e-Portfolio von Michael Lausberg
Besucherzäler

Reiseland Türkei

Von Margarte Lausberg

Die Türkei erstreckt sich geographisch über zwei Kontinente. Anatolien, der asiatische Teil des türkischen Staatsgebiets, nimmt etwa 97 % der Fläche ein. Der europäische Teil im Nordwesten umfasst etwa 3 % der Fläche, in der auch der Hauptteil der Metropole Istanbul liegt.

Mit einer Küstenlinie von rund 7.200 km Länge grenzt die Türkei im Westen an das Ägaische Meer, im Süden ans Mittelmeer und im Norden ans Schwarze Meer. Das Marmarameer liegt zwischen dem Ägäischen und dem Schwarzen Meer und ist mit diesen jeweils durch eine Meerenge verbunden: im Westen die etwa 65 Kilometer langen Dardanellen, im Osten der Bosporus. Am Bosporus liegt die Millionen-Metropole Istanbul.

Die Landgrenze zu den acht Nachbarländern hat eine Gesamtlänge von 2.648 km. Im Nordwesten grenzt die Türkei an Griechenland und Bulgarien (240 km), im Nordosten an Georgien (252 km), Armenien (268 km), Aserbaidschan (Exklave und autonome Republik Nachitschewan, 9 km), im Osten an den Iran (499 km) und im Süden an den Irak (331 km) und Syrien (822 km). Die politisch geteilte Insel Zypern mit der Republik Zypern mit der und der international nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern befindet sich etwa 70 Kilometer von der Südküste entfernt.

Das verlegte Grab Sulaiman Schah in der Nähe der syrischen Stadt Sarrin ist (Stand Mitte 2014) eine offizielle Exklave. Sie wurde als Hoheitsgebiet durch türkische Soldaten bewacht. Im Februar 2015 verlegte ein Kommandotrupp der türkischen Streitkräfte das Grab erneut und schreifte das Grabmal.

Die Türkei liegt größtenteils auf der Anatolischen Platte, die im Norden und Osten an die Eurasische Platte, im Süden an die Arabische Platte und im Südwesten an die Afrikanische grenzt. Durch die Nordanatolische Verwerfung, eine Transformstörung, gehört vor allem der Norden der Türkei zu den am stärksten erdbebengefährdeten Regionen der Erde, die in den letzten Jahrzehnten mehrmals von Erdbeben erschüttert wurde. Da eine gewisse chronologische Ost-West-Abfolge der Erdbeben in der Nordtürkei festzustellen ist, vermuten Experten, dass in absehbarer Zeit auch Istanbul von einem großen Beben betroffen sein wird. Die letzten großen Beben in der Provinz Koceali wie das Erdbeben von Gölcük waren weniger als 100 km von İstanbul entfernt.

Die Marmara-Region umschließt das Marmarameer und liegt damit teils in Europa, teils in Anatolien, das zu Asien gehört. Der europäische Teil im Norden ist das türkische Thrakien. Auf der thrakischen Hochebene bildet der Fluss Meric die Grenze zu Girechenland. Die Landschaft der Marmararegion ist hügelig und von Büschen und Wäldern bedeckt. Der fruchtbare Ackerboden weicht im Osten einer Steppenlandschaft. Die Metropolregion Istanbul bildet das wirtschaftliche Zentrum der Türkei. Die Millionenstadt Bursa ist Kurort und berühmt für ihre Schwefel- und Thermalquellen; sie liegt zu Füßen des Uludag -Gebirges. Der Berg ist ganzjährig ein beliebtes Ausflugsziel.

Die Ägäis-Region wird ebenfalls landwirtschaftlich intensiv genutzt. Die stark hügelige Landschaft erstreckt sich entlang der Westküste zwischen Çanakkale und Bodrum. Die Küstenregion zählt zu den touristisch am besten erschlossenen Regionen der Türkei. Neben Zypressen und Ölbäumen prägen Weinreben die Landschaft. In dieser Region finden sich viele antike Stätten aus der Zeit der griechischen Besiedlung.

Die Schwarzmeer-Region umfasst den nördlichen Küstenstreifen der Türkei. Sie ist geprägt durch ein mildes, feuchtes Klima, und auf ihrer bergigen Landschaft erstrecken sich große Wälder. Auf dem sehr fruchtbaren Boden werden Tee, Tabak, Mais und Haselnüsse, angebaut.

Die zentralanatolische Region umfasst die inneranatolischen Hochebenen. Hier liegen der Salzsee Tuz Gölü und Gebirgsketten, die stellenweise bis zu 3900 m hochragen. Im Osten liegt Kappadokien, das wegen seiner in Tuffstein getriebenen Wohnhöhlen und Felsenkirchen in bis zu 2000 m hohen Bergkegeln berühmt ist. Inneranatolien ist überwiegend durch eine Steppenlandschaft geprägt und gehört zu den trockensten Gebieten Anatoliens; in der Region um den Tuz Gölü ist die Landschaft wüstenähnlich. Deshalb ist die landwirtschaftliche Nutzung in dieser Region nicht so stark ausgebildet wie in den zuvor genannten Regionen. Vor allem Weizen, Gerste, Hülsenfrüchte, insbesondere Kichererbsen und Obst werden hier angebaut. Das Klima dieser Region ist geprägt durch heiße, trockene Sommer mit kalten Nächten. Die Winter sind mit Temperaturen bis unter −20 Grad Celsius sehr kalt.

In Ostanatolien liegen als Hochgebirgslandschaft einige der höchsten Berge der Türkei, wie der Ararat.. Auch sind hier die Quellflüsse des Euphrat zu finden, der Murat und der Karasu ferner der Oberlauf des Aras der am Ararat vorbei nach Osten dem Kaspischen Meer zustrebt. Der 1640 Meter hoch gelegene Vansee als größter Binnensee des Landes liegt auch in dieser Region.

Südostanatolien ist die älteste Kulturregion der Türkei. Sie wird vom Taurus-Gebirge umschlossen. Hier verlaufen die beiden Flüsse Euphrat und Tigris. Landwirtschaftlich wird diese Region durch Weizen-, Gersten-, Wein-, Oliven- und Pistazienanbau genutzt. Neben Gebirgsverläufen ist die Gegend östlich des Euphrat durch ein Hochplateau geprägt. Im Rahmen des Südostanatolien-Projekts wurden entlang von Euphrat und Tigris zahlreiche Staudämme errichtet; einige sind noch im Bau.

Die Flora der Türkei gilt als die vielfältigste und abwechslungsreichste des Nahen Ostens. Mittlerweile wurden mehr als 9.000 Arten aus über 850 Gattungen bestimmt. Etwa ein Drittel dieser Arten ist endemisch. Gründe für diese extrem hohe Endemitenrate sind das Zusammentreffen verschiedener phytogeographischer Regionen, die klimatische Vielfalt und eine gebirgsreiche Landschaft; Faktoren, die eine starke Ausdifferenzierung ermöglichen. Die Gattungen Verbascum und Astragalus haben hier ihren Verbreitungsschwerpunkt. Viele endemische Arten sind jedoch gefährdet. Die zentralen Steppengebiete werden von Dornpolstern und -sträuchern beherrscht, z. B. Disteln, die der jahrhundertelangen Begrasung der Viehnomaden standhielten. Im Norden, vor allem an der Schwarzmeerküste, finden sich ausgedehnte Nadelwälder und wirtschaftlich genutzte Haselnuss- Mais und Teeplantagen, im Süden eher Obst- und Baumwollplantagen.

Auch sind viele Niederwildarten und Wildschweine heimisch, wobei sich ihr Bestand durch die Jagd beständig dezimiert. An Nutztieren finden sich vorrangig Rinder, Pferde, Büffel, Schafe und Ziegen. Der Kamelbestand ging in den letzten Jahrzehnten stetig zurück; sie werden heute in erster Linie für sportliche Wettkämpfe und nicht mehr als Lastenträger gezüchtet.

An der türkischen Küste trifft man auch auf die verschiedensten Fischarten und auch auf Delphine. Vereinzelt trifft man auch im Meer auf unterschiedliche Haiarten, die jedoch eher nicht in Küstennähe kommen. Die in Europa für ausgestorben gehaltene Mönchrobbe findet man mittlerweile wieder an der Ägäisküste der Türkei und Griechenland.

Die größten Raubtiere, die heute noch in der Türkei leben, sind unter anderem Braunbär, Wolf, Goldschakal und Eurasischer Luchs. Die Streifenhyäne lebt im Südosten des Landes. Vereinzelt trifft man auch Schleichkatzen und Wildkatzen und im Südosten des Landes auf Wüstenwarane und Ichneumone. Im Laufe der Zeit sind Raubtiere gejagt und ausgerottet worden. Der letzte Asiatische Löw wurde im Jahr 1870 erlegt.Der letzte Kaspische Tiger wurde 1970 geschossen. Der im Jahr 1974 für ausgestorben erklärte anatolische Leopard wurde nach mehrjähriger Forschung im Jahre 2013 in der Schwarzmeerregion wiederentdeckt.

Die Türkei ist Brut- und Überwinterungsplatz für zahlreiche Vogelarten. Südlich von Bandirma liegt ein bekanntes Vogelparadies, wo Pelikane, Wildenten, Störche Kormorane, Nachtigallen und Fasane ihre Heimat gefunden haben. Wichtige Kolonien der Rosaflamingos befinden sich im Inneren und im Süden des Landes.

Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in der Türkei ist nicht exakt feststellbar. Bei offiziellen Volkszählungen wird die ethnische Zugehörigkeit nicht erfasst. Ermittelt werden hingegen Muttersprache und Zweitsprache, wobei die Zahlen bei vielen Minderheiten aufgrund der türkischen Assimilationspolitik stark rückläufig sind. Hinzu kommt, dass sich seit Jahrhunderten die verschiedensten Volksgruppen mischen, sodass die Zurechnung zu einer Volksgruppe vielfach schwerfällt.

Die Angaben zu den Ethnien differieren stark, je nachdem, welche Quellen herangezogen werden. Demnach leben in der Türkei folgende Ethnien: 70 bis 77 % Türken, 14 bis 18 % Kurden, 4 % Zaza, 2 % Tscherkessen, 2 % Bosniaken, 1,5 % Araber, 1 % Albaner, 1 % Lasen, 0,1 % Georgien sowie diverse andere ethnische Gruppen und Nationalitäten.

Im Jahre 1914 gab es im Osmanischen Reich etwa 1,3 Millionen Armenier mit der Muttersprache Armenisch. Ihre Zahl ist durch den Völkermord von 1915 bis 1917 und die Vertreibungen auf etwa 40.000 zurückgegangen. Hinzukommen etwa 70.000 illegale armenische Einwanderer.

Die Bevölkerungsgruppe der Türken wird unterschiedlich definiert. Die türkische Regierung zählt seit 1965 Bevölkerungsgruppen dazu, die von anderen Quellen zum Teil als Angehörige anderer Turkvölker angesehen werden. Dies betrifft etwa 600.000 Aserbaidschaner, jeweils bis zu 200.000 Mescheten und Turkmenen und etwa 15.000 Gagausen, jeweils etwa 1.000 Kasachen, Kirgisen, Kumyken, Usbeken und 500 Uiguren.

Die National- und Amtssprache der Türkei ist die Turksprache Türkisch, die von über 80 % der Bevölkerung als Muttersprache und von weiteren 10–15 % als Zweitsprache gesprochen wird. Damit ist das Türkische die mit Abstand wichtigste Sprache in der heutigen Türkei. Die türkische Gebärdensprache wurde im Juli 2005 gesetzlich anerkannt.

Darüber hinaus gibt es etwa zwanzig Sprachen aus insgesamt fünf verschiedenen Sprachfamilien, die heute von nicht-türkischen in der Türkei ansässigen Ethnien und Minderheiten gesprochen werden. In diesem Sinne ist die Türkei ein multiethnischer Staat.

Griechisch, vor allem Pontisch, wurde um 1914 noch von 1,73 Millionen Menschengesprochen, die allerdings durch anhaltende Verfolgung vertrieben wurden. Bis heute sind noch 4.000 Sprecher in Istanbul geblieben. Von den einst weit verbreiteten Aramäischen Sprachen – den Dialekten der aramäischen Christen – ist heute außer dem Turuvo (3.000 Sprecher) nur noch die kleine Hertevin -Sprache (1.000 Sprecher) in der Türkei vertreten. Die früheren aramäischen Sprachen Nestorianisch-Neuaramäisch („Assyrisch“), Chaldäisch-Neuaramäisch (Kaldoyo) und Jüdisch-Neuaramäisch (Lishana Deni) werden heute in der Türkei nicht mehr gesprochen.

Zur kartwelischen Gruppe der kaukasischen Sprachen gehören in der Türkei Georgisch (40.000 Sprecher) und Lasisch (30.000). Außer den schon erwähnten Sprachen Kabardinisch und Adygeisch werden die westkaukasischen Sprachen Abchasisch (5.000) und Abasinisch (10.000) in der Türkei gesprochen.

Andere Minderheitensprachen sind die indogermanischen Sprachen Albanisch (15.000 Sprecher in der Türkei), Romani (25.000) und Domari (30.000). Durch aktuelle Flüchtlingsbewegungen gibt es über die etwa zwanzig genannten Landessprachen hinaus heute kleinere Gruppen von Sprechern der verschiedenen Turksprachen sowie der iranischen Sprachen Ossetisch und Persisch (Farsi). Da es sich hierbei um Flüchtlingsgruppen handelt, werden diese Sprachen nicht zu den „Sprachen der Türkei“ gezählt.

Auf dem Staatsgebiet der heutigen Türkei wurden im Laufe der Geschichte viele bedeutende Sprachen gesprochen, die heute ausgestorben sind. Zu den wichtigsten zählen Hethitisch, Luwisch, Lykisch, Phrygisch, Akkadisch (in der Form des Assyrischen), Altgriechisch, Byzantinisch, Altarmenisch, Lateinisch und das klassische Syrisch, die Religionssprache der aramäischen Christen.

Nach offiziellen Statistiken sind etwa 99 % der türkischen Bevölkerung Muslime. Davon sind ca. 80 % Sunniten, 15-20 % Aleviten und 1-2 % Alawiten. Außerdem leben in der Türkei 0,2 % Christen (125.000) und 0,04 % Juden (23.000). Auch eine kleine Anzahl von Jesiden und der Dönme lebt hier. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten jedoch noch etwa 20 % Christen (insbesondere Armenier und Griechen) auf dem Gebiet der heutigen Türkei und 1923 wurden über 120.000 Juden gezählt.

Die Zahlen sind nur bedingt aussagekräftig, weil jeder Einwohner der Türkei, wenn er nicht explizit als einer anderen Religion zugehörig erklärt wird, automatisch als Muslim erfasst wird. Ein Gegenstück zum Kirchenaustritt gibt es nicht, sodass auch Atheisten, Agnostiker sowie keiner Religionsgemeinschaft angehörende Bürger in der amtlichen Statistik als Muslime erfasst werden. Die genaue Anzahl der Muslime und der konfessionslosen Einwohner ist daher nicht bekannt.

Seit der Gründung der Republik gilt die Trennung zwischen Staat und Religion. Die Stellung des Islams als Staatsreligion wurde im Jahr 1928 unter Staatsgründer Atatürk per Verfassungsänderung aufgehoben. Die Türkei sieht sich seither als laizistischen Staat an, der keine religiösen Präferenzen hat. So gilt die Scharia, anders als in vielen muslimischen Staaten, in der Türkei nicht. In den letzten Jahren haben konservativ-religiöse Strömungen in der Bevölkerung stark an Einfluss gewonnen.

Die religiösen Einrichtungen werden vom staatlichen Präsidium für Religionsangelegenheiten (DİB) verwaltet. Trotz der in Artikel 2 der türkischen Verfassung festgelegten Trennung von Staat und Religion ist das mit weitreichenden Befugnissen ausgestattete sunnitische DİB dem Amt des türkischen Ministerpräsidenten angegliedert und untersteht dem jeweils amtierenden Ministerpräsidenten. Vom DİB werden islamische Rechtsgutachten (Fetva) erstellt und in Auftrag gegeben. Im Jahr 2008 stellte das DİB durch eine Fetva fest, dass eine Abkehr vom Islam hin zu einer anderen Religion erlaubt sei.

Seit der Republikgründung im Jahre 1923 wuchs die Bevölkerung der Türkei schnell an. 1927 lebten in der Türkei knapp 14 Millionen Menschen, 2003 waren es knapp 70 Millionen (siehe Grafik), 2014 waren es 77,7 Millionen. Die Türkei ist gleichzeitig ein Auswanderungs- und Einwanderungsland. Während der 1960er, 1970er und 1980er Jahre verließen Millionen Türken ihr Land als Arbeitsmigranten und politische Flüchtlinge und gingen etwa nach Belgien, Frankreich, Schweden, in die Niederlande, die Schweiz, nach Österreich und nach Deutschland. Aus dem Balkan, dem Nahen Osten, Griechenland, Iran, Zentralasien, der Krim und anderswo kamen nach dem Fall des eisernen Vorhanges Aussiedler in die Republik. 2009 wählten etwa 4.600 Deutsche die Türkei als neue Wahlheimat, von insgesamt rund 155.000 deutschen Auswanderern. Neben dem Klima und schönen Landschaften gelten vor allem die günstigen Lebenshaltungskosten sowie relativ geringe bürokratische Hürden als einwanderungsfördernde Faktoren.

Die Türkei verfügt über eine sehr junge Bevölkerung. Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 30,7 Jahren (Stand 2014). Die Altersstruktur setzte sich 2014 folgendermaßen zusammen: 24,28 % der Staatsbürger sind unter 14 Jahre alt, 67,75 % zwischen 15 und 64 Jahre und nur 7,97 % über 65 Jahre alt.

Der Staat stellt für alle Bürger eine medizinische Grundversorgung zur Verfügung. Im Jahre 2007 kamen auf 1000 Einwohner 1,23 Ärzte. Die Lebenserwartung beträgt in der Türkei bei den Männern 70,18 Jahre und bei den Frauen 75,18 Jahre. In der Rangliste gemäß dem Wohlstandsindikator Index der menschlichen Entwicklung lag die Türkei 2014 auf Platz 72 von 188 bewerteten Staaten und fällt damit in die Gruppe der Staaten „hoher menschlicher Entwicklung“; gegenüber 2009 hat sich das Land damit um 16 Positionen verbessert.

Die Türkei weist laut einer Studie der Credit Suisse für 2014 einen Gini Koeffizient von 0,84 auf und ist damit ein Land mit einem „hohen Grad an Vermögensungleichheit“. Die Vermögensungerechtigkeit nahm in den Jahren 2002 bis 2014 zu: Der Anteil des reichsten ein Prozents der türkischen Bevölkerung stieg in diesem Zeitraum von 39,4 Prozent des gesamten Vermögens auf 54,3 Prozent.

Als einer der Gründerväter des modernen Bildungssystems der Türkei gilt Münif Pascha aus der Tanzimatperiode.

In der letzten Erziehungsreform von 1997 wurde die gesetzliche Schulpflicht von 5 Jahren auf 8 Jahre erhöht. Danach findet der Übergang in die vierjährige Sekundarstufe II. statt, in der alle Schüler seit 2004/05 eine zweite Fremdsprache wählen müssen. 2004 bemühte sich die AKP-Regierung intensiv um den erleichterten Hochschulzugang der Berufsschulabgänger. Ziel der Bemühungen war es vor allem, den Abgängern der Imam-Hatip-Schulen den Zugang zu nicht-theologischen Studienfächern zu erleichtern. Die Imam-Hatip-Schulen gelten seit der Erziehungsreform von 1997 als Berufsschulen der Sekundarstufe II, in der Vorbeter (Imame) und Prediger ausgebildet werden. Im Februar 2006 wurde dieses Vorhaben der AKP-Regierung durch das Urteil des ersten Verwaltungsgerichts gestoppt. Es urteilte, dass ein Abschluss auf einer religiösen Imam-Hatip-Schule nicht zu einem Studium an einer Universität berechtigt.

Im Schulwesen der Türkei bestehen aufgrund mangelnder Finanzierung und der hohen Zahl schulpflichtiger Kinder erhebliche Defizite. Ca. 25 % der türkischen Bevölkerung sind im schulpflichtigen Alter. Die wirtschaftliche Kluft zwischen dem Osten und dem entwickelteren Westen der Türkei wirkt sich auch auf das Schulsystem aus. So besteht im Osten eine große Zahl von einzügigen Schulen mit mehr als 50 Schülern pro Klasse. 98,7 % aller schulpflichtigen Kinder gehen zur Schule. Im Jahre 2010 waren ungefähr 2,21 % der Männer und 9,87 % der Frauen in der Türkei Analphabeten.

In den letzten PISA-Studien lag die Türkei im unteren Drittel der teilnehmenden Staaten. Für das Jahr 2006: Mathematik: Platz 29 (vgl. Deutschland Platz 14) Lesefähigkeit: Platz 28 (vgl. Deutschland Platz 14) Naturwissenschaften: Platz 29 (vgl. Deutschland Platz 8)

An den türkischen Schulen und Hochschulen herrschte bis 2011 Kopftuchverbot, sowohl für die Schüler und Studenten als auch für die Lehrkräfte. Dieses Verbot war teils mit Polizeigewalt durchgesetzt und wurde in den letzten Jahren zunehmend Thema hitziger Debatten. Noch 2006 wurde das Verbot durch das erste Verwaltungsgericht in einem Urteil bestätigt und ausgedehnt. Im Oktober 2010 jedoch verfügte der Hohe Hochschulrat (YÖK): „Studentinnen dürfen bei Verstößen gegen die Kleiderordnung nicht mehr vom Unterricht ausgeschlossen werden“, wodurch Frauen nun sogar in einem Ganzkörperschleier teilnehmen könnten.

Die türkische Bildungspolitik hat sich nach Erdoğans Wahl zu seiner dritten Amtszeit stark verändert. Das Mindestalter für den Koranunterricht wurde auf drei Jahre gesenkt und die Anforderungen für die Lehrkräfte in diesem Bereich vermindert, so dass nun auch in Saudi-Arabien ausgebildete Imame die Kinder heranziehen dürfen. Im Rahmen der Bildungsreform ist das Schulsystem nun in vier Jahre Grundschule, vier Jahre Mittelschule und vier Jahre Oberschule unterteilt. Damit wird die Schulpflicht auf zwölf Jahre angehoben. Neben dem bestehenden Pflichtfach Religion wurden die drei neuen Wahlfächer Koran, Arabisch und das Leben des Propheten Mohammed eingeführt. Das Schuleintrittsalter wurde auf fünf Jahre gesenkt. Im Rahmen der Reform sind die Absolventen religiöser Akademien denen von geistes- und naturwissenschaftlichen Schulen bei der Zulassung für Hochschulen gleichgestellt worden. Kritiker befürchten dabei laut Michael Rubin, einem Experten für den Nahen Osten, dass Islamisten ohne fundierte Grundlage in den elementaren Geisteswissenschaften dadurch Staatsbeamte werden würden und so den Staatsapparat binnen einer Generation verändern könnten. Im Rahmen der Schulreform gibt es für die religiösen Gymnasien (İmam-Hatip-Schulen) jetzt auch Mittelschulen. Allein in Istanbul wurden zu diesem Zweck 76 Mittelschulen umgewandelt

Die Türkei hat 172 Universitäten, darunter 69 staatlich anerkannte private Stiftungsuniversitäten, vier Militärakademien und eine Polizeiakademie. An den Universitäten des Landes studieren 3,6 Mio. Studenten und damit 33 % aller Schulabgänger eines Jahrganges. Diese werden von 111.495, Lehrkräften unterrichtet und betreut Kontrolliert werden die Hochschulen durch den türkischen Hochschularat (YÖK), dem seit 6. November 1981 alle Hochschulen unterstellt sind. 2007 studierten 2.294.707 Studenten an staatlichen Universitäten und 124.507 Studenten an privaten Universitäten. Die Quote der Hochschulabsolventen liegt bei 12,8 Prozent.

Der Hochschulrat koordiniert neben den Finanzen und dem Personalplan auch die Lehrinhalte, erarbeitet Pläne zur Eröffnung neuer Hochschulen und regelt den Zugang zu den Hochschulen. Jährlich wird durch die Türkische Zentralstelle für Studentenvermittlung, die dem YÖK unterstellt ist, eine Aufnahmeprüfung (ÖSS) durchgeführt. Das ÖSS-Ergebnis ist für die Wahl der Hochschule und Studienfach entscheidend.

Die Finanzierung der staatlichen Hochschulen hat 2012 mit einem Anteil von 1,18 % des BSP einen neuen Höchstwert erreicht. Für das Studium an den privaten Universitäten sind Gebühren zwischen 4.100 und 10.000 Euro pro Jahr erforderlich. Bei den staatlichen Universitäten liegen die Gebühren zwischen 300 und 1000 Euro.

Nach zwei Jahren Studium wird der akademische Grad Önlisans vergeben. Dieser berechtigt die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit. Nach vier Jahren Studium erhält der Student den Grad Yüksek Lisans. Nach der Yüksek Lisans ist das Promovieren möglich.

Die meisten der 16.328 ausländischen Studenten kommen vor allem aus den zentralasiatischen Turkstaaten. Ein Teil der Studenten erhält zur Finanzierung des Studiums Studienkredite von der Anstalt für Kredite und Heime für Jugendliche in der Hochschulausbildung (Yurt-Kur). 2004 waren es 220.614 Studenten, 174.374 Studenten haben eine Wohnung in Studentenwohnheimen.

Im Januar 2008 stellte der neue Ministerpräsident Erdoğan eine Initiative zur Aufhebung des Kopftuchverbotes an Hochschulen vor. Am 6. Februar 2008 stimmte das türkische Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit der dafür notwendigen Verfassungsänderung in erster Lesung zu. Diese wurde am 5. Juni 2008 vom Verfassungsgericht für nichtig erklärt. Seit Oktober 2010 dürfen Studentinnen nach Bekanntgabe des Hochschulrates der Türkei  nicht mehr bei Verstößen gegen die Kleiderordnung vom Unterricht ausgeschlossen werden.

Eine Deutsch-Türkische Universität in Istanbul wurde gegründet und soll zum Wintersemester 2013/14 den Lehrbetrieb aufnehmen.

Das Gebiet der heutigen Türkei ist seit der Altsteinzeit besiedelt. Sehr früh begann in der Osttürkei das Neolithikum. Zeugnisse davon sind in Nevali Cori und Catalhöyük zu sehen. Im dritten und zweiten Jahrtausend v. Chr. waren in Anatolien die Hattier (auch Protohattier) ansässig, in Nordmesopotamien die Hurriter.

In der zweiten Hälfte des dritten Jahrtausends wanderten neben den Luwiern die ebenfalls indogermanischen Hethiter ein, ihre Herkunft ist noch ungeklärt. Etwa zu dieser Zeit entstand ein Netz assyryscher Handelskolonien (karum) in Kleinasien. Nach einer Zeit lokaler Fürstentümer gründeten die Hethiter um 1600 v. Chr. ihr Großreich mit der Hauptstadt Hattusa. Ihr Reich endete aus unbekannten Gründen um 1200 v. Chr., ihre Kultur existierte jedoch in Kleinkönigreichen im südöstlichen Anatolien und in Syrien bis etwa 600 v. Chr. weiter. Ein möglicher Anlass für das Ende des Hethiterreiches waren die nach Homer aus Trakien stammenden Phryger. Über ihre Frühzeit auf kleinasiatischem Gebiet gibt es wenig Zeugnisse, inzwischen zeichnet sich ab, dass sie ihre Hauptstadt Gordion bereits im 12. Jahrhundert v. Chr. besiedelten. Um 750 v. Chr. ist ein phrygisches Großreich um Gordion und Midasstadt nachweisbar, es endete 696 v. Chr. angeblich mit dem Einfall der wahrscheinlich aus Südrussland kommenden Kimmerer. Etwa gleichzeitig entstand mit der Hauptstadt Sardes Sardes  im westlichen Kleinasien das Reich der Lyder Lyder , während im Nordosten vom 9. bis 7. Jahrhundert v. Chr. das Reich von Urartu existierte, das im mehr oder weniger ständigen Kampf mit den Assyrern lag.

Die Westküste Anatoliens wurde bereits seit Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends von Griechen besiedelt, die von dort aus an die Südküste und die Schwarzmeerküste vordrangen. Auch Relikte der mykenische Kultur sind an der West- und Südküste gefunden worden, inzwischen auch im zentralanatolischen Hochland. Ab 700 v. Chr. drangen von Osten Perser ein und eroberten Lydien und Teile der griechischen Siedlungen. Ab 334 v. Chr. eroberte Alexander ganz Kleinasien. Nach dessen Tod zerfiel sein Großreich, es begann der Hellenismus mit mehreren rivalisierenden Herrschern makedonischer Abstammung. Die griechische Vorherrschaft wurde gegen Ende des 3. Jahrhunderts von der Expansion des Römischen Reichs beendet, das nach und nach die Macht in Kleinasien übernahm und bis zur Reichsteilung in West- und Ostrom (Byzanz) im 4. Jahrhundert behielt. Danach gehörte das Land bis zum Eindringen der Araber und später der Seldschuken und Osmanen zu Byzanz.

Die ursprüngliche Heimat der Türken, genannt Kök-Türken, lag in Zentralasien und Westchina vom 6. bis 8. Jahrhundert und wurde als Kök-Türken-Reich bezeichnet. Von den Chinesen wurden sie als tujue bezeichnet. Die endgültige türkische Besiedlung Anatoliens begann mit dem Eintreffen der Seldschuken im 11. Jahrhundert n. Chr.

Die Seldschuken schlugen die byzantinische Armee in der Schlacht bei Manzikert im Jahre 1071 vernichtend. 1077 wurde das Sultanat der Rum-Seldschuken gegründet und daraufhin eroberten die Türken große Gebiete Ost- und Mittelanatoliens. Nach dem Überfall der Mongolen wurde das seldschukische Reich geschwächt, sodass sich viele türkische Stämme verselbständigten. Aus einem dieser türkischen Fürstentümer erwuchs das spätere Osmanische Reich. Seit dem 12. Jahrhundert ist in westlichen Quellen die Bezeichnung des Landes als Turchia belegt.

Um 1299 begründete Osman I. Gazi (1259–1326) das nach ihm benannte Osmanische Reich (auch Türkisches Reich genannt) und die Osmanen-Dynastie. Anfangs spielte für die Osmanen die Gazi-Ideologie eine große Rolle bei der Kriegsführung. Sie hatten es von Anfang an auf die Eroberung byzantinischer Territorien abgesehen, sodass die ersten Eroberungen an der Grenze zum Byzantinischen Reich Uc geschahen und sich Richtung Rumelien fortsetzten.

Die Entwicklung des Osmanischen Reiches

Im Gegensatz zu Indien wirkte sich der Angriff der Mongolen im Westen oder in Kleinasien nicht ganz so verheerend auf die muslimische Gemeinschaft aus. Während in Spanien der islamische Machtbereich mehr und mehr durch die christlichen Königreiche eingeschnürt wurde, vollzog sich in Anatolien der Aufstieg der türkischen Osmanen, denen es gelang, den muslimischen Glauben tief nach Europa hineinzutragen und den bereits während der arabisch-islamischen Expansion des 7. und 8. Jahrhunderts unternommenen Versuch der Eroberung des Byzantinischen Reiches mit seiner Hauptstadt Konstantinopel erfolgreich zu vollziehen.

Die Osmanen leiteten ihre Herkunft von dem mittelasiatischen Stamm Qajy ab, der 1254 infolge der mongolischen Ausbreitung in Kleinasien eingewandert sein soll. Zunächst in Nordwestanatolien wohnend, erfolgte die Gründung und Ausweitung des osmanischen Staates unter Osman I (1299-1326) und seinem Sohn Orchan (1326-1369). Nach Süden und Südwesten ausgreifend, überschritten die Osmanen 1354 zum ersten Mal die Meerengen und ließen sich in Gallipolli nieder. Der rasche Verfall der Herrschaft der Ilkhane in Anatolien begünstigte in den folgenden Jahrzehnten den Anstieg der osmanischen Macht, die nach einer Heeresreform weit in das Gebiet der Balkanhalbinsel vorstoßen konnten. Nach zahlreichen militärischen Unternehmungen (1385 Eroberung von Sofia, 1386 von Nisch, 1389 Sieg auf dem Amselfeld, 1396 Vernichtung einer Kreuzzugsheeres unter dem ungarischen König Sigismund bei Nikopolis) wa das auf Konstantinopel und seine nähere Umgebung zusammengeschrumpfte Byzantinische Reich von den Osmanen umklammert. Jedoch wurde die Eroberung von Byzanz durch den nach Anatolien zielenden Vorstoß Timurs hinausgeschoben. Am 20.7.1402 wurden die osmanischen Truppen beim heutigen Ankara vernichtend von den mongolischen Truppen geschlagen, wodurch das Osmanische Reich in eine gefährliche innere Krise und in eine Phase heftiger Machtkämpfe gestürzt wurde, die erst mit dem 1421 zur Herrschaft gelangenden Sultan Murad II überwunden werden konnten.

Unter Murad II begann auch wieder die osmanische Ausbreitung auf dem Balkan, die nach Anfangserfolgen (Einnahme Salonikis 1430) schwere Rückschläge brachte (Niederlage gegen ein Heer der Kreuzritter bei Jalowatz 1443). Nach dem erneuten Sieg auf dem Amselfeld 1448 waren die Grundlagen zur Eroberung Konstantinopels gelegt, die unter Sultan Mehmed II. in Angriff genommen wurde: Mit dem Fall Konstantinopels am 29.5.1453 erschien eine vorderasiatische islamische Macht am europäischen Horizont, die innerhalb der nächsten Jahrhunderte tief in das europäische Geschehen eingreifen wird. Konstantinopel wurde zur Hauptstadt des neuen Osmanischen Reiches, das in Istanbul umbenannt wurde. Mehmed II. setzte seine Expansion in Europa und Asien fort. Von 1454 bis 1563 drang er weiter auf den Balkan vor und annektierte Serbien und besetzte den Peloponnes. Die osmanischen Aktivitäten führten zum zweiten osmanischen-venezianischen Krieg (1463-1479). Mehmed II. setzte auch in anderen Gebieten seine Eroberungspolitik fort: er annektierte alle genuesischen Handelskolonien am Schwarzen Meer, Bosnien und Quraman und dehnte damit die osmanische Herrschaft bis zum Euphrat aus. Als Uzun Hasan von der turkmenischen Dynastie der „Weißen Schafe“ in Anatolien einfiel, wobei ein koordinierter Angriff verabredet worden war, konnte Mehmed II. nur unter Schwierigkeiten die Situation in den Griff kriegen. 1473 konnte er schließlich Uzun Hasan bei Baskent in die Flucht schlagen.

Durch die Eroberung Anatoliens 1474 unter Besatzung der Gebiete von Kleinarmenien und Kilikien kam es zu Kontakten mit dem Mamelukenreich in Ägypten und Syrien. Nach der Bereinigung der Lage im Osten konnte sich Mehmed wieder Europa zuwenden. 1479 musste schließlich Venedig, die stärkste Seemacht im Mittelmeer in einen Frieden einwilligen. Weitere Vorstöße im Westen (Angriff auf Rhodos, der jedoch von den Rittern der Johanniter abgewehrt werden konnte, Eroberung Otrantos in Süditalien) wurden durch den Tod Mehmeds II. Anfang 1481 beendet. Mehmed II. war es jedoch gelungen, ein gewaltiges Reich zu errichten, das zu einem bedeutenden Machtfaktor für die nächsten Jahrhunderte werden und immer wieder in die europäischen Geschicke eingreifen sollte. Unter Mehmed II. und seinen Nachfolgern wurde das Prinzip der Unteilbarkeit der Herrschaft im Osmanenreich eingeführt, wodurch alle Mitglieder der herrschenden Klasse dem Willen des Sultans unterworfen wurden. Ein eindeutiges Thronfolgerecht sicherte die konstante Entwicklung der Herrschaft des Sultans ab.

Unter Bayezid II. (1481-1512) wurden die Eroberungen Mehmeds II. abgesichert, und das Osmanische Reich wurde auch von innen stabilisiert. Zunächst musste Bayezid II. die bis 1495 dauernde Revolte seines Bruders bekämpfen, die dieser 1483-1495 ziemlich erfolglos vom Exil aus durchführen musste. Gleichzeitig ging Bayezid II. systematisch an die Konsolidierung des Osmanischen Reiches, nach außen hin betrieb er eine gemäßigte Eroberungspolitik, Er besetzte die Herzegowina 1483 und eroberte die Häfen Kilia und Akkerman 1484. Ein neuer osmanisch-venezianischer Krieg von 1499-1503, in dem sich eine europäische Koalition abzuzeichnen begann, verlief unentschieden, jedoch konnte sich das Osmanenreich als Seemacht im östlichen Mittelmeer etablieren und Venedig völlig ausschalten. In der europäischen Diplomatie stellte das Osmanische Reich von nun an als Großmacht im Mittelmeer einen nicht mehr auszuschließenden Machtfaktor dar. Im Osten erwuchs derweil dem Osmanenreich durch die politisch-religiöse Gemeinschaft der Safaviden, die der Scheich Safi-ud-Dib von Ardabil (1252-1334) gegründet hatte und die sich mit turkmenischen Stämmen verbündeten, eine neue Gefahr. Nach der Sicherung des Friedens in Europa 1502/03 konnte Bayezid II. gegen den Safaviden Ismail I. (1502-1524) vorgehen und ihn nach Aserbaidschan abdrängen, von wo aus dieser seine Herrschaft über den gesamten Iran ausdehnen konnte. Die stabile Herrschaft Bayezids II. kam am Ende seiner Regierung infolge von Thronstreitigkeiten ins Wanken. 1512 konnte sich sein Sohn Selim durch eine Revolte durchsetzen und Bayezid II. musste abdanken.

Sultan Selim I. (1512-1520) gelang es, durch die Vernichtung seiner Gegner seine Macht zu stärken und dann seine imperialen Ziele uneingeschränkt zu verfolgen. Zunächst wandte er sich gegen die Safaviden, die den schiitischen Islam zur Staatsreligion erhoben hatten und damit die Vormachtsstellung der Osmanen in der islamischen Welt gefährdeten. In einem Feldzug 1514 drang Selim weit in den Iran vor, geriet jedoch in große Versorgungsschwierigkeiten, was wiederum zu einer Janitscharen-Revolte führte, die Selim jedoch niederschlagen konnte. In einer offenen Feldschlacht bei Tschaldiran am 23.8.1514 konnten die osmanischen Truppen schließlich die Safaviden bezwingen, was jedoch nicht zum Zusammenbruch des Safaridenreiches führte. Selim konnte ganz Ostanatolien unterwerfen und sich nun dem Mamelukenreich zuwenden. In der Schlacht von Marsch Dabiq konnte das Heer der Mameluken vernichtend geschlagen werden. Syrien und Ägypten fielen dem Osmanischen Reich zu, das sich in seiner Ausbreitung verdoppelte. Mit der Eroberung islamischer Kernländer fiel den Osmanen das geistige, administrative und künstlerische Erbe der islamischen Kultur anheim, das ihnen bisher nur durch die Seldschuken zugekommen war. Mit dem Niedergang des Mamelukenreiches wurde das politische Vakuum, das seit dem Verfall des Reiches der Abbasiden im Vorderen Orient bestanden hatte, durch eine stabile Ordnung ausgefüllt. Mit der Verschiebung des Zentrums des Islam nach Westen vertiefte sich jedoch auch die Spaltung der islamischen Welt, da der Iran einen anderen, vom Osmanenreich unabhängigen Weg ging.

Nachfolger Selims wurde sein Sohn Süleyman II. (1520-1566), für den sein Vater alle Grundlagen einer stabilen Herrschaft gelegt hatte, so dass dieser die Eroberungspolitik Selims ungebrochen fortsetzen konnte. Er sah sich dabei im Westen dem Reich der Habsburger, im Osten dem der Safaviden gegenüber. Die osmanischen Angriffe zielten von 1520 an zunächst auf das unabhängige ungarische Königreich unter Ludwig II. (1516-1526), dessen Schicksal in der Schlacht von Móhacs 1526 besiegelt wurde. Teile Ungarn, das aufgrund von Aufständen in Anatolien von den Osmanen nicht vollständig besetzt werden konnte, wurde unter osmanische Herrschaft gestellt, blieben aber in einem halbautonomen Zustand unter dem habsburgfeindlichen Siebenbürger König Johann Zápolya. 1528 konnte Erzherzog Ferdinand, der zum König von Ungarn gewählt worden war, Teile Mittelungarns besetzen, doch der Vorstoß Süleymans führte ihn bis vor Wien, das von den Habsburgern jedoch gehalten werden konnte. Die Belagerung Wiens sicherte Süleyman die Beherrschung Ungarns, die Angst vor dem türkischen Vormarsch bewirkte in Europa zumindest vorübergehend den Nürnberger Religionsfrieden von 1532 zwischen Protestanten und Katholiken. Ein weiterer osmanischer Feldzug 1532 gegen Österreich führte zu einem den erreichten osmanischen Herrschaftszustand in Europa bestätigenden Frieden. Ferdinand gab seine Ansprüche in Ungarn auf und erkannte Zápolya als osmanischen Vasallen an, dafür wurde Ferdinands Herrschaft in Nordungarn durch Süleyman bestätigt. Der Tod Zápolyas 1541 löste neue Streitigkeiten aus, Ungarn wurde zu einem Teil des osmanischen Reiches, was die Habsburger 1547 in einem Vertrag bestätigten. Nunmehr grenzten die beiden Großmächte unmittelbar aneinander, was zu fortwährenden Grenzkonflikten führte. Die osmanische Expansion nach Mitteleuropa kam jedoch vorläufig zu einem Stillstand.

Während der Auseinandersetzungen mit Habsburg begann Süleyman zugleich auch seine Stellung zur See im Mittelmeer auszubauen, wo Karl V. nach dem Niedergang der venezianischen Seemacht im Zusammengehen mit Genua eine starke Flotte unter dem Kommando von Andrea Doria aufgebaut hatte. Nach der Eroberung von Rhodos durch Süleyman verlegte Karl V. den Johanniterorden auf Malta 1530 und mit der Eroberung von Tunis gewann er eine neue Flottenbasis im Westen. Aktivitäten Andrea Dorias auf dem Peloponnes zwangen Süleyman dazu, den eine Piratenflotte befehlenden und Algier beherrschenden türkischen Kapitän Chayreddin Barbarossa als Großadmiral in seine Dienste zu stellen. Algier wurde dem Osmanischen Reich angegliedert und Chayreddin baute eine mächtige Flotte auf, die in der Seeschlacht von Prevesa vor der albanischen Küste über die Flotte Andreas Dorias 1540 einen Sieg davontragen konnte. Venedig musste daraufhin in einen Frieden mit dem Osmanischen Reich einwilligen, durch den er seine letzten Besitzungen auf dem Peloponnes, in Dalmatien und auf den Ägäischen Inseln aufgeben musste und endgültig seine einstige Machtstellung im Mittelmeer einbüsste. Süleyman aber hatte mit dem Seesieg von Prevesa seine Herrschaft im östlichen Mittelmeer gesichert und konnte nun auch zur See expansiv vorgehen; 1543 wurde zusammen mit der französischen Flotte Nizza erobert. Auch unter dem Nachfolger Chayreddins, Turgud Re’is (1485-1565) blieb die osmanische Seeherrschaft unangefochten.

Im Osten konnte Süleyman Wirren im Iran unter dem minderjährigen Sohn Ismails, Tahmasp (1524-1576) ausnutzen, in drei Feldzügen versuchte er das Safavidenreich zu schwächen. Die Safaviden wichen jedoch einer offenen Feldschlacht aus und Nachschubprobleme ließen Süleyman immer wieder die Herrschaft über gewonnene Gebiete verlieren. Im Frieden von Amasya 1555 gewann Süleyman schließlich den Irak und die turkmenischen Fürstentümer Ostanatoliens, gab aber Ansprüche auf Aserbaidschan und den südöstlichen Kaukasus auf. In Arabien konnten Aden 1530, Suakin 1542 und Massaua 1557 hinzugewonnen werden. Süleyman baute Flottenbasen am Roten Meer und am Persischen Golf aus, wodurch die Portugiesen zurückgedrängt werden konnten. Dies alles führte zur Belebung der alten Handelsstraßen, was dem Osmanischen Reich wichtige Einkünfte sicherte, obwohl die lange zuvor erfolgte Entdeckung des Seewegs um Afrika herum das ursprüngliche Handelsvolumen nie mehr erreichen ließe.

Nach Süleyman geriet das Osmanische Reich in eine Phase des Niedergangs, die auf die wachsende Machtlosigkeit der Sultane zurückzuführen war. Bereits unter Süleyman wurde zur Entlastung des Sultans das Amt des Großwesirs geschaffen. Korruption und Nepotismus breiteten sich zunehmend aus und zerstörten die Institutionen des Reiches. Unter Selim II. (1566-1574) begann sich der Niedergang der osmanischen Macht abzuzeichnen; um stärkeren Einfluss zu gewinnen, versuchten Selim II. und sein Nachfolger, das Amt des Großwesirs zu schwächen, indem ein häufiger Wechsel der Inhaber vollzogen wurde, Trotz der bereits unter Süleyman eingeleiteten inneren Schwächen des Reiches war es nach außen noch stark genug, um auch während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die erreichte Machtstellung zu halten, obwohl das osmanische Militär erste Niederlagen hinnehmen musste. 1571 wurde die osmanische Flotte in der Seeschlacht bei Lepanto von der Liga vernichtend geschlagen. Sie konnte jedoch rasch wiederaufgebaut werden und die Seeherrschaft im östlichen Mittelmeer zurückerobern.

Unter Murad III. (1574-1595) dauerten die inneren Zerfallserscheinungen im Osmanischen Reich an, nach der Ermordung des Großwesirs Mehmed Soqullu gewannen der Harem und dann die führenden Janitscharenoffiziere immer mehr an Einfluss. Administrative, soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten nahmen zu, dennoch betrieb auch Murad III. eine Eroberungspolitik, die vor allem der Expansion des Fürstentums Moskau unter Iwan IV. entgegenwirken sollte. Die Wirren nach dem Tode von Schah Tahmasp 1576 im Iran ausnützend, konnte Murad III. den Kaukasus und Aserbaidschan 1578 erobern und so das Reich auf den Höhepunkt seiner territorialen Ausdehnung führen. Noch unter Murad III. kam es zu einem erneuten österreichisch-osmanischen Krieg 1593, der nach der Einnahme von Teilen Zentralungarns und Rumäniens durch die Österreicher in der Schlacht von Keresztes 1596 eine Wendung erfuhr, so dass die Habsburger in den Friedensvertrag von Zsitva Torok 1606 einwilligen mussten, der die osmanische Herrschaft über Ungarn und Rumänien wieder festigte.

Auch im Osten wuchs mit dem Aufstieg von Schah Abbas I. (1587-1629) und dem Wiedererstarken des Safavidenreiches eine neue Gefahr heran. Osman II (1618-1622) und Murad IV. (1623-1640) versuchten dem durch Reformen, die das Osmanenreich wieder stabilisieren sollten, zu begegnen, und ihre Reformbemühungen wurden unter Mehmed IV. (1648-1687) durch die Dynastie der Köprülü-Großwesire fortgesetzt. 1603 konnte Schah Abbas I. den Kaukasus und Aserbaidschan einnehmen. 1624 erfolgte die Eroberung des mittleren Irak, doch ermöglichte es das Reformwerk Murads IV., der iranischen Bedrohung zu begegnen. 1638 konnte der Irak zurückgewonnen werden, und im Vertrag von Qasr-i-Schirin von 1639 wurde die moderne iranisch-türkische Grenze festgelegt. 1645 brach anlässlich des Versuchs der Osmanen, Kreta zu erobern, ein neuer Krieg mit Venedig aus, der bis 1669 dauerte und Anfangserfolge Venedigs brachte, bis Reformen Mehmed Köprülüs zum Erfolg führten. Nach 24jähriger Belagerung konnte Kreta 1669 erobert werden.

Die durchgeführten Reformen waren jedoch immer nur augenblicklicher Natur, sie beseitigten aktuelle Missstände, konnten aber die überlebten osmanischen Institutionen nicht erneuern, so dass das Osmanische Reich auf die Dauer nicht mit dem Fortschritt der aufsteigenden europäischen Nationalstaaten mithalten konnte. Dennoch marschierte der Großwesir Quara Mustafa Pascha 1681 wiederum in Mitteleuropa ein und belagerte Wien. Dank dem Eingreifen des polnischen Königs Johan III. konnte Wien gehalten werden und es bildete sich eine europäische Koalition, die gegen das Osmanische reich vorging. Der Krieg gegen die Armeen der katholischen Liga von 1683 bis 1699 endete im Frieden von Karlowitz, der für das Osmanische Reich eine Schwächung bedeutete.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte sich die Lage des Osmanischen Reiches grundlegend verändert. In den Kampf gegen die Osmanen war neben Habsburg und Venedig noch Russland getreten, das während der Regierungszeit Mustafas II. (1695-1703) Asow eroberte. Russland ging es bei seinem Kriegseintritt darum, durch das Schwarze Meer und die Dardanellen ins Mittelmeer vorzustoßen. Die Niederlage bei Zenta im Jahre 1697 führte schließlich zum Frieden mit den Habsburgern in Karlowitz 1699 und 1700 zum Frieden von Konstantinopel mit Russland, dem das Gebiet bis an den Dnjestr und die Festung Asow zugesprochen wurde, mit der es einen ersten Stützpunkt am Schwarzen Meer erhielt. Die Friedensschlüsse um die Wende zum 18. Jahrhundert zeigten deutlich den Machtverfall des Osmanischen Reiches auf: Im Südosten Europas hat es seine hegemoniale Stellung eingebüßt, der Druck nach Mitteleuropa ließ nach, Österreich konnte sich auf Kosten des Osmanenreiches erheblich nach Südosten ausdehnen. In den 109 Jahren zwischen der zweiten Belagerung von Wien und dem Frieden von Jassy im Jahre 1792, in denen das Osmanische Reich 41 Jahre lang in Kriege verwickelt war, ging es für nun darum, den Bestand des Reiches zu wahren und die Verfallsperiode zu überdauern. Als Verbündeter Habsburgs in dem Kampf gegen die Türken fungierte jetzt das an die Stelle Polens getretene Russland, das ans Mittelmeer vorzustoßen versuchte. Das Osmanische reich wurde dadurch während des 18. Jahrhunderts in die europäische Machtpolitik verstrickt. Die Gegner Habsburgs und Russland, insbesondere Schweden und Frankreich unterstützten die Osmanen, die Niederlande und England, denen es um die Absicherung ihrer vom Sultan gewährten Handelsprivilegien in der Levante ging, verhielten sich neutral. Sie waren nur darum bemüht, eine Kontrolle des Osmanischen Reiches durch irgendeinen europäischen Staat zu verhindern, da dies ihm ein deutliches Übergewicht in der europäischen Machtkonstellation bedeutete.

Den Auftakt zu den kriegerischen Verwicklungen der Türken im 18. Jahrhundert bildete die erneute Auseinandersetzung mit Russland unter der Regierung Achmeds III (1703-1730). Karl XII. von Schweden war 1709 nach seiner Niederlage bei Poltawa gegen die Russen auf osmanisches Gebiet geflüchtet, wo ihm Achmed III. Asyl gewährte. Von 1709 bis 1714 hielt sich Karl XII. in Demotika in dem Bestreben auf, den Sultan zu einem Krieg gegen Russland zu bewegen. Durch den Hospodar der Moldau, Demetrios Kantemir, ließ sich Peter der Große dazu verleiten, in die Türkei vorzustoßen. Er musste aber nach seiner Kapitulation im Jahre 1711 in den Frieden am Pruth einwilligen, durch den es dem Sultan gelang, verloren gegangene Gebiete wieder zurück zu gewinnen. Als Folge des Verrates des Hospodars Demetrios erlangten die schon im 17. Jahrhunderts aufsteigenden griechischen Fanarioten stärkeren Einfluss. Nach Beendigung des Krieges mit Russland kam es schon wenige Jahre später zu erneuten Auseinandersetzungen mit Venedig und Österreich (1714.1718). 1716 konnte Prinz Eugen von Savoyen die Türken bei Peterwardein besiegen und 1717 Belgrad erobern. Unter dem Eindruck dieser Erfolge gab es den Frieden von Passarowitz 1718, in dem Venedig endgültig auf den Peloponnes verzichtete, der habsburgische Kaiser jedoch den Banat von Temesvár, die Kleine Walachei und einen Teil von Serbien erringen konnte.

In den folgenden Jahren versuchte Achmed III., dem geistigen Leben mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Er ließ fünf Bibliotheken bauen, eine Wasserleitung vom Nordende des Goldenen Horns nach Istanbul anlegen und eine Porzellanfabrik errichten. Infolge der allgemeinen Kriegsmüdigkeit des Landes wandte sich die osmanische Öffentlichkeit eine Zeit lang von der Politik ab und mehr geistigen Dingen zu. Es setzte eine Welle der Europäisierung ein, die ihre Kulmination in der von 1717 bis 1730 währenden „Tulpenzeit“ erfuhr. Ihren Namen erhielt diese Periode von der sich im Osmanischen Reich entwickelnden Tulpenzucht. Europäische Einflüsse machten sich jetzt auch in der Baukunst bemerkbar, neben der Übernahme technischer Errungenschaften Europas wirkte sich die Europäisierung auch in der Ausbildung einer Diplomatie und in der Anpassung der türkischen Politik an die europäischen Kabinette aus.

Die friedliche Regierungsperiode Achmeds III. endete schließlich mit dessen Ermordung. Die mit dem Untergang der Safaviden einhergehenden Wirren in Persien, die Peter dem Großen eine Ausweitung Russlands bis Gilan erlaubten, warfen bereits ihre Schatten auf das Osmanische Reich, das 1723 bis 1733 militärische Unternehmungen in Persien durchführte. 1730 wurde Achmed durch einen Volksaufstand gestürzt und sein Neffe Machmud I (1730-1754) wurde sein Nachfolger. Unter seiner Regierung, während der die Janitscharen jahrelang eine Willkürherrschaft ausübten, kam es wieder zu Konflikten an der europäischen und persischen Front. Die Auseinandersetzungen zwischen den Habsburgern wurden allmählich durch Kämpfe mit Russland abgelöst. In dem von 1736 bis 1739 dauernden österreichisch-russischen Koalitionskrieg erwiesen sich die Türken den militärisch geschwächten Österreichern gegenüber als ebenbürtig. Im Frieden von Belgrad 1739 verlor Habsburg die Gewinne von 1718 mit Ausnahme des Banats von Temesvár, während die Russen Asow erneut erhielten. Im Osten des Osmanischen Reiches hatte in der Zwischenzeit der turkmenische Heerführer Schah Nadir die iranische Macht wiederhergestellt und Mesopotamien und Gebiete östlich von Anatolien zurück gewonnen. Die lang andauernden Kämpfe zwischen den Osmanen und Nadir fanden schließlich mit der Niederlage bei Eriwan 1746 und der Ermordung Nadirs ihr Ende. In den nach seinem Tode ausbrechenden Wirren konnte das Osmanische reich die Grenze von Qasr-i-Schirin behaupten.

In den Regierungsperioden Osmans III. (1754-1757) und Mustafas III. (1757-1773) fiel der machtpolitische Umschwung, der an die Stelle Habsburgs Russland als Vorkämpfer gegen die Osmanen treten ließ. Die Russen verstärkten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihre Anstrengungen. Das Osmanische Reich, dessen Militär in der Friedenszeit mehr und mehr verfiel, wurde jetzt zum Spielball der europäischen Mächte. Im Jahre 1768 erklärte Mustafa III. auf Drängen Frankreichs Russland den Krieg. 1769 besetzten die russischen Heere Bessarabien, die Moldau und die Walachei und stießen 1770 nach Bulgarien vor. Im gleichen Jahr vernichtete die russische Flotte die türkische in der Bucht von Tscherschme. Unter Einwirkung von Österreich und Preußen, die die russischen Erfolge beunruhigten, kam es schließlich zum Friedensschluß von Kütschük Qaynardschy bei Silistria im Jahre 1774. Unter Katharina II. gewann Russland den Nordrand des Schwarzen Meeres und die Schirmherrschaft über die Krim. 1775 konnte der deutsche Kaiser aufgrund der Schwäche des türkischen Reiches durch geschickte Verhandlungen die Bukowina erlangen.

Unter der Herrschaft Abd ül-Hamids I. (1773-1789) gelang Russland dann endgültig der Durchbruch als Vormacht am Schwarzen Meer. Russland, das immer mehr als Schutzmacht der orthodoxen Länder auf dem Balkan auftrat, verstärkte seine Expansionspolitik gegenüber dem Osmanischen Reich. Es gelang aber dem Osmanischen Reich, durch Bündnispolitik mit europäischen Mächten seine Stellung zu verbessern. Freundschaftliche Beziehungen bestanden zu England und die Niederlande, Frankreich konnte seinen über Jahrhunderte gepflegten Kontakt mit den Türken noch vertiefen. Hinzu kamen Verträge mit Schweden 1733, 1756 mit Dänemark und 1761 mit Preußen. Ein Bündnis mit Friedrich war angesichts von dessen bedrohlicher Lage im Lager von Bunkelwitz geschlossen worden. Trotz dieser internationalen Verflechtung vermochte das Osmanische Reich die Bedrohung durch Russland nicht abzuwenden.

1781 ging Katherina ein Bündnis mit Österreich ein, das gegen Preußen und die Türkei gerichtet war, deren Aufteilung Josef II. von seiten Russlands vorgeschlagen wird. 1783 wurde die Krim von Russland annektiert, 1784 erwarb die Zarin das Schutzrecht über Georgien. Zum letzten Male verbanden sich Österreich und Russland in dem Krieg von 1787 bis 1792 gegen die Türkei. Angestachelt von Preußen und England und in einem Bündnis mit Schweden stehend, das auf den Wiedererwerb Finnlands hinzielte, erklärte das Osmanische reich den Russen 1787 den Krieg. 1789 besetzte ein österreichisches Heer Belgrad, Bukarest wurde in Verbindung mit der russischen Armee eingenommen. 1791 sah sich Österreich infolge von Aufständen in Belgien und Ungarn jedoch gezwungen, den Frieden von Swischtow einzugehen, der den Verlust der Moldau und der Walachei mit sich brachte. Das den Krieg siegreich fortführende Russland musste schließlich aufgrund der internationalen Lage in den Frieden von Jassy im Jahre 1792 einwilligen, der ihm den Gewinn des Gebietes zwischen Bug und Dnjestr sicherte. Katharina II konnte damit die Nordküste des Schwarzen Meeres endgültig für Russland erwerben. Der Friede von Jassy bedeutete einen Einschnitt in die Geschichte des Osmanischen Reiches. Mit der Herrschaft Selims III. (1789-1807) endete die Verfallsperiode der Türkei und es setzte eine erste Phase von Reformen ein, die dem Osmanischen Reich eine neue Basis sozialer und politischer Art gab.

Im Inneren des Osmanischen Reiches dauerte die bereits im 16. Jahrhundert einsetzende Zersplitterung in autonome lokale Herrschaften aufgrund der Schwäche der Zentralregierung das gesamte 18. Jahrhunderts hindurch an. Regionale Machthaber konnten sich insbesondere in den asiatischen Teilen der Türkei, aber auch in Anatolien und Kurdistan durchsetzen. Gefördert wurde ihre Autonomie vor allem durch nationale Strömungen, die eine weitere Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich ablehnten. Diese Strömungen verstanden die lokalen Machthaber für sich auszunutzen. In Ägypten konnten die Truppen des Sultans nur mühsam den in Verbindung mit Russland stehenden Mameluken Ali Bey in den Jahren 1768 bis 1772 niederwerfen, und auch Unruhen in Syrien in den Jahren 1770 und 1783-1785 bereiteten große Schwierigkeiten. Erwies sich so die osmanische Herrschaft als vielfach gefährdet, so stellte sie sich noch wesentlich lockerer im Maghreb dar. In Tripolitanien regierte seit 1711 die Pascha-Dynastie der Qaramanly, die zunächst für eine politische Stabilität der Provinz zu sorgen vermag, jedoch gegen Ausgang des 18. Jahrhunderts in innere Zwistigkeiten verfiel. In Tunesien kam 1705 der Bey Husain an die Macht, dessen Nachfahren das Land bis 1957 beherrschten. In Algerien, das in erster Linie von der Seeräuberei lebte, bis der Machtanstieg Frankreichs und Englands die Überfälle einzuschränken vermag, regierten seit 1671 die Deys. Trotz einer gewissen Unabhängigkeit erkannten diese Provinzen die Oberhoheit des osmanischen Sultans an. Marokko konnte sich als unabhängiger Staat im Maghreb behaupten. Sultan Ismail (1672-1729) konnte ein Heer von 150.000 Mann aufbieten und die Berber im Süden des Landes zurückdrängen.

Der Friede von Jassy, der in die Regierungsperiode Sultan Selims III. (1789-1807) fiel, bedeutete in der Geschichte des Osmanischen Reiches eine Wende: Mit ihm endete die lange Zeit des Niedergangs, und das Osmanische Reich, das trotz der vielfachen von seinen europäischen Gegnern zugefügten Niederlagen noch ganz Anatolien, die arabische Welt vom Irak bis Nordafrika und den gesamten südlich der Donau gelegenen Balkanraum umfasste, trat in eine neue Phase seiner geschichtlichen Entwicklung ein, in der sich durch grundlegende, über ein Jahrhunderts währender Reformen auf sozialem und politischem Gebiet eine tiefgehende Erneuerung vollzog. Dieses das 19. Jahrhundert umspannende Reformwerk wurde von Sultan Selim III. eingeleitet und von Machmud II. fortgesetzt. Beide Reformer standen dabei noch in der Tradition alter osmanischer Reformvorstellungen bei ihrem Bestreben, durch die Beseitigung von Korruption und Nepotismus den alten Institutionen wieder neue Funktionen zu verleihen. Die militärische Überlegenheit der Europäer zwang Selim III. zu umfangreichen Militärreformen, die auch von Machmud II. durchgeführt wurden. Selim III. schaffte neue Streitkräfte, die in ihrer Bewaffnung, taktischen Schulung, Organisation und Disziplin die Armeen Europas zum Vorbild hatten. Neben diesen leistungsfähigen Truppen, die allerdings nicht mehr als 10.000 Personen umfassten, bestanden jedoch auch die älteren Militäreinheiten in über zehnfacher Stärke weiter; diese standen der Aufstellung der neuen Truppenverbände von Anfang an feindselig gegenüber. Schließlich provozierten die neuen Truppen 1807 eine Janitscharenrevolte gegen Selim III., die zu ihrer vorübergehenden Auflösung führte.

Das Reformwerk Selims III. wurde allerdings nicht nur durch den Konservatismus und die Opposition im Osmanischen Reich behindert, sondern vor allem durch äußere Gefahren, die das Reich in seiner Existenz ernsthaft bedrohten. Napoleons Vorstoß nach Ägypten im Jahre 1798 rief einen Bruch zwischen der Türkei und dem bisher befreundeten Frankreich hervor und führte zu einer zeitweiligen politischen Annäherung an England. Als Folge der napoleonischen Expedition nach Ägypten und Syrien, die bereits 1798 durch den Sieg der englischen Flotte unter Admiral Nelson bei Abukir über die französische in Frage gestellt wurde, kam es zu einem russisch-türkischen Bündnis. Als die Franzosen 1802 durch die Engländer aus Ägypten vertrieben wurden, trat wieder eine Normalisierung der Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und Frankreich ein. Als Folge griff die Türkei während der napoleonischen Feldzüge nicht ein. In den Jahren von 1806 bis 1812 wurde das Osmanische reich erneut in einen Krieg mit Russland verwickelt, in dessen Verlauf das Zarenreich die Fürstentümer Moldau und Walachei sowie Bessarabien besetzte. Im Frieden von Bukarest vom 28.5.1812 gewann Russland schließlich Bessarabien wieder zurück.

Im April 1807 brach eine Janitscharenrevolte gegen Selim III. aus, die zur Absetzung des Sultans führte. Selim III. wurde ein Jahr später ermordet, sein Nachfolger wurde Machmud II.. Machmud II. konnte Schritt für Schritt seine Macht im Inneren festigen und konnte einige Gegenspieler ausschalten. Während so in einigen Gebieten des Osmanischen Reiches die Herrschaft des Sultans wieder gestärkt werden konnte, ging in anderen das Streben nach Autonomie weiter. Bagdad und Basra wurden bis 1831 von mamelukischen Paschas regiert. Unter dem seit 1806 als Statthalter über das Nilgebiet eingesetzten General Muhammad Ali (1769-1849) entwickelte Ägypten ein zunehmendes Maß an Autonomie und in anderen teilen des Osmanischen Reiches kam es infolge eines wachsenden Nationalgefühls zu Aufständen: 1815 erhoben sich die Serben, 1821 brach der griechische Befreiungskrieg aus. 1821 kam es zu einem Aufstand unter Fürst Alexandros Ypsilanti dem Jüngeren in Jassy. Darauf erhob sich das restliche Griechenland und am 1.1.1822 wurden auf dem Nationalkongress zu Epidauros die Unabhängigkeit und ein Verfassungsgesetz verkündet. In ganz Europa rief der griechische Unabhängigkeitskampf spontane Begeisterung hervor. Im Zuge einer alle Länder Europas umfassenden philhellenischen Bewegung eilten viele Freiwillige nach Griechenland, unter ihnen auch der englische Dichter Lord Byron, um den Aufständischen beizustehen.

Als die Janitscharen gegen die griechischen Rebellen den Kürzeren zogen, ging 1824 der Gouverneur von Ägypten, Muhammad Ali gegen sie vor und errang zahlreiche Siege, was die Janitscharenkorps im Osmanischen Reich in Misskredit brachte. Bereits 1815 hatte Machmud II. moderne Truppen unter dem Namen Sekban-i-dschedid wieder aufgestellt und sie dann nach Istanbul bringen lassen. Als die Janitscharen am 15.6.1826 zu revoltieren begannen, gingen Machmuds II. neue Truppen gegen sie vor und besiegten sie. Damit war der Weg frei für eine tief greifende Reform des türkischen Heeres.

Die Vernichtung der alten türkischen Armee wirkte sich militärisch zunächst jedoch verheerend aus, der Kriegseintritt der europäischen Großmächte führte zu einer Wende im griechischen Freiheitskampf. 1827 wurde die türkische Flotte in der Seeschlacht bei Navarino von der englischen, französischen und russischen vernichtet. Der russisch-türkische Krieg von 1828 bis 1829 zwang den Sultan zum Einlenken. Im Frieden von Adrainopel 1829 erkannte das Osmanische Reich die Unabhängigkeit Griechenlands an; Samos, Chios, Epiros, Thessalien und Kreta blieben jedoch weiterhin unter türkischer Herrschaft. Die Unabhängigkeit Griechenlands wurde im Londoner Protokoll vom 3.2.1830 von den Schutzmächten Russland, England und Frankreich bestätigt. Auf der Londoner Konferenz wurde der Sultan von den Großmächten zugleich zur Anerkennung der Autonomie Serbiens, der Moldau und der Walachei gezwungen.

Auch im arabischen Raum des Osmanischen Reiches machten sich jetzt verstärkt Unabhängigkeitsströmungen bemerkbar. Ägyptens Statthalter Mohammad Ali eroberte Syrien, Südarabien und Südostanatolien und trug in der Schlacht von Konya am 21.12.1832 den Sieg über die osmanische Armee davon. Im Frieden von Kütahya von 1833 erhielt Mohammad Ali Syrien zusammen mit der Verwaltung Kilikiens. Um Hilfe gegen den ägyptischen Statthalter zu bekommen, ging Machmud daraufhin einen Schutzvertrag mit Russland ein. Ende 1833 zwangen die europäischen Mächte, als sie sich über eine Aufteilung des Osmanenreiches nicht einigen konnten und einen Sieg des ägyptischen Statthalters über den Sultan befürchten mussten, Mohammad Ali zum Rückzug und retteten somit Machmud II..

Machmud II. setzte in den folgenden Jahren seine Bemühungen um den Aufbau einer modernen Armee nach europäischem Vorbild fort. In neuen technischen Schulen wurden die Offiziere ausgebildet und von preußischen Militärexperten unter dem Kommando von Moltke geschult. Weiterhin ließ Machmud II. ein säkulares Grundschulsystem aufbauen, das die Schüler auf die technischen Schulen vorbereiten sollte. Die europäische Kleidung wurde eingeführt und musste von den Regierungs- und Armeemitgliedern getragen werden. Wichtige Reformen wurden auch für die Regierung und Finanzverwaltung in dem Bestreben durchgesetzt, die Zentralgewalt des Sultans zu stärken und die traditionellen Formen der Autonomie im Osmanischen Reich zu beseitigen. 1839 kam es dann erneut zu Auseinandersetzungen mit dem Pascha von Ägypten, bei denen Machmud II. seine noch nicht voll ausgebaute Armee einsetzte und eine verheerende Niederlage in der Schlacht von Nezib am 24.6.1839 einstecken musste.

Nach dem Tode Machmud II. folgte ein Sohn Machmuds II. als Abd ül-Medschid I. (1839-1861), der sich gegen Vorstöße Muhammad Alis, zu dem die türkische Flotte nach seinem Sieg übergegangen war, wehren musste. Daraus entwickelte sich 1839 bis 1841 die orientalische Krise. In dem Krieg zwischen Muhammad Ali und dem Sultan wurde Ägypten von Frankreich unterstützt, während der türkische Sultan Hilfe von England und Russland erhielt. In der 1. Londoner Konvention vom 15.7.1840, in der es zu einer Verständigung zwischen England, Russland, Preußen und Österreich kam, wurde Frankreich ausgeschaltet. Abd ül-Medschid I konnte die 1833 verlorenen Gebiete wieder zurückgewinnen. In der 2. Londoner Konvention vom 13.7.1841, dem so genannten Meerengenvertrag, den der Sultan mit den fünf europäischen Großmächten einging, wurde die Durchfahrt durch die Dardanellen und den Bosporus für nichttürkische Kriegsschiffe in Friedenszeiten verboten.

Nachdem für das Osmanische Reich außenpolitische wieder Ruhe eingetreten war, konnte sich der Sultan verstärkt den Reformen im Inneren zuwenden, die bereits von Selim III. und Machmud II. im Angriff genommen worden waren. Zwischen 1836 und 1876 wurden die Reformen in einem umfangreichen Gesetzgebungswerk verankert, dem Tanzimat, weshalb die folgende Phase in der Geschichte des türkischen Reiches als Tanzimat-Periode bezeichnet wurde. Im Tanzimat wurde die Abschaffung der Steuerpacht vom Sultan versprochen, ferner die allgemeine Rechtssicherheit und Steuerreformen. Nach europäischem Muster wurden jetzt Recht, Verwaltung und Schulwesen ausgebaut. Die osmanische Regierung, die Armee und das Schulwesen erfuhren so in der Tanzimat-Periode eine Modernisierung, die mit ausländischer Hilfe durchgesetzt werden konnte. Unter Sultan Abd ül-Medschid stieg der Minister Mustafa Mechmed Reschid Pascha, der zwischen 1839 und seinem Tode im Jahre 1856 sechsmal das Amt des Großwesirs innehatte, zum bedeutendsten Mann der Tanzimat-Periode empor.

Die Tanzimat-Periode umfasste die Regierungszeit von Abd ül-Medschid I. und Sultan Abd ül-Asis (1861-1876) und erreichte ihren Höhepunkz unter Abd ül-Hamid II. (1876-1909). Nach Beendigung des Krimkrieges wurden in dem auf Druck der europäischen Mächte hin am 18.2.1856 erlassenen Edikt hatt-i-hümayun eine Vielzahl von Reformen versprochen (Abschaffung der Folter, Verbesserung des Steuer- und Gerichtswesens, Gewährung der Religionsfreiheit). Trotz zahlreicher religiöser und nationaler Spannungen konnten die Reformen während der Tanzimat-Periode gegen den Widerstand breiter Kreise der türkischen Bevölkerung durchgesetzt werden. Im Bereich von Regierung und Verwaltung wurde ein übergreifendes bürokratisches System angestrebt, das von der Übertragung der Regierungsgewalt auf die Zentralverwaltung in Istanbul geprägt war. Diese Zentralisierung der Regierungsmacht und die Ausweitung ihrer Aufgaben bedingte die Schaffung neuer Institutionen im zentralen Verwaltungsapparat, was die gesamte Tanzimat-Periode hindurch durch die Bildung von Expertengremien mit legislativen, exekutiven und richterlichen Funktionen im Bereich des Erziehungswesens, des Militärs, der Wirtschaft und der Rechtspflege vollzogen wurde. Im Bereich des Erziehungswesens wurden während der Tanzimat-Periode die traditionellen osmanischen Schulen, die Medresen, Schritt für Schritt durch ein neues säkulares Schulsystem ersetzt, das der Ausbildung der Verwaltungsbeamten und der Offiziere diente. Dennoch bestand das System der Medresen weiterhin fort, deren Schüler nach ihrer Ausbildung heftigen Widerstand gegen die Tanzimat-Reformen leisteten. In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts kamen zu dieser bereits bestehenden Opposition noch Widerstand aus der neuen, durch die Tanzimat gebildeten Klasse hinzu, der sich in der Organisation der „Jungen Osmanen“ zusammenschloss. Diese Bewegung arrangierte sich nach 1870 jedoch wieder mit der türkischen Regierung und gaben ihren Widerstand auf.

Stand so die Tanzimat-Periode innenpolitisch mit der Abschaffung osmanischer Traditionen durch aus dem Westen übernommene stark unter dem Einfluss Europas, so wurde außenpolitisch die Entwicklung des Osmanischen Reiches weiterhin von den Einwirkungen der europäischen Großmächte geprägt. Von 1853 bis 1856 kam es zum Krimkrieg, der zwischen der Türkei und Russland ausbricht und im Zusammenhang des beständigen Ringens der europäischen Großmächte um beherrschende Machtpositionen zu sehen war. Das Osmanische Reich erhielt dabei Unterstützung von England und Frankreich und schließlich auch noch von Sardinien. Der Krimkrieg entzündete sich an den bisher noch ungelösten gegensätzlichen Interessen in der orientalischen Frage. Russland zielte schon lange auf den Besitz der Dardanellen und versuchte dies durch die Zerschlagung der Türkei zu erreichen. Als Russland dem Osmanischen Reich den Krieg erklärte, nutzte Napoleon III. diese Gelegenheit, um Frankreich außenpolitisch aus der seit dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft bestehenden Isolierung herauszuführen. In England forderte Lord Palmerston entgegen dem Premierminister Aberdeen den Krieg gegen Russland, der dann auch am 28.3.1854 ausbrach. Der bis 1856 andauernde Krimkrieg endete mit der Niederlage Russlands. Im Frieden von Paris am 30.3.1856 wurde die Unabhängigkeit der Türkei von den europäischen Großmächten garantiert, ferner wurden die Dardanellen für russische Kriegsschiffe gesperrt.

Nach dem Tode Sultan Abd ül-Medschids I. kam sein Bruder Abd ül-Asis auf den osmanischen Thron, unter dessen Regierung die inneren Schwierigkeiten im Osmanischen Reich andauerten. 1876 wurde Abd ül-Asis bei einer Revolte ermordet und Sultan Murad V. gelang zur Herrschaft, der sich jedoch als unfähig erwies und noch im selben Jahr bei einem Aufstand in der Herzegowina und in Bosnien von Abd ül-Hamid II abgelöst wurde, der bis 1909 die Geschicke des Osmanischen Reiches bestimmte. Der neue Sultan verkündete sogleich nach seiner Thronbesteigung eine von dem Großwesir Midhat Pascha und Hüseyin Avni Pascha ausgearbeitete Verfassung (Gleichheit vor dem Gesetz ohne Unterschied der Religion, Freiheit der Religionsausübung, Gewährung der Pressefreiheit, Sicherheit der Person und des Eigentums). Es wurde ein aus zwei Kammern bestehendes Parlament geschaffen, dessen Machtbefugnisse in der Legislative jedoch sehr eingeschränkt waren. Allerdings ersetzte Sultan Abd ül-Hamid die Verfassung von 1876 sehr rasch wieder, ohne sie ganz aufzuheben, durch eine autokratische Herrschaft.

Aufstände von 1875/76 in der Herzegowina und in Ostrumelien führten zu Kriegen mit Serbien und Montenegro. In den Geheimkonventionen von Reichsstadt und Budapest sagte Österreich-Ungarn seine Neutralität im Falle eines russisch-türkischen Krieges zu, der dann auch 1877 ausbrach. Der Frieden von San Stefano vom 3.3.1878, durch den Montenegro, Rumänien und Serbien selbständig wurden und der Russland bedeutende territoriale Gewinne brachte, wurde jedoch durch den Berliner Kongress vom 13.6.-13.7. 1878 wieder abgeändert, wobei Russland seine Gebietsgewinne teilweise aufgeben musste. Nach dem verlorenen Krieg konnte Abd ül-Hamid II. noch intensiver alle nationalen und liberalen Tendenzen durch die Verbreitung der Idee des Panislamismus, der eine Einheit aller Muslime unter Führung des türkischen Sultans forderte. Dieser Osmanismus besagte, dass alle Osmanen gleiche Bürger des türkischen Reiches unabhängig ihrer Religionszugehörigkeit seien. Es wurde ebenfalls der Panturkismus vertreten, der nach der Vereinigung aller Turkstämme strebte. Eine Aufteilung der Türkei umging Abd ül-Hamid II vor allem durch eine Annäherung an das Deutsche Reich. Einen Krieg mit Griechenland im Jahre 1897 verlief für das Osmanische Reich siegreich.

Seit 1890 wächst im Osmanischen Reich die Opposition gegen die bestehende Herrschaft. Der aktive Widerstand gegen Abd ül-Hamid II bildete sich insbesondere in den Städten, die bedeutendste oppositionelle Gruppe war die „Gesellschaft für Fortschritt und Einheit“, die 1889 von Studenten der militärischen Medizin-Akademie in Istanbul gegründet worden war. Verfolgungen des Sultans aufgrund eines Mordversuches an ihn im Jahre 1892 zwangen zahlreiche Gegner zur Flucht ins europäische Ausland. Seit 1906 fing in der Türkei die jungtürkische Opposition an, eine rege Untergrundtätigkeit zu entfalten. 1907 schließen sich die verschiedenen Widerstandsgruppen zum „Komitee für Einheit und Fortschritt“ zusammen, das rasch Rückhalt in der gesamten Türkei fand. Als der Sultan das Komitee zerschlagen wollte, revoltierte die makedonische Armee und die jungtürkische Revolution erzwang die Wiederherstellung der Verfassung von 1876 und das Zusammentreten des Parlaments.

Eine am 31.3.1909 von Abd ül-Hamid II. durchgeführte Gegenrevolution wurde von Einheiten der Armee wieder zerschlagen, der Sultan wurde abgesetzt und auf den osmanischen Thron gelangte sein Bruder Mechmed V. Reschad (1909-1918), der gegenüber den Jungtürken kaum mehr selbständigen Einfluss besaß. Das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ vollzog jetzt eine Türkifizierung des Reiches in allen Bereichen und setzten eine Modernisierung durch. Aber auch die Jungtürken konnten die innere Schwäche des Reiches nicht beseitigen, die sich europäische Mächte zunutze machten. 1911/12 eroberten die Italiener Tripolis und die Cyrenaika. Im 1. und 2. Balkankrieg verlor das Osmanische Reich große Teile seines europäischen Gebietes. In der Türkei richtete das Komitee eine Diktatur ein, die die Modernisierung des Reiches im Zeichen des türkischen Nationalismus vorantrieb.

Während des 1. Weltkrieges kämpfte das osmanische Reich auf der Seite der Mittelmächte, was auf die engen Verbindungen zwischen der Türkei und dem Deutschen Reich während der vorangegangenen Jahre zurückzuführen war. Trotz zahlreicher militärischer Erfolge vollzog sich schließlich der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Unter Sultan Mechmed VI. Wahid ed-Din (1918-1922) wurde am 30.10.1918 der Waffenstilstand von Mudros unterzeichnet, der eine bedingungslose Kapitulation der Türkei und damit zugleich das Ende des Osmanischen Reiches bedeutete.

Die Entwicklung der Türkei unter Mustafa Kemal

Die Bedingungen des Waffenstillstande von Mudros waren für die Türkei äußerst hart, das Osmanische reich musste der Besetzung durch die Land- und Seestreitkräfte der Alliierten geöffnet werden, alle Gefangenen der Türkei mussten freigelassen werden und die osmanische Armee wurde demobilisiert. Die Alliierten begannen seit 1919 mit der Besetzung der ihnen durch das geheime Sykes-Picot-Abkommen vom 16.5.1916 zugestandenen Gebiete des Osmanenreiches. Am 15.5.1919 okkupierten die Griechen im Einverständnis mit den Entente-Mächten Smyrna und die Italiener nahmen Antalya und große Teile von Südwestanatolien in Besitz. Aufgrund dieser Ereignisse trat der Türkische Nationalkongress am 23.7.1919 zusammen, der unter der Führung von Mustafa Kemal stand. Mustafa Kemal eröffnete die Nationalversammlung in Ankara und ging dann immer entschiedener gegen das Regime des Sultans vor. Die Alliierten konnten sich jedoch gegenüber der Marionettenregierung Mechmeds VI. durchsetzen, was dazu führte, dass am 10.8.1920 der Sultan den Friedensvertrag von Sevres unterzeichnen musste. Dieser Vertrag beinhaltete die Leistung von Reparationen, die Beschränkung der türkischen Armee, die internationale Kontrolle der türkischen Häfen, der Eisenbahnen und der Meerengen, die Finanz- und Militärkontrolle sowie Gebietsabtretungen und die Aufteilung des Osmanischen Reiches.

Der Friedensvertrag von Sevres wurde von den von Mustafa Kemal geführten Nationalisten nichte anerkannt. Als nach dem Abschluss des Vertrages die Griechen in Thrakien und Anatolien vorzudringen beginnen, wobei tausende von türkischen Bauern getötet wurden, konzentrierte sich der Widerstand um Mustafa Kemal, der systematisch eine Armee aufbaute. Von 1920 bis 1922 kam es zum griechisch-türkischen Krieg, wobei die Griechen in der Schlacht am Sakaray-Fluss eine entscheidende Niederlage erlitten. In der Gegenoffensive konnten die Türken im September 1922 Smyrna erobern. Das sich der Vertrag von Sevres gegenüber der Türkei nur mit hohem militärischen Einsatz durchsetzen ließ, waren die kriegsmüden Alliierten zu neuen Friedensverhandlungen bereit. Mit dem Friedensvertrag von Lausanne am 24.7.1923 wurde der Frieden von Sevres revidiert: Die Türkei erhielt ihre volle Unabhängigkeit und Souveränität bestätigt, sie behielt Anatolien vollständig, gewann wieder einen Teil der Ägäischen Inseln und Teile Ostthrakiens, verzichtete aber auf alle nichttürkischen Gebiete.

Am 17.11.1922 war bereits die offizielle Regierung zurückgetreten, und am 18.11.1922 hatte Sultan Mechmed VI. abgedankt. Nach dem Frieden von Lausanne, der die außenpolitische Konsolidierung der Türkei herbeiführte, wurde die Türkei am 29.10.1923 zur Republik mit der Hauptstadt Ankara erklärt. Mustafa Kemal, der den Beinamen Atatürk (Vater aller Türken) erhielt, wurde Staatspräsident der Türkischen Republik. Durch die Verfassung erhielt die Große Nationalversammlung die oberste Staatsgewalt zugesprochen, Exekutive, Legislative und richterliche Gewalt kamen ihr zu, ihre Mitglieder wurden nach dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts gewählt. Die Exekutive lag in den Händen des Präsidenten und des Kabinetts, das sich gegenüber der Nationalversammlung verantworten musste. Neben der Entwicklung des türkischen Nationalismus ging eine Strömung einher, die die Struktur der neuen türkischen Republik entscheidend formte: der Laizismus, der die tradierte Einheit von Staat und Religion in der Türkei aufzuheben trachtet. Am 10.4.1928 wurde die Trennung von Religion und Staat in der Türkei weiter ausgeformt. Der Verfassungsartikel wurde aufgehoben, der den Islam zur Staatsreligion erklärt hatte und die Republik wurde zum säkularen Staat umgewandelt. Der Modernismus wurde in der republikanischen Türkei zu einer bedeutenden Kraft, die die überkommene osmanische Gesellschaft von Grund auf änderte. Um seine Reformen durchzusetzen, hielt Kemal Atatürk eine Diktatur auf „Zeit“ für notwendig, sowohl die Wahlen als auch die Nationalversammlung unterlagen daher der Kontrolle der Regierung. Kemal Atatürk stützte sich auf die Republikanische Volkspartei, die alle Gruppen der Bevölkerung, die in Berufszweige eingeteilt war, repräsentierte. Oppositionsparteien konnten sich kaum durchsetzen. In der Wirtschaft verfolgte Kemal das Prinzip des Etatismus, bei dem die private Initiative zwar noch die Grundlage des wirtschaftlichen Lebens blieb, dem Staat aber die Möglichkeit gegeben war, beständig in den gesamten Wirtschaftsprozess einzugreifen.

Am 10.11.1938 starb Kemal Atatürk, was jedoch keinerlei Veränderungen im politischen Gefüge der Türkischen Republik hervorrief. Zu seinem Nachfolger als Staatspräsident wurde am 11.11.1938 Ismet Inönü gewählt, der lange Zeit Premierminister war. Ismet Inönü blieb den gesamten 2. Weltkrieg hindurch türkischer Staatspräsident, ihm kamen dabei die gleichen diktatorischen Machtbefugnisse wie Kemal Atatürk zu. Während des 2.Weltkrieges blieb die Türkei zunächst neutral. Am 19.10.1939 ging sie mit Großbritannien und Frankreich einen Bündnisvertrag ein, der die türkische Sonderstellung berücksichtigte. Im Verlauf des Krieges schloss sich die Türkei noch enger an die Alliierten an und noch im letzten Kriegsjahr am 1.3.1945 erklärte sie dem faschistischen Deutschland den Krieg. Einen Tag darauf wurde die Türkei Gründungsmitglied der Vereinten Nationen.

Die Türkei nach dem 2. Weltkrieg

Ihren während des 2. Weltkrieges vollzogenen engen Anschluss an die Westmächte behielt die Türkei auch nach der Beendigung des Krieges bei, in der amerikanischen Balkan- und Mittelostpolitik kam ihr schließlich eine wesentliche Rolle bei der Stabilisierung der Machtverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten zu. Mit Jugoslawien schloss die Türkei am 9.8.1954 den so genannten Balkanpakt, der den militärischen Beistand der unterzeichnenden Mächte im Falle eines Angriffs vorsah und die territoriale Integrität sowie die kollektive Sicherheit der Signaturmächte gegeneinander beinhaltete. Am 21.2.1955 ging die Türkei zudem auf Betreiben der USA und Großbritanniens ein Bündnis ein mit dem Irak (Bagdadpakt), dem sich Pakistan und der Iran anschlossen. Diese Verteidigungsbündnisse ergänzte die Türkei, die außenpolitisch einen strikten prowestlichen Kurs verfolgte, noch durch ihre Mitgliedschaft und durch ihren Beitritt zur NATO am 25.2.1952. Am 5.3.1959 ging die Türkei mit den USA ein Verteidigungsabkommen ein.

Im Inneren der republikanischen Türkei ließ sich nach der Beendigung des 2. Weltkrieges der Kemalismus als Regierungssystem nicht mehr aufrechterhalten, da er insbesondere bei der Landbevölkerung keinen Rückhalt besaß. Unter der Führung des ehemaligen Premierministers Celal Bayar, des parlamentarischen Führers Adnan Menderes und des Historikers Fuad Köprülü wurde die Demokratische Partei gegründet, die den Versuch unternahm, ein demokratischeres politisches System und eine marktwirtschaftliche Ordnung einzurichten und die Republikanische Volkspartei zurückzudrängen. Bei den Wahlen am 14.5.1950 errang die Demokratische Partei die Mehrheit und Celal Bayar wurde am 22.5 zum Staatspräsidenten und Adnan Menderes zum Ministerpräsidenten berufen. Als die Demokratische Partei infolge einer überstürzten Expansion in wirtschaftliche und durch die Zypern-Frage ausgelöste politische Schwierigkeiten geriet, versuchte sie durch eine Reihe repressiver Maßnahmen ihre parlamentarische Mehrheit zu erhalten. Als am 19.4.1960 die Regierungsmehrheit der Nationalversammlung jegliche Betätigung der Parteien für drei Monate verbot, wogegen Studenten demonstrierten, kam es, nachdem die Armee sich gegen die Durchführung des Kriegsrechts gestellt hatte, am 27.5.1960 zu einem Militärputsch unter General Cemal Gürsel gegen die Regierung Menderes. Die oberste Staatsgewalt übernahm zunächst der neu geschaffene „Ausschuss der nationalen Einheit“ unter Leitung von General Gürsel. Am 13.11.1960 wurde ein vorbereiteter Verfassungsausschuss eingesetzt, zu Beginn des Jahres 1961 wurden die Parteien wieder zugelassen und am 26.5. 1961 erhielt die Türkei eine neue Verfassung. Am 18.10.1961 errang die Republikanische Volkspartei bei den Parlamentswahlen eine knappe Mehrheit. Die innere Lage der Türkei blieb jedoch nach dem Staatsstreich von 1960 weiterhin instabil.

Nach 1962 gewann die Gerechtigkeitspartei in der Türkei zunehmend an Anhängern. Bei den Parlamentswahlen am 10.10.1965 siegte die Gerechtigkeitspartei und am 27.10 bildete Süleyman Demirel eine neue Regierung. Auf die Daue konnte jedoch die Regierung Demirel die sich stellenden sozialen Probleme nicht in den Griff kriegen. Die hohe Analphabetenrate blieb bestehen und die einseitige wirtschaftliche Förderung der Westtürkei rief neue Probleme hervor. Als Folge radikalisierte sich das politische Leben. Einer Linken, die vom revolutionären Sozialismus bis zum Anarchismus reichte, standen Organisationen gegenüber, die zumeist für die islamische Theokratie eintraten und sich gegen die demokratische Ordnung wandten. Die fortgeschrittene Inflation, ansteigende Lebenshaltungskosten, Aufstände von Studenten und Arbeitern in Istanbul ließen Anfang der 1970er Jahre der Regierung Demirel immer mehr die Macht entgleiten. Dies führte dazu, dass am 12.3.1971 die Armee den Rücktritt Demirels erzwang.

Ende der 1970er Jahre gab es in der Türkei eine sehr instabile Phase, die durch wechselnde politische Koalitionen, politische und wirtschaftliche Instabilität und Terrorakte durch das extrem rechte und linke politische Spektrum geprägt war. Die Folge war, dass das Militär unter General Kenan Evren verhängte über das Land das Kriegsrecht verhängte und verbot alle politischen Parteien verbot. Am 7. November 1982 wurde die von den Militärs vorgelegte und bis heute gültige Verfassung der Republik Türkei durch eine Volksabstimmung verabschiedet. Ab Mitte der 1980er bestimmte die Abwehr der kurdischen Opposition die innenpolitische Debatte in der Türkei. Die Assimilierungspolitik der Türkei führte zur Unterdrückung der kurdischen Kultur und Identität. Als Reaktion darauf entstand im Jahre 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit Abdullah Öcalan an ihrer Spitze. Die PKK nahm 1984 im Südosten den bewaffneten Kampf für einen unabhängigen sozialistischen Staat Kurdistan auf. Seit 2004 sind die Kämpfe zwischen den türkischen Streitkräften und der Untergrundorganisation PKK wieder aufgeflammt und nahmen 2005 und 2007 an Intensität nochmals zu. Bis 2007 sind bei den Anschlägen und Kämpfen zwischen dem türkischen Militär und der PKK 40.000 Menschen ums Leben gekommen.

Der Regierungspräsident Bülent Ecevits stärkte in seiner Amtszeit, die von 1999 bis 2002 andauerte, die Menschen- und Freiheitsrechte. Dies betraf unter anderem das Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, Folter verboten und die kulturellen Freiheiten der kurdischen Bevölkerung gestärkt. Diese Reformen wurden unter der AKP, die seit 2003 an der Macht ist, gestärkt. Am 15. November 2003 und 20. November 2003 verübten Anhänger der al-Qaida mehrere Bombenanschläge in Istanbul, wo 60 Menschen starben. Ziele der Anschläge waren zwei Synagogen, das britische Konsulat und die Filiale einer britischen Bank.

Am 3. Oktober 2005 erreichte die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU. Neben wirtschaftlichen Kriterien und politischen Verpflichtungen stehen dabei auch Forderungen der EU zur Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten, dem Schutz von Minderheiten in der Türkei sowie der Verbesserung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten im Mittelpunkt. Besonders der Krieg gegen die Kurden und deren Autonomierechte wurden angesprochen In einem Referendum im September 2010 sprach sich die türkische Bevölkerung für umfassende Verfassungsänderungen aus. Der EU ging dies jedoch nicht weit genug. Bei einer Prüfung wurde konstatiert dass es unter der islamisch-konservativen AKP-Regierung Erdogans keine Fortschritte im Hinblick auf die Grundrechte gab. Es wurde die Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Parteilichkeit der Gerichte bemängelt.

Die Regierung Erdoğan ging im Mai 2013 mit Gewalt gegen Proteste von Oppositionellen vor, die -ausgehend vom Istanbuler Taksim-Platz - auch auf andere Städte übergriffen. Dies löste heftige Kritik sowohl in der Türkei als auch in der internationalen Öffentlichkeit aus.

Ein Korruptionsskandal erschütterte m Dezember 2013 die von Erdoğan gebildete Regierung. Türkische polizeiliche Ermittlungsbehörden verhafteten unter anderem die Söhne des Innenministers Muammer Güler, des Europaministers Egemen Bağış, des Wirtschaftsministers Zafer Cağlayan und des Umweltministers Erdoğan Bayraktar im Zuge der Aufdeckung eines Korruptionsskandales. In den folgenden Tagen traten der Innen-, der Wirtschafts- und der Umweltminister der Türkei von ihren Ämtern zurück. Viele polizeilichen Ermittler wurden auf Druck der Regierung von Erdoğan entlassen. Erdogan gewann die Präsidentschaftswahl am 10. August 2014 und wurde wenig später als neuer Präsident vereidigt. Erdoğan plädierte für eine Ausweitung der Kompetenzen des Präsidentenamts, was eine Gefahr für die Demokratie in der Türkei darstellt. Seine Partei AKP unterstützte sein Ziel der Einführung eines Präsidialsystems. Die AKP hätte dafür eine Zweidrittelmehrheit der Mandate für eine Verfassungsänderung oder zumindest eine 3/5-Mehrheit der Mandate für die Einleitung eines Referendums bekommt müssen, was aber bei den nächsten Wahlen deutlich verfehlt wurde. Die ehemals hauptsächlich kurdische Partei HDP konnte die 10%-Hürde für den Einzug ins Parlament überspringen, so dass die AKP nur noch eine relative Mehrheit (47%) der Mandate besitzt.

Mit der Proklamation der Republik am 29. Oktober 1923 trat die "kemalistische Revolution " in ihre entscheidende Phase: Nach der völkerrechtlichen Konsolidierung des neuen Regimes durch den Vertrag von Lausanne vom Juli 1923, der den Vertrag von Sèvres ersetzte, ging es nun darum, den neuen türkischen Staat gemäß den Vorstellungen seines Schöpfers Mustafa Kemal (1881-1938) aufzubauen. Dieser verfolgte eine Politik des radikalen Bruchs mit der Vergangenheit. Alles, Staat und Gesellschaft, sollte grundlegend neu geschaffen werden. Vorbild dafür waren die "moderne" europäische "Zivilisation" jener Tage und die national-staatszentrierte europäische politische Ideologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Die kemalistische Reformpolitik war jedoch nicht ohne Voraussetzungen. Insbesondere die jungtürkische Herrschaft ab 1908 und die ihr zugrunde liegenden politischen Ideen haben Mustafa Kemal und seine politische Weltsicht und damit auch sein politisches Wirken als "Vater" (Atatürk) der modernen Republik Türkei entscheidend geprägt. Damit sind aber auch - gewollt oder ungewollt - die Traditionslinien osmanischer Modernisierungspolitik seit dem frühen 19. Jahrhundert in das Projekt der Republik Türkei eingeflossen.

Mustafa Kemal war ein Kriegsheld. Der General genoss im Kreise der Armee und darüber hinaus hohes Ansehen. Außerdem war er ein Angehöriger des jungtürkischen "Komitees für Einheit und Fortschritt", das als militärischer Geheimbund seit seinem ersten revolutionären Auftreten 1908 zur wesentlichen Triebkraft der politischen Umwälzungen des Osmanischen Reiches vor und während des Ersten Weltkriegs geworden war. Mustafa Kemal war völlig vom national-säkularistischen Gedankengut des Komitees durchdrungen, und dessen autoritärer Politikstil fand ebenfalls seine Billigung. Für ihn war deshalb der neue türkische Staat nur als einheitlicher Nationalstaat auf der Grundlage einer strikten Trennung von Staat und Religion vorstellbar und musste notfalls auch gegen den Widerstand des Volkes oder oppositioneller Kräfte durchgesetzt werden.

Unter den Führungspersonen des nationalen Widerstandes gegen die europäischen Siegermächte war Mustafa Kemal der bei weitem politisch energischste, zielstrebigste und skrupelloseste. Er hatte ein klar umrissenes politisches Programm - die Wiederherstellung des Vaterlandes als türkischer Nationalstaat unter seiner Führung -, das er unnachgiebig verfolgte. Darin hatte das osmanische Fürstenhaus nur noch einen taktischen, aber keinen grundsätzlichen Platz mehr. Mustafa Kemal war nicht bereit, sich in das Istanbuler Herrschaftssystem einzuordnen. Dieses sollte durch sein eigenes, neues abgelöst werden.

Er konzentrierte sich darauf, den nationalen Widerstand in den nicht von alliierten Truppen besetzten Gebieten des Reiches, das heißt in Ost- und Zentralanatolien sowie entlang der Schwarzmeerküste, zu organisieren. Sein politisches Programm wurde im Sommer 1919 auf verschiedenen von Mustafa Kemal in anatolischen Provinzzentren organisierten Kongressen des Widerstandes im "Nationalpakt" konkretisiert. In ihm wurden die Grenzen des neuen türkischen Staates bestimmt. Dieser sollte weitgehend auf das anatolische Gebiet des Reiches mit einem Teil des europäischen Thrakiens beschränkt sein. Gleichzeitig wurde die türkische Nation als Souverän zum ideellen Träger des neuen Staates erklärt, der über die volle nationale Unabhängigkeit verfügen sollte.

Die Führung des Widerstandes, das "Komitee der Repräsentanten" der "Gesellschaft zur Verteidigung der Rechte Anatoliens und Rumeliens" unter der Leitung von Mustafa Kemal, verlegte ihr Hauptquartier im Dezember 1919 in Ankara, die ein zentralanatolischer Knotenpunkt im Telegrafen- und Eisenbahnnetz war. Seine fast dauerhafte Anwesenheit in Ankara machte Mustafa Kemal zum "natürlichen" Zentrum des politischen Geschehens. Im März 1920 besetzten die Briten Istanbul und lösten das osmanische Parlament auf, in dem inzwischen die Kräfte des Widerstandes den Ton angaben. Mustafa Kemal lud daraufhin die Abgeordneten nach Ankara ein, wo sich am 23. April 1920 die Große Nationalversammlung konstituierte. Damit entstand ein zweites voll funktionsfähiges und legitimiertes politisches Zentrum, das sofort die politische Souveränität für sich beanspruchte. Entscheidungen der Istanbuler Regierung des Sultans wurden von Ankara nicht mehr anerkannt. Zur Stärkung seiner Position in der recht heterogen zusammengesetzten Nationalversammlung sammelte Mustafa Kemal im Mai 1921 seine engeren Anhänger in der "Gruppe zur Verteidigung der Rechte", der Vorläuferorganisation der späteren Republikanischen Volkspartei (CHP). Hauptaktivität der nationalen Unabhängigkeitsbewegung war der Kampf gegen die griechischen Besatzungstruppen in Westanatolien. Die französischen und italienischen Truppen hatten vorher die von ihnen besetzten Gebiete im Süden aufgrund der in der europäischen Bevölkerung nach den Pariser Friedensschlüssen (1919/1920) um sich greifenden Kriegsmüdigkeit freiwillig geräumt. Russland hatte schon im Anschluss an die bolschewistische Revolution (1918) einen Ausgleich mit Ankara gesucht. Das führte zur Konsolidierung und Befriedung an den Nord- und Ostgrenzen. Mit dem Sieg über die griechische Armee in Westanatolien Anfang September 1922 wurde der nationale Befreiungskampf erfolgreich beendet. Faktisch war damit Anatolien in den Grenzen des Waffenstillstandes von 1918 nunmehr von fremden Truppen, aber auch von "fremder", das heißt vor allem griechischer und armenischer Bevölkerung "befreit".

Im Anschluss an den Vertrag von Lausanne (1923) fand ein vertraglich vereinbarter Bevölkerungstausch statt, bei dem die gesamte griechisch-orthodoxe Bevölkerung Anatoliens, mit Ausnahme der Griechen Istanbuls, nach Griechenland und die gesamte muslimische Bevölkerung Griechenlands, mit Ausnahme der Muslime Westthrakiens, in die Türkei umgesiedelt wurden. Insgesamt zogen in den Jahren von 1912 (Beginn der Balkankriege) bis zum Abschluss des Austausches 1924 circa 400000 Muslime aus Griechenland in die Türkei und etwa 1,2 Millionen Griechen in die Gegenrichtung.

Zu Beginn der Republik bestand deren Bevölkerung nunmehr zu 98 Prozent aus Muslimen. Nicht-muslimische Minderheiten gab es praktisch nicht mehr: Die griechische Bevölkerung war von circa zwei Millionen auf 120000 (vorwiegend in Istanbul lebend) geschmolzen, die Armenier von über 1,5 Millionen auf 65000 (ebenfalls überwiegend in Istanbul). Letztere waren vor allem der gezielten Vernichtungspolitik der jungtürkischen Führung in der Frühphase des Ersten Weltkriegs 1915 zum Opfer gefallen. Der nationale Widerstand unter der Führung Mustafa Kemals hatte das "Diktat von Sèvres" vollständig revidiert. Gleichzeitig war in Ankara das politische Zentrum einer neuen Türkei entstanden, deren Leitbild die nationale Unabhängigkeit war. Ebenso waren die ethnischen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die islamische Religion zu einem natürlichen Identitätsfaktor der künftigen türkischen Nation werden konnte. Zunächst jedoch kam es Mustafa Kemal darauf an, den militärischen Erfolg politisch zu konsolidieren und die Türkei auch zu einem anerkannten, gleichberechtigten Mitglied der Staatengemeinschaft Europas zu machen. Das geschah mit dem Vertrag von Lausanne im Juli 1923.

Aus türkischer Sicht ist am Lausanner Vertrag vor allem bemerkenswert, dass damit das neue Regime in Ankara international anerkannt wurde. Die Türkei verhandelte in ihrer Wahrnehmung zudem nicht als eine Verliererin des Ersten Weltkriegs über die endgültige Friedensregelung, sondern als Siegerin des nationalen Befreiungskampfes über die internationale Anerkennung der Grundsätze des Nationalpakts. Mit Lausanne wurde die Türkei in dieser Perspektive ein vollkommen gleichberechtigtes Mitglied der europäischen Staatenwelt. Das neue türkische Regierungssystem blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs praktisch unverändert: Der Präsident der Republik war das Zentrum der Macht. Die Gesetze wurden im geschlossenen Kreis der CHP-Führung erörtert und dann der Nationalversammlung zur formalen Verabschiedung vorgelegt. Damit war das Instrumentarium geschaffen, mit dem Mustafa Kemal seine neue Türkei aus dem vom ununterbrochenen zehnjährigen Krieg (1912-1922) und seinen Folgen ruinierten Anatolien bauen wollte. In den Augen seiner Anhänger und zahlreicher Landsleute hatte er es vor der Vernichtung durch die europäischen Mächte gerettet.

Mit dem Lausanner Vertrag und der Ausrufung der Republik war die Hülle des türkischen Nationalstaats entstanden. Allerdings fühlte sich nur eine Minderheit der Bewohner Anatoliens als Türken im Sinne eines Staatsvolks.

Der erste Schritt war die Abschaffung des Kalifats am 3. März 1924 und die anschließende Ausweisung aller Angehörigen der Herrscherfamilie. Ihm folgte die Verabschiedung der Verfassung am 20. April 1924, mit der die Republik konsolidiert wurde und die bis 1961 im Wesentlichen unverändert blieb. Im Anschluss ging Mustafa Kemal daran, die türkische Bevölkerung von bestimmten islamischen Traditionen zu "befreien".

Den Anfang machte das Hutgesetz vom 25. November 1925, mit dem der Fez verboten und der Hut ab November 1928 als Kopfbedeckung der Männer vorgeschrieben wurde. Die Bekleidung der Frauen wurde jedoch nicht reglementiert, insbesondere wurde der "Schleier" nicht verboten, wenngleich er in den Augen Mustafa Kemals und seiner Anhänger verpönt war. Am 30. November 1925 wurden die Konvente der Derwischorden aufgelöst und die traditionelle Verehrung von Sultans- und Heiligengräbern verboten. Das war ein Schlag gegen den in Anatolien weit verbreiteten Volksislam. Jenseits der Moscheen gab es keine zulässigen Stätten religiöser Verehrung mehr. "Religiöse Kleidung" durfte nur von Geistlichen und nur bei religiösen Anlässen getragen werden. Die heute in der Türkei hoch aktuelle Auseinandersetzung über das "Kopftuch" (türban) der gläubigen Studentinnen zeigt, dass mit dem Hutgesetz die Frage der Bekleidung als Merkmal türkischer Identität keineswegs abschließend geregelt werden konnte. Zwar arrangierten sich die Männer mit dem neuen Gesetz, indem sie in der großen Mehrzahl die flache Schirmmütze zur neuen "typischen" Kopfbedeckung erkoren und auch sonst im Laufe der Zeit die europäische Bekleidung annahmen. Doch zeigt sich bis heute an der "Kleiderfrage" der Frauen die große Bedeutung, die das äußere Erscheinungsbild für die muslimische Identität besitzt: Die Bekleidung ist unter anderem ein Element, mit dem sich die Gläubigen von den Ungläubigen unterscheiden können.

Im Jahre 1926 wurde mit der Übernahme des Schweizer Zivilgesetzbuchs und des italienischen Strafgesetzbuchs die Grundlage der Rechtsbeziehungen in der Republik säkularisiert. 1928 wurde der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen.

Am 3. November 1928 verabschiedete die Nationalversammlung das Gesetz, mit dem ab dem 1. Januar 1929 das türkische (lateinische) Alphabet zur offiziellen Schriftsprache der Republik erklärt und die Benutzung der alten osmanischen Schrift verboten wurde. Im selben Jahr wurde auch die islamische Zeitrechnung durch den Gregorianischen Kalender und der Freitag durch den Sonntag als Wochenfeiertag abgelöst. Damit war auch die letzte Verbindung zur alten Ordnung und ihren religiösen Grundlagen gekappt.

Die Folgen waren aus heutiger Sicht zwiespältig. Für die breite Masse der Bevölkerung wurde die Überwindung des Analphabetentums wesentlich erleichtert, ja überhaupt erst ermöglicht. Binnen weniger Jahre verdoppelte sich die Zahl der Personen, die des Lesens und Schreibens mächtig waren, von zehn auf 20 Prozent bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 16 Millionen Menschen. Durch die Sprachreform wurde der Anschluss der Türkei an die "westliche Zivilisation" erheblich erleichtert, da die Schriftbarriere wegfiel.

Die mit den kemalistischen Reformen verbundene Säkularisierung setzte sich jedoch für lange Zeit nur in den städtischen Gebieten und bei der Mehrzahl der in der öffentlichen Verwaltung Beschäftigten durch. Es entstand eine kemalistische Elite, die sich die Durchsetzung und später dann die Bewahrung der Reformen zur Aufgabe machte. In den Anfängen war diese Elite weitgehend mit jenen Gruppen identisch, die auch schon in der jungtürkischen Zeit die Geschicke des Reiches gesteuert hatten: den Vertretern des Staatsapparates, der Militärführung sowie den Angehörigen der säkularen Bildungseliten. Anders als die jungtürkischen Reformen vor dem Ersten Weltkrieg konnte die kemalistische Aufpfropfung der westlichen Zivilisation aber konsolidiert werden, weil die Republik von äußeren Herausforderungen weitgehend verschont blieb.

Hinzu kam, dass Mustafa Kemal von Beginn an den staatlichen Machtapparat skrupellos zur Unterdrückung jeden gesellschaftlichen Widerstandes gegen die säkularisierende Reformpolitik einsetzte. Wesentliche Instrumente waren dabei ein Ausnahmerecht und auf seiner Grundlage eingesetzte "Unabhängigkeitsgerichte", die ihre Urteile unter weitgehender Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze nach Maßgabe politischer Willkür fällten. So war Anfang der 1930er-Jahre jeder Widerstand im Innern ausgeschaltet und die Einparteienherrschaft der CHP unter Mustafa Kemals Führung endgültig etabliert.

Die Republik Türkei ging aus dem nationalen Befreiungskampf und den kemalistischen Reformen als ein autoritäres politisches System mit "europäischem Aussehen" hervor, dessen Geschicke im Wesentlichen von der "zweiten Generation" der jungtürkischen Bewegung bestimmt wurden. Sie unterschied sich von den zeitgleichen totalitären Regimen in Europa vor allem dadurch, dass ihre Führung weitgehend darauf verzichtete, eine totale Gleichschaltung der Gesellschaft durchzusetzen. Die Anhänger einer eher liberalen Reformpolitik blieben jedoch ebenso auf der Strecke wie die Vertreter islamistischer Strömungen. Beide sollten bis Anfang der 1950er-Jahre keine Rolle mehr spielen.

So gesehen war die "kemalistische Revolution" vor allem eine grundlegende Änderung des institutionell-politischen Überbaus (Republik) und die Vorgabe eines gesellschaftlichen Idealbildes ("westliche Zivilisation") der Türkei, nicht jedoch eine fundamentale soziale Umwälzung. Staatspolitik und Gesellschaft waren nach dem Abschluss der kemalistischen Reformpolitik für lange Zeit noch nicht vollständig kongruent. Doch war die Machtposition der Reformeliten so weit konsolidiert, dass es ein Zurück hinter die kemalistische Säkularisierung von oben nicht mehr geben konnte. Die Republik Türkei war damit von ihrem Gründer, wenn auch mit mitunter höchst zweifelhaften Methoden, auf einen Modernisierungspfad gesetzt, der sie zum heute am weitesten entwickelten Land ihrer Region machen sollte.

Die politischen Umwälzungen Atatürks kamen, wie alle derartigen revolutionären Prozesse, nicht ohne einen ideologischen Überbau aus. Aus den zahlreichen Reden Atatürks wurden im Diskurs der intellektuellen Zirkel der CHP die sechs Prinzipien des Kemalismus herausgearbeitet. Sie versinnbildlichten die programmatische Grundlage der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Modernisierung der Türkei. Zugleich waren sie das ideologische Konstrukt, mit dem die Maßnahmen der kemalistischen Elite zur konkreten Umsetzung dieses Programms rechtfertigt wurden. Die Prinzipien wurden 1931 in das Programm der CHP aufgenommen und als die "sechs Pfeile" auch in das Parteiemblem übernommen. Diese Prinzipien sind:

  1. Republikanismus als Ausdruck des Prinzips der Volkssouveränität als Grundlage aller politischen Entscheidungen. Damit ist gleichzeitig die Absage an die in der Figur des Sultans verkörperte personale Herrschaft des Osmanischen Reiches verbunden. Dabei wurde großzügig darüber hinweggesehen, dass das Volk im politischen Prozess keine Stimme hatte: Im Parlament fanden sich handverlesene Gefolgsleute der CHP.
  2. Populismus als Ausdruck der Gleichheit der türkischen Staatsbürgerinnen und -bürger, was die Herrschaft einer Klasse über andere ausschließt. Die autoritäre Einparteienherrschaft der CHP sprach dem ebenso Hohn wie die faktische Diskriminierung aller Minderheiten.
  3. Laizismus als Ausdruck der Trennung von Staat/Politik und Religion sowie
  4. Nationalismus als Ausdruck für das Zusammengehörigkeitsgefühl der neuen türkischen Bürgerinnen und Bürger.

Diese Prinzipien wurden erst im Laufe der Entwicklung der Republik, insbesondere nach Atatürks Tod, von der Führung der Staatspartei und den sich auf den Kemalismus berufenden neuen republikanischen Eliten dogmatisiert. Ihre Verankerung als Artikel 2 in der türkischen Verfassung im Jahre 1937 hat sie kanonisiert. Seitdem wurden sie von allen Regierungen zur Begründung ihrer jeweiligen Politik herangezogen, und alle Parteien berufen sich bis heute in ihren Programmen mehr oder weniger deutlich auf sie. Doch ihre konkrete Bedeutung und damit auch das vorherrschende Verständnis von Kemalismus sind abhängig von den jeweiligen gesellschaftlich-politischen Machtkonstellationen und den ihnen zugrunde liegenden Einflussgrößen.

"Der Staat Türkei ist eine Republik." So steht es seit Ausrufung der Republik in Artikel 1 der Verfassung. Damit wird unterstrichen, dass das politische System der Türkei auf die uneingeschränkte Souveränität des Volkes als Legitimationsgrundlage politischen Handelns gegründet ist. In seiner europäischen historischen Entwicklung kennzeichnet das republikanische Prinzip darüber hinaus ein politisches System, das zugleich rational, demokratisch, liberal, dem Gleichheitsgedanken verpflichtet und pluralistisch strukturiert ist. In diesem Sinne wird das Prinzip heute auch in der Türkei offiziell verstanden. Ursprünglich sollte damit jedoch in erster Linie der Gedanke der Volkssouveränität hervorgehoben werden. Die politische Praxis der türkischen Republik hatte während des nationalen Befreiungskampfes und der Einparteienherrschaft jedoch noch erhebliche Ähnlichkeit mit dem Vorgängerregime. Die personale Herrschaft des Sultans und seines Hofes wurde in den Jahren zwischen 1923 und 1938 im Wesentlichen durch die personale Herrschaft Mustafa Kemals und seiner CHP ersetzt. Allerdings war diese Legitimationsfunktion integraler Bestandteil des Systems, einschließlich der damit verbundenen demokratischen Wahlen - selbst wenn diese häufig nur formalen Charakter hatten. Freie Wahlen in einem pluralistisch organisierten Mehrparteiensystem sind als Grundverfahren zur Bestimmung politischer Legitimation von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert.

Neben der Republik ist die türkische Nation das zweite dauerhafte Resultat der kemalistischen Revolution. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren "Nationalismus" und "Nation" für die Bevölkerung Anatoliens noch fremde Konzepte. Ausgehend von der jungtürkischen Ideologie, vor allem aber als Konsequenz des nationalen Befreiungskrieges und seiner ideologischen Deutung durch Mustafa Kemal und seine Gefolgsleute als ein Akt der Selbstbefreiung der türkischen Nation von politischer Fremdherrschaft durch die europäischen Mächte der "Ungläubigen", entstand aus den Trümmern des osmanischen Vielvölkerreiches in der Bevölkerung Anatoliens dann zunehmend ein türkisches Nationalbewusstsein und darauf gründend die türkische Nation.

In der Türkei ging das im ursprünglichen kemalistischen Anspruch eher politisch definierte Verständnis der türkischen Nation rasch und immer stärker verloren und wurde durch eine ethnisch-religiös definierte Auffassung überlagert: Türkentum und Islam verschmolzen zu einem Amalgam, das den Kern republikanischer türkischer Identität bildet. Der offizielle Diskurs betont zwar nach wie vor die am Prinzip des Staatsbürgers orientierte Deutung der Nation: Jede Bürgerin und jeder Bürger der Republik Türkei ist Türkin bzw. Türke; die Gesamtheit der so definierten Türken bildet die türkische Nation. So steht es auch in der Verfassung. In der politisch-gesellschaftlichen Praxis hingegen hat sich ein Nationsverständnis etabliert, das das Verständnis von "Türke" über das Bekenntnis zur ethnisch geprägten türkisch-muslimischen Kultur definiert.

Für Atatürks Idee des Nationalismusprinzips steht die heute überall im Lande zu findende Formel: Ne mutlu Türküm diyene! ("Wie glücklich derjenige, der sagt: Ich bin Türke!"), mit der er 1933 seine Rede zur Zehnjahresfeier der Republik schloss. Diese Formel beinhaltete vor allem das Bekenntnis zur türkischen Kultur und Sprache und zur Republik und ihren Grundlagen. Damit ging allerdings bereits Atatürk über ein rein staatsbürgerlich geprägtes Verständnis der Nation hinaus und fügte ihm ein kulturelles Element hinzu. Die Nation war für ihn eine unteilbare, durch bestimmte kulturelle Eigenarten wie Sprache und Geschichte geprägte Einheit. In ihr konnte es deshalb auch keine anderen, durch eine eigene Identität, das heißt eine andere Kultur, definierte Gruppen geben. Die breite Masse des Volkes hat diese Sicht stillschweigend um das religiöse Element ergänzt, das immer schon Bestandteil ihres Selbstverständnisses war und auf über 99 Prozent der Bevölkerung der Republik zutraf. Das republikanische Nationalismusverständnis, dass es in der Türkei eine türkische Nation gibt, die durch eine eigenständige Kultur gekennzeichnet ist, wird heute von keiner Seite mehr in Frage gestellt. Dieses Bewusstsein, Teil des auf einer langen und erfolgreichen Geschichte beruhenden Türkentums zu sein, eint die breite Mehrheit der Bevölkerung über soziale und politische Grenzen hinweg. Es ist fester Bestandteil der nationalen Identität und gilt weiten Kreisen der Bevölkerung als sakrosankt. Folglich stehen das Türkentum selbst und seine wichtigsten Symbole, wie etwa die Flagge, unter dem Schutz des Strafrechts. Da erscheint es vielen als folgerichtig, dass alle Bürger, die diesem Idealbild nicht entsprechen (wollen), eigentlich nicht als "Türke" angesehen werden - und damit als ein "Fremdkörper" in der Nation. So wurden gegen den Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk verschiedene Strafverfahren wegen "Verunglimpfung des Türkentums" eingeleitet, weil er öffentlich das Dogma von der national-kulturellen Homogenität der türkischen Bevölkerung in Frage gestellt hatte.

Die Bindung des kemalistischen Nationsbegriffs an das Türkentum hat in der türkischen Bevölkerung zu einer latenten Fremdenfurcht und -feindlichkeit geführt, die alles Nicht-Türkische mit einem gewissen Argwohn betrachtet. So hat schon Mustafa Kemal in seiner berühmten "Rede" (Nutuk) von 1927 die christlichen Minderheiten als innere Feinde des Osmanischen Reiches und damit auch der Republik gebrandmarkt. Diese Einstellung kann sich heute in extrem-nationalistischen, aber auch doktrinär-kemalistischen Kreisen schnell zu echter Fremdenfeindlichkeit auswachsen.

Neben diesem auf die kemalistische Ideologie zurückgehenden "ursprünglichen" Nationalismusverständnis der Türken gibt es Spielarten, die eine besondere politische Ideenwelt repräsentieren. Die bekannteste ist die turanistische Nationalismusvariante, die an die Herkunft des türkischen Volkes aus Zentralasien anknüpft und nach einer ethnisch-ideologisch begründeten politischen Einheit aller turkstämmigen Völker strebt (Panturkismus). In der Republik wurde sie in den 1960er-Jahren wieder politisch wirkungsmächtig, als Alparslan Türkes (1917-1997) die Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) gründete. Sie wurde in der BRD vor allem unter dem vom Symbol ihrer Jugendorganisation abgeleiteten Begriff der "Grauen Wölfe" bekannt und vertrat einen aggressiven chauvinistischen, pantürkisch geprägten Nationalismus.

Eine neuere Spielart sind die "Neonationalisten" (türk.: ulusalcilar), die sich im letzten Jahrzehnt landesweit ausgebreitet haben. Sie verfolgen einen dezidiert anti-islamistischen Kurs, gepaart mit dem Ziel, eine starke und (vom Westen) unabhängige Türkei zu schaffen. Die Neonationalisten lassen sich nicht mit den Kategorien "rechts" oder "links" fassen. Ihre innenpolitischen Feindbilder sind die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und deren Anhänger, liberale Demokraten sowie Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten, wenn sie die Assimilation an das Türkentum ablehnen. Äußere Feinde sind die "imperialistischen Mächte" des Westens, die nach einer "Schwächung" der starken und stolzen türkischen Nation und Republik streben. Mit dieser eher diffusen "Ideologie" finden die Neonationalisten besonders unter der jüngeren, schlecht ausgebildeten großstädtischen Bevölkerung und in Kreisen des doktrinären kemalistischen Establishments Anhänger. Viele ihrer Führungsfiguren sind pensionierte, teils auch noch aktive hohe Offiziere, Intellektuelle und Hochschullehrer. Sie zielen nicht auf eine Parteigründung, sondern haben ihre Anhänger vor allem in der CHP und der MHP, aber auch in (früher) dezidiert linksradikalen Gruppierungen wie der Türkischen Arbeiterpartei. Neonationalisten sind auch die politischen Triebkräfte hinter politischen Putschversuchen gegen die AKP-Regierung, die aus dem Militär heraus gesteuert werden, und den gegen die AKP gerichteten Massenprotesten im Vorfeld der Staatspräsidentenwahl von 2007 sowie den in der Bevölkerung immer wieder aufflammenden gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Kurden in den westlichen und südlichen Landesteilen.

Neonationalisten bilden neben der MHP und Teilen des Staatsapparates auch den Kern jener Kräfte, die die im kemalistischen Dogma von der "einen, unteilbaren türkischen Nation" angelegte Negation jeglicher Minderheiten in der Türkei strikt aufrechterhalten wollen. Nach offizieller türkischer Ansicht gibt es in der Republik nur drei Minderheiten, deren Existenz im Vertrag von Lausanne geregelt ist: Griechisch-Orthodoxe, Armenier und Juden. Dies ist eine spezielle, aus politischen Opportunitätserwägungen konstruierte, türkische Lesart des Vertrages. In dessen einschlägigen Artikeln 37 bis 45 ist stets von "türkischen Staatsbürgern, die nicht-muslimischen Minderheiten angehören" oder von "allen Einwohnern der Türkei" die Rede, nicht aber von explizit benannten Minderheiten. Damit gelten die Bestimmungen eigentlich auch für Angehörige anderer nicht-muslimischer Gruppierungen oder für Staatsbürger nicht-türkischer Abstammung, das heißt in erster Linie für die Kurden in der Türkei.

Allerdings streiten der türkische Staat und die Mehrheit der Bevölkerung die Existenz muslimischer Minderheiten ab. Für sie sind alle muslimischen Bürger der Türkei "Bürger erster Klasse ". Folglich können Muslimen in der Türkei gar keine Minderheitenrechte auf der Grundlage entsprechender internationaler Konventionen oder Abkommen eingeräumt werden. Diese Haltung ist erst im Zuge des EU-Beitrittsprozesses und der damit verbundenen EU-Forderung nach "der Achtung und dem Schutz von Minderheiten" ins Wanken geraten. Wie in vielen anderen Bereichen ist auch in der Minderheitenfrage die EU eine wichtige Triebkraft für fundamentalen Wandel in der Türkei geworden.

Dabei ist das Land immer noch weit von der generellen Anerkennung der Existenz von Minderheiten entfernt. Doch wird die Existenz der Kurden und der Aleviten als sich von der Mehrheitsbevölkerung in einigen Aspekten unterscheidende Gruppen seitens der Regierung und der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr bestritten. Auch gibt es seit dem Beginn der EU-induzierten Reformen 2002 deutliche Fortschritte in der Politik  gegenüber muslimischen wie nicht-muslimischen Minderheiten.

Allerdings werden diese Entwicklungen gegenüber den muslimischen Minderheiten eher als Maßnahmen einer Nicht-Diskriminierungs- oder Gleichbehandlungspolitik dargestellt und ausdrücklich nicht als Minderheitenpolitik. Es geht also darum, dass Kurden und Aleviten tatsächlich ihren Status als "Bürger erster Klasse" im Alltag erfahren und leben können, nicht aber darum, sie in einer ethnischen oder religiösen Andersartigkeit zu bestärken.

Doch auch für die vom türkischen Staat anerkannten Minderheiten werden die Bestimmungen des Lausanner Vertrages sehr restriktiv interpretiert. Das bekommen besonders die wenigen (circa 2500) noch verbliebenen Griechisch-Orthodoxen in Istanbul zu spüren. Ihnen wird die Ausübung ihrer Religion deutlich erschwert, weil alle Ausbildungsstätten für Priester seit Jahrzehnten geschlossen sind. Die Frage der langfristigen Sicherung der Existenz des Patriarchats und seiner Gemeinde bleibt somit ungeklärt. Außerdem weigert sich der türkische Staat, das Patriarchat von Konstantinopel als Ökumenisches Patriarchat der Griechisch-Orthodoxen Kirche anzuerkennen. Für Ankara ist es nur eine Einrichtung der Orthodoxen in der Türkei.

Ihm wird zudem, wie den Einrichtungen aller anderen nicht-muslimischen Glaubensgemeinschaften, nicht der Rechtsstatus einer "Kirche" zuerkannt. Sie müssen sich in der Form von (nicht-muslimischen) religiösen Stiftungen organisieren und erleiden dadurch erhebliche Nachteile bei der Beschäftigung von Geistlichen und beim Immobilienbesitz. Hieran haben auch die in den letzten Jahren vor allem auf Drängen der EU im Beitrittsprozess vorgenommenen Änderungen des Stiftungsrechts nichts Wesentliches geändert. Für viele einfache Türken und Angehörige des Staatsapparates sind die christlichen Gemeinden immer noch "Brückenköpfe" des feindlichen Auslandes, die an der Zerstörung der Republik arbeiten. Den etwa 60000 Armeniern, die heute noch in der Türkei, hauptsächlich in Istanbul, leben, geht es nur unwesentlich besser. Die Armenier werden weitgehend in Ruhe gelassen, sofern sie sich nicht öffentlich exponieren - eine Haltung, die vom armenischen Patriarchat dezidiert vertreten wird, da es um möglichst konfliktfreie Beziehungen zum türkischen Staat bemüht ist. Das Verhältnis ist durch die osmanischen Massaker an den Armeniern im Jahre 1915 und durch den vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg von der armenischen Diaspora in den USA und einigen europäischen Staaten entfachten internationalen Streit über die Einordnung dieser Massaker als Völkermord und dessen Anerkennung durch die Türkei erheblich belastet. Wie sehr dieses armenische Trauma die türkische Politik verstört, zeigte sich nach der Ermordung des Herausgebers der türkisch-armenischen Tageszeitung "Agos", Hrant Dink, am 19. Januar 2007 durch einen türkischen Neonationalisten. Spontanen Trauer- und Solidaritätsbekundungen für den Verfechter eines türkisch-armenischen Ausgleichs stand mehr oder weniger offene Genugtuung nationalistischer Kreise gegenüber.

Die circa 26000 heute vorwiegend in Istanbul lebenden Juden sind die kulturell und wirtschaftlich am besten integrierte nicht-muslimische Minderheit.

Die jüdische geistliche Führung unternimmt jedoch große Anstrengungen, um keine innertürkischen Vorwände zu liefern, das Klima gegenüber den Juden zu verschlechtern. Auch die AKP-Regierung zeigt bisher kein Interesse daran, den außenpolitischen Konflikt mit Israel über dessen Palästinapolitik innenpolitisch gegen die kleine jüdische Gemeinde zu instrumentalisieren. Sie bestreitet vielmehr vehement das Vorkommen von Antisemitismus in der Türkei.

Die Probleme der zahlenmäßig kleinen nicht-muslimischen Minderheiten sind letztlich für den türkischen Staat nicht virulent, auch wenn das Thema "Religionsfreiheit " von Seiten der EU immer wieder zum Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit gemacht wird. Von weitreichender, aus Sicht nationalistischer Kreise sogar existenzieller Bedeutung hingegen ist der Umgang mit zwei muslimischen Minderheiten: den Kurden und den Aleviten.

Die türkischen Aleviten gehören zu den nicht-sunnitischen muslimischen Glaubensgemeinschaften. Oft werden sie mit den Schiiten oder syrischen Alawiten gleichgesetzt. Das stimmt jedoch nicht, denn das türkische Alevitentum ist eine eigenständige, vornehmlich anatolische Entwicklung, die ihre endgültige Ausprägung im 13./14. Jahrhundert fand. Für die Aleviten steht der persönliche Weg des Einzelnen zu Gott im Mittelpunkt des Glaubens, der deshalb auch viel individueller ausgelegt wird als das strikte Regelwerk des sunnitischen Islam. Deshalb werden sie von vielen Sunniten als Häretiker angesehen und wurden im Osmanischen Reich vielfach verfolgt. Die Aleviten begrüßten daher das laizistische Prinzip der kemalistischen Republik, da sie sich von der Religionsfreiheit eine Erleichterung ihrer religiösen Existenz versprachen. Sie wurden für lange Zeit treue Anhänger von Atatürks "Staatspartei" CHP. Daran konnte auch nichts ändern, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht für nicht-sunnitische muslimische Gemeinschaften gilt: Die unter Atatürk eingerichtete staatliche Behörde zur Regelung und Überwachung der Religion in der kemalistischen Republik ist bis heute nur für die Sunniten zuständig. Der kemalistische Staat unternahm in der Vergangenheit auch nichts zum Schutz der Aleviten, wenn es zu gewalttätigen Übergriffen sunnitischer Fanatiker kam. Die anhaltende Diskriminierung in der modernen Republik und die Verstädterung im Zuge der Landflucht führten dazu, dass die Aleviten zunehmend die Öffentlichkeit suchten und sich, vor allem in den großstädtischen Zentren, in Stiftungen und Vereinen organisierten, die auch mit politischen Forderungen hervortraten. Ihre Nichtanerkennung durch den Staat verhinderte eine offizielle Erfassung ihrer Zahl; Schätzungen gehen von einem Anteil zwischen 15 und knapp 30 Prozent an der Gesamtbevölkerung aus (circa zehn bis 25 Millionen Menschen). Das heißt, dass eine bedeutende Minderheit der muslimischen türkischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nicht in den vollen Genuss der Religionsfreiheit kommt.

Doch in den letzten Jahren, insbesondere nach den Wahlen von 2007, bemüht sich die Regierung der AKP um einen Dialog mit Vertretern der Aleviten. Ziel ist die öffentliche Anerkennung und das Eingehen auf Wünsche der Aleviten nach religiöser Gleichbehandlung mit den Sunniten. Die Gespräche blieben allerdings weitgehend ergebnislos, da es in der AKP und ihrer frommen sunnitischen Basis noch erhebliche Widerstände gegen eine Gleichbehandlung der Aleviten gibt. Auch sind sich nicht alle alevitischen Vereinigungen über das Maß der erwünschten Nähe zum sunnitisch-muslimischen Staat einig. Es dürfte also noch einige Zeit vergehen, bis es zu einer umfassenden Normalisierung der Situation der Aleviten in der Türkei kommt. Doch ist eine staatliche Nichtbeachtung ihrer Situation vor dem Hintergrund der im letzten Jahrzehnt im Zuge des EU-Beitrittsprozesses deutlich erweiterten Freiheitsrechte der türkischen Bürgerinnen und Bürger für die Regierenden keine politische Option mehr. Das trifft noch viel mehr auf das Verhältnis des Staates zur größten ethnischen Minderheit, den Kurden, zu. Auch ihre Zahl ist nicht bekannt, da die Muttersprache bei den Volkszählungen seit 1965 nicht mehr erfasst wird. Man kann aber davon ausgehen, dass sich circa 15 Prozent der Bevölkerung (gut zehn Millionen Menschen) als kurdische Muttersprachler bezeichnen. Daneben existiert eine beträchtliche Zahl türkischsprachiger Kurden, die sich selbst als Kurden sehen, obwohl sie ihre Muttersprache nicht mehr beherrschen. Letztlich ist die genaue Zahl nicht so wichtig. Von weitaus größerer Bedeutung ist, dass sich heute Millionen türkischer Staatsbürger selbst nicht als Türken sehen und auch nicht als solche gesehen werden wollen. Sie negieren den kemalistischen Gründungsmythos von der einheitlichen türkischen Nation.

Für türkische Nationalisten und Kemalisten, aber auch für eine große Zahl einfacher türkischer Bürger ist das Seperatismus und Spaltung der Republik. Dabei zeigen Umfragen immer wieder, dass die Mehrzahl der Kurden mit der Forderung nach Akzeptanz ihrer eigenen Identität keineswegs die Idee eines eigenen Staatswesens verbindet. Für die meisten geht es allenfalls um eine größere politische Mitsprache bei der Gestaltung ihrer kulturellen Identität. Das bezieht sich vor allem auf die Berücksichtigung des Kurdischen in den Medien und anderen kulturellen Ausdrucksformen. Dazu kommt oft die Forderung nach der Einführung von Kurdisch als zweiter Amtssprache in den Provinzen, in denen Kurden einen erheblichen Anteil an der Bevölkerung stellen.

Hier wird die Grenze zu jenen kurdischen Nationalisten fließend, die sehr wohl die Idee eines eigenen Staates vertreten. Sie denken dabei in der Regel nicht nur an die Türkei, sondern sehen die politische Kurdenfrage als regionales Thema, da Kurden ja auch in den Nachbarstaaten der Türkei ethnisch und politisch diskriminiert werden. Das gilt für Iran und Syrien; im Irak hat sich die kurdische Situation nach dem Ende des Regimes von Saddam Hussein deutlich verbessert, aber ist noch keineswegs endgültig geklärt. In dieser Sicht sind die Kurden das zahlenmäßig größte Volk der Erde ohne eigenes Staatswesen. Militanteste Vertreter der Forderung nach einem eigenen kurdischen Staat waren lange Zeit die Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Diese in den 1970er-Jahren von ihrem Führer Abdullah Öcalan als autonom-marxistische kurdische Unabhängigkeitsbewegung gegründete Organisation nahm 1984 den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat auf. Sie konnte sich als erfolgreiche Guerillaorganisation etablieren, die in der kurdischen Bevölkerung der Südosttürkei zunehmend Sympathien gewann, weil der türkische Staat allein mit Notstandsrecht und brutaler Militärgewalt reagierte und dabei auch die Bewohner der Dörfer und Städte drangsalierte.

Damit setzte die Regierung die "republikanische Tradition " des Umgangs mit kurdischen Autonomiebestrebungen fort, die schon unter Atatürk in der Frühphase der Republik begonnen hatte. 1925 (Scheich-Said-Aufstand), 1927 (Celali-Aufstand im Araratgebiet) und 1937/38 (Dersim-Operation) ging der Staat teilweise unter Einsatz der Luftwaffe, gegen regionale kurdische Bestrebungen vor, Eigenständigkeit gegenüber Ankara zu erlangen. Die Rädelsführer wurden in der Regel getötet und zahlreiche Führer der rebellischen Stämme in anatolische Gebiete des Landes umgesiedelt. Zudem wurden 1949 Tausende von Dorf- und Landschaftsnamen türkisiert, ab 1972 wurde die Verwendung kurdischer Personennamen verboten, und von 1982 bis 2002 war der öffentliche Gebrauch der kurdischen Sprache untersagt.

Nach 1984 entwickelte sich über die Jahre ein "Bürgerkrieg " zwischen PKK und türkischer Armee, dem bis Ende der 1990er- Jahre nach offiziellen Angaben 35000 Menschen zum Opfer fielen. Im Südosten des Landes entstand eine Ausnahmesituation, in der von einem normalen Alltagsleben nicht mehr die Rede sein konnte. Über eine Million Menschen wurden aus ihren Dörfern vertrieben oder verließen diese, um der alltäglichen Gewalt zu entgehen. Viele zogen in die größeren Städte der Region wie Diyarbakir, Mardin, Van, Mus oder Batman. Die Mehrzahl drängte jedoch in die entwickelten Zentren im Westen und Süden der Türkei, sodass heute Städte wie Istanbul, Izmir, Ankara oder Antalya, Adana und Mersin über einen hohen kurdischen Anteil in der Bevölkerung verfügen. Diese Menschen konnten vor allem infolge ihres niedrigen Bildungsgrades nur schwer Fuß fassen und fristen noch heute oft ein Leben als Tagelöhner, saisonal beschäftigte Bauarbeiter oder als schlechtbezahlte Hilfskräfte im Hotel- und Gastgewerbe. Das giltauch für die inzwischen herangewachsene junge Generation der 18- bis 25-Jährigen, die einen sehr hohen Anteil Arbeitsloser aufweist. Andererseits hat sich von Beginn der Republik an ein nicht unerheblicher Teil der kurdischen Bevölkerung mit dem neuen türkischen Staat arrangiert und konnte weitgehend unbehelligt an der Aufwärtsentwicklung der Republik teilhaben. Deswegen hat es zum Beispiel im Parlament in allen Fraktionen immer eine gewisse Anzahl Abgeordneter kurdischer Herkunft gegeben, die sich selbst allerdings primär als türkische Staatsbürger gesehen haben. Die Lage änderte sich, als PKK-Führer Abdullah Öcalan im Herbst 1998 auf türkischen Druck sein syrisches Refugium in Damaskus verlassen musste und im Februar 1999 in Nairobi beim Verlassen der griechischen Baotschaft von türkischen Kommandotruppen überwältigt wurde. Im Juni 1999 wurde er vom Staatssicherheitsgericht in Ankara zum Tode verurteilt, doch wurde das Urteil im Zuge des türkischen EU-Beitrittsprozesses 2002 in lebenslange Haft umgewandelt. Diese verbringt Öcalan unter erschwerten Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer.

Seitdem ist die PKK fundamental geschwächt. Ihre militanten Kämpfer haben sich in die nordirakischen KandilBerge zurückgezogen. Nach der Verurteilung Öcalans stellte die Organisation bis zum Jahr 2005 ihre Terroraktionen in der Türkei ein, in der Hoffnung, mit der AKP-Regierung eine politische Lösung der Kurdenfrage verhandeln zu können, nachdem sie ihre Forderung nach einem eigenen Kurdenstaat aufgegeben hatte. Als sich diese Hoffnung zerschlug, wurden die Gewaltaktionen zwar wieder aufgenommen, doch kamen sie nie über punktuelle Aktivitäten hinaus, die allerdings immer wieder zahlreiche militärische und zivile Opfer forderten. Dies genügte, um in der türkischen Öffentlichkeit und bei der Militärführung die Forderung nach einer endgültigen militärischen Lösung aufrechtzuerhalten. Zwar entspannte sich in diesen Jahren die Situation im Südosten des Landes deutlich, und auch der Ausnahmezustand fand ein Ende. Doch bleibt die Lage für die Bevölkerung prekär, weil es nach wie vor eine erhebliche Militärpräsenz gibt und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung wegen des anhaltenden PKK-Terrors und der gewaltsamen Reaktionen des Staates nur mühsam vorankommt.

Doch gibt es unter der AKP-Regierung auch den Versuch eines Wandels der staatlichen Kurdenpolitik. Die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan lockerte nach 2002 im Zuge der EU-Annäherungspolitik eine Reihe von Restriktionen: Kurdischunterricht an Privatschulen wurde ebenso erlaubt wie Rundfunk- und Fernsehsendungen "in Sprachen, die im Alltag von der türkischen Bevölkerung gesprochen werden". Seit dem 1. Januar 2009 sendet das staatliche Fernsehen auf "TRT-6" ein Vollprogramm in kurdischer Sprache. Staatspräsident Abdullah Gül kündigte an, dass Dörfer auf Antrag ihre nach 1949 türkisierten Namen in die ursprünglichen kurdischen Namen zurückführen können. Die Rückkehr von Menschen, die aus ihren Dörfern vertrieben worden waren, wird unterstützt, und an der türkisch-syrischen Grenze sollen die dort im Krieg gegen die PKK verlegten Landminen geräumt werden.

Wichtiger ist jedoch, dass die AKP-Regierung aktiv dazu beiträgt, das Kurdenproblem zunehmend als eine "nationale Frage" und nicht länger als ein regionales Terror -oder wirtschaftliches Entwicklungsproblem zu sehen. Jedenfalls gab der Erdogan im August 2005 erstmals zu, dass der Staat "Fehler" im Umgang mit der Kurdenfrage gemacht habe, und auch die Militärführung bekannte 2009, dass eine "militärische Lösung" allein nicht genüge, um langfristig sinnvoll mit dem Problem umzugehen.

Seit dem Sommer 2009 propagierte die AKP daher ein Programm der "kurdischen Öffnung". Außer Zugeständnissen im kulturellen Bereich gab es in diesem Programm jedoch wenig konkrete politische Pläne. Ein Lichtblick ist eine Änderung im Wahlgesetz, die 2011 erstmals den Gebrauch des Kurdischen im Wahlkampf erlaubte. Doch erlitt die politische Emanzipation der Kurden im Dezember 2009 einen Rückschlag, als das Verfassungsgericht die pro-kurdische Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) wegen angeblicher Begünstigung des Separatismus verbot. Das war das fünfte Verbot einer kurdischen Partei mit dieser Begründung seit 1991.

Da die Mehrheit der türkischen Bevölkerung und auch der AKP-Anhänger nach wie vor eine "Sonderbehandlung" der Kurden ablehnt, die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung der Türkei aber auf einer expliziten Anerkennung ihrer eigenen Identität besteht, ist die AKP-Regierung mit ihren Bemühungen um einen Ausgleich in einem Dilemma. Das ist umso problematischer, als aufgrund der nunmehr schon länger als eine Generation anhaltenden tiefen Entfremdung zwischen den Ethnien das Kurdenproblem heute nicht mehr nur eines zwischen dem türkischen Staat und einzelnen kurdischen Gruppierungen ist, sondern immer stärker eines zwischen "Türken" und "Kurden" wird. Das gilt besonders für die jüngere Generation. Ohne eine langfristig tragfähige Regelung der Kurdenfrage wird die Türkei im Innern politisch aber nicht zur Ruhe kommen. Ob die AKP - und vor allem die breite türkische Bevölkerung - dafür die Bereitschaft aufbringt, könnte sich im Zuge der Diskussion über die von Erdogan angestrebte neue "zivile" Verfassung zeigen. Ebenso tief wie in der Kurdenfrage ist die Türkei in der Frage gespalten, ob und welche Rolle die Religion im öffentlichen Leben spielen soll/darf. Für überzeugte Kemalisten ist Religion eine Privatangelegenheit, die jeder auf ganz persönliche Art und Weise lebt. Doch lässt sich nicht bestreiten, dass, allen säkularisierenden Reformen Atatürks zum Trotz, sich die breite Masse der Bevölkerung auch immer bewusst als Muslime wahrgenommen hat. Für sie ist die Religion originärer Bestandteil des türkischen Nationsbegriffs. Damit ist sie aber auch Teil des öffentlichen Bewusstseins. Dies war und ist für die staatliche Elite kein Problem, solange die Grundlagen der kemalistischen Republik nicht angetastet werden, zu denen auch die uneingeschränkte Geltung des Laizismusprinzips gehört. Dieses Prinzip ist heute in der Türkei mehrheitlich akzeptiert. Nur eine kleine Minderheit der Türken will noch ein auf religiöse Gesetze (Scharia) gestütztes Staatswesen. Heftig umstritten ist jedoch seine konkrete Interpretation im politischen und gesellschaftlichen Alltag.Auch Atatürk war klar, dass seine neue Republik die Religion nicht abschaffen konnte. Folglich galt es, sie staatlich einzuhegen. Er setzte damit eine Entwicklung fort, die schon im Osmanischen Reich begonnen hatte: die enge Verbindung von Religion und staatlichem Selbstverständnis. Deshalb wurden im Rahmen der kemalistischen Reformen 1924 gleichzeitig mit der Abschaffung des Kalifats die staatlichen Behörden für die Verwaltung der frommen Stiftungen und für die religiösen Angelegenheiten geschaffen. Damit wurden zentrale Belange der öffentlichen Praxis des Islam zu staatlichen Aufgaben. Dies gilt bis heute: Die offizielle religiöse Praxis wird vom Staat gestaltet und kontrolliert. Insbesondere das Präsidium für religiöse Angelegenheiten (Diyanet Isleri Baskanligi, kurz: Diyanet) wurde im Laufe der Zeit zum Hauptinstrument staatlicher Kontrolle über die Religion ausgebaut. Es betreibt als dem Amt  des Ministerpräsidenten zugeordnete Behörde mit seinen circa 85000 Angestellten die Kontrolle und Verwaltung der rund 80000 Moscheen im Land, beschäftigt die dort tätigen Geistlichen (Vorbeter, Prediger und Gebetsrufer), veranstaltet die offiziellen Korankurse und ist für die Abfassung der landesweit verlesenen Texte der Freitagspredigten zuständig. Daneben erteilt es religiöse Handlungsanweisungen für den Alltag der Gläubigen (Fetwa), beaufsichtigt die jährlichen Pilgerreisen nach Mekka und gibt zahlreiche religiöse Schriften heraus. Entgegen seiner Bezeichnung erstreckt sich sein Wirken allein auf den sunnitischen Islam. Alle anderen Formen des Islam gelten damit als "inoffiziell", nicht zu sprechen von nicht-muslimischen Religionen, um deren Belange sich das Präsidium gar nicht kümmert.

Doch schon mit Beginn des parlamentarischen Mehrparteiensystems im Jahr 1950 begannen die Politiker, die Religion für ihre Interessen zu instrumentalisieren, sodass bereits Mitte der 1950er-Jahre in den USA die Frage nach einer Reislamisierung der Türkei gestellt wurde. Insbesondere die im Untergrund agierenden islamischen Bruderschaften und Gemeinschaften waren willkommene Anknüpfungspunkte, um verdeckte Bande zwischen Parteiführungen und religiösen Führungspersonen zu knüpfen.

Selbst die Militärführung schreckte nicht vor der Instrumentalisierung der Religion zurück, als die Führer des Putsches von 1980 dafür sorgten, dass (sunnitischer) Religionsunterricht in allen Schulformen obligatorisch wurde, um eine Immunisierung gegen linkes, kommunistisches Gedankengut zu fördern. Hinzu kam, dass die Generalität offene Sympathien für den Gedanken einer türkisch-islamischen Synthese zeigte, mit dem rechts-nationale und religiöse Intellektuellenkreise in den 1970er-Jahren eine Verbindung von Türkentum und Islam herstellen wollten. Hier liegt sowohl eine der Wurzeln des heutigen Neonationalismus als auch des Erstarkens der Bewegung des politischen Islam, das mit dem Wahlsieg der Mutterlandspartei von Turgut Özal 1983 seinen Anfang nahm. Dem Grundsatz des Laizismus entspricht das in der Verfassung in Artikel 24 verankerte Grundrecht der Religionsfreiheit. Allerdings gibt es Einschränkungen. So darf niemand "Religion oder religiöse Gefühle oder einer Religion als heilig geltende Gegenstände ausnutzen oder missbrauchen", um "die soziale, wirtschaftliche, rechtliche oder politische Ordnung des Staates auch nur zum Teil auf religiöse Regeln zu stützen oder politischen oder persönlichen Gewinn oder Nutzen zu erzielen, in welcher Weise auch immer". Auch darf die Religionsfreiheit nicht dazu benutzt werden, "Aktivitäten mit dem Ziel zu entfalten, die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk zu zerstören und die auf den Menschenrechten beruhende demokratische und laizistische Republik zu beseitigen" (Artikel 14). Es sind diese Verfassungsbestimmungen und ihre Umsetzung in zahlreichen Gesetzen wie dem Parteiengesetz, dem Gewerkschaftsgesetz, die immer wieder zu politischen Auseinandersetzungen über die "korrekte" Auslegung und Anwendung des Laizismusprinzips im politischen und gesellschaftlichen Alltag der Republik geführt haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGhMR) hat 2001 in einem Verfahren zum Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei (RP) festgestellt, dass ein derart begründetes Parteiverbot unter bestimmten Bedingungen nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoße. Dieses Urteil macht solche Verbotsverfahren für die davon betroffenen Parteien besonders riskant.

Doch erfolgten nach jedem Verbot Neugründungen unter einem anderen Namen, aber mit weitgehend identischem Führungspersonal, sofern dieses nicht mit einem politischen Betätigungsverbot belegt war. Der letzte Prozess richtete sich 2008 gegen die regierende AKP, die einem Verbot nur aufgrund der zwischenzeitlichen Änderungen von Verfassung und Parteiengesetz entging, obwohl das Verfassungsgericht zuvor festgestellt hatte, dass sie ein Zentrum antilaizistischer Aktivitäten sei.

Auch der "Kopftuchstreit" entfacht sich immer wieder an der Diskussion um die richtige Interpretation des Laizismusprinzips. Hier geht es um die Frage, ob das in der Türkei geltende Verbot für Frauen, mit einem Kopftuch, das den Vorschriften des Islam entsprechend die Haare vollständig bedeckt (türban), öffentliche Gebäude wie Universitäten, Gerichte oder das Parlament zu betreten, mit dem Grundsatz der Religionsfreiheit vereinbar ist. Der kemalistische Staat und seine Anhänger sind der Auffassung, dass das Tragen des türban Ausdruck einer antilaizistischen politischen Gesinnung sei und nicht Ausdruck der persönlichen Religiosität der Trägerin. Die Kreise des politischen Islam und die breite Mehrzahl der türban-Trägerinnen behaupten gerade dies und sahen besonders in dem vom Hochschulrat (YÖK) erlassenen zeitweiligen Zutrittsverbot zu Universitäten eine Beschneidung ihres menschenrechtlich garantierten Rechts auf Bildung. Auch in dieser Frage gibt es ein Urteil des EGhMR von 2004, in dem verneint wird, dass das türkische "Kopftuchverbot" an Universitäten einen Verstoß gegen die EMRK darstellt. Nachdem das Verfassungsgericht im Juni 2008 das Verbot noch einmal bestätigt hatte, änderte der Hochschulrat im Frühjahr 2010 jedoch seine Meinung und stellte Studentinnen die Kopfbedeckung in Universitätsgebäuden wieder frei. Professorinnen hingegen ist es durch eine entsprechende Bekleidungsverordnung für staatliche Beamte und Angestellte ausdrücklich verboten, in der Universität mit einem Kopftuch aufzutreten. Hinter diesen Auseinandersetzungen steht die Frage, welche Grenzen in einer pluralistischen Demokratie für die (angebliche) Äußerung von politischen Positionen gezogen werden dürfen. Für Kemalisten wird diese Grenze durch die republikanischen Prinzipien der Revolution gebildet. Demnach ist das Laizismusprinzip eine unverzichtbare Grundlage der Demokratie. Deshalb wird in dieser Sicht mit seiner Einhaltung gleichzeitig die Demokratie in der Türkei bewahrt. Staatliche Anordnungen zur Wahrung des Prinzips können demnach nie eine Verletzung der Demokratie sein.

Für die Anhänger der AKP und für Vertreter westlichliberaler Ansichten in der türkischen Gesellschaft hingegen ist die Grenze erst dann überschritten, wenn mit einer religiösen Begründung explizit zu einem gewaltsamen Umsturz der staatlichen Ordnung oder zu einer Beseitigung der demokratischen Grundlagen des Gemeinwesens aufgerufen wird. Eine Partei, die wie die AKP in ihrer Programmatik und praktischen Regierungspolitik der letzten Jahre die Angleichung der türkischen Rechtslage und der darauf beruhenden gesellschaftlich-politischen Praxis an den "Gemeinschaftlichen Besitzstand" (acquis communautaire) der EU, also an die Gesamtheit des EU-Rechts, propagiert und betreibt, kann in diesem Verständnis nicht gegen das Demokratieprinzip verstoßen - es sei denn, sie würde die gewaltsame Herbeiführung eines Scharia-Staates in der Türkei propagieren.

Normative Grundlagen und ideologische Prinzipien sind nicht "als solche" politische Wirklichkeit. Um Wirkungskraft zu entfalten, bedürfen sie der Umsetzung im politischen Leben durch Institutionen und Verfahren. Hierfür setzt in fast allen Staaten die Verfassung den Rahmen. In Demokratien und Republiken, die dem Gedanken der Volkssouveränität verpflichtet sind, sollen Verfassungen eigentlich auch als Ausdruck des Volkswillens angesehen werden können. Hieran haperte und hapert es in der Türkei, obwohl sie seit ihrer Gründung drei Verfassungen hatte und eine vierte in Vorbereitung ist. Ein Kernpunkt der kemalistischen Reformen war die Gründung der neuen Republik auf eine Verfassung, die ihrem Wortlaut nach in der europäischen verfassungsrechtlichen Tradition seit der Französischen Revolution wurzelte. Gleichzeitig hatte sie die Aufgabe, die ideologische Grundlage des neuen Staates, die kemalistischen Prinzipien, verfassungsrechtlich zu sichern und das politische Leben danach zu gestalten. Da Mustafa Kemal das Führerprinzip verkörperte, sind diese Prinzipien ihrem Wesen nach illiberal und obrigkeitlich-autoritär. Die Verfassung der Republik hatte also trotz des in ihr verankerten Grundsatzes der Volkssouveränität ein "Demokratieproblem".

Das begann sich erst zu ändern, als nach 1946 die CHP infolge der gewandelten internationalen Nachkriegsverhältnisse die Idee eines Mehrparteiensystems akzeptierte. Damit konnten erstmals demokratische Ideen im Rahmen der geltenden Verfassung praktiziert werden. Dies führte allerdings weniger zu einer allgemeinen Verbreitung liberal-demokratischer Grundsätze, sondern in Form der Demokratischen Partei (DP ) unter Adnan Menderes zur Ausprägung einer populistischen, konservativ-traditionellen politischen Alternative. Diese machte sich die im politischen System und im Geist der Verfassung angelegten autoritär-obrigkeitlichen Möglichkeiten ebenso zunutze wie bis dahin die CHP. Es war ironischerweise der Militärputsch von 1960 gegen das konservativ-bürgerliche Regime der Demokratischen Partei (DP) unter Adnan Menderes, der zu einer neuen, von mehr Liberalität und demokratischem Geist geprägten Verfassung führte. Die putschenden Obristen wollten vor allem eine erneute politische Übermacht nicht-kemalistischer Kräfte verhindern. Die von ihnen mit der Ausarbeitung einer entsprechenden Verfassung beauftragte Verfassunggebende Versammlung, in der neben den Putschisten prominente Rechtsprofessoren den Ton angaben, war der Meinung, dass dies am besten durch die Betonung pluralistisch definierter Grundrechte und deren Sicherung durch ein neu zu schaffendes Verfassungsgericht, die Einrichtung eines Zweikammerparlaments sowie die Stärkung gesellschaftlicher Interessengruppen, wie der Tarifparteien, zu gewährleisten sei. Zwar hielt auch die Verfassung von 1961 an den ideologischen Prinzipien des Kemalismus fest. Diese wurden aber in einen liberal-demokratischen Rahmen gestellt und somit prinzipiell für eine demokratische Interpretation geöffnet. Artikel 2 brachte das gut zum Ausdruck: "Die Türkische Republik ist ein auf den Menschenrechten und den in der Präambel zum Ausdruck kommenden Grundprinzipien ruhender nationaler, demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat " Die Militärführung sicherte sich ihren in der Einparteienphase noch "natürlich" gegebenen politischen Einfluss durch die Schaffung des Nationalen Sicherheitsrates. Durch ihn wurde die beratende sicherheitspolitische Funktion der Armee verfassungsmäßig untermauert.Als Teil der westlichen Staatenwelt konnte sich die Türkei nicht von den politischen Unruhen und Umbrüchen abschotten, die im Gefolge des Vietnamkriegs und der 1968er-Studentenunruhen die USA und Europa erfassten. Insbesondere an den türkischen Universitäten kam es zu einer politischen Radikalisierung. Doch auch im politischen Spektrum meldeten sich radikale Kräfte zu Wort. Obwohl das Militär versuchte, durch eine politische Intervention 1971 wieder "Normalität" herzustellen, wozu vor allem die Verfassung im Sinne einer Stärkung der staatlichen Exekutivgewalt geändert wurde, versank die Türkei gegen Ende der 1970er-Jahre in Teilen in bürgerkriegsähnliche Zustände. Das letzte Wort dabei behielt sich der Nationale Sicherheitsrat, das heißt die Militärjunta, vor. Der Text wurde nach einer ebenfalls weitgehend vom Nationalen Sicherheitsrat orchestrierten "öffentlichen Diskussion" am 7. November 1982 in einem Referendum mit einer Mehrheit von 91,5 Prozent der Stimmen angenommen.

Die Verfassung von 1982 ist Ausdruck des Interesses der damaligen Militärführung an einer staatlich kontrollierten politischen Stabilität. Als NATO-Mitglied und Staat musste die Fassade einer rechtsstaatlichen Demokratie westlichen Zuschnitts gewahrt werden. Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte sind daher konstitutive Bestandteile der Verfassung von 1982. Allerdings wurden die Grund- und Freiheitsrechte durch den Vorbehalt des Artikels 13 dahingehend eingeschränkt, dass sie "zum Schutz der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, der nationalen Souveränität, der Republik, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Sicherheit der Allgemeinheit, des öffentlichen Interesses, des Sittengesetzes und der öffentlichen Gesundheit" gesetzlichen Beschränkungen unterworfen werden können. Freilich dürfen dabei gemäß Artikel 14 die "Erfordernisse einer demokratischen Gesellschaftsordnung" nicht missachtet werden.

Hinzu kommt, dass die Verfassung stärker als ihre Vorgängerin die in der Präambel aufgeführten kemalistischen Prinzipien als unveränderliche Legitimationsgrundlage der Republik betont: Ein Antrag, sie zu ändern, darf nicht ins Parlament eingebracht werden. Diese "Ewigkeitsgarantie" des Artikels 4 sorgt wesentlich dafür, dass der illiberale Geist der herrschenden Sichtweise dieser Prinzipien staatlicherseits stets als Bremse für unerwünschte demokratische Bestrebungen benutzt werden kann.

Zudem sorgten ebenfalls in der Verfassung enthaltene Übergangsregelungen dafür, dass alle Akte der Militärherrschaft seit dem 12. September 1980 bis zum Zusammentreten einer neuen Nationalversammlung von künftiger juristischer Aufarbeitung verschont blieben. Diese Bestimmung wurde erst knapp dreißig Jahre später mit der per Referendum am 12. September 2010 erfolgten Verfassungsänderung aufgehoben. Außerdem enthielt die Verfassung allgemeinpolitische Betätigungsverbote für die Tarifparteien und begrenzte die Möglichkeiten von Angehörigen des staatlichen Sektors, parteipolitisch aktiv zu werden. Ziel war eine Entpolitisierung der Bevölkerung. Insgesamt war die neue Verfassung von dem Grundsatz geprägt, dass die öffentlichen Interessen Vorrang vor den individuellen Interessen hätten. Anders formuliert hatte nach den Vorstellungen der Verfassungsväter der Bürger für den Staat da zu sein und nicht umgekehrt.

Als nach der Rückkehr zur zivilen Demokratie die politischen Akteure an Einfluss gewannen, wurden die demokratischen Schwächen des Textes von 1982 und der dadurch in die Wege geleiteten Praxis auch der breiteren politischen Öffentlichkeit bewusst. Der Druck nach Reformen wuchs. Dies wurde besonders im Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsprozess deutlich, als die Union beständig die für eine Erfüllung der sogenannten Kopenhagener Kriterien notwendigen Maßnahmen anmahnte. Diese sind ohne erhebliche Änderungen der Verfassung nicht möglich. Nach einem ersten kleinen Schritt im Herbst 1995 erfolgten im Frühjahr 2001 und im September 2010 weitreichende Reformen. Dazwischen gab es immer wieder kleinere Modifizierungen.

Die Grundfreiheiten und Menschenrechte wurden in vielen Fällen liberaler gefasst und die staatlichen Eingriffsrechte in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, aber auch in die politische Organisationsfreiheit beschnitten. Das Gleichheitsprinzip und der Nichtdiskriminierungsgrundsatz wurden gestärkt. Der politische Einfluss des Militärs wurde vor allem durch eine "Zivilisierung" des Nationalen Sicherheitsrates, eine Reduzierung der Zuständigkeiten der Militärjustiz sowie eine Verstärkung der staatlichen Finanzkontrolle der Militärausgaben deutlich eingeschränkt. Der Einfluss der hohen Justizorgane soll durch Änderungen in der Zusammensetzung des Verfassungsgerichts und des Hohen Richter - und Staatsanwälterates liberalisiert werden. Insgesamt hatten alle seit Ende der 1980er-Jahre erfolgten Änderungen der Verfassung von 1982 das Ziel, den obrigkeitsstaatlichen Grundzug dieses Dokumentes in Richtung offener demokratischer Verhältnisse zu verändern. Das ist immer noch nicht vollständig gelungen und wegen der "Ewigkeitsgarantie" für die kemalistischen Grundlagen der Republik einschließlich der atatürkischen Reformgesetze der 1920er-Jahre wohl auch kaum ohne Einschränkungen möglich. Deshalb hat in den letzten Jahren in der türkischen politischen Öffentlichkeit die Debatte um die Notwendigkeit einer ganz neuen Verfassung an Bedeutung gewonnen. Ein erster, relativ fortgeschrittener Anlauf in diese Richtung wurde von der regierenden AKP allerdings im Herbst/Winter 2007/2008 ohne erkennbare Gründe abgebrochen. Doch wurde das Vorhaben im Oktober 2011 in der Nationalversammlung wieder aufgenommen.

Es dürfte allerdings sehr schwierig werden, die tiefen ideologischen Spaltungen zwischen den Parteien, vor allem in der Kurdenfrage und mit Blick auf das "kemalistische Erbe", zu überwinden und eine weitgehend auf einem gesamtgesellschaftlichen Konsens beruhende Verfassung zu schaffen. Außerdem stellt sich die Frage, wie sehr Ministerpräsident Erdogan noch an dem Projekt interessiert ist, nachdem der von ihm damit auch angestrebte Wandel der Türkei in ein Präsidialsystem aufgrund der mangelnden AKP-Mehrheit im Parlament weniger wahrscheinlich geworden ist. In jedem Fall aber wäre es notwendig, die ideellen Grundlagen der neuen Verfassung nicht mehr in der kemalistischen Revolution, sondern im Text und Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta der EU zu verankern

Die Türkei nahm im Jahr 2010 mit einem Sozialprodukt von 735,8 Milliarden US-Dollar (in laufenden Preisen) Platz 17 auf der Rangliste der größten Volkswirtschaften der Erde ein. Sie hat damit den Status eines Agrarlandes deutlich hinter sich gelassen und wird zu den sogenannten industriellen Schwellenländern gezählt. Mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 10 100 US-Dollar (in laufenden Preisen) gehört sie mit ihren circa 74 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern nach den Kriterien der Weltbank zu den Ländern der "oberen mittleren Einkommenskategorie".

Die nach der letzten hausgemachten Krise von 2000/2001 in Angriff genommenen wirtschaftspolitischen Strukturreformen haben das Gerüst der türkischen Wirtschaft, insbesondere den Finanzsektor, nachhaltig stabilisiert. Dies gelang deshalb, weil die seit 2002 amtierende AKP-Regierung den von ihrer Vorgängerin unter dem damaligen Wirtschaftsminister Kemal Dervis mit Unterstützung und unter Aufsicht des Internationalen Währungsfonds eingeleiteten radikalen Reformkurs konsequent beibehielt. Begünstigt wurde sie dabei aber auch von der positiven weltwirtschaftlichen Entwicklung in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts. Diese erlaubte es der Türkei, an der starken Globalisierung der Finanz- und Warenmärkte teilzuhaben, was wesentlich zur positiven Wirkung der heimischen Reformmaßnahmen beitrug.

Die heutige Stärke der türkischen Wirtschaft wird durch den Umstand charakterisiert, dass es dem Land gelang, den im Gefolge der globalen Wirtschaftskrise 2008/2009 eingetretenen heftigen Abschwung schnell zu überwinden: Nachdem das BSP im Jahr 2009 um 4,7 Prozent geschrumpft war, wuchs die türkische Wirtschaft 2010 bereits wieder um 8,9 Prozent. Für 2011 wird eine ähnlich starke Entwicklung erwartet. Die Türkei knüpfte damit an die erfreulichen Wachstumsraten aus der Zeit vor der Krise an. In früheren Zeiten dauerte es immer mehrere Jahre, bis die Türkei eine schwere Wirtschaftskrise überwinden konnte. Dieses anhaltende Wachstum bei einer (für türkische Verhältnisse) nur mäßigen Inflation seit 2004 von knapp über oder unter zehn Prozent im Jahr hat zu dem oben genannten Pro-Kopf-Einkommen geführt, dass jetzt etwa dreimal so hoch ist wie im Jahr 2002, als die AKP an die Macht kam. Für die Politik aller türkischen Regierungen im kommenden Jahrzehnt folgt daraus, dass das hohe wirtschaftliche Entwicklungstempo beibehalten werden muss, wenn die politische Stabilität gewahrt werden soll. Denn die Zufriedenheit der Wählerinnen und Wähler hängt nicht zuletzt von ihrem wirtschaftlichen Wohlergehen ab.

Das gilt umso mehr vor dem Hintergrund der demografischen Verhältnisse der Türkei: Über die Hälfte ihrer Bevölkerung war im Jahr 2010 jünger als dreißig Jahre. Dadurch entsteht jedes Jahr ein großer Bedarf an neuen Arbeitsplätzen, um den jungen Leuten eine dauerhafte Perspektive für ein auskömmliches Leben in einem sich wirtschaftlich und gesellschaftlich immer stärker modernisierenden Land zu geben. Ohne ein entsprechendes Wachstum ist diese Herausforderung kaum zu bewältigen. Wie groß diese Aufgabe ist, lässt sich daraus ersehen, dass die Jugendarbeitslosigkeit (Altersgruppe 15-24 Jahre) außerhalb der Landwirtschaft im Jahr 2010 bei 25,9 Prozent lag; die Arbeitslosenrate insgesamt betrug circa zwölf Prozent. Diese Zahlen erfassen allerdings nicht den großen Bereich der informellen Schattenwirtschaft. Die dort prekär Beschäftigten erwirtschaften gerade in (groß)städtischen Sektoren oft einen erheblichen Teil der Familieneinkommen. Die allgemeine Bevölkerungsentwicklung bringt zunächst keine Abhilfe beim allgemeinen Beschäftigungsproblem. Zwar wächst die türkische Bevölkerung bei einer Geburtenrate von knapp unter zwei Prozent im Jahr 2010 langfristig nicht mehr, doch wird es kurz- und mittelfristig infolge des hohen Anteils der jüngeren Jahrgänge ein Wachstum geben. Schätzungen gehen davon aus, dass die Bevölkerungszahl der Türkei in etwa 20 Jahren mit dann 85 bis 95 Millionen Einwohnern ihren Höchststand erreicht haben wird. Der Erfolg der türkischen Modernisierungspolitik zeigt sich im Wandel der Wirtschaftsstruktur des Landes. Bei ihrer Gründung war die Republik ein von den Folgen des Ersten Weltkriegs und des anschließenden Unabhängigkeitskrieges schwer getroffener Agrarstaat. Die Industrie war kaum entwickelt. Zudem litt die Wirtschaft unter dem Verlust des größten Teils ihrer nicht-türkischen christlichen Bevölkerungsgruppen infolge der vom Jungtürkenregime und der Atatürk-Regierung verfolgten Vertreibungspolitik. Damit war eine Gesellschaftsschicht verloren gegangen, aus der sich vor allem das Handwerk und die Kaufmannschaft rekrutiert hatten. Die in der jungen Republik erfolgende Übernahme wichtiger wirtschaftlicher Aufgaben durch staatliche Kräfte war so nahezu unvermeidlich. Trotz teilweise starker Wachstumsraten vollzog sich der Strukturwandel nur langsam, aber zielgerichtet, wie die folgende Tabelle zeigt:

Auch die Richtung des Wandels stimmt: Ein deutlich zunehmender Rückgang des Anteils der Landwirtschaft, ein langsames Anwachsen des Anteils der Industrie und ein stetiges, zunehmendes Wachstum des Dienstleistungssektors - das ist das typische Bild einer industriellen Volkswirtschaft. Allenfalls ist zu bemängeln, dass der Anteil der Industrie etwas niedrig ist.

Starkes wirtschaftliches und Bevölkerungswachstum gehen immer auch mit steigendem Energieeinsatz einher. Da die Türkei außer (schlechter) Kohle und Wasserkraft kaum über einheimische Energievorkommen verfügt, muss Energie importiert werden. Das gilt für zwei Drittel des türkischen Energiebedarfs. Erdöl und Erdgas stehen dabei im Vordergrund. Die Hälfte der türkischen Elektrizität wird durch Erdgas erzeugt, das zu 60 Prozent aus Russland importiert wird. Erdöl kommt hauptsächlich aus Aserbaidschan, dem Nordirak und dem Nahen Osten. Die langfristige Sicherung der notwendigen Energiebezüge ist eine andere große Herausforderung der türkischen Wirtschaftspolitik. Die hierbei theoretisch auch mögliche Nutzung erneuerbarer Energieformen - Windkraft, Solarenergie und geothermische Energie - wird bisher politisch eher vernachlässigt, wenngleich nach 2008 erste Gesetze zu ihrer Förderung verabschiedet wurden.

Bis jetzt gibt es keine klare Linie der AKP-Regierung. Relativ sichere Bezüge könnten aus Russland kommen. Doch dadurch würde die bereits hohe Anhängigeit von diesem Lieferanten weiter gesteigert. Alternative Bezugsquellen wären die zentralasiatischen Staaten am Kaspischen Meer und/oder Iran, Irak und andere nah-/mittelöstliche Lieferländer, die alle auch über namhafte Erdöl- bzw. Erdgasreserven verfügen. Mit Blick auf diese Quellen gibt es unterschiedliche, aber immer erhebliche politische oder technische Unsicherheiten und Risiken. Hinzu kommt, dass die AKP-Regierung die geografische Lage der Türkei nutzen und das Land zu einer politisch und wirtschaftlich lukrativen Energiedrehscheibe für Erdgas zwischen Europa und dem Kaspischen Becken bzw. dem Nahen Osten machen will (Stichwort: Nabucco-Erdgasleitung). Diese Absicht kompliziert die türkische Entscheidungslage zusätzlich. Doch müssen bis circa 2015 Entscheidungen getroffen werden, wenn die Türkei mittelfristig das Entstehen einer prekären Energielücke vermeiden will. Trotz der Nuklearkatastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima im März 2011 hält die AKP-Regierung daran fest, auch Atomstrom in den Energiemix einzubeziehen.

Die wachsende Modernisierung und Industrialisierung der türkischen Wirtschaft zeigt sich auch im Außenhandel. Längst bilden Fertigprodukte, das heißt industriell gefertigte Güter, mit über 90 Prozent den Hauptanteil der Exporte, die im Jahr 2010 bei 114 Milliarden US-Dollar lagen. Dies ist vor allem eine Folge der nach 1980 geänderten Wirtschaftspolitik: Die Politik der Importsubstitution (zollgeschützter Aufbau einer nationalen Industrie) mit ihrer starken Binnenorientierung, die seit etwa 1960 vorherrschte, wurde unter dem Regime von Turgut Özal von einer radikalen Öffnung der türkischen Wirtschaft nach außen abgelöst, die mit einer Liberalisierung der Märkte und einer Förderung des Exports verbunden war. Türkische Exportprodukte weisen in der Regel bestenfalls einen mittleren technologischen Entwicklungsstand auf. Technologisch anspruchsvolle Erzeugnisse auf der Grundlage eigenständiger Innovationen machen nur einen sehr geringen Anteil von zwei Prozent aus. Industrielle Forschung und Entwicklung sind unterentwickelt. Die Türkei unternimmt erst seit 2008 deutliche Anstrengungen, sie voranzubringen. In diesem Jahr lag der Anteil entsprechender Ausgaben am BIP mit 0,73 Prozent noch weit von der OECD -Zielmarke von zwei Prozent entfernt. Deshalb ist auch der Anteil von technologisch hochwertigen Erzeugnissen an den türkischen Importen hoch, die die Industrie braucht, um im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig bleiben zu können. Die in vielen Teilen des Landes entstehenden Technologieparks (Kooperationsverbünde von Hochschulen und Unternehmen) könnten bei entsprechender Förderung mittelfristig den Rückstand verringern. Die große Bedeutung des Wirtschaftsraumes um das Marmarameer zeigt sich bei den Ausfuhren: Etwa 73 Prozent aller Exporte kommen aus dieser Region. Andere nennenswerte Exportzentren sind mit weitem Abstand Izmir, Ankara, Adana/Mersin, Konya, Kayseri und Gaziantep. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten drei Städte (Provinzen) ist ein Zeichen für das wirtschaftliche Aufholen der anatolischen Wirtschaft nach 1990, insbesondere aber unter dem AKP-Regime. Hier ist ein neuer städtischer Mittelstand auf der Grundlage global orientierter Wirtschaftsentwicklung und einer traditionellen, religiös beeinflussten konservativen Wertestruktur entstanden. Viele dieser aufstrebenden zentralanatolischen Unternehmen haben enge Wirtschaftsbeziehungen zu den Ländern des arabischen nah-/mittelöstlichen Raums geknüpft. So wuchs der Anteil dieser Region an den türkischen Exporten zwischen 2002 und 2010 um mehr als das Sechsfache, während die Exporte in die EU im selben Zeitraum "nur" um das Zweieinhalbfache stiegen.

Dennoch geht der größte Teil der türkischen Exporte immer noch in die EU-Länder bzw. den OECD -Raum, 2010 waren es circa 46 bzw. 54 Prozent der Ausfuhren. Die derzeit 57 Mitgliedsländer der Organisation der Islamischen Konferenz (OIK) nahmen 28,5 Prozent der türkischen Exporte ab, 20,5 Prozent davon gingen in nah-/mittelöstliche Staaten. Bei den türkischen Einfuhren zeigt sich ein ähnliches Bild: Hauptlieferanten waren die EU-Staaten mit 40 Prozent aller Importe. Unter den Einfuhren stehen Maschinen und Brennstoffe (Erdöl/Erdgas) an vorderer Stelle. Mit Importen im Wert von 54,1 Milliarden Euro  war die Türkei 2008 das fünftgrößte Abnehmerland für die EU; ihre Exporte im Wert von 46 Milliarden Euro machten sie zum siebtgrößten Lieferland. Das waren 4,1 Prozent aller EU-Exporte bzw. drei Prozent aller EU-Importe. Die Türkei ist für die EU somit ein wichtiger, aber kein überragender Markt. Dabei gibt es je nach EU-Mitgliedstaat und Branche erhebliche Unterschiede. Türkische Exportprodukte weisen in der Regel bestenfalls einen mittleren technologischen Entwicklungsstand auf. Technologisch anspruchsvolle Erzeugnisse auf der Grundlage eigenständiger Innovationen machen nur einen sehr geringen Anteil von zwei Prozent aus. Industrielle Forschung und Entwicklung sind unterentwickelt. Die Türkei unternimmt erst seit 2008 deutliche Anstrengungen, sie voranzubringen. In diesem Jahr lag der Anteil entsprechender Ausgaben am BIP mit 0,73 Prozent noch weit von der OECD -Zielmarke von zwei Prozent entfernt. Deshalb ist auch der Anteil von technologisch hochwertigen Erzeugnissen an den türkischen Importen hoch, die die Industrie braucht, um im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig bleiben zu können. Die in vielen Teilen des Landes entstehenden Technologieparks (Kooperationsverbünde von Hochschulen und Unternehmen) könnten bei entsprechender Förderung mittelfristig den Rückstand verringern. Die große Bedeutung des Wirtschaftsraumes um das Marmarameer zeigt sich bei den Ausfuhren: Etwa 73 Prozent aller Exporte kommen aus dieser Region. Andere nennenswerte Exportzentren sind mit weitem Abstand Izmir, Ankara, Adana/Mersin, Konya, Kayseri und Gaziantep. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten drei Städte (Provinzen) ist ein Zeichen für das wirtschaftliche Aufholen der anatolischen Wirtschaft nach 1990, insbesondere aber unter dem AKP-Regime. Hier ist ein neuer städtischer Mittelstand auf der Grundlage global orientierter Wirtschaftsentwicklung und einer traditionellen, religiös beeinflussten konservativen Wertestruktur entstanden. Viele dieser aufstrebenden zentralanatolischen Unternehmen haben enge Wirtschaftsbeziehungen zu den Ländern des arabischen nah-/mittelöstlichen Raums geknüpft. So wuchs der Anteil dieser Region an den türkischen Exporten zwischen 2002 und 2010 um mehr als das Sechsfache, während die Exporte in die EU im selben Zeitraum "nur" um das Zweieinhalbfache stiegen.

Dennoch geht der größte Teil der türkischen Exporte immer noch in die EU-Länder bzw. den OECD -Raum, 2010 waren es circa 46 bzw. 54 Prozent der Ausfuhren. Die derzeit 57 Mitgliedsländer der Organisation der Islamischen Konferenz (OIK) nahmen 28,5 Prozent der türkischen Exporte ab, 20,5 Prozent davon gingen in nah-/mittelöstliche Staaten. Bei den türkischen Einfuhren zeigt sich ein ähnliches Bild: Hauptlieferanten waren die EU-Staaten mit 40 Prozent aller Importe. Unter den Einfuhren stehen Maschinen und Brennstoffe (Erdöl/Erdgas) an vorderer Stelle. Mit Importen im Wert von 54,1 Milliarden Euro  war die Türkei 2008 das fünftgrößte Abnehmerland für die EU; ihre Exporte im Wert von 46 Milliarden Euro machten sie zum siebtgrößten Lieferland. Das waren 4,1 Prozent aller EU-Exporte bzw. drei Prozent aller EU-Importe. Die Türkei ist für die EU somit ein wichtiger, aber kein überragender Markt. Dabei gibt es je nach EU-Mitgliedstaat und Branche erhebliche Unterschiede. Seit Jahren importiert die Türkei deutlich mehr als sie exportiert. Das führt zu einem ständig wachsenden Handelsbilanzdefizit und belastet die Zahlungsbilanz erheblich. Das Land ist auf einen stetigen Zustrom von Kapital angewiesen. Damit ist auch die Türkei vom Vertrauen der internationalen Kapitalmärkte abhängig. Solange das Wachstum so hoch bleibt wie in den letzten Jahren und die Inflation unter Kontrolle gehalten werden kann, dürfte dieses Vertrauen auch anhalten und der Türkei genug Kapital zum Ausgleich ihrer Zahlungsbilanz zufließen. Die EU liegt auch bei den Ausländischen Direktinvestitionen (ADI) in der Türkei an der Spitze: Seit 2005 kam jedes Jahr deutlich über die Hälfte aller Investitionen aus ihren Mitgliedstaaten. Von den zehn bei ADI in der Türkei führenden Ländern gehören acht zur EU. Ende 2010 gab es in der Türkei über 28 500 Firmen mit Auslandskapital, zwei Drittel von ihnen wurden nach 2003 gegründet. Die EU-Länder, insbesondere Deutschland, spielen nicht nur im Außenhandel und bei Direktinvestitionen, sondern auch für die türkische Tourismusindustrie eine große Rolle. Im Jahr 2010 kamen von den insgesamt 28,6 Millionen Touristen etwa zwölf Millionen aus EU-Staaten (circa 40 Prozent), davon allein 4,4 Millionen aus Deutschland (circa 15 Prozent). Daneben stellen Russland (2010: 3,1 Millionen) und Iran (2010: 1,8 Millionen) in den letzten Jahren einen wachsenden Anteil. Die Tourismuseinnahmen beliefen sich im Jahr 2010 auf 15,6 Milliarden US-Dollar, das waren etwa zwei Prozent des Bruttonationaleinkommens. Fremdenverkehr ist also durchaus von einer gewissen gesamtwirtschaftlichen Bedeutung. In den Tourismusregionen liegt seine Bedeutung als Einkommensquelle natürlich viel höher. Der Tourismus konzentriert sich als Pauschaltourismus fast ausschließlich auf die südliche Türkei im Großraum Antalya und auf die Ägäisküste. Daneben spielt noch die Metropole Istanbul eine Rolle, in der sich unzählige Zeugnisse europäischer und osmanischer Geschichte befinden. Andere Landesteile (Schwarzmeer-Region) werden nur von Einheimischen als Feriengebiet genutzt. Kulturtourismus ist in dem Land mit bedeutenden Überbleibseln zahlreicher Zivilisationen bisher wenig entwickelt.

Hinter dieser globalen Makroansicht verbergen sich erhebliche regionale Unterschiede. Das ist bei einem Land von der Größe der Türkei (circa 785000 Quadratkilometer) mit einer entsprechend differenzierten räumlichen Charakteristik nicht ungewöhnlich. In der Türkei gibt es ein deutliches West-Ost-Gefälle. Desgleichen sind die südlichen Küstenregionen entwickelter als weite Teile des anatolischen Binnenlandes, das aber seit Beginn der 1990er-Jahre einen deutlichen Aufholprozess gestartet hat.

Die regionalen Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zeigen sich, wenn man die Brutto-Wertschöpfung pro Kopf in verschiedenen Regionen vergleicht. So lag diese im Jahre 2008 in Istanbul bei 14 591 US-Dollar, in der südöstlichen Region Van-Mus-Bitlis-Hakkâri hingegen gerade einmal bei 3419 US-Dollar. In der Hauptstadt Ankara lag sie bei 12 598 US-Dollar und in der östlichen Schwarzmeerregion bei 7059 US-Dollar. Dabei sticht die wirtschaftliche Bedeutung der Region um das Marmarameer einschließlich Istanbul deutlich hervor: Sie trug im Jahr 2006 etwa 40 Prozent zur Bruttowertschöpfung der Türkei bei. Andere Wirtschaftszentren wie der Ägäisraum (14 Prozent), Zentral-anatolien mit Ankara (13,6 Prozent) oder die südliche Mittelmeerregion mit Antalya, Mersin und Adana (8,1 Prozent) blieben deutlich dahinter zurück.

Doch nicht nur regional ist der Wohlstand in der Türkei recht ungleich verteilt. Auch unter den Bürgerinnen und Bürgern herrscht eine ziemlich schiefe Einkommensverteilung. Im Jahr 2009 verfügten die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung über 47,6 Prozent des verfügbaren Einkommens. Die andere Einkommenshälfte teilten sich die restlichen 80 Prozent der Bevölkerung. Dabei verfügten die ärmsten 20 Prozent gerade einmal über 5,6 Prozent des Einkommens. Der Gini-Koeffizient, der als statistisches Maß für die (Ungleichheit der Einkommensverteilung gilt, lag für die Türkei bei 0,415 (dabei bedeutet ein Koeffizient von Null eine völlig gleichmäßige, ein Koeffizient von eins eine völlig ungleiche Einkommensverteilung), das heißt, die Verteilung in der Türkei weist eine erhebliche Ungleichheit auf.

Eine Folge dieser regionalen und personalen Einkommensunterschiede ist die seit Jahrzehnten andauernde Binnenwanderung von den armen zu den reichen Regionen, vom Land in die Stadt, vom Binnenland in die Küstenregionen der Ägäis und des Mittelmeeres. Die generelle Richtung dieser Wanderungsbewegung ist von Ost nach West, also gegen das Wohlstandsgefälle. Der wirtschaftliche Entwicklungsunterschied ist historisch bedingt, der unterschiedlichen regionalen Ausstattung mit entwicklungsfördernden Faktoren geschuldet, aber auch eine Folge der politischen Entwicklung. Hier hat sich der mal latente, mal offene Konflikt des Staates mit dem kurdischen Nationalismus (PKK) deutlich negativ auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ausgewirkt. Der wirtschaftliche Fortschritt und die anhaltende Wanderung haben auch die Verstädterung des Landes gefördert. Bis in die 1950er-Jahre überwog die Landbevölkerung den Anteil der städtischen Bevölkerung deutlich im Verhältnis von etwa drei Viertel zu einem Viertel. Heute dagegen hat sich das Verhältnis fast umgekehrt: Circa 30 Prozent Landbevölkerung stehen etwa 70 Prozent Stadtbevölkerung gegenüber. Entsprechend ist die Zahl der Städte von circa 500 zu Beginn der 1930er-Jahre auf knapp 3000 im Jahr 2010 gestiegen. Dadurch hat sich auch das Erscheinungsbild der türkischen Gesellschaft verändert: weg von der starr strukturierten ländlichen Groß- hin zur städtischen Ein-Kind-Einzelfamilie. Doch auch die nicht-städtische Bevölkerung lebt heute in modernen Verhältnissen: Die Türkei ist mit Blick auf Verkehrswege und Kommunikationsnetze sowie auf die Gesundheits- und Bildungsinfrastruktur flächendeckend erschlossen. Natürlich gibt es dabei erhebliche regionale Unterschiede, die mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Hand in Hand gehen. Bevölkerungswachstum, Industrialisierung, Binnenmigration und Verstädterung stellen auch große Anforderungen an das türkische Bildungswesen. Hier liegt noch vieles im Argen. Zwar wurde die Schulpflicht bereits im Jahr 1997 auf acht Jahre erhöht, doch ist dies landesweit noch immer nicht vollständig umgesetzt. Vor allem im Südosten erfolgt in den ländlichen Gebieten der Schulbesuch nur unregelmäßig. So gelten heute (Zahlen von 2008) noch 406000 Personen (circa vier Prozent) in der Altersgruppe 15 bis 24 Jahre als Analphabeten, davon sind 79 Prozent Frauen. Alle diese Menschen hätten eigentlich die achtjährige Pflichtschule durchlaufen müssen. Insgesamt sind in der erwerbsfähigen Bevölkerung (15 bis 64 Jahre) 3,7 Millionen Menschen, das sind etwa acht Prozent, Analphabeten, über 80 Prozent davon Frauen. Diese Personen finden den Anschluss an die auch in der Türkei zunehmend fähigkeitsbasierte Arbeitswelt nicht mehr. Doch auch die Mehrzahl derjenigen, die die achtjährige Primarausbildung absolvieren - das waren im Jahr 2009 10,9 Millionen Schülerinnen und Schüler bzw. 56 Prozent aller sich in einer Ausbildung befindlichen Personen - erfährt einen Unterricht, der es ihnen immer schwerer macht, die Anforderungen des modernen Berufslebens zu meistern. Hauptursachen hierfür sind eine chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems, ein eklatanter Mangel an moderner Lehrtechnologie und das Überwiegen eines lehrerzentrierten Frontalunterrichts. Infolgedessen belegte die Türkei in der internationalen Schülervergleichsstudie PISA von 2009 unter den OECD-Staaten nur den drittletzten Platz. Das Heer nur mittelmäßig ausgebildeter junger Menschen kann sich mittelfristig als eine erhebliche Bremse für die Fortsetzung des angestrebten hohen wirtschaftlichen Entwicklungstempos erweisen. 21 Prozent eines Bildungsjahrgangs (4,2 Millionen Schülerinnen und Schüler) besuchten 2009 ein allgemeinbildendes oder ein Fachgymnasium (türk.: lise). Dieser Personenkreis strebt überwiegend ein Universitätsstudium an. Der Zugang hierzu ist an das Bestehen einer landesweiten Zulassungsprüfung gebunden. Um diese erfolgreich zu bestehen, besuchen nicht wenige Schüler in den letzten zwei Jahren am Wochenende eine private "Paukschule", die gegen entsprechendes Honorar gezielt auf die Zulassungsprüfung vorbereitet. Im Jahr 2009 haben immerhin 541000 von 663000 Absolventen der verschiedenen Sekundarstufen diese Prüfung bestanden.

Die türkischen Studentinnen und Studenten verteilen sich auf über 80 Universitäten und andere Hochschulen. Diese zeichnen sich durch erhebliche Qualitätsunterschiede aus. Dem knappen Dutzend staatlicher und privater Eliteuniversitäten, die fast alle in Istanbul oder Ankara angesiedelt sind, werden die besten Absolventen aus den Zulassungsprüfungen zugeteilt. So wird der Leistungsabstand zwischen den Hochschulen systembedingt zementiert. Zu kurz kommen dabei "ländliche" Provinzuniversitäten, vor allem im Südosten. Türkische Hochschulpolitik trägt so in einem gewissen Umfang zur Aufrechterhaltung regionaler wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungsunterschiede bei. Ein gewisses Gegengewicht bildet die zentralistische Struktur des Hochschulwesens, in dem der Hochschulrat (YÖK) eine zentrale Leitungsfunktion innehat: Er legt die landesweit gültigen Curricula fest, entscheidet über Ernennungen zum Professor bzw. zur Professorin, bestimmt die Verteilung der Lehrkräfte auf die staatlichen Hochschulen und übt landesweit die oberste Disziplinarfunktion aus. Lediglich die privaten Universitäten, die in Form von Stiftungsuniversitäten organisiert sind und hinter denen oft Unternehmerfamilien stehen, sind in gewissen Grenzen - vor allem hinsichtlich der Bezahlung der Lehrkräfte - nicht an Vorgaben des Hochschulrates gebunden.

Viele Angehörige der türkischen Eliten sind stolz auf die im Zuge der kemalistischen Reformen herbeigeführte gesellschaftliche Aufwertung der Frau. 1930 erhielten Frauen in der Türkei das aktive, 1934 das passive Wahlrecht. Gemäß dem jungtürkischen Ideal wurde der weiblichen Bevölkerung der Zugang zu höherer Bildung ermöglicht. Als Folge gibt es in der Türkei einen erheblichen Anteil weiblicher Hochschullehrer, leitender Angestellter (besonders im Bankensektor), an Lehrerinnen und Rechtsanwältinnen. Doch wird dabei häufig übersehen, dass die Emanzipation der Frauen, wie so vieles bei den kemalistischen Reformen, auf den relativ kleinen Kreis der republikanischen Eliten beschränkt blieb und an der Masse der Bevölkerung vorbeiging. Die erwähnten Angaben zum weiblichen Analphabetentum sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache.

Frauen zählen nach wie vor zu den besonders benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen. Hier macht sich das Erbe der traditionellen Agrargesellschaft noch stark bemerkbar. Das zeigt sich nicht zuletzt an den Einstellungen der weiblichen Bevölkerung selbst. So ist knapp die Hälfte der Frauen zwischen 15 und 19 Jahren der Meinung, dass der Platz der Frau in der Familie bei ihren Kindern zu sein hat. Die Hälfte aller Frauen hält weibliche Erwerbsarbeit für unwesentlich. Da ist es dann auch nicht weiter verwunderlich, dass die Türkei mit einer Rate von 25 Prozent weiblicher Erwerbstätigkeit (in der Altersgruppe 15 bis 64 Jahre) im Jahr 2008 unter 124 von der Weltbank erfassten Ländern an 115. Stelle liegt. Ein großer Teil dieser erwerbstätigen Frauen ist in der Landwirtschaft, oft als unentgeltlich mithelfende Familienangehörige, tätig. Als Folge verfügt nur ein äußerst geringer Prozentsatz von ihnen über eine eigene soziale Absicherung, die meisten sind vom Ehemann und/oder der Familie abhängig. In einem vom Weltwirtschaftsforum entwickelten Index der geschlechtsbedingten Ungleichheit in einer Gesellschaft ("Gender Gap Index") lag die Türkei im Jahr 2009 an 126. Stelle unter 134 erfassten Ländern. Das türkische "Frauenproblem" beschränkt sich nicht allein auf den wirtschaftlichen Bereich. So besuchen etwa ein Viertel weniger Frauen als Männer eine Hochschule. Besonders deutlich ist die Unterrepräsentation von Frauen in der Politik. Zwar hatte die Türkei schon etwa zehn Jahre früher als Deutschland mit Tansu Çiller eine Regierungschefin, doch ist der Frauenanteil in den legislativen Körperschaften und in den höheren politischen Ämtern äußerst gering. Nach den Parlamentswahlen vom Juni 2011 sind mit 78 weiblichen Abgeordneten zwar fast doppelt so viele Frauen wie in der vorangegangenen Wahlperiode in der Nationalversammlung vertreten, doch machen sie trotzdem nur 14 Prozent aller Abgeordneten aus (bei einem Frauenanteil von 50 Prozent in der Wählerschaft). Dieser geringe Anteil weiblicher Parlamentarier liegt nicht zuletzt an der Zurückhaltung der (männerdominierten) Parteien, genügend Frauen für aussichtsreiche Listenplätze zu nominieren.

Hierin kommt die in der türkischen Gesellschaft immer noch vorherrschende Meinung vom geringeren "Wert" der Frau im Vergleich zu dem des Mannes zum Ausdruck. Zwar ist die Rechtslage in dieser Frage seit den unter der AKP-Regierung verabschiedeten Reformen von Zivil- und Strafrecht eindeutig eine andere. So heißt es etwa in Artikel 10 der reformierten Verfassung unmissverständlich: "Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Der Staat ist verpflichtet, die Gleichheit zu verwirklichen." Doch ist die faktische Diskriminierung der Frauen immer noch erheblich.

Ein besonderes Problem ist die häusliche Gewalt gegen Frauen. Sie wird trotz einer eindeutigen Rechtslage immer noch nicht in ausreichendem Maß von den staatlichen Stellen sanktioniert. Insbesondere in ländlichen Gebieten, vor allem in den südöstlichen Provinzen, finden von ihren Ehemännern missbrauchte Frauen bei der örtlichen Polizei und zum Teil auch vor den Gerichten keine ausreichende Unterstützung. Doch das Phänomen der häuslichen Gewalt ist keineswegs auf die "Kurdenregion" oder andere ländliche Gebiete beschränkt. Nach einer 2009 von Wissenschaftlerinnen der Istanbuler Sabanci-Universität durchgeführten Untersuchung haben 42 Prozent aller Frauen über 15 Jahre aus allen Regionen und allen sozialen Schichten der Türkei, das sind etwa elf Millionen Frauen, in ihrem Leben häusliche Gewalt physischer oder sexueller Natur erfahren. Diese Zahlen sind ein Indiz für die bislang unzulängliche Umsetzung des Gesetzes über den Schutz der Familie von 1998. Sie lassen Zweifel am ernsthaften Willen der AKP-Regierung aufkommen, ihre diesbezüglichen Verpflichtungen ernst zu nehmen. Insgesamt zählen die Frauenorganisationen zum aktivsten Teil der türkischen Zivilgesellschaft, die immer mehr an Bedeutung gewinnt. Nichtregierungsorganisationen sind in der Türkei eine relativ junge Erscheinung. Sie entstanden vor allem im Gefolge der wirtschaftlichen Öffnungspolitik in der Ära von Ministerpräsident Turgut Özal. Wirtschaftliche Liberalisierung, politische Demokratisierung und zivilgesellschaftliche Mobilisierung gehen auch in der Türkei Hand in Hand. Umweltschutz, Menschenrechte, Verkehrsprobleme, Stadtentwicklung sind Fragen, die immer stärker öffentliches Interesse finden. Doch auch zivilgesellschaftliche Solidarität mit Blick auf einzelne Ereignisse oder Vorhaben gehört immer häufiger zum gesellschaftspolitischen Leben der Türkei. Besonders spektakuläre Fälle wie schon Ende der 1980er-Jahre der Schutz der Caretta-Meeresschildkröte in der Bucht von Iztuzu oder der nach der Nuklearkatastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima im März 2011 wieder aufgeflammte Protest der Bevölkerung in der Gegend des südtürkischen Akkuyu gegen den von der russischen Firma Rosatom geplanten Bau des ersten Atomkraftwerks in der Türkei finden auch im europäischen Ausland Widerhall.. Trotz dieser enormen Entwicklung bleibt die zivilgesellschaftliche Bewegung in der Türkei landesweit relativ schwach. Ihre Organisationen konzentrieren sich in den Großstädten und werden in der Regel vom höher gebildeten Bürgertum getragen. Eine regionale Ausnahme bildet der Südosten, wo die kurdische Nationalbewegung sich inzwischen auch in der Zivilgesellschaft etablieren konnte und andere Nichtregierungsorganisationen immer stärker gegen allgemeine gesellschaftliche Missstände aktiv werden. Doch auch hier liegen die Zentren in den Städten, weniger in den Dörfern. Im Kampf gegen diese Missstände, sei es im Bildungswesen, sei es bei den Menschenrechten, der unvollkommenen Demokratisierung oder auch bei Nachteilen für die Beschäftigten, macht sich zudem die immer noch bestehende Spaltung der Zivilgesellschaft in ideologisch getrennte Organisationen hinderlich bemerkbar. Das gilt nicht nur für die Gewerkschaften, die in einen eher sozialistischen und einen eher konservativen Flügel sowie eine schwache nationalistische Gruppierung gespalten sind, die jeweils Verbindungen zu den entsprechenden Parteien pflegen. Die Spaltung der Gesellschaft in den mehrheitlichen konservativ-traditionellen Teil und die kemalistisch-nationale Minderheit zieht sich durch fast alle Bereiche der Zivilgesellschaft. Am ehesten wird sie im Widerstand gegen konkrete Einzelvorhaben des Staates überwunden. Auch die relativ große Solidarität unter den Frauenorganisationen wird immer wieder von Gegensätzen zwischen Laizistinnen und Traditionalistinnen in der türban-Frage auf die Probe gestellt. Selbst das Unternehmerlager ist gespalten in die laizistisch orientierte Vereinigung der türkischen Großindus-trie aus der Region um das Marmarameer, TÜSIAD, und die aus der konservativen anatolischen Industriebourgeoisie hervorgegangene Organisation MÜSIAD. Beide sind gleichermaßen um gute Beziehungen zur jeweiligen Regierung bemüht und durchaus einig in der Abwehr ihrer Ansicht nach zu weit gehender gewerkschaftlicher Forderungen. Doch engagiert sich TÜSIAD seit Mitte der 1990er-Jahre besonders für die Verbesserung der demokratischen Verhältnisse in einem europäisch-liberalen Sinn. Auch gehört die Unternehmervereinigung zu den engagierten Befürworterinnen eines türkischen EU-Beitritts, von dem sie sich eine Festigung der vorteilhaften wirtschaftlichen Verbindungen des Landes mit der EU und der OECD-Welt generell verspricht. Bei MÜSIAD engagierte Unternehmen sind dagegen häufig in den "neuen" Märkten Zentralasiens und des Nahen und Mittleren Ostens engagiert. Sie versuchen, die neue außenpolitische Orientierung der AKP-Regierung für ihre Interessen zu nutzen.

Schon Atatürk hat für die junge Republik trotz der klaren Vorbildfunktion Europas für die Gestaltung der modernen Türkei keineswegs die außenpolitische Orientierung an und auf Europa bevorzugt.. Dieser Schritt erwies sich als bedeutsam für die Entwicklung der europäischen Nachkriegsordnung. Im Zuge des bald nach Kriegsende aufbrechenden Ost-West-Konflikts schlug sich Ankara auf die Seite der USA und ihrer europäischen Verbündeten. Nur so meinte Inönü die von Atatürk begründete Politik der türkischen Modernisierung nach europäischen Vorbildern erfolgreich fortsetzen zu können. Es ging ihm dabei weniger um eine Entscheidung zwischen "freier Welt" und "kommunistischem Herrschaftsbereich" als um die langfristige Existenzsicherung der kemalistischen Republik gemäß ihren Gründungsprinzipien. Erleichtert wurde dieser Schritt durch sowjetische Forderungen gegen Kriegsende, die die in der Konvention von Mon-treux (1936) festgelegte türkische Herrschaft über die Meerengen Dardanellen und Bosporus einschränken sollten und zudem Abtretungen von türkischem Territorium im Osten des Landes an die Sowjetunion vorsahen.

Diese Politik wurde in der Zeit der parlamentarischen Mehrparteiendemokratie nach 1950 von allen Regierungen fortgesetzt. Der sich vertiefende Ost-West-Konflikt ließ der Türkei auch keine andere Wahl, sollte das kemalistische Entwicklungsziel nicht aufgegeben werden. Willig übernahm Ankara zusammen mit Griechenland im Rahmen der NATO die Rolle der räumlichen und militärischen "Barriere" gegen ein Vordringen der Sowjetunion in den Mittelmeerraum und gemeinsam mit dem Iran, Irak, Pakistan im Rahmen des 1955 gegründeten Bagdad-Pakts (CENTO) gegen ein Vordringen Moskaus in den ölreichen Mittleren und Nahen Osten. In dieser Zeit wurde die Basis für die bis heute andauernde sicherheitspolitische Sonderbeziehung zu den USA gelegt. Die enge außen- und sicherheitspolitische Einbindung in das von den USA geführte westliche System war während des gesamten Ost-West-Konflikts Leitlinie türkischer Außenpolitik. Lediglich der Konflikt mit dem NATO Partner Griechenland, vor allem in der Zypernfrage, bildete eine Ausnahme. Annäherungen an die Sowjetunion gegen Ende der 1960er-Jahre oder eine vorsichtige Distanzierung von der israelischen Palästinapolitik und die Mitgliedschaft in der 1969 gegründeten Organisation der Islamischen Konferenz (OIK) waren Erweiterungen des außenpolitischen Horizonts, die mit Veränderungen der welt- und regionalpolitischen Konstellationen wie der Entspannung im Ost-West-Konflikt oder den Umbrüchen in der arabischen Welt zusammenhingen. Sie waren aber keine Signale für eine grundlegende Umorientierung. All diese Entwicklungen dienten eher dem Zweck, den westlichen Bündnispartnern, vor allem den USA, die Bedeutung des türkischen Alliierten immer wieder vor Augen zu führen, die zeitweise in den innenpolitischen Turbulenzen der Türkei während der 1960er- und 1970er-Jahre mit ihren drei Militärputschen zwischen 1960 und 1980 verloren zu gehen drohte. Die Iranische Revolution und die Machtergreifung des Ajatollah Chomeini im Januar 1979 sowie die sowjetische Invasion in Afghanistan im Dezember 1979 trugen ein Übriges dazu bei, den strategischen Wert der Türkei für das westliche Bündnis zu festigen. Nicht zuletzt vor diesem internationalen Hintergrund konnte das türkische Militär im September 1980 seinen dritten Putsch durchführen, ohne größere Proteste der NATO-Verbündeten befürchten zu müssen. Belastend für die türkische Stellung im westlichen Bündnissystem wirkte sich allerdings der Zypernkonflikt aus, der bis heute nicht gelöst ist. Im Kern geht es um die Frage, wie die griechische Bevölkerungsmehrheit und die türkische Minderheit auf der Insel zusammenleben sollen. Als es im Dezember 1963 zu einem Massaker an zyperntürkischen Zivilisten durch zyperngriechische Polizeikräfte kam, das sich zu gewaltsamen Kämpfen ausweitete, drohte eine direkte militärische Konfrontation zwischen den NATO-Partnern Griechenland und Türkei. Seit dieser sogenannten ersten Zypernkrise 1963/64 ist das absolute türkische Vertrauen in die NATO-Vormacht USA geschwunden. Der berühmte Brief, den US-Präsident Johnson im Juni 1964 an den türkischen Ministerpräsidenten Inönü schrieb, wurde in Ankara als grobe Missachtung der nationalen Interessen durch den mächtigsten Verbündeten angesehen. In diesem Schreiben hatte Johnson mitgeteilt, die Türkei könne nicht mit dem automatischen Beistand ihrer NATO-Verbündeten rechnen, wenn eine türkische Militärintervention auf Zypern die Sowjetunion zum Eingreifen veranlassen sollte. Seitdem gefährdete der türkisch-griechische Streit um die Regelung des Zusammenlebens der beiden Volksgruppen auf der Insel immer wieder den Zusammenhalt der Atlantischen Allianz. Hinzu kamen bilaterale Konflikte zwischen Ankara und Athen über Hoheitsrechte in der Ägäis, den ägäischen Luftraum und den Status verschiedener Inseln in der Ägäis. In den bilateralen Streitfragen will die Türkei eine politische Übereinkunft zur Grundlage der Regelungen machen, während die griechische Seite, sich im Recht sehend und von der EU  bestärkt, eine Schiedsentscheidung durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag anstrebt. Seit der griechisch-türkischen Annäherung von 1999 führen beide Seiten vertrauliche Gespräche über die verschiedenen Punkte, ohne jedoch bis jetzt eine einvernehmliche Regelung gefunden zu haben. Doch kommt es nicht mehr zum "Beinahe-Krieg" wie noch im Januar 1996, als der Streit um die Hoheitsrechte über eine unbewohnte Mini-Insel in der Ägäis die Seestreitkräfte beider Seiten in Alarmbereitschaft versetzte. In der Zypernfrage haben internationaler Druck und griechisches Interesse im Laufe der Zeit dazu geführt, dass die Formel der bizonalen und bikommunalen Föderation als "richtige" Lösung für das Zusammenleben der griechischen und der türkischen Volksgruppe auf der Insel von allen Seiten akzeptiert wurde. Allerdings gibt es bisher keine Einigung über die konkrete Ausgestaltung dieser Formel. Die türkische Seite befürwortet weitgehend getrennte und selbstverwaltete staatliche Einheiten der jeweiligen Volksgruppen unter dem Dach eines auf die minimal notwendigen Kompetenzen beschränkten Gesamtstaates. Die Griechen dagegen streben nach einem zyprischen Staat, in dem eine relativ starke Zentralgewalt über zwei auf die notwendigen Kompetenzen kommunaler Selbstverwaltung beschränkte Gliedstaaten herrscht. Sie sehen so ihre Mehrheitsstellung auf der Insel auch in der staatlich-institutionellen Konstruktion gewahrt, während die türkische Vorstellung vom Gedanken eines maximalen Minderheitenschutzes getragen ist. Erschwert wird eine Einigung durch drei Umstände: die türkische militärische Besetzung eines großen Teils im Norden der Insel, den 2004 erfolgten Beitritt Zyperns zur EU und den seit Dezember 1999 laufenden türkischen Beitrittsprozess zur EU. Nachdem die gewaltsamen Konflikte von 1963 nur durch die Stationierung einer VN-Schutztruppe (UNFICYP) auf der Insel beendet werden konnten und damit die faktische Separierung der Volksgruppen begann, führte die von der griechischen Militärjunta provozierte türkische Invasion im Juli/August 1974 zur endgültigen Teilung in den türkisch besetzten Norden und die griechische Republik Zypern im Süden der Insel. Letztere wird von der internationalen Staatengemeinschaft als einzige legitime politische Vertretung der Insel anerkannt. Daran änderte auch die 1983 proklamierte Umwandlung des Nordteils in die Türkische Republik Nordzypern nichts. Sie wird nur von der Türkei anerkannt und sichert ihre Existenz durch die Anwesenheit von circa 36000 türkischen Soldaten im Norden. Seit den 1970er-Jahren hat jeder VN-Generalsekretär vergeblich versucht, die Trennung rückgängig zu machen und eine von beiden Seiten akzeptierte Regelung herbeizuführen. Am weitesten kam dabei Generalsekretär Kofi Annan, der im Vorfeld des zyprischen EU-Beitritts im Frühjahr 2004 einen detaillierten Regelungsplan vorlegte (Annan-Plan), dem in einer getrennt in beiden Inselteilen durchgeführten Volksabstimmung am 24. April 2004 der türkische Bevölkerungsteil mit Unterstützung der AKP-Regierung mit 65 Prozent seine Zustimmung erteilte. Der Plan wurde jedoch von den griechischen Zyprern mit 76 Prozent abgelehnt. Seitdem gibt es zwar seit dem Frühjahr 2008 - wieder unter der Ägide der VN - Verhandlungen zwischen beiden Seiten, die aber bisher ohne Ergebnis blieben. Diese Verhandlungen werden durch den am 1. Mai 2004 erfolgten Beitritt Zyperns zur EU kompliziert. Seitdem darf eine Zypernregelung in wesentlichen Punkten nicht gegen EU-Recht verstoßen, wenngleich man sich großzügig bemessene Übergangszeiten vorstellen kann. Hinzu kommt, dass Griechenland und die Republik Zypern als EU-Mitglieder das Zypernproblem im Zusammenhang mit den seit Oktober 2005 laufenden türkischen Beitrittsverhandlungen mit Brüssel zu ihrem Vorteil instrumentalisieren wollen. Vieles spricht dafür, dass eine endgültige Zypernregelung nur im Rahmen eines Gesamtpaketes möglich sein wird, in dem Zypernfrage, griechisch-türkische Streitigkeiten und der türkische EU-Beitritt zusammengefasst sind. Das Ende des Ost-West-Konflikts brachte für die Türkei ein radikal gewandeltes politisches Umfeld. Doch bereits unter dem Regime des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Turgut Özal und seiner Mutterlandspartei hatte in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eine außenpolitische Umorientierung begonnen. Özal versuchte einen dann letztlich doch fehlgeschlagenen Ausgleich mit Griechenland, und er öffnete die türkische Wirtschaft zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Özal verfolgte das Ziel, die Türkei in Anlehnung an die asiatischen "Tigerstaaten" binnen zehn Jahren zum "Südkorea" des Nahen Ostens zu machen. Erst als diese Bemühungen ebenso wenig vorankamen wie Bestrebungen, mit den USA eine Freihandelszone zu bilden, schwenkte er in der Europapolitik um und stellte im April 1987 den Antrag auf Beitritt zur EU. Dieser blieb jedoch erfolglos. Insgesamt war seine Außenpolitik von einem erheblichen Maß an Pragmatismus und einer damit einhergehenden Lockerung der ideologischen Bindung an den Westen gekennzeichnet. Erstmalig kam der Begriff des "Neo-Osmanismus" zur Charakterisierung der türkischen Außenpolitik auf. Dabei wurde aber die sicherheitspolitische Einbindung in die Atlantische Allianz nie in Frage gestellt. Die neue Nachbarschaft nach dem Ende und Zerfall der Sowjetunion brachte für die türkische Außenpolitik eine Vielzahl neuer Herausforderungen. Özal, seit 1991 Staatspräsiedent, plädierte anfänglich mit starker amerikanischer Unterstützung für eine weitreichende Hinwendung zu den neuen Turkrepu-bliken in Zentralasien (Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Turkmenistan). Neben wirtschaftlichen Vorteilen (Erdöl, Erdgas) versprach er sich auch eine Ausdehnung des türkischen politischen Einflussbereichs bei den "Sprachverwandten". Washington hoffte auf eine Zurückdrängung Russlands, vor allem aber auf eine Einhegung des befürchteten radikal-islamischen Einflusses Teherans. Doch bald zeigte sich, dass die politischen und wirtschaftlichen Ressourcen der Türkei bei Weitem nicht ausreichten, um in der riesigen Region zwischen dem Kaukasus und China eine dominante Rolle zu spielen. Heute ist die Türkei dort ein Akteur unter vielen, während China eine immer wichtigere Rolle spielt. Ankara konzentriert sich zunehmend auf die Kaukasusregion und die angrenzenden kaspischen Staaten mit ihren gewaltigen Erdgasvorkommen. Doch hat es neben der mit politischer US-Unterstützung gebauten und im Jahr 2005 in Betrieb gegangenen Erdöl-Pipeline von Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan bislang kaum Erfolge erzielen können. Teils aus nationaler Interessenpolitik, teils infolge der sicherheitspolitischen Bindungen an das westliche Bündnis und die USA engagierte sich die Türkei in den 1990er-Jahren auch im Post-Jugoslawien -Konflikt und im Krieg der USA mit dem Irak. Sowohl aufgrund seiner EU-Ambitionen als auch seiner osmanischen Geschichte (große Teile des Balkans hatten bis 1912 zum osmanischen Herrschaftsgebiet gehört) betrachtet die Türkei die Balkanregion als "natürliches" Interessengebiet. Das führte 1992 auf türkische Initiative hin zur Gründung der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperationszone, die seitdem allerdings eher ein politisches Schattendasein führt und auch mit ihren ambitionierten wirtschaftlichen Zielen nicht so recht vorankommt. Politisch bedeutsamer war dagegen die türkische Beteiligung an den Nachfolgekriegen im auseinandergebrochenen Vielvölkerstaat Jugoslawien. Hier fügte sich Ankara nahtlos in die Politik und die militärischen Aktionen der westlichen Staaten unter Führung der USA, die den Schutz der Zivilbevölkerung und ethnischer Minderheiten zum Ziel hatten, ein, obgleich der in ihren Augen ungenügende Schutz muslimischer Bevölkerungsgruppen in Bosnien-Herzegowina in der türkischen Öffentlichkeit teils heftige Unmutsäußerungen hervorrief. Ebenso beteiligt sich Ankara an den verschiedenen friedenssichernden Maßnahmen nach Beendigung der Kämpfe. Ähnlich "bündnistreu" zeigte sich die Türkei im Zweiten Golfkrieg gegen den Irak 1991, mit dem die USA zwar die irakische Besetzung Kuweits beendeten, aber darauf verzichteten, das Regime von Diktator Saddam Hussein zu stürzen. Die Regierung Özal schloss die Öl-Pipelines aus dem Nord-irak und unterstützte die USA bei der Einrichtung einer Flugverbotszone nördlich des 36. Breitengrades, mit der nach Ende des Krieges die Kurden im Norden Iraks vor der Rache Saddams geschützt werden sollten. Längerfristig schuf sich Ankara durch dieses erste militärische Engagement im arabischen Raum seit Beginn der Republik allerdings mehr Probleme als Vorteile. Die instabile Lage im nordirakischen Kurdengebiet wurde von der PKK genutzt, um ihre gegen die Türkei gerichteten Gewaltaktionen von dort aus zu führen und dieses als RückzugsraGebiet um zu nutzen. Zwar unternahm die Türkei im Laufe der 1990er- Jahre wiederholt umfangreiche Militäraktionen gegen die PKK im Nordirak, die sogar die längere Besetzung irakischen Territoriums im Grenzgebiet zur Türkei einschlossen. Doch brachte das für Ankara auch immer wieder politische Probleme sowohl mit den Führungen der beiden dominanten kurdischen Parteien im Nordirak als auch mit der Zentralregierung in Bagdad mit sich. Die Lage verbesserte sich erst, als es 1999 gelang, den PKK-Führer Abdullah Öcalan durch ein türkisches Kommando in Kenia festzunehmen. Die Öffnung der türkischen Außenpolitik und die Abkehr von der einseitigen Fixierung auf "den Westen" wurde dann unter der Ägide der AKP-Regierungen nach 2002 zum Programm erklärt. Dahinter steht das von Außenminister Davutoglu entwickelte Konzept der "Strategischen Tiefe". Darin wird die Identität der Türkei aufgrund ihrer geografischen Lage und ihres religiös-kulturellen Erbes nicht mehr als nur "westlich" beschrieben. Diese geografischen und historisch-kulturellen Faktoren verleihen ihr laut Davutoglu eine multiple Identität als europäisches, asiatisches und nah-/mittelöstliches Land mit zentralasiatischen und afrikanischen Einsprengseln. Folglich kennt seine neue Außenpolitik auch keine absoluten Vorzugspartner mehr, ohne aber deswegen bestehende Beziehungen in Frage zu stellen. Dieses Konzept ist ein klarer Bruch mit der kemalistischenTradition . Es beansprucht, den nationalen Interessen der Türkei unter den neuen Bedingungen des 21. Jahrhunderts besser zu entsprechen als jene. In diesem Sinne ist Davutoglus Konzept gleichzeitig neu und steht dennoch in der generellen Tradition türkischer Außenpolitik als Umsetzung des nationalen Interesses. So bekräftigte auch die AKP-Regierung die schon von ihrer Vorgängerin nach den Anschlägen des 11. September 2001 abgegebene Versicherung, dass radikaler, gewalttätiger Islam von der Türkei nicht akzeptiert und unterstützt werde. Das hinderte die Türkei aber nicht daran, im Frühjahr 2003 den USA die erbetene Unterstützung für den Einmarsch ihrer Streitkräfte in den Irak, an dem sich auch Großbritannien und andere Staaten beteiligten, zu versagen. Hier musste sich Ministerpräsident Erdogan der öffentlichen Meinung in der Türkei beugen, zumal auch die Militärführung deutliche Zurückhaltung an den Tag legte. Das türkisch-amerikanische Verhältnis wurde durch diese Haltung Ankaras erheblich beschädigt. Gleichzeitig wuchs das Ansehen Ankaras in weiten Teilen der arabischen Welt. Das Bild des "getreuen Dieners" amerikanischer Mittelostpolitik begann zu verblassen. Das Interesse, nach dem Ende des Regimes von Saddam Hussein zur Stabilität im Irak beizutragen, führte zu einer punktuellen Zusammenarbeit mit dem Iran und Syrien als den beiden anderen wichtigen irakischen Nachbarstaaten. Hier ging es Ankara vor allem darum, ein Übergreifen der kurdischen Autonomiebestrebungen im Nordirak auf die eigene Kurdenregion zu verhindern. Daher unterstützte die Türkei die Bestrebungen der irakischen Zentralregierung in Bagdad zur Wahrung der nationalen Integrität Iraks. Als die US-Regierung ankündigte, ihre Truppen bis Ende 2011 aus dem Irak abzuziehen, begann Ankara, seine Beziehungen zur Kurdischen Regionalregierung im nordirakischen Erbil zu intensivieren, um auch auf diesen wichtigen innerirakischen Akteur einen gewissen Einfluss zu bekommen.

Die verbesserten Beziehungen führten nicht nur zu einer erheblichen Ausweitung der grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen, die die Türkei zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor im Nordirak machte, sondern auch zur Schwächung der Position der PKK, die in den dortigen Kandil-Bergen ihr Hauptquartier für ihre anhaltenden Guerillaaktionen im türkischen Südosten eingerichtet hatte. Dennoch ist unklar, wie groß der Einfluss Ankaras auf die innere Entwicklung des Iraks tatsächlich ist. Damit bleibt auch die Frage offen, ob die sorgfältige Balancepolitik gegenüber dem südlichen Nachbarn die türkischen Sicherheitsinteressen längerfristig sichern kann.

Doch nicht nur im Irak hat sich die Türkei unter der AKP im Mittleren und Nahen Osten engagiert. Gemäß dem von Außenminister Davutoglu propagierten Grundsatz der "Null Probleme mit Nachbarländern" wurden auch die Beziehungen zu Syrien, dem Libanon, Iran und - anfänglich - selbst Israel verbessert. Ankara engagierte sich in verschiedenen Konflikten als Vermittler, so zwischen Israel und Syrien, zwischen verschiedenen Fraktionen im Libanon und selbst zwischen Israel und den Palästinensern. Doch blieben diese Bemühungen weitgehend erfolglos. Insbesondere nachdem Israel im Januar 2009 das Hamas-Regime im Gaza-streifen angriff, änderte sich die Stimmung in der Türkei und bei Ministerpräsident Erdogan. Seitdem zählt die AKP-Regierung zu den schärfsten Kritikern der israelischen Politik und wird von Jerusalem dem Lager der Feinde Israels zugerechnet. Die zahlreichen Aktivitäten in der Region haben das Ansehen der Türkei und besonders das ihres Ministerpräsidenten in weiten Teilen der arabischen Öffentlichkeit enorm gesteigert. Für viele wurde die Türkei zu einem nachahmenswerten Vorbild. Offen ist allerdings, wie sich die Stellung Ankaras in der Region im Gefolge der "arabischen Umbrüche" des Jahres 2011 entwickelt. Die AKP-Regierung wurde von den Volksbewegungen genauso unvorbereitet getroffen wie die USA oder die europäischen Staaten. Auch die Türkei hatte ihre Beziehungen hauptsächlich zu den autokratischen Führungen der arabischen Staaten gepflogen, die von den Volksbewegungen aus dem Amt gejagt wurden. Sie brauchte daher einige Zeit, um ihre Außenpolitik entsprechend anzupassen, zumal zum Beispiel in Libyen tausende türkische Gastarbeiter lebten, die dort im Auftrag türkischer Bauunternehmen tätig waren. Letztlich aber fand die AKP zu einer Haltung, der zufolge in allen Ländern der Wille des Volkes zur Leitschnur für die politische Neugestaltung gemacht werden soll. Selbst der syrische Staatschef Baschar al-Assad, zu dessen Regime die AKP seit 2008 sich kontinuierlich verbessernde Beziehungen aufgebaut hatte, was unter anderem in der gegenseitigen Aufhebung der Visumpflicht für ihre Bürger zum Ausdruck kam, musste sich heftige türkische Kritik an seinem brutalen Vorgehen gegen die politische Protestbewegung gefallen lassen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob und wie weit sich die in europäischen und zum Teil auch türkischen Kreisen diskutierte Ansicht bewahrheitet, dass der AKP-Türkei eine Vorbild- oder Modellrolle beim Aufbau demokratischer Systeme in den "neuen" arabischen Gesellschaften zukommen wird. In jedem Fall will die AKP diese Chance nutzen, wie sich im Sommer 2011 zeigte, als Ministerpräsident Erdogan auf einer Rundreise durch Ägypten, Libyen und Tunesien von der dortigen Bevölkerung als Vertreter eines modernen muslimischen Staates enthusiastisch gefeiert wurde. Doch nicht nur in der arabischen Welt steht die AKP-Außenpolitik der "Null Probleme mit Nachbarn" vor großen Herausforderungen. Auch in der Kaukasusregion wird sie mit einer höchst komplexen Problemlage konfrontiert, für deren Bewältigung sie nur unzureichende Mittel besitzt. Die Regierung Erdogan versucht in der Region einen schwierigen Balanceakt zwischen ihren verschiedenen und nicht immer widerspruchsfreien regionalen Interessen. Das größte Problem bereitet ihr, die Balance zwischen ihren Beziehungen zu Aserbaidschan und Armenien zu halten. Mit Aserbaidschan verbinden die Türkei eine enge ethnische Verwandtschaft und die Energiebeziehungen über die Ölpipeline BakuCeyhan. Beides bewirkt eine starke Solidarität mit Baku im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt über Bergkarabach, eine mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region im Südosten des Kleinen Kaukasus, die zwar völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber mit massiver Unterstützung Armeniens seit 1994 de facto selbstständig ist. Das Verhältnis der Türkei zu Armenien ist wegen des Vorwurfs des Völkermords durch das Osmanische Reich an den Armeniern im Jahre 1915 schwer belastet. Dabei ist beiden Ländern an einer Normalisierung ihrer Beziehungen sehr gelegen, weil dadurch die Stabilität in der fragilen Kaukasusregion deutlich erhöht würde, was vor allem mit Blick auf seine Energiepolitik im Interesse Ankaras ist. Doch kann die Türkei dies kaum aus eigener Kraft erreichen. Sie ist hier zu einem guten Teil auf die politische Unterstützung der USA angewiesen, deren regionalpolitische Interessen weitgehend mit denen der Türkei übereinstimmen. Mit größerer Zurückhaltung wird in Washington dagegen die Entwicklung der türkischen Beziehungen zu Russland und Iran gesehen. Das hoch antagonistische Verhältnis zu Moskau in der Zeit des Kalten Krieges hat sich unter der AKP-Ägide mittlerweile zu einer "strategischen Partnerschaft" gewandelt. Inhaltlich konzentrieren sich die Beziehungen auf den Wirtschaftssektor und hier vor allem auf den Energiebereich. Die hohe Lieferabhängigkeit von russischem Erdgas wurde schon erwähnt. Dennoch haben beide Länder nach 2009 Abkommen über weitere Energie-Großprojekte abgeschlossen. So hat die Regierung Erdogan unter anderem den Auftrag für den Bau und den Betrieb des ersten türkischen Atomkraftwerks bei der südtürkischen Stadt Akkuyu an die russische Firma Rosatom vergeben. All diese Pläne sind Ende 2011 aber noch nicht im Stadium der Ausführung angelangt. Ähnlich wie Ankaras Israel-Politik sorgt auch die Politik gegenüber dem iranischen Nachbarn für Irritationen in den westlichen Hauptstädten. Beide Länder führen als große Staaten in der mittelöstlichen Region seit Jahrhunderten eine Politik normaler nachbarschaftlicher Beziehungen, die aber immer auch von unterschwelliger machtpolitischer Rivalität gekennzeichnet waren. Auch nach der schiitischen Revolution in Teheran bemühte sich Ankara trotz aller ideologischen Unterschiede um einen normalen Umgang mit dem Mullah-Regime. Das gegenseitige Interesse an wirtschaftlichem Austausch und beiderseitige Probleme mit der jeweiligen kurdischen Minderheit führten Teheran und Ankara vor allem unter den AKP-Regierungen näher zusammen. Damit geriet die Türkei jedoch bei ihren amerikanischen und europäischen Verbündeten öfters in ein schiefes Licht. Insbesondere die iranische Atompolitik und Teherans Unterstützung mittelöstlicher Terrororganisationen wie Hamas und Hisbollah führten zu Irritationen. Ankara war nicht bereit, sich der Politik seiner Verbündeten anzuschließen, Iran durch starken internationalen Druck, der bis hin zu öffentlichen Spekulationen über die Möglichkeit einer Militärintervention reichte, zum Verzicht auf die Anreicherung von Uran zu bewegen. Ebenso wenig konnte es sich zu einer klaren Verurteilung von Teherans Unterstützung der hauptsächlich gegen Israel agierenden Terrororganisationen durchringen. Die enge außen- und sicherheitspolitische Einbindung in das von den USA geführte westliche System war während des gesamten Ost-West-Konflikts Leitlinie türkischer Außenpolitik. Lediglich der Konflikt mit dem NATO Partner Griechenland, vor allem in der Zypernfrage, bildete eine Ausnahme. Annäherungen an die Sowjetunion gegen Ende der 1960er-Jahre oder eine vorsichtige Distanzierung von der israelischen Palästinapolitik und die Mitgliedschaft in der 1969 gegründeten Organisation der Islamischen Konferenz (OIK) waren Erweiterungen des außenpolitischen Horizonts, die mit Veränderungen der welt- und regionalpolitischen Konstellationen wie der Entspannung im Ost-West-Konflikt oder den Umbrüchen in der arabischen Welt zusammenhingen. Sie waren aber keine Signale für eine grundlegende Umorientierung. All diese Entwicklungen dienten eher dem Zweck, den westlichen Bündnispartnern, vor allem den USA, die Bedeutung des türkischen Alliierten immer wieder vor Augen zu führen, die zeitweise in den innenpolitischen Turbulenzen der Türkei während der 1960er- und 1970er-Jahre mit ihren drei Militärputschen zwischen 1960 und 1980 verloren zu gehen drohte. Die Iranische Revolution und die Machtergreifung des Ajatollah Chomeini im Januar 1979 sowie die sowjetische Invasion in Afghanistan im Dezember 1979 trugen ein Übriges dazu bei, den strategischen Wert der Türkei für das westliche Bündnis zu festigen. Nicht zuletzt vor diesem internationalen Hintergrund konnte das türkische Militär im September 1980 seinen dritten Putsch durchführen, ohne größere Proteste der NATO-Verbündeten befürchten zu müssen. Belastend für die türkische Stellung im westlichen Bündnissystem wirkte sich allerdings der Zypernkonflikt aus, der bis heute nicht gelöst ist. Im Kern geht es um die Frage, wie die griechische Bevölkerungsmehrheit und die türkische Minderheit auf der Insel zusammenleben sollen. Als es im Dezember 1963 zu einem Massaker an zyperntürkischen Zivilisten durch zyperngriechische Polizeikräfte kam, das sich zu gewaltsamen Kämpfen ausweitete, drohte eine direkte militärische Konfrontation zwischen den NATO-Partnern Griechenland und Türkei. Seit dieser sogenannten ersten Zypernkrise 1963/64 ist das absolute türkische Vertrauen in die NATO-Vormacht USA geschwunden. Der berühmte Brief, den US-Präsident Johnson im Juni 1964 an den türkischen Ministerpräsidenten Inönü schrieb, wurde in Ankara als grobe Missachtung der nationalen Interessen durch den mächtigsten Verbündeten angesehen. In diesem Schreiben hatte Johnson mitgeteilt, die Türkei könne nicht mit dem automatischen Beistand ihrer NATO-Verbündeten rechnen, wenn eine türkische Militärintervention auf Zypern die Sowjetunion zum Eingreifen veranlassen sollte. Seitdem gefährdete der türkisch-griechische Streit um die Regelung des Zusammenlebens der beiden Volksgruppen auf der Insel immer wieder den Zusammenhalt der Atlantischen Allianz. Hinzu kamen bilaterale Konflikte zwischen Ankara und Athen über Hoheitsrechte in der Ägäis, den ägäischen Luftraum und den Status verschiedener Inseln in der Ägäis. In den bilateralen Streitfragen will die Türkei eine politische Übereinkunft zur Grundlage der Regelungen machen, während die griechische Seite, sich im Recht sehend und von der EU  bestärkt, eine Schiedsentscheidung durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag anstrebt. Seit der griechisch-türkischen Annäherung von 1999 führen beide Seiten vertrauliche Gespräche über die verschiedenen Punkte, ohne jedoch bis jetzt eine einvernehmliche Regelung gefunden zu haben. Doch kommt es nicht mehr zum "Beinahe-Krieg" wie noch im Januar 1996, als der Streit um die Hoheitsrechte über eine unbewohnte Mini-Insel in der Ägäis die Seestreitkräfte beider Seiten in Alarmbereitschaft versetzte. In der Zypernfrage haben internationaler Druck und griechisches Interesse im Laufe der Zeit dazu geführt, dass die Formel der bizonalen und bikommunalen Föderation als "richtige" Lösung für das Zusammenleben der griechischen und der türkischen Volksgruppe auf der Insel von allen Seiten akzeptiert wurde. Allerdings gibt es bisher keine Einigung über die konkrete Ausgestaltung dieser Formel. Die türkische Seite befürwortet weitgehend getrennte und selbstverwaltete staatliche Einheiten der jeweiligen Volksgruppen unter dem Dach eines auf die minimal notwendigen Kompetenzen beschränkten Gesamtstaates. Die Griechen dagegen streben nach einem zyprischen Staat, in dem eine relativ starke Zentralgewalt über zwei auf die notwendigen Kompetenzen kommunaler Selbstverwaltung beschränkte Gliedstaaten herrscht. Sie sehen so ihre Mehrheitsstellung auf der Insel auch in der staatlich-institutionellen Konstruktion gewahrt, während die türkische Vorstellung vom Gedanken eines maximalen Minderheitenschutzes getragen ist. Erschwert wird eine Einigung durch drei Umstände: die türkische militärische Besetzung eines großen Teils im Norden der Insel, den 2004 erfolgten Beitritt Zyperns zur EU und den seit Dezember 1999 laufenden türkischen Beitrittsprozess zur EU. Nachdem die gewaltsamen Konflikte von 1963 nur durch die Stationierung einer VN-Schutztruppe (UNFICYP) auf der Insel beendet werden konnten und damit die faktische Separierung der Volksgruppen begann, führte die von der griechischen Militärjunta provozierte türkische Invasion im Juli/August 1974 zur endgültigen Teilung in den türkisch besetzten Norden und die griechische Republik Zypern im Süden der Insel. Letztere wird von der internationalen Staatengemeinschaft als einzige legitime politische Vertretung der Insel anerkannt. Daran änderte auch die 1983 proklamierte Umwandlung des Nordteils in die Türkische Republik Nordzypern nichts. Sie wird nur von der Türkei anerkannt und sichert ihre Existenz durch die Anwesenheit von circa 36000 türkischen Soldaten im Norden. Seit den 1970er-Jahren hat jeder VN-Generalsekretär vergeblich versucht, die Trennung rückgängig zu machen und eine von beiden Seiten akzeptierte Regelung herbeizuführen. Am weitesten kam dabei Generalsekretär Kofi Annan, der im Vorfeld des zyprischen EU-Beitritts im Frühjahr 2004 einen detaillierten Regelungsplan vorlegte (Annan-Plan), dem in einer getrennt in beiden Inselteilen durchgeführten Volksabstimmung am 24. April 2004 der türkische Bevölkerungsteil mit Unterstützung der AKP-Regierung mit 65 Prozent seine Zustimmung erteilte. Der Plan wurde jedoch von den griechischen Zyprern mit 76 Prozent abgelehnt. Seitdem gibt es zwar seit dem Frühjahr 2008 - wieder unter der Ägide der VN - Verhandlungen zwischen beiden Seiten, die aber bisher ohne Ergebnis blieben. Diese Verhandlungen werden durch den am 1. Mai 2004 erfolgten Beitritt Zyperns zur EU kompliziert. Seitdem darf eine Zypernregelung in wesentlichen Punkten nicht gegen EU-Recht verstoßen, wenngleich man sich großzügig bemessene Übergangszeiten vorstellen kann. Hinzu kommt, dass Griechenland und die Republik Zypern als EU-Mitglieder das Zypernproblem im Zusammenhang mit den seit Oktober 2005 laufenden türkischen Beitrittsverhandlungen mit Brüssel zu ihrem Vorteil instrumentalisieren wollen. Vieles spricht dafür, dass eine endgültige Zypernregelung nur im Rahmen eines Gesamtpaketes möglich sein wird, in dem Zypernfrage, griechisch-türkische Streitigkeiten und der türkische EU-Beitritt zusammengefasst sind. Das Ende des Ost-West-Konflikts brachte für die Türkei ein radikal gewandeltes politisches Umfeld. Doch bereits unter dem Regime des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Turgut Özal und seiner Mutterlandspartei hatte in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eine außenpolitische Umorientierung begonnen. Özal versuchte einen dann letztlich doch fehlgeschlagenen Ausgleich mit Griechenland, und er öffnete die türkische Wirtschaft zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Özal verfolgte das Ziel, die Türkei in Anlehnung an die asiatischen "Tigerstaaten" binnen zehn Jahren zum "Südkorea" des Nahen Ostens zu machen. Erst als diese Bemühungen ebenso wenig vorankamen wie Bestrebungen, mit den USA eine Freihandelszone zu bilden, schwenkte er in der Europapolitik um und stellte im April 1987 den Antrag auf Beitritt zur EU. Dieser blieb jedoch erfolglos. Insgesamt war seine Außenpolitik von einem erheblichen Maß an Pragmatismus und einer damit einhergehenden Lockerung der ideologischen Bindung an den Westen gekennzeichnet. Erstmalig kam der Begriff des "Neo-Osmanismus" zur Charakterisierung der türkischen Außenpolitik auf. Dabei wurde aber die sicherheitspolitische Einbindung in die Atlantische Allianz nie in Frage gestellt. Die neue Nachbarschaft nach dem Ende und Zerfall der Sowjetunion brachte für die türkische Außenpolitik eine Vielzahl neuer Herausforderungen. Özal, seit 1991 Staatspräsiedent, plädierte anfänglich mit starker amerikanischer Unterstützung für eine weitreichende Hinwendung zu den neuen Turkrepu-bliken in Zentralasien (Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Turkmenistan). Neben wirtschaftlichen Vorteilen (Erdöl, Erdgas) versprach er sich auch eine Ausdehnung des türkischen politischen Einflussbereichs bei den "Sprachverwandten". Washington hoffte auf eine Zurückdrängung Russlands, vor allem aber auf eine Einhegung des befürchteten radikal-islamischen Einflusses Teherans. Doch bald zeigte sich, dass die politischen und wirtschaftlichen Ressourcen der Türkei bei Weitem nicht ausreichten, um in der riesigen Region zwischen dem Kaukasus und China eine dominante Rolle zu spielen. Heute ist die Türkei dort ein Akteur unter vielen, während China eine immer wichtigere Rolle spielt. Ankara konzentriert sich zunehmend auf die Kaukasusregion und die angrenzenden kaspischen Staaten mit ihren gewaltigen Erdgasvorkommen. Doch hat es neben der mit politischer US-Unterstützung gebauten und im Jahr 2005 in Betrieb gegangenen Erdöl-Pipeline von Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan bislang kaum Erfolge erzielen können. Teils aus nationaler Interessenpolitik, teils infolge der sicherheitspolitischen Bindungen an das westliche Bündnis und die USA engagierte sich die Türkei in den 1990er-Jahren auch im Post-Jugoslawien -Konflikt und im Krieg der USA mit dem Irak. Sowohl aufgrund seiner EU-Ambitionen als auch seiner osmanischen Geschichte (große Teile des Balkans hatten bis 1912 zum osmanischen Herrschaftsgebiet gehört) betrachtet die Türkei die Balkanregion als "natürliches" Interessengebiet. Das führte 1992 auf türkische Initiative hin zur Gründung der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperationszone, die seitdem allerdings eher ein politisches Schattendasein führt und auch mit ihren ambitionierten wirtschaftlichen Zielen nicht so recht vorankommt. Politisch bedeutsamer war dagegen die türkische Beteiligung an den Nachfolgekriegen im auseinandergebrochenen Vielvölkerstaat Jugoslawien. Hier fügte sich Ankara nahtlos in die Politik und die militärischen Aktionen der westlichen Staaten unter Führung der USA, die den Schutz der Zivilbevölkerung und ethnischer Minderheiten zum Ziel hatten, ein, obgleich der in ihren Augen ungenügende Schutz muslimischer Bevölkerungsgruppen in Bosnien-Herzegowina in der türkischen Öffentlichkeit teils heftige Unmutsäußerungen hervorrief. Ebenso beteiligt sich Ankara an den verschiedenen friedenssichernden Maßnahmen nach Beendigung der Kämpfe. Ähnlich "bündnistreu" zeigte sich die Türkei im Zweiten Golfkrieg gegen den Irak 1991, mit dem die USA zwar die irakische Besetzung Kuweits beendeten, aber darauf verzichteten, das Regime von Diktator Saddam Hussein zu stürzen. Die Regierung Özal schloss die Öl-Pipelines aus dem Nord-irak und unterstützte die USA bei der Einrichtung einer Flugverbotszone nördlich des 36. Breitengrades, mit der nach Ende des Krieges die Kurden im Norden Iraks vor der Rache Saddams geschützt werden sollten. Längerfristig schuf sich Ankara durch dieses erste militärische Engagement im arabischen Raum seit Beginn der Republik allerdings mehr Probleme als Vorteile. Die instabile Lage im nordirakischen Kurdengebiet wurde von der PKK genutzt, um ihre gegen die Türkei gerichteten Gewaltaktionen von dort aus zu führen und dieses als RückzugsraGebiet um zu nutzen. Zwar unternahm die Türkei im Laufe der 1990er- Jahre wiederholt umfangreiche Militäraktionen gegen die PKK im Nordirak, die sogar die längere Besetzung irakischen Territoriums im Grenzgebiet zur Türkei einschlossen. Doch brachte das für Ankara auch immer wieder politische Probleme sowohl mit den Führungen der beiden dominanten kurdischen Parteien im Nordirak als auch mit der Zentralregierung in Bagdad mit sich. Die Lage verbesserte sich erst, als es 1999 gelang, den PKK-Führer Abdullah Öcalan durch ein türkisches Kommando in Kenia festzunehmen. Die Öffnung der türkischen Außenpolitik und die Abkehr von der einseitigen Fixierung auf "den Westen" wurde dann unter der Ägide der AKP-Regierungen nach 2002 zum Programm erklärt. Dahinter steht das von Außenminister Davutoglu entwickelte Konzept der "Strategischen Tiefe". Darin wird die Identität der Türkei aufgrund ihrer geografischen Lage und ihres religiös-kulturellen Erbes nicht mehr als nur "westlich" beschrieben. Diese geografischen und historisch-kulturellen Faktoren verleihen ihr laut Davutoglu eine multiple Identität als europäisches, asiatisches und nah-/mittelöstliches Land mit zentralasiatischen und afrikanischen Einsprengseln. Folglich kennt seine neue Außenpolitik auch keine absoluten Vorzugspartner mehr, ohne aber deswegen bestehende Beziehungen in Frage zu stellen. Dieses Konzept ist ein klarer Bruch mit der kemalistischenTradition . Es beansprucht, den nationalen Interessen der Türkei unter den neuen Bedingungen des 21. Jahrhunderts besser zu entsprechen als jene. In diesem Sinne ist Davutoglus Konzept gleichzeitig neu und steht dennoch in der generellen Tradition türkischer Außenpolitik als Umsetzung des nationalen Interesses. So bekräftigte auch die AKP-Regierung die schon von ihrer Vorgängerin nach den Anschlägen des 11. September 2001 abgegebene Versicherung, dass radikaler, gewalttätiger Islam von der Türkei nicht akzeptiert und unterstützt werde. Das hinderte die Türkei aber nicht daran, im Frühjahr 2003 den USA die erbetene Unterstützung für den Einmarsch ihrer Streitkräfte in den Irak, an dem sich auch Großbritannien und andere Staaten beteiligten, zu versagen. Hier musste sich Ministerpräsident Erdogan der öffentlichen Meinung in der Türkei beugen, zumal auch die Militärführung deutliche Zurückhaltung an den Tag legte. Das türkisch-amerikanische Verhältnis wurde durch diese Haltung Ankaras erheblich beschädigt. Gleichzeitig wuchs das Ansehen Ankaras in weiten Teilen der arabischen Welt. Das Bild des "getreuen Dieners" amerikanischer Mittelostpolitik begann zu verblassen. Das Interesse, nach dem Ende des Regimes von Saddam Hussein zur Stabilität im Irak beizutragen, führte zu einer punktuellen Zusammenarbeit mit dem Iran und Syrien als den beiden anderen wichtigen irakischen Nachbarstaaten. Hier ging es Ankara vor allem darum, ein Übergreifen der kurdischen Autonomiebestrebungen im Nordirak auf die eigene Kurdenregion zu verhindern. Daher unterstützte die Türkei die Bestrebungen der irakischen Zentralregierung in Bagdad zur Wahrung der nationalen Integrität Iraks. Als die US-Regierung ankündigte, ihre Truppen bis Ende 2011 aus dem Irak abzuziehen, begann Ankara, seine Beziehungen zur Kurdischen Regionalregierung im nordirakischen Erbil zu intensivieren, um auch auf diesen wichtigen innerirakischen Akteur einen gewissen Einfluss zu bekommen.

Die verbesserten Beziehungen führten nicht nur zu einer erheblichen Ausweitung der grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen, die die Türkei zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor im Nordirak machte, sondern auch zur Schwächung der Position der PKK, die in den dortigen Kandil-Bergen ihr Hauptquartier für ihre anhaltenden Guerillaaktionen im türkischen Südosten eingerichtet hatte. Dennoch ist unklar, wie groß der Einfluss Ankaras auf die innere Entwicklung des Iraks tatsächlich ist. Damit bleibt auch die Frage offen, ob die sorgfältige Balancepolitik gegenüber dem südlichen Nachbarn die türkischen Sicherheitsinteressen längerfristig sichern kann.

Doch nicht nur im Irak hat sich die Türkei unter der AKP im Mittleren und Nahen Osten engagiert. Gemäß dem von Außenminister Davutoglu propagierten Grundsatz der "Null Probleme mit Nachbarländern" wurden auch die Beziehungen zu Syrien, dem Libanon, Iran und - anfänglich - selbst Israel verbessert. Ankara engagierte sich in verschiedenen Konflikten als Vermittler, so zwischen Israel und Syrien, zwischen verschiedenen Fraktionen im Libanon und selbst zwischen Israel und den Palästinensern. Doch blieben diese Bemühungen weitgehend erfolglos. Insbesondere nachdem Israel im Januar 2009 das Hamas-Regime im Gaza-streifen angriff, änderte sich die Stimmung in der Türkei und bei Ministerpräsident Erdogan. Seitdem zählt die AKP-Regierung zu den schärfsten Kritikern der israelischen Politik und wird von Jerusalem dem Lager der Feinde Israels zugerechnet. Die zahlreichen Aktivitäten in der Region haben das Ansehen der Türkei und besonders das ihres Ministerpräsidenten in weiten Teilen der arabischen Öffentlichkeit enorm gesteigert. Für viele wurde die Türkei zu einem nachahmenswerten Vorbild. Offen ist allerdings, wie sich die Stellung Ankaras in der Region im Gefolge der "arabischen Umbrüche" des Jahres 2011 entwickelt. Die AKP-Regierung wurde von den Volksbewegungen genauso unvorbereitet getroffen wie die USA oder die europäischen Staaten. Auch die Türkei hatte ihre Beziehungen hauptsächlich zu den autokratischen Führungen der arabischen Staaten gepflogen, die von den Volksbewegungen aus dem Amt gejagt wurden. Sie brauchte daher einige Zeit, um ihre Außenpolitik entsprechend anzupassen, zumal zum Beispiel in Libyen tausende türkische Gastarbeiter lebten, die dort im Auftrag türkischer Bauunternehmen tätig waren. Letztlich aber fand die AKP zu einer Haltung, der zufolge in allen Ländern der Wille des Volkes zur Leitschnur für die politische Neugestaltung gemacht werden soll. Selbst der syrische Staatschef Baschar al-Assad, zu dessen Regime die AKP seit 2008 sich kontinuierlich verbessernde Beziehungen aufgebaut hatte, was unter anderem in der gegenseitigen Aufhebung der Visumpflicht für ihre Bürger zum Ausdruck kam, musste sich heftige türkische Kritik an seinem brutalen Vorgehen gegen die politische Protestbewegung gefallen lassen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob und wie weit sich die in europäischen und zum Teil auch türkischen Kreisen diskutierte Ansicht bewahrheitet, dass der AKP-Türkei eine Vorbild- oder Modellrolle beim Aufbau demokratischer Systeme in den "neuen" arabischen Gesellschaften zukommen wird. In jedem Fall will die AKP diese Chance nutzen, wie sich im Sommer 2011 zeigte, als Ministerpräsident Erdogan auf einer Rundreise durch Ägypten, Libyen und Tunesien von der dortigen Bevölkerung als Vertreter eines modernen muslimischen Staates enthusiastisch gefeiert wurde. Doch nicht nur in der arabischen Welt steht die AKP-Außenpolitik der "Null Probleme mit Nachbarn" vor großen Herausforderungen. Auch in der Kaukasusregion wird sie mit einer höchst komplexen Problemlage konfrontiert, für deren Bewältigung sie nur unzureichende Mittel besitzt. Die Regierung Erdogan versucht in der Region einen schwierigen Balanceakt zwischen ihren verschiedenen und nicht immer widerspruchsfreien regionalen Interessen. Das größte Problem bereitet ihr, die Balance zwischen ihren Beziehungen zu Aserbaidschan und Armenien zu halten. Mit Aserbaidschan verbinden die Türkei eine enge ethnische Verwandtschaft und die Energiebeziehungen über die Ölpipeline BakuCeyhan. Beides bewirkt eine starke Solidarität mit Baku im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt über Bergkarabach, eine mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region im Südosten des Kleinen Kaukasus, die zwar völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber mit massiver Unterstützung Armeniens seit 1994 de facto selbstständig ist. Das Verhältnis der Türkei zu Armenien ist wegen des Vorwurfs des Völkermords durch das Osmanische Reich an den Armeniern im Jahre 1915 schwer belastet. Dabei ist beiden Ländern an einer Normalisierung ihrer Beziehungen sehr gelegen, weil dadurch die Stabilität in der fragilen Kaukasusregion deutlich erhöht würde, was vor allem mit Blick auf seine Energiepolitik im Interesse Ankaras ist. Doch kann die Türkei dies kaum aus eigener Kraft erreichen. Sie ist hier zu einem guten Teil auf die politische Unterstützung der USA angewiesen, deren regionalpolitische Interessen weitgehend mit denen der Türkei übereinstimmen. Mit größerer Zurückhaltung wird in Washington dagegen die Entwicklung der türkischen Beziehungen zu Russland und Iran gesehen. Das hoch antagonistische Verhältnis zu Moskau in der Zeit des Kalten Krieges hat sich unter der AKP-Ägide mittlerweile zu einer "strategischen Partnerschaft" gewandelt. Inhaltlich konzentrieren sich die Beziehungen auf den Wirtschaftssektor und hier vor allem auf den Energiebereich. Die hohe Lieferabhängigkeit von russischem Erdgas wurde schon erwähnt. Dennoch haben beide Länder nach 2009 Abkommen über weitere Energie-Großprojekte abgeschlossen. So hat die Regierung Erdogan unter anderem den Auftrag für den Bau und den Betrieb des ersten türkischen Atomkraftwerks bei der südtürkischen Stadt Akkuyu an die russische Firma Rosatom vergeben. All diese Pläne sind Ende 2011 aber noch nicht im Stadium der Ausführung angelangt. Ähnlich wie Ankaras Israel-Politik sorgt auch die Politik gegenüber dem iranischen Nachbarn für Irritationen in den westlichen Hauptstädten. Beide Länder führen als große Staaten in der mittelöstlichen Region seit Jahrhunderten eine Politik normaler nachbarschaftlicher Beziehungen, die aber immer auch von unterschwelliger machtpolitischer Rivalität gekennzeichnet waren. Auch nach der schiitischen Revolution in Teheran bemühte sich Ankara trotz aller ideologischen Unterschiede um einen normalen Umgang mit dem Mullah-Regime. Das gegenseitige Interesse an wirtschaftlichem Austausch und beiderseitige Probleme mit der jeweiligen kurdischen Minderheit führten Teheran und Ankara vor allem unter den AKP-Regierungen näher zusammen. Damit geriet die Türkei jedoch bei ihren amerikanischen und europäischen Verbündeten öfters in ein schiefes Licht. Insbesondere die iranische Atompolitik und Teherans Unterstützung mittelöstlicher Terrororganisationen wie Hamas und Hisbollah führten zu Irritationen. Ankara war nicht bereit, sich der Politik seiner Verbündeten anzuschließen, Iran durch starken internationalen Druck, der bis hin zu öffentlichen Spekulationen über die Möglichkeit einer Militärintervention reichte, zum Verzicht auf die Anreicherung von Uran zu bewegen. Ebenso wenig konnte es sich zu einer klaren Verurteilung von Teherans Unterstützung der hauptsächlich gegen Israel agierenden Terrororganisationen durchringen.

Auf der anderen Seite weckte Erdogans offenkundiges Streben nach größerem türkischen Einfluss in der Region nach den Umwälzungen des "Arabischen Frühlings" in Teheran wieder regionalpolitische Rivalitätsreflexe, zumal Ankaras Erlaubnis für die Aufstellung einer Radarstation des (gegen Teheran gerichteten) NATO-Raketenabwehrschirms ebenso wie die harsche Abkehr vom syrischen Assad-Regime bei der iranischen Führung offenes Missfallen hervorrief. Die türkisch-iranischen Beziehungen haben auch unter der AKP noch keine neue Qualität gewonnen "Strategische Tiefe" bildet jedoch nicht nur die konzeptionelle Grundlage für deutlich verstärkte außenpolitische Aktivitäten der Türkei in ihrer unmittelbaren regionalen Nachbarschaft. Sie leitet gleichermaßen das Bestreben, den Status der Türkei als einer wichtigen Akteurin im globalen internationalen Kontext zu verdeutlichen. Die Türkei konnte in der Periode 2009/2010 einen Sitz als nichtständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat erringen und hat seit 2005 ihre Rolle in der OIK durch die Wahl des bekannten Wissenschaftshistorikers Ekmeleddin Ihsanoglu zum Generalsekretär dieser 57 Staaten umfassenden Organisation gestärkt. Wichtiger noch ist die Mitgliedschaft in der G-20, die auch international der Anerkennung als Schwellenland und Mitgestalter der internationalen Ordnung im 21. Jahrhundert gleichkommt. Der gewachsene türkische Anspruch nach internationaler Mitgestaltung findet auch in der Intensivierung der Beziehungen zu anderen Schwellenländern seinen Ausdruck. Dies gilt besonders für China und Indien, aber auch für den afrikanischen Kontinent. China und Indien werden als die künftigen Machtzentren Asiens gesehen und bilden willkommene neue riesige Märkte für die türkische Industrie, die immer auf der Suche nach Absatzchancen jenseits ihrer etablierten Wirtschaftsbeziehungen zum OECD-Raum ist. Auch wenn diese Bemühungen um Vergrößerung des internationalen Status und Spielraums der Türkei noch in ihren Anfängen stehen, zeigen sie doch deutlich, dass unter der AKP-Regierung die kemalistische vorrangige Fixierung auf den Westen geschwunden ist und einem neuen außenpolitischen Selbstbewusstsein Platz gemacht hat. In ihren Grundzügen wird diese neue Außenpolitik sowohl in allen Gruppen der politischen Elite als auch in der türkischen Öffentlichkeit akzeptiert. Von diesem neuen türkischen Selbstbewusstsein bleibt auch das Verhältnis zur EU nicht unberührt. Zwar besitzt die Türkei seit Dezember 1999 den Status einer Beitrittskandidatin, und seit Oktober 2005 wird offiziell über diesen Beitritt verhandelt. Doch sieht es nach über fünf Jahren Verhandlungen nicht danach aus, dass das Ziel in absehbarer Zeit, wenn überhaupt, erreicht werden kann. Auf beiden Seiten macht sich Ermüdung breit und bei den Türken zusätzlich Frust und Enttäuschung über die EU. Das sah noch anders aus, als am 12. September 1963 in Ankara das Assoziierungsabkommen zwischen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei unterzeichnet wurde. Es hatte den Aufbau einer Zollunion zwischen beiden Seiten zum Ziel und sieht in seinem Artikel 28 vor, eine Mitgliedschaft der Türkei in der Gemeinschaft zu prüfen, wenn diese Zollunion erreicht wurde. Damit wurde seinerzeit eine politische Perspektive eröffnet, die von beiden Seiten gewollt und deshalb vertraglich fixiert wurde. Sie ist heute noch gültig, da das Assoziierungsabkommen nicht gekündigt und die Beitrittsperspektive seitens der EU-Mitgliedstaaten in der Folgezeit immer wieder ausdrücklich bestätigt wurde. Dennoch unternahmen beide Seiten keine besonderen Anstrengungen, der Verwirklichung dieses Ziels rasch näher zu kommen. In der Türkei überwogen bald Befürchtungen, sie könnte in der wirtschaftlich überlegenen EWG nicht konkurrenzfähig sein, das Beitrittsinteresse. In der Gemeinschaft machten sich immer größere Bedenken breit, die immens große und unterentwickelte Türkei mit ihren innenpolitischen Instabilitäten der 1970er- Jahre zu integrieren. Der Militärputsch von 1980 brachte dann einen politisch motivierten Stillstand in den Beziehungen. Dieser hielt auch danach an, weil Griechenland nach seinem Beitritt zur EG 1981 wegen seiner bilateralen Konflikte mit der Türkei Fortschritte in der Assoziierung blockierte. Was in den wenig dynamischen Jahren nach dem Beginn der Assoziation jedoch stets gleich blieb, war das hohe Interesse wichtiger EG-Mitglieder an einer engen sicherheitspolitischen Bindung der Türkei an Europa. Deshalb leistete Deutschland der Türkei im Rahmen der NATO von 1964 bis 1995 Militärhilfe in Form von Ausrüstungs- und Waffenlieferungen in Höhe von mehreren Milliarden DM. Dieses sicherheitspolitische Interesse ließ angesichts der weltpolitischen Veränderungen des Jahres 1979 (Iran und Afghanistan) auch nach dem türkischen Militärputsch von 1980 einen totalen Abbruch der Assoziierung in den Augen der EG-Länder (und der USA) nicht ratsam erscheinen. Nach dem vergeblichen Beitrittsantrag Özals von 1987 konzentrierte sich die politische Aufmerksamkeit in den 1990er-Jahren auf die Herbeiführung der Zollunion. Diese konnte entsprechend dem Zusatzprotokoll von 1972 zum Assoziierungsabkommen fristgerecht zum 1. Januar 1996 in Kraft treten. In Ankara keimten daraufhin wieder Hoffnungen auf einen baldigen Beitritt als letzten Schritt in der Assoziierung. Umso größer war die Enttäuschung als - nicht zuletzt auf Betreiben Deutschlands - der Europäische Rat im Dezember 1997 die Türkei explizit von der neuen Erweiterungsrunde ausnahm. Die Lage änderte sich jedoch nach dem Regierungswechsel in Deutschland im Herbst 1998. Die neue rot-grüne Bundesregierung erklärte sich bereit, die Türkei zum Kreis  der Beitrittskandidaten zuzulassen. Als dann infolge der spontanen wechselseitigen Hilfen bei Erdbeben im Marmararaum und bei Athen auch Griechenland seine Vorbehalte fallen ließ, fasste der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, im Dezember 1999 in Helsinki einen entsprechenden Beschluss. Doch sollte es noch bis Dezember 2004 dauern und großer politischer Reform -anstrengungen der seit 2002 amtierenden AKP-Regierung bedürfen, bis die EU-Mitglieder den Beginn der Beitrittsverhandlungen beschlossen. Die Türkei hatte sich durch die Reformen zwar politisch so verändert wie seit der kemalistischen Revolution nicht mehr, doch wuchs parallel dazu in der EU-Öffentlichkeit der Widerstand gegen den Beitritt eines muslimischen Staates. Das Argument der ungenügenden Aufnahmefähigkeit der Union  machte die Runde. Die Türkei wurde als zu fremd, zu groß und zu arm empfunden, um in die EU zu passen. Hinzu kam, dass konservative Kreise in der EU der Türkei schlicht eine "europäische Identität" absprachen, die zur Voraussetzung für eine reibungslose Mitgliedschaft erklärt wurde. So standen die im Oktober 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen von Anfang an unter keinem guten Stern. Die Lage wurde vollends verfahren, als sich die gerade ins Amt gewählte deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel klar gegen einen Beitritt und für eine "privilegierte Partnerschaft" genannte Sonderbeziehung zwischen der Türkei und der EU aussprach und darin ab 2007 vom neuen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy unterstützt wurde. Beide vermieden aber einen Abbruch der Verhandlungen. Das Risiko einer endgültigen Abwendung Ankaras von Europa und vom "Westen" wurde für zu groß gehalten, was auch die Führung der USA den EU-Staaten gegenüber immer wieder unterstrich. So entwickelt sich infolge der zunehmend selbstbewussten neuen türkischen Außenpolitik in der Nachbarschaft der EU - vom Balkan über die Schwarzmeer-Kaukasus-Region, den Nahen und Mittleren Osten bis nach Nordafrika - eher ein Neben- denn ein gezieltes Miteinander von türkischer und EU-Politik. Die Türkei tat ihrerseits auch nichts, um die Lage zu verbessern. Ministerpräsident Erdogan war vielmehr zutiefst enttäuscht, dass die EU nicht in der Lage - aus türkischer Sicht: nicht willens - war, das große Entgegenkommen Ankaras in der Zypernfrage im Frühjahr 2004 entsprechend zu würdigen und nach dem Scheitern des Annan-Plans direkte Handelsbeziehungen mit Nordzypern aufzunehmen. Die Türkei weigerte sich deshalb, ihrer Verpflichtung nachzukommen und das Abkommen über die Zollunion mit der EU auch auf das Neumitglied Zypern auszudehnen. Türkische Häfen und Flughäfen blieben für zyprische Schiffe und Flugzeuge gesperrt. Als Konsequenz fror die EU im Dezember 2006 acht der 35 Verhandlungskapitel ein, die in Beziehung zur Zollunion stehen. Nach 2007 erklärte Paris, dass es weitere fünf Kapitel nicht freigebe, da sie nur für Vollmitglieder relevant seien und die Türkei dies nach französischer Ansicht nicht werden soll. Weitere sechs Kapitel blockierte die Regierung Zyperns im Dezember 2009 aus Verärgerung über das Nichtstun der EU gegenüber der andauernden türkischen Verweigerung in Sachen Zollunion. Im Sommer 2011 standen somit noch drei Kapitel überhaupt für Verhandlungen offen. Diese konnten jedoch nicht beginnen, weil die Türkei aus Sicht der Europäischen Kommission die dafür notwendigen vorbereitenden Maßnahmen noch nicht ergriffen hatte. Die Beitrittsverhandlungen befinden sich also in einer Sackgasse. Um dort wieder herauszukommen, müssten beide Seiten ihre Haltung grundsätzlich revidieren. Dafür aber sehen weder die EU-Staaten noch die Türkei einen überzeugenden Anlass. In der Türkei wächst mit der zunehmenden internationalen Bedeutung und der guten wirtschaftlichen Entwicklung die Meinung, auf die EU-Mitgliedschaft nicht unbedingt angewiesen zu sein. In Europa bleibt der öffentliche Widerstand gegen den Beitritt vor allem in konservativen Kreisen unverändert stark.

Zwei Wochen lang hielten heftige Proteste die türkischen Städte Istanbul, Ankara und Izmir in Atem. Auslöser war die Abholzung von Bäumen im Gezi-Park am Taksim Platz, um für einen Nachbau der Topçu-Kaserne und ein Einkaufszentrum Platz zu machen. Das harte Durchgreifen der Polizeikräfte gegen friedliche Demonstranten setzte eine Gewaltspirale in Gang: Protestierende wurden mit Tränengaspatronen angeschossen, Hunderte von ihnen verhaftet, und es kam zu Zusammenstößen zwischen militanten Gruppen und der Polizei sowie zu gewalttätigen Ausschreitungen – Autos und öffentliche Verkehrsmittel wurden angezündet. Im Vorfeld der Proteste heizte der türkische Premier Erdoğan mit seiner beleidigenden Anspielung auf den Republikgründer Atatürk und seinen langjährigen Weggefährten İnönü zusätzlich die Stimmung an. Das »Gesetz Gottes« verbiete den Alkoholkonsum und sei wichtiger als die »Gesetze von zwei Betrunkenen«. Zuvor hatte die AKP ein Gesetz verabschiedet, das den Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit und die Werbung von Alkohol stark einschränkt. Der Protest für den Erhalt des Gezi-Parks weitete sich zu türkeiweiten Protestaktionen gegen Erdoğan aus, die für die Türkei ungewöhnlich sind und daher große Aufmerksamkeit erregen. Vergleiche mit dem Arabischen Frühling sind jedoch wenig hilfreich. Anders als Ägypten, Libyen oder Syrien hat die Türkei – wenn auch mit Defiziten – eine funktionierende Demokratie, eine lange Tradition demokratischer Wahlen und eine demokratisch gewählte Regierung. Doch wer sind die Protestierenden, was sind die Hintergründe der Proteste und welche Entwicklungen sind zu erwarten? Erdoğan machte linke Gruppierungen und die Republikanische Volkspartei (CHP), die größte Oppositionskraft, für die Proteste verantwortlich und witterte anti-demokratische Motive dahinter. Die CHP stachele die Demonstranten an, weil sie an den Wahlurnen gescheitert sei und keinerlei Hoffnung auf einen Wahlsieg habe. Damit spielte Erdoğan fälschlicherweise auf die Demonstrationen aus dem Jahr 2007 an, mit denen nationalistische Kräfte die AKP schwächen und eine Kandidatur von Abdullah Gül für das Amt des Staatspräsidenten verhindern wollten. Fakt ist jedoch, dass der Großteil der Protestierenden aus urbanen Jugendlichen besteht, die zum ersten Mal an einer Demonstration teilnehmen, fand eine aktuelle Meinungsumfrage heraus. Dieser zufolge besitzen 56 Prozent der Protestierenden auf dem Gezi-Park einen universitären Abschluss, ein Drittel sind Studenten und 50 Prozent berufstätig. 49 Prozent der Befragten haben sich aufgrund der Polizeigewalt entschieden, an den Protestaktionen teilzunehmen, für 14 Prozent waren Erdoğans Äußerungen ausschlaggebend. Sie fordern mehr Freiheit (34 Prozent), die Achtung der Menschenrechte (18 Prozent), mehr Demokratie (acht Prozent) und ein kleiner Teil den Rücktritt der Regierung (neun Prozent).

Viele der Protestierenden gehören einer neuen Mittelschicht an, die Resultat der Wirtschaftspolitik der AKP-Regierung ist. Wenngleich an Protestaktionen auch Anhänger politischer Parteien wie etwa der CHP, der prokurdischen Partei BDP, linker Gruppierungen oder »Links-Kemalisten« teilnehmen, will die Mehrheit mit den etablierten Parteien nichts zu tun haben. Den Großteil der ethnisch, kulturell und politisch unterschiedlichen Gruppierungen mit jeweils eigenen Forderungen eint die Ablehnung von Erdoğans polarisierend autoritärem Führungsstil. Aufgrund der Wirtschaftsleistung unter der AKP-Regierung kommen die Protestaktionen für viele überraschend daher. Wenngleich es bei den Protesten nicht um wirtschaftliche Belange geht und die Proteste kaum antikapitalistische oder kapitalismuskritische Komponenten beinhalten, so spielt Wirtschaft doch eine indirekte Rolle. Im Zuge der Wirtschaftsentwicklung der letzten zehn Jahre hat sich in der Türkei eine starke Mittelschicht herausgebildet und die Kaufkraft der Massen ist deutlich gestiegen. Es gibt 67 Millionen Mobilfunkanschlüsse und die Nutzung sozialer Medien wie Facebook oder Twitter ist ebenfalls weit verbreitet, die auch bei den Protestaktionen eine wichtige Rolle spielen. Gleichwohl konnte auch die positive Wirtschaftsentwicklung die Polarisierung der türkischen Gesellschaft entlang kultureller Linien kaum entschärfen. Das Wirtschaftswachstum ging mit dem Aufstieg neuer sozialer Gruppen einher, deren Wertesystem im Islam verwurzelt und deren Lebensstil konservativ-puritanisch geprägt ist. Gleichzeitig begünstigte die Wirtschaftsentwicklung die Entstehung einer starken Mittelschicht, die mit der konservativen Wende unzufrieden ist und mehr Demokratie und individuelle Autonomie fordert. Die AKP-Regierung wird auch kritisiert, bei der Vergabe von Staatsaufträgen an Baufirmen oder bei der Besetzung von staatlichen Ämtern Personen mit religiös konservativem Lebensstil zu bevorzugen, was die Verdrängungsängste säkular-liberaler Bevölkerungsteile weiter nährt. Für Unmut sorgen auch gigantische Bauprojekte, die mit Vetternwirtschaft und Korruption in Verbindung gebracht werden. Zu den politischen Ursachen der Proteste gehört auch der Stillstand der Demokratisierung. Die AKP ging aus den Wahlen im Jahr 2002 und in den folgenden zwei Parlamentswahlen als Siegerin hervor, weil sie mehr als jede Partei zuvor Demokratisierung versprach. Die AKP-Regierung setzte die im Zuge der Verhandlungen mit der Europäischen Union begonnene Demokratisierung fort, mobilisierte die Unterstützung islamistisch-konservativer Bevölkerungsteile für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei und überzeugte sie von der Notwendigkeit unpopulärer Wirtschaftsreformen. Neben einer deutlichen Beschneidung der Machtposition des Militärs wurden demokratische Rechte und individuelle Freiheiten ausgeweitet. Die Versuche der alten politischen Klasse, der Justiz und der Presse, die AKP-Regierung und Erdoğan durch Massenprotesten (2007) und ein AKP-Verbot (2008) zu schwächen, schlugen zwar fehl, aber die aufgeheizten Diskurse förderten ein unversöhnliches Lagerdenken. Die AKP-Regierung setzte die Wirtschaftsliberalisierung und den EU-Reformprozess fort und brach die Hegemonie der autoritären etablierten Eliten und Institutionen nachhaltig. Sie wollte aber die Tradition des paternalistischen Staates nicht ersetzen und entwickelte sich zunehmend von einer reformierenden in eine konservative Kraft, die auf Konsolidierung eigener Macht aus zu sein scheint. Mit seinem autoritären Führungsstil zog Erdoğan den Zorn säkular liberaler Bevölkerungsteile auf sich. In den letzten Jahren nahmen die Menschenrechtsverletzungen, Einschränkungen der Presse- und Redefreiheit zu. Journalisten wurden von Erdoğan öffentlich gescholten und verloren anschließend ihren Job, Medieninhaber wirtschaftlich unter Druck gesetzt. Gegen kurdische Bürgermeister oder kritische Journalisten wurden mit dem Vorwurf, Mitglied einer Terrororganisation zu sein, Prozesse geführt und Haftstrafen verhängt. So schuf Erdoğan eine Distanz zwischen sich und großen Teilen der türkischen Bevölkerung. Mit seinem »Kulturkampf von oben« trieb Erdoğan die Polarisierung der Gesellschaft entlang kultureller Linien weiter an. Die Geschichte der modernen Türkei ist geprägt durch das Streben nach Modernisierung, um Anschluss an die europäischen Mächte zu finden. Im Zuge dieser Modernisierung »von oben«, die mit der Weltmarktintegration zusammenfiel, kam es zu einem Aufeinandertreffen autochthoner Wirtschaftssysteme und traditioneller gesellschaftlicher und politischer Strukturen in der Türkei mit der europäisch-kapitalistischen Moderne, das nachhaltige gesamtgesellschaftliche Spannungen hervorgerufen hat. Die säkularen Reformen nach der Republikgründung sollten die Religion aus dem öffentlich-staatlichen Bereich zurückdrängen und einen von »irrationalen« und religiösen Elementen freien öffentlichen Bereich schaffen. Nach dem Übergang zum Mehrparteiensystem ist es Islamisten gelungen, zunächst unter der Schirmherrschaft von konservativ liberalen Mitte-Rechts-Regierungen, später in den 1990ern eigenständig, den radikalen Laizismus zurückzudrängen, den Islam als einen politischen Faktor zu rehabilitieren und den politischen Diskurs zu bestimmen. Verstand die AKP anfangs, eine Antwort auf die Herausforderungen der neoliberalen Marktwirtschaft und der Globalisierung zu geben ohne die islamische Tradition zu vernachlässigen, ist es ihr letztendlich nicht gelungen, den seit der Republikgründung schwelenden Kulturkampf zwischen traditionell-konservativ und säkular-liberal orientierten Bevölkerungsteilen zu entschärfen. Erdoğans Plädoyer an junge Frauen, mindestens drei Kinder zu gebären, seine Ankündigung, eine religiöse Jugend heranziehen zu wollen, sein Vorstoß, Abtreibungen zu verbieten sowie zuletzt die Verabschiedung eines Gesetzes zur Einschränkung des Alkoholkonsums in der Öffentlichkeit wurden von den städtisch säkularen Bevölkerungsteilen als Einmischung in ihr Privatleben wahrgenommen. Er unterstellte der beliebten historischen Fernsehserie Muhteşem Yüzyıl (Das prächtige Jahrhundert), den Osmanischen Herrscher Süleyman den Prächtigen als lasterhaft zu porträtieren und rief die Staatsanwälte auf, gegen die Sendung vorzugehen. Zur Polarisierung trug in den vergangenen Monaten auch der Unwille bei, das Cem-Haus, in dem Aleviten ihre religiösen Zeremonien abhalten, als offizielles Gotteshaus anzuerkennen. Für Unmut in der alevitischen Bevölkerung sorgte Erdoğan auch mit seiner Anspielung auf die alevitische Herkunft von Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der Oppositionspartei CHP. Den Höhepunkt politischer Unsensibilität bildet die Entscheidung, die dritte Bosporus-Brücke nach dem osmanischen Herrscher Yavuz Sultan Selim zu benennen, der für die Verfolgung von Aleviten im 16. Jahrhundert verantwortlich war. Erdoğans konfrontativer Kurs rührt größtenteils von seiner falschen Auslegung der Protestaktionen und stieß auch innerhalb der AKP auf Kritik. Bereits in den ersten Tagen hatten Staatspräsident Abdullah Gül und Vizepräsident Arınç sich mit versöhnlichen Tönen von Erdoğan abgesetzt. Gleichwohl wäre von Gül zu erwarten, noch stärker ein Gegengewicht zu Erdoğan zu bilden. Stattdessen hat er am 10. Juni 2013 das umstrittene Gesetz zur Neuregelung des Alkoholverkaufs unterzeichnet. Arınç traf sich mit den Vertretern der Plattform »Solidarität mit Taksim«, die die Beibehaltung des Gezi-Parks, die Absetzung der Gouverneure der Städte Istanbul, Ankara und Hatay und die Öffnung des Taksim- und des Kızılay-Platzes in Ankara für Protestkundgebungen forderten. Es konnte kein Durchbruch erzielt werden, der Taksim-Platz wurde durch einen massiven Gewalteinsatz der Polizeikräfte geräumt. Erdoğans Treffen mit Vertretern der Taksim-Plattform und Künstlern in der späten Nacht am 13. Juni hat zunächst eine »Entschärfung« des Konflikts herbeigeführt. Die Regierung werde nach dem endgültigen Gerichtsurteil eine Volksbefragung zum Bauvorhaben auf dem Gezi-Park durchführen, hieß es im Anschluss an das Treffen, und die Taksim-Plattform bekräftigte erneut ihre Forderungen. Eine nachhaltige Lösung des Problems wird davon abhängen, wie Erdoğan und die Regierung die Protestaktionen verarbeiten und mit den Verantwortlichen umgehen werden. Die Proteste symbolisieren nicht nur ein soziales, sondern auch ein strukturelles Bedürfnis nach mehr Demokratie, Pluralismus und persönlicher Autonomie. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei liegt aktuell ca. bei 17.000 Dollar und damit auf einem kritischen Niveau. Will die AKP-Regierung die Wirtschaftsentwicklung der letzten zehn Jahre fortsetzten, muss sie das Gesellschafts- und Wachstumsmodell auf mehr individuelle Freiheiten und Autonomie umbauen, andernfalls wird sie einen Rückschritt riskieren. Inwieweit die AKP-Regierung der Forderung nach mehr Demokratie nachkommen wird, bleibt abzuwarten. Dies wird auch von der Politikfähigkeit der Protestbewegung und der Oppositionspartei CHP abhängen, die zurzeit noch schwach und unfähig ist, Wähler aus dem konservativen Lager zu mobilisieren. Zu ambivalent ist ihre Position in der Kurdenfrage und große Teile der CHP sperren sich dagegen, "Nation" neu zu definieren. Die AKP und der türkische Premier Erdoğan werden es schwieriger haben als bisher – sowohl national als auch international. Erdoğan kann sein stark angekratztes Image nur durch eine weitere Demokratisierung und Befriedung der Kurdenfrage aufpolieren.

Die Pressefreiheit ist in der Türkei – ebenso wie die Meinungsfreiheit – verfassungsrechtlich gewährleistet. In Abschnitt X der türkischen Verfassung ist in Artikel 28 die Pressefreiheit wie folgt geregelt: "Die Presse ist frei, Zensur findet nicht statt. (...) Der Staat trifft die Maßnahmen zur Gewährleistung der Presse- und Informationsfreiheit." Im gleichen Artikel werden aber auch Nachrichten oder Schriften nach Maßgabe der Strafgesetzgebung unter Strafe gestellt, wenn sie die innere und äußere Sicherheit des Staates, die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk bedrohen; wenn sie zur Begehung einer Straftat oder zu Aufstand oder Aufruhr ermuntern oder im Zusammenhang mit geheimen Informationen des Staates stehen. Auch Verfahren, mit denen der Vertrieb von Presseangeboten verboten werden kann, werden in diesem Artikel geregelt. Weitere Regelungen dienen dem Schutz des guten Rufs oder der Rechte des Privat- oder Familienlebens anderer und der Verhinderung von Straftaten bzw. der Bestrafung von Straftätern. Zusätzliche Einschränkungen enthält das Strafgesetz, speziell in Artikel 301, der bis zu seiner Änderung im Jahr 2008 die Beleidigung des Türkentums, der Republik und bestimmter staatlicher Institutionen unter Strafe stellte. Prominente Opfer dieser Vorschrift wurden u. a. der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und der türkische Zeitungsverleger armenischer Abstammung Hrant Dink, der im Jahre 2007 ermordet wurde. Beide hatten über den Genozid an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916 geschrieben und sich damit der Beleidigung des Türkentums strafbar gemacht. Diesem Verfahren wird eine Schlüsselrolle für die anschließenden Bemühungen der Türkei zugesprochen, ihre Gesetzgebung an den EU-Standards für den Schutz der Presse- und Meinungsäußerung auszurichten. Im Jahre 2008 wurden die Strafvorschriften leicht geändert: Die Begriffe "Türkentum" und "Republik" wurden juristisch in "Türkische Nation" und "Republik Türkei" präzisiert, entsprechende Verfahren dürfen nur noch mit Erlaubnis des Justizministers eingeleitet werden und die Höchststrafe wurde von drei auf zwei Jahre herabgesetzt. Auch eine ausgesprochene Freiheitsstrafe kann daher nach Ermessen des Gerichts aufgeschoben werden. Nach Aussage des Rechtsanwalts Fikret Ilkiz - der u.a. den 2011 verhafteten Journalisten Ahmet Şik vertrat - ist die Zahl der Strafverfahren, die unter Berufung auf Art. 301 eröffnet wurden, seitdem zurückgegangen. Es gilt zwar nach wie vor, dass Meinungsäußerungen, die "mit der Absicht der Kritik erfolgten", keine Straftat darstellen, die "Herabsetzung" der Nation, der Regierung oder auch der Streitkräfte ist aber weiterhin strafbar. Wichtige Regelungen enthält das Pressegesetz aus dem Jahre 2004. Es löste das alte Pressegesetz aus dem Jahre 1950 ab, das wegen seiner Beschränkungen der Pressefreiheit kritisiert und als Hindernis für einen EU-Beitritt der Türkei angesehen wurde. Es regelt u. a. den Informantenschutz, das Gegendarstellungsrecht, erschwert das Beschlagnahmen von Zeitschriften und reduzierte das Strafmaß für verschiedene Strafen. Zudem wurde die staatliche Aufsicht über die Presse abgeschafft und stattdessen der türkische Presserat als freiwillige Selbstkontrolleinrichtung eingeführt. Der türkische Markt für Printmedien ist mit 55 nationalen, 23 regionalen und 2.381 lokalen Tageszeitungen und einer Gesamtzahl von über 5.000 Titeln durch eine große Angebotsvielfalt geprägt. Die auflagenstärksten und einflussreichsten Tageszeitungen wie z. B. Zaman, Posta, Hürriyet, Sabah und Milliyet gehören Konzernen wie Doğan, Merkez, Çukurova Ihlas Dogus oder der Feza Group. Begonnen hat diese Entwicklung in den 1970er-Jahren, als sich große Wirtschaftsunternehmen in den Zeitungssektor und in den 1990er-Jahren auch in den Rundfunksektor einkauften. Die Einbindung dieser Zeitungen in große Konzerne, die neben dem Mediengeschäft auch auf anderen Wirtschaftssektoren engagiert sind, birgt Gefahren für die Pressefreiheit: Für diese Unternehmen ist es aus vielerlei Gründen wichtig, gute Beziehungen zu Regierungsstellen zu pflegen, etwa wenn es um Regierungsaufträge oder regulatorische Fragen geht. Das erschwert eine kritische journalistische Berichterstattung in den konzerneigenen Medien, die diese Beziehungen stören könnte. Für die Journalisten kann das bedeuten, dass sie aus Gründen der Konzernraison auf eine kritische Berichterstattung verzichten, um ihre Anstellung nicht zu gefährden. Hierzu genügt oftmals sanfter Druck "von oben". Berichtet wird darüber hinaus von Entlassungen regierungskritischer Journalisten, die auf Interventionen aus Regierungskreisen zurückzuführen sind. In den letzten Jahren war zu beobachten, dass Medienkonzerne in das Eigentum großer Unternehmensgruppen übergegangen sind, die der seit 2002 regierenden AKP  nahe stehen. Ein prominenter Fall vermeintlich staatlicher Repression gegen regierungskritische Medienkonzerne ist jener der Doğan Media Group, gegen die türkische Behörden 2011 wegen angeblicher Steuerhinterziehung eine Strafe von knapp 2,2 Milliarden Euro verhängten. Die Mediengruppe wurde dadurch u.a. gezwungen, die auflagenstarken Zeitungen Milliyet und Vatan und den Fernsehsender Star TV zu verkaufen, um die nötigen liquiden Mittel aufzubringen. Damit wurde zugleich der publizistische Einfluss der Gruppe geschmälert und die Pressefreiheit über das Steuerrecht ausgehebelt und verletzt. Über die abschreckende und disziplinierende Wirkung dieses statuierten Exempels auf die konzerngeprägte Presselandschaft erlangte der Fall eine Breitenwirkung, die der Pressefreiheit in der Türkei insgesamt einen bleibenden Schaden zufügte. Eine manifeste Gefahr für die Pressefreiheit in der Türkei geht von dem Anti-Terror-Gesetz und dessen Anwendung durch die Gerichte auf Journalisten aus. Ihm sind eine Vielzahl von Journalisten zum Opfer gefallen, die teils über längere Zeiträume ohne ordentliches Gerichtsverfahren inhaftiert wurden oder die zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind. In Art. 6 und 7 des Anti-Terror-Gesetzes werden das Drucken oder Ansagen von Propaganda im Namen einer terroristischen Organisation zum Verbrechen erklärt. In der Anwendung durch die Gerichte hat das zur Folge, dass z. B. schon die neutrale Berichterstattung über einen Terroranschlag den Tatbestand des Gesetzes erfüllen und zu einer Bestrafung führen kann. Das Gesetz gibt die Grenzen der Strafbarkeit nicht präzise vor und lässt den rechtsanwendenden Instanzen sehr viel Beurteilungsspielraum. Dieser wird oftmals von Richtern, die häufig aus der Ministerialverwaltung rekrutiert werden, zu Lasten der Journalisten genutzt. Aufgrund ihrer beruflichen Sozialisation neigen sie nicht dazu, die Gesetze grundrechtskonform und unter Berücksichtigung der Pressefreiheit auszulegen. Sie tendieren eher dazu, Vorgaben aus dem politischen Raum – sei es von der Regierung, sei es von der regierenden AKP  – umzusetzen. Dabei spielt auch die oft sehr kritische Haltung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan gegenüber Medien eine große Rolle. Die zahlreichen Inhaftierungen und Verurteilungen von Journalisten führten in der Folge zu einer Vielzahl von Gerichtsverfahren, in denen die Türkei vor dem EGMR wegen Verletzung der Pressefreiheit angeklagt und verurteilt worden ist. Auch die Fortschrittsberichte der EU, in denen die Europäische Kommission periodisch die Übereinstimmung der Rechtsordnung der Beitrittskandidaten mit den in der EU geltenden Standards überprüft und dabei auch den Schutz der Menschenrechte und insbesondere der Pressefreiheit thematisiert, haben im Falle der Türkei stets zu Beanstandungen dieser Entwicklung geführt. Schließlich haben auch Aktivitäten international tätiger Organisationen wie des International Press Institute (IPI) in Wien oder des Committee to Protect Journalists (CPJ) immer wieder auf diese Missstände hingewiesen. Auch unter diesem Druck kam eine Novellierung des Anti-Terror-Gesetzes in mehreren Reformpaketen zustande, die aber bis heute noch nicht dem Schutz der Pressefreiheit nach dem Standard europäischer Rechtsordnung Rechnung trägt. Erst jüngst hat deshalb der Stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arınç eine erneute Änderung des Anti-Terror-Gesetzes angekündigt, bei der insbesondere der Begriff der Propaganda präzisiert werden soll. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die Novellierungen des Anti-Terror-Gesetzes immer hinter den Anforderungen zurückblieben und letztlich nicht verhindert haben, dass die Türkei immer noch zu den Ländern mit der höchsten Zahl inhaftierter Journalisten zählt. Es ist nicht die vage Gesetzgebung allein, es ist vor allem die Auslegung und Anwendung des Gesetzestextes, bei der die Richter den Stellenwert der Pressefreiheit berücksichtigen müssten, was sie jedoch häufig nicht tun. Ein Beleg hierfür ist der Ergenekon-Prozess,der durch die Verhaftung der Journalisten Ahmet Şik und Nedim Şener am 5. März 2011 traurige Berühmtheit erlangte. Unter den 254 Angeklagten, die ein Gericht in Istanbul am 5. August 2013 zu Haftstrafen verurteilt hatte, befanden sich auch fast zwei Dutzend Journalisten. Lediglich einer der 24 angeklagten Journalisten wurde freigesprochen, gegen die restlichen 23 Journalisten wurden langjährige Haftstrafen verhängt, die von 5 Jahren und 4 Monaten bis lebenslänglich reichen. Es ist zu befürchten, dass die Signalwirkung dieses Urteils dazu führt, dass Journalisten weiterhin eingeschüchtert und von einer kritischen Berichterstattung abgehalten werden, weil ihnen sonst Strafverfolgung und Verurteilung drohen. Ändern wird sich dieser Zustand erst, wenn – abgesehen von erforderlichen Änderungen der Gesetzgebung – die Richterschaft bei ihren Urteilen die Presse- und Meinungsfreiheit respektiert. Ob die Justiz zu einem solchen Bewusstseinswandel fähig ist, wird sich zeigen, wenn über die eingelegten Rechtsmittel in der nächsten gerichtlichen Instanz entschieden wird. Ergebnis der zuvor dargestellten Aktivitäten ist allerdings auch, dass sich die Zahl der inhaftierten Journalisten verringert hat. Wurden Ende 2012 noch 76 inhaftierte Journalisten gezählt, so hat sich diese Zahl inzwischen deutlich reduziert. Zu beachten ist allerdings, dass eine Reihe von Journalisten nur vorläufig auf freien Fuß gesetzt und ihr Verfahren noch nicht zu einem endgültigen Abschluss gebracht wurde. Das bedeutet, dass sie immer noch unter dem Damoklesschwert einer drohenden Verurteilung stehen. Dass sie unter diesen Voraussetzungen in ihrer Arbeit nicht frei sind sondern im Wege der Selbstzensur bemüht sein werden, keine Veranlassung zu weiterem gerichtlichen Vorgehen gegen sie zu geben, liegt auf der Hand. Auch eine solchermaßen vergiftete Pressearbeit gehört zu den Rahmenbedingungen, unter denen Journalisten in der Türkei ihre Arbeit verrichten müssen. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Pressefreiheit in der Türkei immer noch starken Einschränkungen unterliegt. Zwar sind Bemühungen der Regierung anzuerkennen, bestehende Defizite in der Gesetzgebung und im Justizwesen zu beseitigen. Nach wie vor müssen jedoch Journalisten Übergriffe der Justiz fürchten, die unscharfe Straftatbestände vor allem im Anti-Terror-Gesetz dazu nutzt, Journalisten ins Gefängnis zu werfen und zu z.T. mehrjährigen Freiheitsstrafen zu verurteilen. Weitere Gefahren gehen von pressefeindlichen Äußerungen aus Regierungskreisen aus, die von der Justiz als Ermunterung zu schärferem Vorgehen gegen Journalisten verstanden werden und in Medienkonzernen zu Formen vorbeugender Selbstzensur bis hin zur Entlassung nicht willfähriger, kritischer Journalisten führen. Es wird deshalb noch vieler Anstrengungen bedürfen, bis der Schutz der Pressefreiheit in der Türkei den EU-Anforderungen entspricht.

Die Armenier gehören zu den ursprünglichen Bevölkerungsgruppen Ostanatoliens und des südlichen Kaukasus. Ihre Geschichte lässt sich bis in das 7. Jahrhundert v. Chr. zurückverfolgen. Ihre verschiedenen Königreiche und Fürstentümer standen dabei häufig in Abhängigkeit oder unter der Vorherrschaft mächtiger Nachbarreiche, insbesondere Persiens, Byzanz‘ sowie später unter arabischem Einfluss. Im Jahr 301 n. Chr. erklärte König Tiridates III. (286-344) das Christentum zur Staatsreligion. Armenien wurde somit zum ersten christlichen Staat der Welt. Die Armenische Apostolische Kirche, die zu den Altorientalischen Kirchen gezählt wird, ist bis heute eigenständig. Ihr Hauptsitz ist in Etschmiadzin in Armenien, wo auch der Katholikos aller Armenier als geistliches Oberhaupt residiert. Der Katholikos des Hohen Hauses von Kilikien, dessen ursprünglicher Sitz in Sis (heute Kozan) lag, residiert seit dem Völkermord im Jahr 1915 in Antelias nahe Beirut. Außerdem besteht das Patriarchat der Armenisch Apostolischen Kirche in Konstantinopel, also in Istanbul und das Patriarchat in Jerusalem.

Eine zentrale Zäsur in der armenischen Geschichte war die Eroberung Armeniens im 11. Jahrhundert durch die aus Zentralasien kommenden turkstämmigen Seldschuken. Damit begann die Geschichte der Teilung und unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen eines Ost- und Westarmeniens: Ostarmenien, die heute unabhängige Republik Armenien, blieb zunächst unter persischem und seit dem Ende des russisch-persischen Krieges im Jahr 1828 unter russischem Einfluss; Westarmenien, das heutige Ostanatolien, blieb unter der Herrschaft der Turkstämme und wurde schließlich in das um 1300 von Osman I. gegründete Osmanische Reich integriert.

Die Eroberung Armeniens durch die Seldschuken bezeichnet gleichsam auch den Beginn der weltweiten Zerstreuung, der Diaspora der Armenier. Weit verzweigt in Europa und über Europa hinaus entstanden Diasporagemeinden: Lemberg, Amsterdam, Venedig, Rom, Marseille, Konstantinopel, Moskau, Tiflis oder Nor Djugha (Isfahan), Madras und Kalkutta. Am Anfang der Geschichte der armenischen Diaspora steht allerdings die Gründung eines Königtums in Kilikien, mit Königssitz in Sis, im Jahr 1080, das für dreihundert Jahre einer außergewöhnlich reichen kulturellen Blüte Raum gab. Die Eroberung des Königreichs Kilikien im Jahr 1375 bezeichnete schließlich das Ende der Geschichte eines Armeniens als territorialer und politischer Einheit.

Trotz dieser Entwicklungen blieben die Armenier in den Gebieten ihrer ehemaligen Königreiche und Fürstentümer bis zum Völkermord des Jahres 1915weiterhin eine große Bevölkerungsgruppe, in einigen Regionen stellten sie sogar die relative Bevölkerungsmehrheit. Nach einem ersten, zwischen 1844 und 1867 erhobenen offiziellen Zensus der osmanischen Regierung lebten zu dieser Zeit etwa 2,4 Millionen Armenier im Osmanischen Reich. Bereits seit den 1870er-Jahren war jedoch schon ein deutlicher Rückgang der armenischen Bevölkerung festzustellen. Den Massakern, die Sultan Abdülhamid II. (reg. 1876-1909) in den 1890er-Jahren anordnete, fielen nicht nur mehr als 200.000 Armenier zum Opfer, sie lösten auch große Auswanderungswellen aus. Die Angaben über die Stärke der einzelnen Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich, unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg variieren deutlich: Der offizielle Zensus der osmanischen Regierung im Jahr 1914 nannte, bei einer Gesamtgröße der Bevölkerung des Osmanischen Reichs von ca. 20 Millionen Menschen, 13,4 Millionen Muslime – für sie wurde anders als für die nicht-muslimischen Gemeinschaften, keine ethnische Unterscheidung vorgenommen – und 1.225.422 Armenier. Ein vom Armenischen Patriarchat zwischen Februar 1913 und August 1914 erhobener, auf Kirchenbüchern und Taufregistern beruhender Zensus bezifferte die Anzahl der Armenier im Osmanischen Reich dagegen auf 1.914.620 Menschen.

Mit der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 hatte sich die osmanische Herrschaft über Kleinasien endgültig konsolidiert. Unter der Herrschaft der Osmanen wurde eine auf den islamischen Rechtsvorstellungen der Scharia basierende Gesellschaftsordnung etabliert, das sogenannte "Millet-System" (von arab. milla = Religionsgemeinschaft). Das Millet-System definierte und regelte die rechtliche Stellung von nicht-muslimischen Gemeinschaften, wobei der Millet-Status nur den sogenannten "Religionen des Buches", dem Judentum und Christentum, zuerkannt wurde. Geprägt war dieses System von einer grundlegenden Nicht-Gleichstellung von Muslimen und Nicht-Muslimen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Besonders drastische Auswirkungen hatte dies im rechtlichen Bereich, da etwa die Zeugenschaft von Nicht-Muslimen gegenüber Muslimen vor Gericht nicht anerkannt war. Außerdem war es Nicht-Muslimen im Gegensatz zu Muslimen nicht erlaubt Waffen zu tragen. Bei dieser, in der Forschungsliteratur häufig als Toleranzsystem beschriebenen Gesellschaftsordnung, die den nicht-muslimischen Gemeinschaften tatsächlich ein Überleben und eine Fortexistenz ermöglichte, handelte es sich insgesamt um ein System der Über- und Unterordnung, das für die Nicht-Muslime mit Stigmatisierungen und Demütigungen einherging. Die Armenier im Osmanischen Reich, die um 1460 mit der Einrichtung des armenischen Patriarchats von Konstantinopel (Istanbul) unter dem osmanischen Sultan Mehmet II. (1432-1481) den Status eines Millets erhalten hatten, galten dabei lange als das millet-i sadika, als das treue Millet. Zahlreiche Armenier genossen das Vertrauen des Sultans und standen in seinen Diensten. So gehörten viele einflussreiche Bankiers der Sultansfamilie zur armenischen Oberschicht. Auch als Architekten von Moscheen und öffentlichen Bauten für den osmanischen Sultan gelangten Armenier zu gesellschaftlichem Ansehen. Zu nennen ist hier vor allem die Balyan-Familie, deren zahlreiche Gebäude – darunter auch der Dolmabahçe-Palast, seit Mitte des 19. Jahrhunderts Residenz der Sultane – bis heute das Stadtbild Istanbuls prägen. Eine Entwicklung der armenischen Gemeinschaft selbst konnte unter den Restriktionen des millet-Systems nur bedingt stattfinden. Die armenische Landbevölkerung in den Provinzen des Osmanischen Reichs war sowohl der Gewalt kurdischer Clans als auch der Willkür von Großpächtern ausgesetzt, denen das Land zu Verwaltung anvertraut war. Als im Jahr 1839 vor dem Hintergrund der außen- und innenpolitischen Krise des Reichs umfassende Reformen angestrebt wurden (Tanzimat = "Neuordnung"), gehörte dazu auch das Versprechen einer Gleichstellung der Nicht-Muslime mit den Muslimen. Damit begann eine Periode der Aufklärung für die armenische Gemeinschaft, armenisch Sarthong ("Erwachen"), die den Zeitraum zwischen dem frühen 19. Jahrhundert. So war mit der Wende zum 19. Jahrhundert in relativ kurzer Zeit besonders in Konstantinopel eine Blüte des kulturellen Lebens entstanden: Eine Mittelschicht, die sich aus den Handwerkszünften entwickelt hatte, war einflussreicher geworden, auch ihre finanzielle Kraft wuchs beständig. Die armenischen Gemeinden im Osmanischen Reich verfügten um 1860 über ein dichtes Netz von mehr als 70 Schulen. Viele dieser Schulen, deren Zahl bis 1914 auf mehr als 1000 anstieg, unterrichteten neben den Hauptsprachen Armenisch und Türkisch auch Italienisch und Französisch. Es waren Museen entstanden, Kulturvereine, öffentliche Bibliotheken, ein Krankenhaus. Eine Vielzahl an Zeitungen, die in engem Kontakt mit Europa standen, besonders mit Paris, berichteten über die Bedürfnisse und die Hoffnungen der Armenier. Dieses kulturelle Erwachen führte auch dazu, dass Armenier große Bedeutung für die Kultur und Künste im Osmanischen Reich gewannen und zu den Pionieren einer Modernisierung in den Bereichen der Musik, der bildenden Künste und Fotografie, aber auch im Bereich des Theaterwesens gehörten. So wurde das erste gewerbliche Theater im Osmanischen Reich, das 1861 eröffnete Arevelyan Thatron (Orientalisches Theater), von dem Armenier Güllü Agop gegründet. Um den Bereich der Musik und Musiktheorie hat sich etwa Hampartsoum Limondjian (1768-1839) verdient gemacht. Neben seiner Leistung als Komponist von armenischer Sakralmusik entwickelte er ein System zur Notation für armenische und klassische osmanische Musik. Mit diesem Prozess ging auch ein politischer Aufbruch einher, der zuvorderst auf eine Modernisierung der traditionell religiös geprägten Gemeinschaft zielte. So erarbeiteten die Armenier ein Gemeindestatut, das eine säkulare Reformierung der Gemeindestrukturen einleiten sollte. 1863 wurde sogar eine sogenannte "Nationalversammlung" innerhalb der kirchlichen Millet-Strukturen errichtet.Vor dem Hintergrund einer sich zusehends verschlechternden Situation in den armenischen Siedlungsgebieten wurden schließlich aber auch Forderungen nach politischer Partizipation und nach Schutz der Gemeinschaft vor Willkür und Übergriffen durch die muslimische Bevölkerung formuliert. Getragen wurden diese Forderungen dabei zuvorderst von sozialistisch orientierten Parteien, die von Armeniern in Genf und Tiflis gegründet worden waren. Die gegen die Gewaltherrschaft Sultan Abdülhamids II. gerichtete Zusammenarbeit dieser Gruppierungen mit der jungtürkischen Opposition, von der man sich dann nach der Revolution im Jahr 1908 Emanzipation und Reformen erhoffte, sollte sich jedoch als Enttäuschung erweisen. Dieser kulturelle, gesellschaftliche und politische Aufbruch wurde in den Jahren 1915/16 durch den Völkermord, dem Schätzungen zufolge zwischen 800.000 und über 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fielen, radikal beendet. Nach dem Völkermord befand sich die Gemeinschaft der Überlebenden in einer prekären Situation, denn die Verfolgung der Armenier setzte sich auch nach 1916 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und darüber hinaus in den anschließenden "Türkischen Befreiungskriegen" fort bis zu dem Lausanner Vertrag vom 24. Juli 1923. Mit dem Lausanner Vertrag wurden die Bestimmungen des am 10. August 1920 geschlossenen Friedensvertrags von Sèvres, der unter anderem die Gründung eines armenischen Staates (sowie auch eines kurdischen Autonomiegebiets) in Ostanatolien vorgesehen hatte, revidiert. Im Lausanner Vertrag wurden den nicht-muslimischen "Minderheiten" der Türkei lediglich gleiche Rechte wie den muslimischen Staatsbürgern zuerkannt. Insgesamt lässt sich die von der Republik Türkei seit 1923 gegenüber ihrer armenischen Bevölkerungsgruppe wie auch anderer nicht-muslimischer Gemeinschaften verfolgten Politik dahingehend charakterisieren, dass sie nicht auf eine Stärkung der Gemeinschaft gerichtet war, sondern eher auf eine weitere Schwächung, insbesondere auf eine Schwächung der Bildungseinrichtungen und Institutionen der Gemeinschaft sowie der Wirtschaftskraft ihrer Mitglieder. Ein Rahmen dieser Politik wurde bereits auf dem Wirtschaftskongress des Jahres 1923 in Izmir (İzmir İktisat Kongresi) gelegt. Hier wurde eine Direktive für die Wirtschaftspolitik der neu gegründeten Republik beschlossen, die explizit auf eine Stärkung türkischer Unternehmer und einen darauf abgestellten Kapitaltransfer zielte. Damit war die Grundlage für die Einführung rigoroser Sondersteuern geschaffen, von denen die nicht-muslimischen Bürger, in türkischen Statistiken als içimizdeki yabancılar (Innere Fremde) geführt, in besonderer Weise getroffen wurden. Begründet mit einem möglichen Eintritt der Türkei in den Zweiten Weltkrieg wurde im Jahr 1942 etwa eine Vermögenssteuer, Varlık Vergisi, für Unternehmer und Geschäftsleute eingeführt, die verheerende Auswirkungen für die nicht-muslimischen Bürger der Türkei hatte. Denn während die Besteuerung der muslimischen Bürger in der Praxis bei einem Satz von fünf Prozent lag, lagen die Besteuerungsquoten bei Nicht-Muslimen um das zehn- bis fünfzehnfache höher. Bis zur Wiederabschaffung dieser Steuer im Jahr 1944 hatten viele Nicht-Muslime ihr gesamtes Vermögen an die Staatskasse verloren – oder waren bei Zahlungsunfähigkeit in Arbeitslager verschickt worden.

Eine Fortsetzung fand diese Politik nicht zuletzt auch in den Plünderungen vom 5./6. September 1955 während der Pogrome anlässlich der Zpernkrise Zu einer weiteren Schwächung trugen nach 1970 erfolgte weitgreifende Enteignungen von Immobilien armenischer Institutionen bei. Diese Politik, insbesondere aber die Pogrome des Jahres 1955 gegen Griechen und Armenier in Istanbul, verursachten eine große Auswanderungswelle. In jüngerer Zeit hat diese Politik, die zu weitreichenden Einschränkungen für die armenische Gemeinschaft geführt hatte, allerdings Veränderungen erfahren. So sind einige der enteigneten Stiftungsgüter an die armenische Gemeinschaft zurückgegeben worden. Von symbolischer Wirkkraft war die Restaurierung der im 10. Jahrhundert erbauten armenischen Kirche zum Heiligen Kreuz auf der Insel Akhtamar (im Türkischen: Akdamar) im Vansee. Zudem werden die oben angeführten, lange Zeit in der Türkei tabuisierten diskriminierenden Maßnahmen gegen die nicht-muslimischen Gemeinschaften heute zunehmend in Medien und Öffentlichkeit thematisiert. Dies gilt auch für die Gewaltpolitik der Jahre 1915/16 gegen die Armenier, die in jüngster Zeit, auch wenn von offizieller Seite weiterhin die Qualifizierung als Genozid tabuisiert und eine Vernichtungsabsicht bestritten wird, zu einem vieldiskutierten Thema in der Türkei geworden ist.

Heute leben ca. 70.000 Armenier in der Türkei, fast ausschließlich in Istanbul. Zudem gibt es dort noch ca. 3.000 katholische Armenier und eine noch geringere Anzahl protestantischer Armenier. In Istanbul besteht weiterhin das armenische Patriarchat mit dem höchsten Repräsentanten der Gemeinschaft in der Türkei. Die Gemeinschaft in Istanbul ist heute trotz aller Einschränkungen gut organisiert und verfügt über eine Infrastruktur mit mehr als 30 Kirchen, einem Krankenhaus und sechzehn Schulen, in denen auch die armenische Sprache gelehrt wird. Aufgrund eines Mangels an gut ausgebildeten Lehrern findet die Vermittlung der armenischen Sprache allerdings auf einem nur mangelhaften Niveau statt, so dass Armenisch in der Türkei heute von immer weniger Personen gesprochen wird. Dies wirkt sich auch negativ auf die Absatzahlen der beiden armenischsprachigen Tageszeitungen Jamanak und Marmara aus, während die von Hrant Dink gegründete türkischsprachige Wochenzeitung Agos, die mit einer armenischsprachigen Beilage erscheint, floriert. Vor dem Hintergrund der sich in jüngerer Zeit abzeichnenden Öffnung in der türkischen Zivilgesellschaft findet die armenische Gemeinschaft in der Türkei allmählich auch zu einer Selbstartikulation.

Aus Sicht der Aleviten ist die Namensgebung der Bosporusbrücke ein weiteres Glied und vorläufiger Höhepunkt einer zunehmend als anti-alevitisch verstandenen Politik der Regierung der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Kritiker unterstellen der Regierung, mit dieser Namensgebung, Animositäten zwischen Aleviten und der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit schüren zu wollen. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Syrienkonflikt: Nachdem sich der damalige türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan im Zuge der Eskalation der Gewalt in Syrien vom dortigen Herrscher Baschar al-Assad abgewandt hatte, bezeichnet er ihn nun als Terroristen und Diktator, vergleicht ihn gar mit Hitler. Bei ihrer "Anti-Assad-Polemik" verweisen Erdoğan und andere türkische Regierungsmitglieder auch des Öfteren auf den Religionsaspekt und suggerieren, dass türkische Aleviten sich aus religiösen Gründen mit den syrischen Machthabern solidarisierten, die der alawitischen Religionsgemeinschaft angehören. In der Folge verbreitete sich unter Aleviten die Furcht, dass die Betonung der konfessionellen Komponente des Bürgerkrieges in Syrien weiter genutzt werden könnte, um anti-alevitische Stimmungen in der Türkei zu schüren. Damit könne sich die Polarisierung der türkischen Gesellschaft weiter verschärfen, um das konservativ sunnitische Wählerklientel noch enger an die AKP zu binden. Dabei haben die arabischen Alawiten, auch diejenigen die im Südosten der Türkei leben, faktisch äußerst wenig mit den türkischen und kurdischen Aleviten gemein: Die identische Bezeichnung (Türkisch: Alevi, Arabisch: Alawi) verweist zwar schon darauf, dass in beiden Gruppierungen die Verehrung Alis eine herausragende Rolle spielt, hinsichtlich ihrer geschichtlichen Traditionslinien, Glaubensvorstellungen, Rituale und Sozialstrukturen überwiegen die Unterschiede jedoch bei weitem. Aleviten hatten somit, unabhängig von den ökologischen und basisdemokratischen Ursprungsanliegen der Gezi-Proteste, auch spezifischere Gründe, sich der Protestbewegung anzuschließen, die sich schnell zu einem generellen Protest gegen den als zunehmend autoritär wahrgenommenen Politikstil der AKP-Regierung ausweitete. Dass sieben der elf zivilen Todesopfer der Gezi-Proteste als Folge der Gewalt durch türkische Sicherheitskräfte Aleviten waren, hat das Bedrohungsgefühl unter der alevitischen Bevölkerung weiter verstärkt. Der überproportionale Anteil der Aleviten unter den Opfern der Protestbewegung bedeutet jedoch nicht, wie von regierungsnahen Kreisen bisweilen suggeriert, dass die Mehrzahl der Protestierer Aleviten ist. Vielmehr reflektiert er die asymmetrische Gewaltanwendung der staatlichen Sicherheitskräfte, abhängig vom Ort des Geschehens, der Zusammensetzung der Demonstrierenden und nicht zuletzt auch der medialen Präsenz. Während es bei den Protesten am Gezi-Park selber sowie an anderen zentralen Orten in Istanbul mit starker medialer Präsenz keine Todesfälle gab, waren die meisten Opfer an Schauplätzen außerhalb des medialen Fokus und in sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen zu beklagen. Ein Beispiel ist der Istanbuler Stadtteil Okmeydanı, wo es regelmäßig zu Ausschreitungen zwischen linken Splittergruppen und Sicherheitskräften kommt. Okmeydanı hat einen starken alevitischen Bevölkerungsanteil, der dort auch überproportional an regierungskritischen Aktivitäten beteiligt ist. Es hat mithin den Anschein als ob der Staat in traditionell regierungskritischen Schauplätzen, die oft auch stark alevitisch geprägt sind und außerhalb des Fokus der Medien mit stärkerer Gewalt gegen Oppositionelle vorgeht. Die Frage worin sich Aleviten von sunnitischen Muslimen unterscheiden wird bis heute kontrovers diskutiert. Zirka zehn bis maximal zwanzig Prozent der Bevölkerung der Türkei können dem Alevitentum zugerechnet werden. Davon sind ungefähr zwei Drittel türkischsprachig, das restliche Drittel spricht eine der beiden nordwestiranischen Sprachen Kurmanci und Zazaki. In der Türkei gelten sowohl Kurmanci- als auch Zazakisprecher als Kurden, obwohl Sprachwissenschaftler meist nur das Kurmanci dem Kurdischen zuordnen. Durch über Jahrhunderte praktizierte Eheschließungen innerhalb alevitischer Gemeinschaften und strikte, letztlich religiös legitimierte soziale Grenzen zwischen Aleviten und Sunniten hat Zugehörigkeit zum Alevitentum auch einen stark ethnischen Charakter. Mischehen, obwohl heute viel weiter verbreitet, können noch immer ein soziales Problem darstellen. Aleviten unterscheiden sich in ihrer Religionspraxis und ihren religiösen Vorstellungen sowohl vom sunnitischen als auch vom schiitischen Islam - und zwar zu einem Grad, dass die Frage der Islamizität des Alevitentums seit jeher umstritten ist. Dabei sind im alevitischen Glauben Motive schiitischer Mythologie und Geschichtsdeutung prominent vertreten. So wird das Martyrium Hüseins in Kerbela im alevitischen Cem-Ritual kollektiv erinnert. Die Verehrung der zwölf Imame, insbesondere des ersten Imam Ali – von der die Bezeichnung Alevi abgeleitet wird - ist Kernpunkt alevitischer Religiosität. Im Alevitentum verbindet sich diese schiitische Gesinnung mit der Verehrung balkanischer und anatolischer Heiliger des 12. bis 16. Jahrhunderts. Abgesehen von schiitischen und sufischen Vorstellungen in ihrer Deutung des alevitischen Weges unterscheiden sich Aleviten in wesentlichen Punkten vom islamischen Mainstream. Die Rechtstradition des Gelehrtenislam wird von ihnen nicht anerkannt, die Scharia spielt in ihrem eigenen Normensystem nur eine metaphorische Rolle. Praktiken wie das islamische Ritualgebet, die Pilgerfahrt nach Mekka, das Fasten im Monat Ramadan,

und das Almosengeben sind im traditionellen Alevitentum kaum relevant. Aleviten haben ihre eigenen Gebets- und Andachtsformen, ihre eigenen Pilgerstätten und Fastenpraktiken, die sich nur kaum mit den Praktiken und Vorstellungen anderer Muslime überschneiden. Alevitische Ritual- und Glaubenspraxis ist stark von mündlicher Überlieferungskultur geprägt. Es gibt keine alevitische Zentralinstanz und keinen vereinheitlichten Schriftkorpus. Autorität im Alevitentum ist verkörpert in der Figur des dede (türkisch für Großvater). Dede werden die männlichen Repräsentanten als heilig verehrter Abstammungslinien genannt, die allein das alevitische Ritual leiten können und denen im traditionellen Alevitentum die religiöse und soziale Führung alevitischer Gemeinschaften oblag. Die Komplexität des Definitionsproblems tritt auch in alevitischen Selbstbestimmungen zutage. Eine Minderheit der Aleviten, deutlich stärker in Westeuropa vertreten als in der Türkei, sieht das Alevitentum als eigenständige, vom Islam unabhängige Religion. Eine andere Deutung verzichtet auf den Religionsbezug und begreift das Alevitentum als eine Philosophie die traditionell "anatolische Werte" mit einem als universal verstandenen Humanismus verknüpft. Wiederum andere ordnen das Alevitentum politischen Deutungsmustern unter, betrachten es als eine revolutionäre Klassenkampfphilosophie oder betonen aus nationalistischer Perspektive vorislamisch türkische oder kurdisch-iranische Wurzeln. Die meisten Aleviten verstehen es als eine stark von türkischer Kultur geprägte, in ihrem Kern humanistische Form des Islam, oft unter Verweis auf seine sufisch-mystischen und spezifisch anatolischen Aspekte. Weit verbreitet nicht nur unter Aleviten ist auch die Auffassung, dass es sich beim Alevitentum im Vergleich zum sunnitischen Islam um eine liberalere Religionstradition handle. So spielten das islamische Religionsgesetz sowie die sich aus diesem ableitende Geschlechtertrennung bei den Aleviten keine Rolle und die Frauen wären im Alevitentum gleichberechtigt. Obwohl es sicher korrekt ist, dass es im Alevitentum keine dogmatische Geschlechtertrennung gibt, sollte man jedoch auch hier von allzu starren Typisierungen absehen. Auch das Alevitentum hat sich in einem stark patriarchalischen Kontext entwickelt und bis heute findet man nur sehr vereinzelt Frauen in Führungspositionen alevitischer Organisationen. Auch das traditionelle Alevitentum kannte strenge soziale Normen und Sanktionen um diese durchzusetzen – bis zum Ausschluss aus der Gemeinschaft. Allerdings ist das Alevitentum zum einen stark von einem mystischen Religionsverständnis geprägt, dass prinzipiell flexibler und weniger dogmatisch ist als zum Beispiel der gesetzesorientierte Mainstream des sunnitischen Islam, zum anderen haben sich Aleviten im Verhältnis zur sunnitischen Bevölkerung in stärkerem Maße säkularisiert und interpretieren heute ihre eigene Religionstradition oft unter Bezug auf äußerst moderne Werte und Ideale, die dann auch explizit als liberal und humanistisch dargestellt werden. Auch das ist ein Grund dafür, dass Aleviten von manchen streng gläubigen Sunniten bis heute nicht als Muslime anerkannt werden. Religionsgeschichtliche Deutungen des Alevitentums sind ebenfalls äußerst heterogen. Manche – überwiegend westliche – Beobachter finden christliche Spuren im Alevitentum. Viele betonen vorislamische, alttürkisch-schamanische Praktiken, andere sprechen islamischen Randtraditionen des Sufismus größere Bedeutung in der Herausbildung des Alevitentums zu. In Anlehnung an solche religionsgeschichtlichen Bestimmungen werden die historischen Wurzeln des Alevitentums in der Türkei heute von vielen in der Symbiose türkischer Kultur mit islamischer Religion gesehen. Dabei wird in der Regel nicht bedacht, dass es sich bei dieser Deutung um ein Produkt des türkisch-nationalistischen Diskurses handelt, das kaum 100 Jahre alt ist. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurden die von den Osmanen seit dem 16. Jahrhundert als Kızılbaş (Rotköpfe) bezeichneten Gruppierungen, die wir heute Aleviten nennen, als Häretiker betrachtet. Mit dem Begriff Kızılbaş werden bis heute Häresie, sittenwürdiges Verhalten und eine Neigung zur politischen Subversion assoziiert. Erst in den letzten Dekaden des Osmanischen Reiches etablierten sich Diskurse, die zunächst die Kızılbaş in die islamische Nation einbezogen und dann auch eine Kontinuität türkischer und kızılbaş-alevitischer Kultur postulierten. Zwar finden sich im Alevitentum tatsächlich Praktiken und Anschauungen deren Wurzeln auf vorislamische Praktiken zentralasiatischer Turkvölker hinweisen. Es gibt aber gleichzeitig sehr viele alevitische Praktiken und Anschauungen die eher auf Affinitäten zu anderen Traditionssträngen deuten. Die Heterogenität der sozio-religiösen Milieus und Traditionsstränge des anatolischen Alevitentums spricht selbst dagegen, von einem relativ einheitlichen Ursprung alevitischer Traditionen auszugehen. Nicht alle Aleviten sind ethnische Türken. Kurdische und insbesondere Zaza-Aleviten weisen Besonderheiten auf, die sie mit religiösen Traditionen des iranisch-kurdischen Kulturkreises verbinden. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass sich die Religionstraditionen, die wir heute unter dem Oberbegriff Alevitentum zusammenfassen, in einem langwierigen Prozess herausgebildet haben, während dem die Träger dieser Tradition mit unterschiedlichsten Religionstraditionen in vielfältigem Kontakt standen. Unter letzteren finden sich sowohl lokale christliche Elemente, als auch sufisch-charismatische Ausprägungen des Islam. Nachdem schon 1925 alevitische Praktiken und Räume gemeinsam mit denjenigen der Sufiorden verboten wurden, beschleunigten ab den 1950er-Jahren Landflucht und Verstädterung den Zerfall der auf enge gemeinschaftliche Strukturen basierenden Sozial- und Religionskultur des traditionellen Alevitentums. Das Alevitentum verlor für die meisten seine Bedeutung als gelebte Tradition und alevitische Identitäten wurden in der Folge

weitgehend säkularisiert. In den 1960er-Jahren begannen viele Aleviten – insbesondere die jüngeren Generationen – sich linken politischen Ideologien zuzuwenden und das Alevitentum von diesen her neu zu interpretieren. Dabei wurden bis in die 1980er-Jahre hinein kulturell und/oder religiös artikulierte alevitische Belange in der türkischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Aleviten traten von nun an jedoch verstärkt nach außen, organisierten sich, begannen soziale und vor allem institutionelle Diskriminierung anzuprangern und ihre Anerkennung als eine eigenständige kulturelle und religiöse Tradition und Gemeinschaft einzufordern. In Bezug auf alltägliche soziale Diskriminierungserfahrungen sollte man vor einer stereotypischen Darstellung warnen. Freundschaften und mit Einschränkung auch Ehen zwischen Sunniten und Aleviten sind zumindest in urbanen Kontexten keine Seltenheit. Soziale Diskriminierung von Aleviten ist mithin stark kontextgebunden, abhängig vor allem von sozio-ökonomischen Faktoren und Bildungsstand. Schwerer wirkt institutionelle Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und am Arbeitsplatz, wo Fragen der Abstammung, der Religionszugehörigkeit, des Lebensstils wichtige Kriterien für Inklusion beziehungsweise Exklusion sein können. Neben dem Anliegen, aus dem sozialen Schatten einer vom sunnitischen Islam geprägten Gesellschaft herauszutreten und ein Ende der sozialen sowie institutionellen Diskriminierung anzuprangern, war das von Aleviten als Bedrohung

wahrgenommene Erstarken einer islamischen Bewegung in den 1980er- und 1990er-Jahren ein weiterer wichtiger Hintergrund der Neubelebung alevitischer Identität. Das Massaker von Sivas verstärkte diese Wahrnehmung und wurde zu einem Katalysator der alevitischen Renaissance. Wie unter den Säkularisten gab es in diesem Kontext auch unter Aleviten einen erneuten und intensivierten Bezug auf den Kemalismus und insbesondere dessen Begründer und Symbolfigur Kemal Atatürk. Die alevitische Renaissance und die Herausbildung einer kritischen alevitischen Öffentlichkeit führte unweigerlich zu Konflikten zwischen den Aleviten und staatlichen Institutionen. Hauptforderungen an den Staat, über die sich Aleviten verschiedener Couleur im Prinzip einig sind, sind:

  1. Abschaffung oder Umstrukturierung des staatlichen Präsidiums für Religionsangelegenheiten, das für die Durchführung und Kontrolle der islamischen Religionspraktiken im Lande zuständig ist, dabei alevitische Belange jedoch nicht berücksichtigt.
  2. Abschaffung oder umfassende Revision der verpflichtenden Religionskunde an öffentlichen Schulen, welches das Alevitentum nur rudimentär und aus sunnitisch gefärbter Perspektive behandelt.
  3. Materielle Unterstützung der Aleviten durch den Staat gemäß ihrem Bevölkerungsanteil analog zu der staatlichen Unterstützung sunnitischer Institutionen oder alternativ die Abschaffung staatlicher Subvention von Religion.
  4. Anerkennung des alevitischen cemevi ("Haus der Gemeinschaft" oder "Cem-Haus") als Gebetshaus.

Am umstrittenen Status der cemevis lässt sich verdeutlichen, wie sehr sich bei der Frage der Anerkennung der Aleviten politische und theologische Gesichtspunkte vermischen. Dabei muss zunächst klargestellt werden, dass heute die religiöse Differenz der Aleviten in der türkischen Öffentlichkeit nicht mehr prinzipiell in Frage gestellt und die Legitimität einer eigenständigen alevitischen Identität weitgehend anerkannt wird. Dazu hat auch die AKP-Regierung beigetragen.

Seit Einführung des Mehrparteiensystems und den ersten demokratischen Wahlen 1946 ist die Türkei eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster. Tatsächlich aber behielt das Militär, das seit Gründung der Republik 1923 eine wichtige Rolle im Staat spielte, auch nach 1946 noch eine wesentlich dominantere Rolle als in anderen westeuropäischen Staaten. Das Militär blieb eine Art "Regierung der letzten Instanz“. Die Militärführung übte über einen regelmäßig tagenden Nationalen Sicherheitsrat in Sicherheitsfragen die verfassungsrechtlich verankerte Oberaufsicht über die jeweilige Regierung aus und scheute auch nicht davor zurück, Regierungen abzusetzen, wenn sie aus Sicht der Generäle die Prinzipien der von Atatürk gegründeten Republik schwerwiegend verletzten. Insgesamt drei Mal putschte das Militär erfolgreich (1960, 1971, 1980). 1997 wiederum stellte das Militär der amtierenden Regierung von Necmettin Erbakan ein Ultimatum und verlangte Maßnahmen, die eine vermeintliche Islamisierung von Staat und Gesellschaft verhindern sollten. Nach den Wahlen im April 2007 hatte der damalige Premierminister Erdoğan den islamisch-konservativen Außenminister Abdullah Gül als Kandidat der Regierungspartei AKP ("Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt", Adalet ve Kalkinma Partisi) für das Präsidentenamt vorgeschlagen. Daraufhin drohte das Militär mit einem Putsch, da es die Trennung von Staat und Religion gefährdet sah. Die anschließend angesetzten Neuwahlen gewann die AKP so überzeugend, dass das Militär die Wahl von A. Gül zum neuen Staatspräsidenten nicht mehr behinderte. Am 15. Juli und in der Nacht des 16. Juli dieses Jahres unternahmen Teile des Militärs den bislang letzten Versuch, durch einen Putsch die Regierung zu stürzen und selbst die Macht zu übernehmen. Anders als bei dem letzten erfolgreichen Putsch im September 1980 ging der Umsturzversuch am 15. Juli vermutlich nicht vom Generalstab, also der Spitze des Militärs aus, sondern mutmaßlich von Generälen unterer Ränge. Letztlich scheiterte der Putsch nicht nur an der auffallend niedrigen Beteiligung des Militärs am Putsch, sondern vor allem am Widerstand der Bevölkerung und der Polizei. Bei den vorangegangenen Putschen ging es entweder darum, dass das laizistisch-kemalistische Militär als Hüter der Republik Atatürks gegen seiner Meinung nach bedrohliche islamische Tendenzen der zivilen Regierung intervenierte; oder, wie beim Putsch 1980, dass das Militär die Regierung absetzte, weil diese aus ihrer Sicht nicht dazu in der Lage war, täglich eskalierende gewaltsame Straßenkämpfe zwischen linken Sozialrevolutionären und islamistischen, rechtsnationalistischen Gruppen unter Kontrolle zu bringen. Bei den Putschisten vom 15. Juli 2016 soll es sich laut türkischer Regierung aber nun nicht um säkulare-kemalistische Offiziere gehandelt haben, die eine zunehmend islamische Umformung der Gesellschaft verhindern wollten, sondern um Offiziere, die der islamischen Gülen-Bewegung angehören, die nach Auffassung der Regierung die Macht im Staate übernehmen wollten. Für diese Behauptung gibt es bislang Indizien und Zeugenaussagen, die diese stützen – eindeutige Beweise aber, dass die zweitgrößte Armee der NATO erfolgreich von den Gülenisten unterwandert wurde, gibt es nicht. Seit die islamisch geprägte AKP bei den Parlamentswahlen im November 2002 die absolute Mehrheit gewann, lässt sich ihre Politik in unterschiedliche Phasen unterteilen. In der ersten Legislaturperiode bis 2007, der liberalen Reformphase der AKP, suchte sich die Parteiführung innerhalb und außerhalb des Landes möglichst viele Verbündete. Die AKP Regierung setzte auf Beitrittsverhandlungen mit der EU, hob in den kurdischen Gebieten des Landes den Ausnahmezustand auf und umwarb die liberalen Intellektuellen des Landes, indem sie eine echte Demokratisierung versprach, in dessen Folge auch die Macht des Militärs reduziert und das Primat der zivilen Politik durchgesetzt werden sollte. Als das Militär dann 2007 tatsächlich noch einmal indirekt mit einem Putsch drohte, falls die AKP den islamisch-konservativen Außenminister Abdullah Gül zum Präsidenten wählen sollte, hatte die AKP den größten Teil der Gesellschaft hinter sich, als sie diese Drohung durch Neuwahlen abwehrte. In der zweiten Phase, von 2007 bis zu den Wahlen 2011, änderte sich der Kurs der AKP von demokratischer Partizipation zu Repression. Ein prominentes Beispiel ist der Fall "Ergenekon": Nachdem im Jahr 2007 bei einer Hausdurchsuchung der Staatsanwaltschaft in Istanbul Handgranaten und Sprengstoff gefunden wurden, führten die weiteren Ermittlungen zu Strafverfahren gegen eine Geheimorganisation namens "Ergenekon". Diese soll das Ziel gehabt haben, einen Militärputsch vorzubereiten. In dessen Zuge wurden hochrangige Militärs, Journalisten, Unternehmer verhaftet – erst 2013 wurden fast alle der 285 Angeklagten zu langen Haftstrafen verurteilt. Diese Verfahren, die Züge von Schauprozessen aufwiesen und bei denen bis zu einem Drittel des höheren Offizierskorps angeklagt wurde, schwächten das traditionell säkulare Militär in erheblichem Maße. Zudem hinterließ die damit einhergegangene Entlassungswelle ein Vakuum im Militär. An dieser Stelle kommt die Gülen-Bewegung (Gülen Hareketi) ins Spiel.Gülen, dessen Wirken Mitte der 1960er-Jahre begann und der in den späten 1970er-Jahre das Gülen-Netzwerk ins Leben rief, ist wie die AKP konservativ-sunnitisch orientiert, ideologisch sind sie eng verwandt. Noch deutlicher wird dies bei Betrachtung der Millî Görüş-Bewegung, aus deren Umfeld einige AKP-Politiker stammen. Doch während Millî Görüş offen politische Forderungen tätigt und auf eine Islamisierung der Wirtschaft setzt, hat die Gülen-Bewegung, die in mittlerweile über 130 Ländern Bildungseinrichtungen gegründet hat und von vielen als gemäßigt islamische Bildungsbewegung eingeschätzt wird, sich nie offen zu politischen Zielen bekannt. Vielmehr versuchte sie durch eigene Schulen, private Universitäten und Internate, eine eigene islamische Elite heranzuziehen. Diese sollte sozusagen im "Marsch durch die Institutionen“ Schlüsselstellungen im Staat besetzen, um am Ende die säkulare türkische Republik zu einem am Islam orientierten Staat zu machen. Gülen hat diese Unterwanderung immer bestritten und ging 1999, als gegen ihn ein Prozess wegen Ausnutzung der Religion für politische Ziele eröffnet wurde, in die USA ins Exil. Als die AKP 2002 die Wahl gewann und dann mit durchweg unerfahrenen Leuten die Regierung bildete, stützte sie sich innerhalb der Bürokratie in großem Umfang auf Anhänger der Gülen Gemeinde. Als "islamische Freunde" halfen sie der AKP, sich gegen die säkulare kemalistische Ministerialbürokratie durchzusetzen. Ergebnis dieser Zusammenarbeit war, dass Gülenisten überall in Polizei, Justiz und im Militär auf hohen Posten wiederzufinden waren. Zum Beispiel waren viele der Staatsanwälte und Richter, die ab 2008 die Ergenekon-Prozesse gegen die säkularen Militärs führten, Anhänger Fethullah Gülens. Im Jahr 2012 kam es zum Bruch zwischen Erdoğan und Gülen. Auch wenn die Zusammenarbeit zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung jahrelang bestritten wurde, gibt eine Reihe begründeter Vermutungen, warum die Allianz zerbrach. Zu den gängigsten gehören: dass nachdem der gemeinsame Feind, die säkulare Bürokratie und Armee, bekämpft schien, sich die Machtfrage im eigenen Lager stellte – Erdoğan und Gülen betrachten sich beide als große islamische Führer, und für zwei Führer ist nun einmal nicht genug Platz; dass die Gülen-Bewegung für Erdoğans Empfinden, dem Mann, der gewählter Ministerpräsident war und dies bei der Wahl 2011 noch einmal eindrucksvoll unterstrichen hatte, zu weitreichende Forderungen stellte; oder dass es um die Frage ging, wie mit der als terroristisch eingestuften kurdischen PKK umzugehen sei, mit denen Erdoğan verhandelt wollte, wohingegen Gülen weiter auf eine "militärische Lösung" setzte. Zum offenen Bruch jedenfalls kam es Ende 2013, als Staatsanwälte, Polizisten und Untersuchungsrichter, die der Gülen-Bewegung angehört haben sollen, Korruptionsermittlungen gegen vier Minister der Regierung einleiteten; zudem tauchten Telefonmitschnitte im Zuge der Korruptionsaffäre auf, von der auch die Familie Erdoğans betroffen war. Erdoğan ließ daraufhin die Ermittlungen niederschlagen und versetzte Staatsanwälte, Polizisten und Richter, einige wurden gefeuert; mit diesem Vorgang verletzte er die richterliche Unabhängigkeit. Seitdem gilt die Gülen-Bewegung in der offiziellen Lesart als kriminelle Vereinigung, die den Staat unterwandert habe und die Regierung stürzen wolle. Erdoğan ließ Gülen-nahe Unternehmen und Medien unter Staatskontrolle stellen und führende Gülenisten verhaften. Jetzt, nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016, wird die Gülen-Bewegung von der Regierung als alleinverantwortlich identifiziert. Regierungsnahe Publizisten deuten an, dass die Anhänger der Gülen-Bewegung die früheren "Säuberungen" des säkularen Offizierskorps, etwa nach den Ergenekon-Prozessen, dazu genutzt haben, ihre eigenen Leute in Schlüsselstellungen im Militär unterzubringen. Dadurch sei dann der Putschversuch möglich geworden. Eine weit verbreitete Vermutung in der türkischen Öffentlichkeit ist auch, dass der Putsch vom 15. Juli von Gülen-Anhängern gestartet wurde, um einer geplanten "Säuberung" von eigenen Leuten im Militär zuvorzukommen. Wenige Tage nach dem Putschversuch verhängte Erdoğan, der 2014 zum Präsidenten der Türkei gewählt wurde, den Ausnahmezustand über das Land. Zunächst für drei Monate – er kann aber nochmals verlängert werden. Seit dem Putsch geht der türkische Staat gegen vermutete Gülen-Anhänger in allen Bereichen der Gesellschaft vor. An erster Stelle steht dabei das Militär, es wurden jedoch auch Anhänger aus zivilen Kreisen verhaftet – vor allem im Justizsystem, Journalismus, Schulen, Universitäten, Gewerkschaften. Über zehntausend Soldaten wurden verhaftet, mehrere tausend Offiziere aus der Armee ausgestoßen. Von Luftwaffe und Marine soll jeweils das halbe höhere Offizierskorps in U-Haft sein. Nach letzten Angaben wurden rund 80.000 Personen, darunter die Hälfte Lehrer, Dozenten Professoren oder andere Angestellte aus dem Bildungsbereich von ihren Posten suspendiert. Solange der Ausnahmezustand andauert, können sie dagegen nicht klagen. Die Regierung setzt in dieser Situation aber nicht nur auf Entlassungen, sondern strukturiert die Armee grundsätzlich um. So soll von nun an die Ausbildung umstrukturiert werden. Die Offiziersschulen und Kadettenanstalten, in denen die zukünftige Militärelite bereits ab 14 Jahren für ihre Laufbahn geformt wurde, werden aufgelöst. Damit verliert das Militär die Kontrolle über die Ausbildung des eigenen Nachwuchses. Stattdessen sollen die Kadetten zukünftig an einer Universität für nationale Verteidigung ausgebildet werden. Weiterhin wird die Rolle des Generalstabschefs eingeschränkt, die Chefs der drei Waffengattungen sollen zukünftig dem Verteidigungsminister unterstellt werden, die Gendarmerie und die Küstenwache wiederum dem Innenministerium. Außerdem wird im Nationalen Sicherheitsrat die Anzahl der Zivilisten aufgestockt, so dass die Militärs zukünftig in der Minderheit sein werden. Nach den Worten von Ministerpräsident Binali Yıldırım soll dadurch sichergestellt werden, dass das Militär nie wieder in der Lage ist, einen Putsch zu inszenieren. Polizei und Geheimdienste stehen ebenfalls auf dem Prüfstand, wie genau die neue Struktur aussehen soll ist aber noch unklar.

Dasselbe gilt für die Justiz. Noch ist die Regierung dabei, tausende Richter Staatsanwälte und andere Justizangestellte zu suspendieren oder festnehmen zu lassen, rund ein Fünftel der Staatsanwälte und Richter wurde schon entlassen – alles mit der Begründung, Gülen-nahe "Elemente" auszusieben, "den Virus" zu bekämpfen, wie Erdoğan sagte. Gleichzeitig laufen aber bereits Gespräche mit zwei der drei Oppositionsparteien – die kurdische Partei HDP ist nicht dabei –, um die Justiz per Verfassungsänderung "unabhängiger" zu machen. Vor allem in Europa und den USA sieht man die bisherigen Aktionen und die sogenannten "Säuberungswellen" des Staates nach dem gescheiterten Putsch als Versuch, den ganzen Staat im Sinne einer autoritären Alleinherrschaft umzustrukturieren. Optimisten in der säkularen Opposition hoffen darauf, dass die Erfahrungen mit der Unterwanderung staatlicher Institutionen durch eine religiöse Sekte, wie die Gülen-Bewegung von Kritikern genannt wird, nun dazu führen könnte, Justiz, Armee, Polizei und die staatlichen Bildungseinrichtungen zu entideologisieren, von religiösen Einflüssen frei zu machen und zu tatsächlich unabhängigen neutralen, nur dem Recht verpflichteten Institutionen zu machen.

Dass Erdoğan die einstigen Verbündeten in aller Härte verfolgen lässt, spricht allerdings gegen diese Hoffnung. Was er wirklich will, wird sich zeigen, wenn bei den überparteilichen Gesprächen für eine neue Verfassung klar wird, ob er bereit ist, auf seine langjährige Forderung zu verzichten: eine auf seine persönlichen Machtbefugnisse zugeschnittene Präsidialverfassung einzuführen. Denn nur dann wird ein demokratischer Neuaufbau der Institutionen möglich sein.