Ukraine, dem jährlich stattfindenden „Verlagsforum“ in Lwiw, treten regelmäßig Schriftsteller aus Georgien auf. Literatur aus der Ukraine wiederum wurde auf der Ersten Schwarzmeer-Buchmesse ausgestellt, die vom 27. bis 30. Juni 2008 in Tbilisi stattfand. Sieht man einmal vom politisch unterstützten beziehungsweise dominierten Bereich der kulturellen Begegnung ab und stellt die Frage, wie die Bevölkerungen selbst das Verhältnis zwischen der Ukraine und Georgien einschätzen, kann das Abstimmungsverhalten beim Eurovision Song Contest als Indiz dienen. Die Ukraine nimmt an diesem 1956 gegründeten, jährlich stattfindenden Wettbewerb, dem größten für Popmusik weltweit mit mittlerweile 100 Mio. Fernsehzuschauern, seit 2003 teil, Georgien seit 2008. Im vergangenen Jahr stimmten die Bevölkerungen so positiv wie noch nie zuvor füreinander: Aus der Ukraine wurde für die georgische Band mit der zweithöchsten Punktzahl gestimmt, Georgien gab der Ukraine sogar die höchste Punktzahl.

Die Ukraine galt für die politische Elite Georgiens insbesondere nach Rosen- und Oranger Revolution als „Leader der Region“ in den Annäherungsbestrebungen an die EU. Wenn man den Worten des georgischen Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Staatsministers für Fragen der europäischen und euroatlantischen Integration Georgi Baramidse glauben will, die er unlängst der ukrainischen Zeitung Dserkalo tyschnja gegenüber äußerte, bleibt dies auch weiterhin so. Georgien wiederum gilt in der Ukraine als Vorbild im postsowjetischen Raum für die erfolgreiche Bekämpfung von Korruption und erfolgreiche Umsetzung von Reformen. Die zahlreichen Bemühungen um Kooperation zwischen der Ukraine und Georgien sind von verbalen Bekräftigungen über die Freundschaft begleitet. Mitunter liegen rhetorische Geste und tatsächliche Kooperation jedoch recht weit auseinander. So sagte Saakaschwili im Oktober 2011: „Nie war das Verhältnis zwischen unseren Völkern besser als jetzt.“ Und Janukowytsch verlieh in einem Grußwort zum Unabhängigkeitstag Georgiens im Jahr 2010 seiner Überzeugung Ausdruck, dass sich die „traditionell warmen und freundschaftlichen ukrainisch-georgischen Beziehungen auch weiterhin vertiefen und zum Wohl der Völker der Ukraine und Georgiens entwickeln werden“. Tatsächlich aber finden Treffen derzeit nicht zwischen den Präsidenten, sondern auf der Ebene der Minister statt. Eine ähnlich enge Beziehung, wie jene zwischen Saakaschwili und Juschtschenko, die sogar noch eine symbolische familiäre Dimension bekam, als Juschtschenko Taufpate eines Saakaschwili-Sohnes wurde, besteht im Moment nicht. Die Freundschaftsbekundungen, die unabhängig von der Intensität der Beziehungen in den letzten Jahren gleichermaßen von Juschtschenko, Janukowytsch und Saakaschwili zu hören waren, sind als Rückgriff auf den sowjetischen Freundschafts-Topos und die Rede von den „Brudervölkern“ der Sowjetunion zu verstehen. Auch 20 Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit und eingehenden Bemühungen, die sowjetische Vergangenheit abzulegen, funktioniert dieser Bezug weiterhin, um den Willen zur Zusammenarbeit in der Region zu bekräftigen.