e-Portfolio von Michael Lausberg
Besucherzäler

Erziehungsmodelle in der Sowjetunion

Die Entwicklungen im zaristischen Russland

Wandlung zur industrialisierten Gesellschaft

Die in Russland mit Beginn der kommunistischen Herrschaft in Angriff genommene Aufgabe einer pädagogischen Umgestaltung der Gesellschaft kann als ein wesentliches Element der inneren Entwicklung der Sowjetunion seit 1917 angesehen werden. Sowjetische Politiker haben stets die fundamentale Rolle der Erziehung und Volksbildung in den Plänen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaftsordnung betont. Der Zusammenhang zwischen der staatlichen Bildungspolitik, den revolutionären gesellschaftlichen Zielvorstellungen und der wirtschaftlichen Modernisierung des Landes wurde erkannt. Russland wandelte sich langsam vom überwiegend agrarischen zum industrialisierten Land, was das Hauptkennzeichen der russischen Geschichte im 19. Jahrhundert darstellt. Wenn man sich mit der Bildungspolitik in der Sowjetunion beschäftigt, muss man sich als erstes der Frage nach den Ausgangsbedingungen zuwenden, die von der Kommunistischen Partei zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution in Russland vorgefunden wurden. Marxismus und russisches Erbe müssen gleichermaßen berücksichtigt werden, wenn man zu einem richtigen Verständnis der Geschichte des sowjetischen Bildungswesens und der Erziehung gelangen will. Diesen Gesichtspunkt haben schon im Jahre 1930 die sowjetischen Historiker Sergius Hessen und Nikolaus Hans betont. Sie stellten fest, dass man die Revolution der Schule in der Sowjetunion in der Perspektive der nationalen russischen Geschichte betrachten müsse. Anderseits versuchten sie auch die jeweiligen Wandlungen der kommunistischen Bildungspolitik im Zusammenhang mit dem Schicksal des Marxismus in der Sowjetunion überhaupt zu deuten.

Bei der Beurteilung des Standes der Volksbildung, den die neuen Machthaber im Jahre 1917 vorfanden, gehen die Meinungen auseinander. Während die amtlichen sowjetischen Darstellungen meistens ein rückständiges Bild der vorrevolutionären Zeit entwarfen, um so die eigenen Leistungen herauszuheben, haben umgekehrt ihre politischen Gegner und die vor der Revolution in der Volksbildungsarbeit aktiven Personen auf die bereits gelegten Fundamente hingewiesen, auf denen das sowjetische System aufbauen konnte. Die sozialgeschichtliche Forschung sowohl von marxistischer als auch bürgerlicher Seite hat bei allen Unterschieden übereinstimmend nachgewiesen, dass seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts der Modernisierungsprozess des zaristischen Russlands in ökonomischer Hinsicht Fahrt aufnahm, was man an den industriellen Produktionsziffern und am Ausbau des Eisenbahnnetzes festmachen konnte. In der Sozialstruktur war der Wandel langsamer und ungleichmäßiger, aber alles in allem eine bürgerliche Gesellschaft nach dem Muster westeuropäischer Staaten erfolgte. Im Gegensatz dazu behinderte die politische Verfassung des Reiches mit ihren reaktionären Formen der zaristischen Autokratie und des polizeilich-bürgerlichen Regimes den sozio-ökonomischen Modernisierungsprozess.

Zaristische Schulpolitik und gesellschaftliche Bildungsinitiativen

Ein Teil der russischen Bauern lebte Mitte des 19. Jh. in Armut. Die Bevölkerung hatte sich vermehrt, die Höfe wurden geteilt, damit sanken Betriebsgröße und Ausstattung mit Betriebsmitteln. Seit dem gescheiterten Dekabristen-Aufstand nahm der Reformdruck im Reiche immer mehr zu Die Forderung nach Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft war nicht nur in der Intelligenzia populär, sondern auch unter Staatsbeamten und Aristokraten. Nach der Niederlage im Krim-Krieg waren die Reformen unaufschiebbar geworden. Nach fünf Jahren Beratungen wurde das Manifest über die Aufhebung der Leibeigenschaft am 2. März 1861 unterzeichnet. Dem Manifest folgte ein Gesetz, das die Landzuteilung an die Bauern regelte. Die Landanteile waren zu klein und wurden mit übergroßen Lasten belegt, da die Bauern die Entschädigung, die der Staat den Grundbesitzern gezahlt hatte, innerhalb von 49 Jahren an ihn zurückzahlen mussten. Ergebnis der Bauernbefreiung von 1861 war also, dass sich die Lage der Bauern eher verschärfte. Der entstehende Bevölkerungsüberschuss konnte nirgends anders aufgefangen werden, die Landwirtschaft arbeitete weiter am Rand der Existenzkrise, was sich in den immer wiederkehrenden Hungersnöten zeigt. Die alte Abhängigkeit der Bauern von den Grundbesitzern wandelte sich in eine neue Abhängigkeit durch drückende Schulden.

Aus diesen Gründen setzte sich die Verelendung bei den Bauern weiter fort. Rosenstock-Huessy stellte fest:„ Die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 in Rußland imitiert die Zerstörung des Feudalstaates von 1789. Der Zarbefreier hat damit nicht den Feudalstaat zerstört, sondern nur die französische Revolution verhaßt gemacht. Denn diese Idee von 1789 sah in Rußland so aus, daß die Bauern persönlich frei wurden, ohne zu wissen wohin. Auch wenn man sie viele Jahre beim Militär hielt, so war das doch noch kein genügender Abfluß. (...)Den Bauern hat der Zarbefreier begehrlich, haltlos, landgierig, böse gemacht. Die Aufhebung der Leibeigenschaft von 1861 war eine Mißhandlung des Bauern (...) Die Bauern haben seit 1861 hartnäckig darauf gewartet, daß der Zar ihnen das Land geben werde. Viele kauften durch Jahre keine Parzelle, weil sie darauf warteten. Der Zar mußte wiederholt erklären lassen, dergleichen sei nicht zu erwarten. Ein Minister, der das erklärte, beging wenig später Selbstmord. Die Bauern behaupteten, der Zorn des Zaren habe ihn getroffen. Der Bauer ist also seit der `Freiheit` in Gärung. Die Freiheit ist der Fluch dieses Bauern. Also wird er gegen diese Freiheit Revolution machen. Er wird nach Ordnung verlangen. Wirtschaftsordnung, Gesellschaftsordnung lautet der Ruf der russischen Revolution, weil 'Freiheit' für ihn nur Unordnung war." Verschärfend wirkten die Mißernten und Hungersnöte der Jahre 1891-1893; sie haben die Unfähigkeit der Regierung bewiesen, katastrophale Situationen zu meistern. Die Bauern lebten in einem autonomen Rechtsbereich; in der Praxis fungierte nur der Landgendarm als mehr oder minder dubioses Kontrollorgan. Das Proletariat erwuchs aus der Freisetzung bäuerlicher Untertanen, ähnlich wie in anderen westeuropäischen Ländern auch.1902/03 kam es infolge von Hungersnöten zu Bauernaufständen. Im Zusammenhang mit der ersten russischen Revolution von 1905 kam es dann erneut zu Bauernaufständen und Plünderungen des adligen Besitzes. Die Notwendigkeit einer Reform der Agrarverhältnisse, die eine tatsächliche Entwicklung des Kapitalismus ermöglichte, wurde unübersehbar. Der damalige Ministerpräsident Stolypin legte Pläne für diese Reform vor, dessen Ziel es war, eine Schicht kapitalistischer Bauern herauszubilden.

Der russische Staat konnte aus Mangel an Alternativen den wirtschaftlichen Rückstand nur dadurch überwinden, dass er selber eine kapitalistische Industriewirtschaft aufbaute, indem er von oben in das Wirtschaftsleben eingriff. Neben subventionierten Staatsbetrieben beteiligte er sich selbst an den Unternehmen oder gewährte Großbetrieben im Hüttenwesen sowie Maschinenbau Geldmittel und sorgte für den Absatz ihrer Produkte. Durch hohe Importzölle versuchte der Staat einheimische Unternehmer vor der Konkurrenz des Auslandes zu schützen. Die russische Regierung gründete staatliche Banken, um damit westliches Kapital anzulocken. 1857 wurde mit Hilfe ausländischen Kapitals die Hauptgesellschaft der russischen Eisenbahn gegründet, die Mitte der 1880er und 90er Jahre die entstehenden Industriezentren mit den Eisen- und Kohlerevieren sowie mit den zentralen Agrarregionen und den Ausfuhrhäfen an der Ostsee und am Schwarzen Meer verbanden. Vom Eisenbahnbau profitierten gleichzeitig die Schwerindustrie und der Maschinenbau, die zu zentralen Bereichen der Industrialisierung wurden. Die Industrie konzentrierte sich besonders in Sankt Petersburg und Moskau, in der Ukraine und in den Ölgebieten Transkaukasiens. Seit der zweiten Hälfte der 1880er Jahre erfolgte ein rascher industrieller Aufschwung. die durchschnittlichen Wachstumsraten lagen bei sechs Prozent, in den 1890er Jahren bei acht Prozent. Trotz der fortschreitenden Industrialisierung blieb Russland ein Agrarland. Um 1900 trug die Landwirtschaft mit 53 Prozent zum Nationaleinkommen, die Industrie mit 21 Prozent bei.

Seit den Reformen Peters des Großen wurde das Russland von einer aufgeblähten Bürokratie mit Unterstützung der Kirche mit dem Zaren an der Spitze verwaltet. Dabei war die Hierarchie des Staatsdienstes wichtiger als die Hierarchie der Geburt. Der Adel war verpflichtet, als Beamte oder Soldaten dem Staat zu dienen, Landverteilung und Titel waren an die jeweilige Funktion im Staatsapparat verknüpft. Einfache Beamte bekamen so wenig Lohn, so dass sie auf Bestechungsgelder angewiesen waren. Korruption war an der Tagesordnung, was besonders in der armen Bevölkerung das Vertrauen in den Staat im Laufe der Zeit erschütterte.

Die Geschwindigkeit der industriellen Entwicklung ab den 1890er Jahren führte zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen. Als Motoren der Industrialisierung galten der Bau der Sibirischen Eisenbahn, die Kapitalbildung über ein Bank- und Kreditwesen, Kapital aus dem Ausland sowie eine protektionistische Außenpolitik. In den Städten St. Petersburg und Moskau sowie im Ural und der südlichen Ukraine entstanden Industriezentren. Der Bau der Sibirischen Eisenbahn bot die Möglichkeit, die Kolonialisierung Sibiriens und Zentralasiens voranzutreiben und somit die imperialen Ansprüche des Zarenreiches zu unterstreichen. Diese Modernisierung des Russischen Reiches und Anpassung an westeuropäische Entwicklungen, die mit wachsender Mobilität einherging, stand die sich nur langsam ändernde sozio-ethnische Struktur des Vielvölkerreichs gegenüber. Die sozialen und nationalen Fragen trugen zur Instabilität des Reiches bei. Es gelang dem Zaren nicht, die Wurzel der aufkommenden Nationalkonflikte und der Unzufriedenheit der breiten Bevölkerungsmasse zu bekämpfen. Er hielt immer noch an einem auf die orthodoxe Kirche gestütztes Reich, das militärische Stärke gegenüber dem Ausland und seinen imperialen Gebieten demonstrieren sollte, fest und ignorierte die realen offenen Problemfelder.

Diese Widersprüchlichkeit zwischen den objektiven Erfordernissen einer Entwicklungs- und Modernisierungspolitik und den konservativen politischen Strukturen fand auch in der Bildungspolitik ihren Ausdruck. In der Regierungszeit der letzten beiden Zaren Alexander III. (1881-1894) und Nikolaus II. (1894-1917), wo 12 verschiedene Minister für Volksbildung amtierten, kamen die Initiativen für eine Verbesserung des Bildungswesens überwiegend aus dem nichtstaatlichen Bereich. Die Behörden versuchten jeder Neuerung entgegenzuwirken und ultrakonservative Kreise am Zarenhof und in der orthodoxen Kirche sahen in einer Ausbreitung von Wissen in der russischen Gesellschaft sogar eine Gefahr für die Monarchie. Eine grundlegende Tatsache der vorrevolutionären russischen Bildungsgeschichte ist somit der Dualismus von staatlicher Schulpolitik und freier gesellschaftlicher Bildungstätigkeit. Dieser Zustand war im Wesentlichen das Ergebnis der innenpolitischen Reformen unter Alexander II. in den 1860er Jahren. Im Jahre 1864 wurden im europäischen Teil Russlands landwirtschaftliche Selbstverwaltungsorgane geschaffen, die weitreichende Aufgaben und Rechte in der lokalen Schulpolitik erhielten. Diese Reform fiel mit der klassischen Periode der russischen Pädagogik als volksbildnerischer und wissenschaftlicher Bewegung zusammen. In der Geschichte des russischen pädagogischen Denkens haben dabei K.D. Usinskij (1824-1870), der „Vater der russischen Volksschule“ und der christlich-anarchistische Schriftsteller L. N. Tolstoj (1828-1910) die bedeutendsten Wirkungen hinterlassen.

Die Entstehung des russischen Symbolismus beginnt 1893 mit Dmitrij Merežkovskijs programmatischem Essay „Über die Ursachen des Niedergangs und über neue Strömungen der zeitgenössischen neuen Literatur“. Wie der Literaturwissenschaftler Reinhard Lauer feststellt, wird hier das Aufbegehren gegen die positivistisch-utilitaristische Ästhetik deutlich: „Nicht mehr das `Leben` mit der Betonung des für die Gesellschaft Nützlichen wurde als Gegenstand der Kunst angesehen, sondern die Transzendenz, das eigentliche Sein.“

Die positivistische Weltanschauung des Realismus wurde abgelegt. Tiefe Skepsis dem Realismus gegenüber und Zukunftshoffnungen am Ende des 19. Jahrhunderts sowie die Angst vor Entfremdung von dem eigenen Geschichtsbewusstsein riefen zahlreiche Kritiker auf den Plan. Da war eben Merežkovskij einer der Kulturkritiker, der die Geringschätzung des Dichterischen anprangerte und seinem Unbehagen an der bisherigen Kunst Ausdruck gab. Merežkovskijs Absicht war es folglich, die Kunst nicht mehr auf rührende oder moralische Tendenzen auszurichten, sondern es auf die sog. „Wahrheitsliebe“ (pravdivost‘) des Künstlers ankommen zu lassen. Er kritisierte das rationale Konzept der Naturwissenschaft und Technik und wies insbesondere in seinem Essay auf die Sprachverderbnis und die Stagnation der Künste hin. So sollte seiner Meinung nach die Dichtung wieder als eigenständige Schöpfungs- und Erkenntniskraft wirken. Merežkovskij kritisierte ferner die realistische Erzählkunst. Dieser wurde ein Verfall bescheinigt und tatsächlich widmeten sich am Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt zweitklassige und epigonale Schriftsteller dem Roman als Gattung. Neuzeitliche Schriftsteller produzierten ab 1880 vermehrt kleinere literarische Formen wie Skizzen, Porträts und Etuden.

Die Auffassung der symbolistischen Kunst war eine andere als die des Realismus. Merežkovskij beschrieb diese folgendermaßen: „Sie (die symbolistische Kunst, M.L.) vergeistigt die schöne Form, den poetischen Stil, das heißt den künstlerischen Stoff, macht sie transparent und läßt auf diese Weise das wahrhaftige Sein, die Transzendenz, ahnbar werden. Auch der Sprache sollte eine neue bzw. wichtigere Funktion verliehen werden: Das Wort sollte nicht mehr als Begriff oder Terminus funktionieren wie in der denotativen Semantik des Realismus, sondern als dynamische Energie, die die erstrebte Transparenz zum Ewigen hin ermöglichte. So sollte der Leser durch Wörter hypnotisiert und durch mystische Inhalte der Realität entzogen werden. Durch Lautstrukturen, Alliterationen, Metaphern und weitere Stilmittel haben die Symbolisten den Sinn ihrer Werke anders wiedergegeben und der literarischen Sprache auf diese Weise große Aufmerksamkeit geschenkt.

Der russische Symbolismus vollzog sich in zwei Schritten. Die erste Dekade der Strömung bestimmte die so genannte „Erste Generation“ oder „Ältere Symbolisten“, zu denen Minskij, Merežkovskij, Bal´mont, Sologub und Zinaida Gippius gehörten und die sich der mystisch-idealistischen Richtung der Symbolistik verschrieben haben. Sie waren Anhänger des französischen Symbolismus, der als dekadent galt. Geistig-ideelle Werte und philosophische Grundzüge prägten das Denken der älteren Symbolisten. Bereits der frühe Symbolismus stand im Zeichen mystischer und apokalyptischer Visionen und Vorahnungen. Der russisch-japanische Krieg und die erste russische Revolution von 1905 bestätigten diese Vorahnungen der Literaten. Der Symbolismus war die ideale Möglichkeit, diese Visionen sprachlich zu verarbeiten. Dem vorausgegangenen Positivismus würde eine solche Poesie widerstreben und deshalb nicht gelingen.

Viele bekannte Namen dieser literarischen Strömung spielen in der Literatur eine große Rolle. Man kennt beispielsweise solche Vertreter, wie Balmont, Bely, Block, Brjussow, Mereshkowski oder Sologub. Der russische Symbolismus ist geprägt von der Umbruchstimmung des damals zaristischen Russlands in der Zeit zwischen 1890 und 1910. Der russische Symbolismus war daher ein Ausdruck für die komplizierten nationalen Gesellschafts- und Kunstverständnisse in der Übergangszeit Russlands, in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution. So stellen die russischen Symbolisten die Krisensituationen der Menschen in einer scheinbar wohlgeordneten Gesellschaft dar, die aber in Wirklichkeit eine unheilvolle, soziale und politische Realität bietet.

Man muss hinzufügen, dass der russische Symbolismus daher nicht nur eine dichterische Ausdrucksform darstellte, er wurde sogar zu einer Philosophie erhoben. So fand die symbolistische Weltanschauung und Ästhetik gewisse Unterstützung in der Philosophie Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches. Aus diesem Grund findet man auch gewisse Parallelen zu Schopenhauers Weltanschauung in den Werken Sologubs.

Im Symbolismus ist der Künstler die zentrale Figur, sein Wesen, seine Empfindung, sein Denken steht dabei im Vordergrund. Anders als in der Romantik drückt der Autor hier keine Gefühle aus, sondern eher sich selbst, wobei er mit Hilfe von Symbolen eine andere Welt erschafft. So existieren für die Symbolisten zwei Welten, die reale, wahrnehmbare Welt und auf der anderen Seite eine „jenseitige“ Welt. Man kann daher sagen, was auch im Rahmen des Seminars deutlich zum Vorschein gekommen ist, dass ein Leser, der ohne jegliche Grundkenntnisse über die Epoche oder das Leben des Autors an ein symbolistisches Werk herangeht, es schwer haben wird, den Sinn des Werkes aus dem Symbolismus zu erfassen. Für die Symbolisten war insbesondere die Lyrik, auf Grund ihrer sprachlichen Mittel von Bedeutung. Fast alle Symbolisten, zumindest anfangs sind daher als Lyriker bekannt. So beinhaltet auch die Prosa eine lyrische, poetische Sprache und verwendetet von jeher Symbole. Für eine kurze Zeit, in den ersten 20 Jahren des 20. Jahrhunderts, prägte der Symbolismus die Literatur Russlands maßgeblich. Es war eine Zeit, die literarisch so fruchtbar war, dass man sie heute auch das „Silberne Zeitalter“ nennt.

Die Vielfältigkeit der Themen des russischen Symbolismus ist sehr groß. So sind für Sologubs Erzählungen auch die folgenden Themen ausschlaggebend: Bei Sologub ist das Thema der „Welt als Vorstellung“ sehr oft zu finden. Die vorgestellte Welt ist für die Symbolisten eine Gegensätzliche zu der realen Welt. Man kann hier daher auch gewisse Parallelen zu Schopenhauer aufzeigen, der sich mit diesem Thema in seinem Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ auseinander setzte.

Die Symbolisten stellen die reale Wirklichkeit als trostlos, traurig und ausweglos dar. So flüchten die Hauptpersonen der Erzählung in ihre eigene Traumwelt, die ihnen für kurze Zeit Trost bietet. Bei den Symbolisten kann man daher zwei Traumzustände betrachten: den Nachttraum und den Tagtraum. Der Nachttraum spielt bei Sologub eher eine untergeordnete Rolle und wird hier daher auch nicht betrachtet. Der Tagtraum ist bei Solugub ein Gedankenspiel, wo der Träumende bei Bewusstsein ist und seinen Traum selbst gestalten kann. So erscheint die Wirklichkeit der Figur der Erzählung meist verzehrt oder wird vollkommen ausgeblendet. Dieses Traumgeschehen überlagert dann meist die reale, wirkliche Welt, die aber nicht ganz ausgeblendet wird. Wichtig zu erwähnen ist, dass es bei Sologub auch Erzählungen gibt, wo der Tagtraum und die reale Wirklichkeit in einander übergehen, ohne dass das Traumgeschehen und das Wirklichkeitsgeschehen als getrennt betrachtet werden. Das ist bei der Erzählung „Tod per Annonce“ der Fall. So hat der Träumende Schwierigkeiten zwischen dem wirklichen Ich und dem im Traum Handelnden zu unterscheiden.

Die „Jüngere Generation“ profilierte sich unmittelbar nach der Jahrhundertwende. Als wichtigste Vertreter sind hier Aleksandr Blok und Andrej Belyj zu nennen. Nach der misslungenen Revolution von 1905 beginnt in der russischen Literatur die Suche nach nationaler Identität verbunden mit nationalen Mythenbildungen. Der altslavische Mythos ist bei der Suche genauso zu finden wie eine christlich-sektiererische Komponente und die Auswirkungen der griechisch-hellenistischen Antike.

Andrej Belyj, oder mit bürgerlichem Namen Boris Bugaev, 1880 in Moskau als Sohn eines namhaften Mathematik-Professors geboren, war einer der bekanntesten Vertreter des russischen Symbolismus. Belyjs Bemühung bestand darin, den Symbolismus auch theoretisch (dichtungstheoretisch, ästhetisch, logisch) zu begründen und auf diese Weise die Beziehungen zwischen Mythos und Logos zu knüpfen. Seine Schriften über das Wesen des Symbolismus haben einen hohen Stellen- und Aussagewert, auch über das rein Literarische hinaus. Belyjs Schaffen und seine geistige Entwicklung stehen im Zeichen Solovews, Nietzsches und Schopenhauers. Auch Rudolf Steiners Theosophie und der Neukantianismus begründen seine Werke. So hat Belyj als einer der ersten den Versuch unternommen, die russische Literatursprache zu revolutionieren. Neben den stilistischen Mitteln ist die programmatische Sichtweise Andrej Belyjs innerhalb des Symbolistenkreises von Bedeutung. Kenntnisse darüber erleichtern zum einen das Verständnis seiner Werke und geben zum anderen auch die Möglichkeit, die Mystik und die okkulten Züge seiner Werke zu deuten.

Wie kein anderer verstand es Belyj, die russische Literatur zu erneuern, indem er das „Prinzip der Instrumentalisierung“ einführte. Bereits in seinem ersten Symphonien-Band „Dramatičeskaja“ präsentierte Belyj die bis dahin in Russland unbekannte literarische Gattung, die maßgeblich für das erste Viertel des 20. Jahrhunderts sein wird. Diese musikalisch anmutende und systematisch angelegte Prosa mit ihren Klängen und Symbolen war einzigartig. Das 1902 erschienene Werk war das erste der auf dem Prinzip der Instrumentalisierung fußenden lyrisch-prosaischen Symbolismusliteratur von Belyj.

Neu an dieser symphonischen Prosa war nicht das Thematische, „(…) die ständige Präokkupation, das Schicksal Rußlands und der ganzen Welt aus ominösen Zeichen zu ergründen“; neu waren vielmehr die musikalischen Gestaltungsmittel, die Belyj auf allen Textebenen zu realisieren suchte. So revolutionierte Belyj die russische Literatursprache in seinen Prosawerken. Als Lyriker ist es ihm allerdings nicht gelungen, seinen Altersgenossen Aleksandr Blok qualitativ zu erreichen. Seine Gedichtsammlungen wie beispielsweise „Zoloto v lazuri“ (1904), „Pepel“ (1909) und „Urna“ (1909) waren nicht so einflussreich bzw. bedeutend und enthielten nichts sonderlich Aufsehenerregendes.

Im Jahre 1860 erschien die erste staatliche „Ordnung für die Elementarvolksschulen“ (Zemstvo-Schulen), ohne dass dabei schon der Grundsatz der allgemeinen Schulpflicht verkündet wurde. Bis dahin war das im Jahre 1801 unter Zar Alexander I. gegründete Ministerium für Volksbildung zwar formal für die Elementarbildung zuständig, aber in Wirklichkeit erstreckte sich seine Verantwortung lediglich auf das mittlere Schulwesen und die Universitäten. Das schwach entwickelte dörfliche Schulwesen in Gestalt der kirchlichen Pfarrschulen erhielt nun durch die Zemstvo-Schulen einen Konkurrenten, die in den Augen der Orthodoxie die Gefahr eines laizistischen Geistes darstellte. Seit dem Jahre 1884 wurden daher die kirchlichen Elementarschulen stark subventioniert und ausgebaut. Es gab auch mehrmalige Versuche, die gesamte Elementarschulbildung der obersten Kirchenbehörde zu unterstellen. Dies scheiterte einmal an den unzulänglichen finanziellen Möglichkeiten für einen Unterhalt der Schulen, zum anderen an dem Widerstand der liberalen Öffentlichkeit, die für eine weltliche Verwaltung aller Schulen eintrat. Nach der Revolution von 1905 einen starken Aufschwung, da 1908 den Zemstva zusammen mit den städtischen Selbstverwaltungsorganen die praktische Durchführung der Pläne für einen allgemeinen obligatorischen Schulbesuch übertragen wurde.

Einerseits waren Zemstvo-Angestellte (Lehrer, Landärzte, Agronomen) Träger vieler Initiativen und Bestrebungen zur Hebung der Bildung der einfachen Bevölkerungsschichten, die für die vorrevolutionäre Zeit charakteristisch war. Seit der Bewegung der Narodniki in den 1870er Jahren hatten vor allem gebildete junge Frauen, denen ein Universitätsstudium verwehrt blieb, verschiedene sozialpädagogische und bildungspolitische Tätigkeiten entfaltet, die ausschließlich auf privater Basis beruhten und nur selten in Verbindung mit aktiver revolutionärer Betätigung standen. Die Anfänge der Kindergärten und die verschiedenen Formen der Erwachsenenbildung (Sonntags- und Abendschulen, Bibliotheken und Lesestuben, Literaturverlage usw.) verdankten ihre Entstehung und Verbreitung in erster Linie dem Engagement der gebildeten Mittelschicht, die sich für die Wissenssteigerung und damit auch der Demokratisierung der Bevölkerung verdient gemacht haben. Da sich der Staat auf diesem Gebiet nahezu aller eigenen Initiativen enthielt, konnte trotz Überwachungen und bürokratischer Eingriffe eine fruchtbare Tätigkeit ausgeübt werden. Nicht zufällig fanden gerade unter den hier tätigen Personen seit der Jahrhundertwende die modernen pädagogischen Ideen starke Verbreitung, so dass die Wurzeln der frühsowjetischen Reformpädagogik zu einem großen Teil in diesem Bereich der außerschulischen Bildung und Erziehung zu suchen sind.

Die wirtschaftliche Situation im Land verschlechterte sich wegen einer Rezession zusehends. Die Arbeitslosigkeit in den Industriezentren stieg rasch, da Staatsaufträge ausblieben, und es gab Schwierigkeiten in der Landwirtschaft, da die Exportmärkte zusammenbrachen. Die als Folge der Kriege und der wirtschaftlichen Krise schärfer zutage tretenden sozialen Missstände führten zu wachsendem Unmut in weiten Kreisen. Durch die Initiative des jungen orthodoxen Priesters Gapon wurde ein neuer Versuch einer staatlich geförderten Arbeiterorganisation in Petersburg Anfang 1904 unternommen.

Diese radikalisierte sich im Gleichschritt mit der übrigen Opposition im Laufe des Jahres. Auch Gapon solidarisierte sich mit den in der Sache gewerkschaftlichen Forderungen der Arbeiter. Als Angehörige seiner Organisation um die Jahreswende von den Putilov-Werken, dem größten Rüstungsbetrieb der Hauptstadt entlassen wurden, gingen deren Arbeiter unter der Leitung des Priesters zum Streik über.

Gapon entwarf eine Petition an dem Zaren Nikolaus II mit Ersuchen von ökonomischen und politischen Reformen. Ikonen, Fahnen mit christlichen Emblemen und sogar Bilder des Zaren und seiner Frau tragend, sangen die Arbeiter die Hymne „Gott behüte den Zaren“.

Der Marsch der unbewaffneten Arbeiter auf das Winterpalais traf die Regierung nicht unvorbereitet. Diese deutete den verzweifelten Marsch der Arbeiter als nicht genehmigte Demonstration. Bereits vor dem Narwa-Tor wurden sie durch Soldaten aufgehalten, die auch auf die Menschenmenge schossen. Am Nachmittag kam es erneut zu Zusammenstößen rund um den Winterpalast, bei denen die Armee erneut auf die Bevölkerung schoss. Gapon konnte sich retten und exkommunizierte daraufhin den Zaren, musste dann aber außer Landes gehen, wo er Kontakte zu sozialistischen Exilgruppen aufnahm. Nach Erlass des Oktobermanifestes durch den Zaren kehrte er nach Russland zurück.

Schätzungen von über 1.000 getöteten Arbeitern widersprach der Historiker Kevin O'Connor, der von ca. 130 Ermordeten ausging. An diesem „Petersburger Blutsonntag“ war die Bande zwischen dem Zaren und dem einfachen Volke endgültig zerrissen.

Nicht nur griffen die Streiks auf andere Teile des Reiches über, sondern in der Hauptstadt erklärten alle Schichten der Bevölkerung ihre Solidarität in einer großen Welle einhelligen Protestes. Der Klub der Kaufleute sperrte Gardeoffizieren den Zutritt zu seinen Räumen, weil sie an dem Massaker teilgenommen hätten. Mitglieder der Akademie der Wissenschaften sowie Professoren der Universität forderten die Übertragung der Gesetzgebungsgewalt an frei gewählte Volksvertreter und die Kontrolle der Verwaltung als Voraussetzung allgemeiner Volksbildung. Ihnen schlossen sich Wissenschaftler und Lehrer aus allen Teilen des Landes an. Noch gingen die Proteste stets in friedlichen Formen vor sich. Die allgemeine Unruhe brachte die unterschwellig brodelnden Nationalitätenprobleme an die Oberfläche. Nicht nur politisch mehr oder minder organisierte Nationalitäten –Polen, Letten, Georgier und Juden hatten ihre sozialistischen Parteien – meldeten ihre Forderungen an und entwarfen Autonomieprogramme.

Unter den Petersburger Arbeitern hatte die Gruppe der Menschewiki 1905 eine gewisse Gefolgschaft, die der Anhängern Lenins (Bolschewiki) war wesentlich geringer.

Der Umschlag vom Protest zum politischen Aufbegehren nach dem „Petersburger Blutsonntag“ war im Wesentlichen Ergebnis falscher Politik der Herrschenden, nicht erfolgreiche Agitation revolutionärer Gruppen. Zwar versuchte der Zar mit den Petersburger Arbeitern ins Gespräch zu kommen, aber die Streiks gingen weiter. Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1905 häuften sich die Übergriffe auf dem Lande und waren so gut koordiniert, dass man von einer organisierten Bauernrevolte sprechen konnte. Überall auf dem Lande begannen sich Verbände zu bilden, teils auf lokaler, teils berufsständischer Basis, die auf der Linie des „Bundes der Befreiung“ die Konstituante forderten und sich im Mai zum „Verbund der Verbände“ zusammenfanden. Das alte Misstrauen gegenüber dem liberalen Bürgertum hinderte die sozialrevolutionären Gruppen, sich in die gemeinsame Front einzureihen.

Im Laufe der Zeit wuchs die Streikwelle kontinuierlich auf 220.000 Menschen im Mai an; die erfolglose Meuterei des Panzerkreuzers Potemkin im Juni verunsicherte die Regierung weiterhin. Moskau war dem Zentrum des russischen Eisenbahnnetzes und als die Eisenbahner sich dem Streik anschlossen, wurden so weite Teile des öffentlichen Verkehrs lahmgelegt. Der Moskauer Streik breitete sich in alle Richtungen aus; den Eisenbahnern schlossen sich andere Arbeitern an, bevor der Generalstreik formal erklärt worden war. Inzwischen bildeten sich in den Städten lokale Streikkomitees, Räte (sovety) mit gewählten Vertretern aus den einzelnen Betrieben.

So wurde der Zar gezwungen, das „Oktobermanifest“ zu unterzeichnen. Hier wurden die staatsbürgerlichen Grundrechte etabliert, die Beschränkungen des Wahlrechts für die einzuberufende Duma im Wesentlichen aufgehoben und erklärt, dass kein Gesetz ohne Zustimmung der Duma erlassen werden konnte und die Volksvertretern die Legalität aller administrativen Maßnahmen effektiv kontrollieren können würden. Für die Duma wurde das allgemeine Wahlrecht allerdings lediglich für männliche Bürger in Aussicht gestellt. Das Manifest gewährte zudem bürgerliche Grundrechte: Persönlichkeitsrechte, Religions- und Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit. Das Oktobermanifest war damit Vorläufer der ersten russischen Verfassung.

In den Augen des Bürgertums, aber auch vieler einfacher Leute, war mit den Zusagen des Manifests das Ziel der Auflehnung erreicht. In der praktischen Politik veränderte jedoch das Manifest des Zaren nicht viel. Er hatte weiterhin große Macht über die Duma und blockierte diese vielfach durch sein Veto.

Das 1905 vorgelegte Oktobermanifest des Zaren war ein taktisches Zugeständnis an die revolutionären Unruhen und Streikbewegungen, wurde aber von Anfang an von den bolschwistischen Kräften und anderen sozialistischen Organisationen im Land sehr kritisch gesehen, was sich später als traurige Realität herausstellte. Der Zar wollte vor allem eine innenpolitische Atempause erreichen. In dem Manifest hieß es: „Wir rufen alle treuen Söhne Rußlands auf, ihrer Pflicht gegen das Vaterland eingedenk zu sein, zur Beendigung der unerhörten Wirrsal zu helfen und mit Uns alle Kräfte zur Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung des Friedens auf dem Heimatboden anzuspannen.“

Es gab aber auch heftige Unruhen der Bauern mit zahlreichen Brandstiftungen und Morden an Gutsherrn vor allem in den baltischen Provinzen sowie Meutereien unter Matrosen und Soldaten. Die zaristische Regierung zerschlug diese Erhebungen mit äußerster Repression. Anfang Dezember wurde fast der gesamte Petersburger Arbeiterrat verhaftet. Zur gleichen Zeit kam es noch zu bewaffneten Aufständen in einigen Arbeitervorstädten Moskaus. Hier hatten Sozialisten Waffen heranschaffen können, doch auch diese Erhebung wurde brutal niedergeschlagen. Die zaristische Regierung hatte einen Pyrrhus-Sieg errungen, im Augenblick konnte sie den revolutionären Kampf noch unterdrücken, es schien aber nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann die russische Monarchie zusammenbrechen würde.

Als sich der Zar seiner militärischen und politischen Macht wieder sicher zu sein schien, wurden die im Oktobermanifest erreichten Zugeständnisse wieder zurückgenommen. Mit der Auflösung der 2. Staatsduma und der Einführung eines neuen Wahlrechts durch Nikolaus II. im Juni 1907, wodurch die Vorherrschaft konservativer Kräfte im Parlament sichergestellt wurde, wurden die Reformen weitgehend wieder entkräftet.

Die Revolution von 1905 (noch näher schildern) brachte auch für den Bildungsbereich wesentliche Veränderungen mit sich. Einerseits fand eine konservative Wende statt, die sich in der Rücknahme der Abschaffung der Schüleruniformen für Gymnasiasten, die Abschaffung gewählter Elternausschüsse oder Aufhebung der Zulassung von Studentenvereinigungen widerspiegelte. Andererseits bewirkte der revolutionäre Umschwung eine rege Organisationstätigkeit sowohl unter russischen Lehrern und Wissenschaftlern als auch in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit. Schon im Frühjahr 1905 wurde der Allrussische Lehrerverband gegründet, dem vor allem Volksschullehrer und führende Köpfe der demokratischen Volksbildungsbewegung wie V. P. Vachterov (1853-1924) und N. V. Tschechov (1865-1947) angehörten. Eine weitere Neugründung war der Allrussische Verband der Mittelschullehrer an Gymnasien und Realschulen, es folgten weitere Organisationen auf gesamtstaatlicher oder lokaler Ebene mit gewerkschaftlichen und pädagogisch-fachlichen Zielsetzungen. Eine dieser Zusammenschlüsse die „Liga für Bildung“ entfachte eine Kampagne für ein Gesetz der Schulpflicht, das in die Beratungen der Duma einfloss.

Die aus der Revolution von 1905 hervorgegangenen Lehrerverbände mit reformerischer Zielsetzung mussten zwar seit Beginn der Restauration im Jahre 1907 in vielen Fällen ihre Tätigkeit einstellen, aber als sich in den Jahren vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges wiederum die Möglichkeit für ein öffentliches Auftreten bot, kamen die progressiven Pädagogen auf den wichtigsten Bildungskongressen (Allgemeiner Zemstso-Kongress über Volksbildung im August 1911, 1. Allrussischer Kongress über Familienerziehung in den Winterferien 1912/1913, 1. Allrussischer Kongress für Volksbildung in den Winterferien 1913/1914) wieder zu Wort. Die wichtigsten Forderungen der reformorientierten Pädagogen lauteten:

  1. Verwirklichung der allgemeinen Schulpflicht unter Verantwortung der lokalen Selbstverwaltung,
  2. Lehr- und Lernmittelfreiheit,
  3. Weltlichkeit der Schule,
  4. Unterricht für Kinder nichtrussischer Nationalitäten in deren Muttersprache,
  5. freier Übergang von der Grundschule zur anschließenden Mittelschule.

Ein Kennzeichen für den inneren Zusammenhang der schulpolitisch-volksbildnerischen Bewegung mit den reformpädagogischen Bestrebungen aus dem wissenschaftlichen Bereich lag darin, dass in dem Jahrzehnt zwischen 1906 und 1916 fünf Allrussische Kongresse für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik stattfanden, die für die Entwicklung der Psychologie und Pädagogik über das Revolutionsjahr 1917 hinaus grundlegende Bedeutung besaßen. Die pädagogische Publizistik vor der Oktoberrevolution zeigte ebenfalls eine große reformerische Bereitschaft. Der „Erziehungsbote“, „Freie Erziehung“ und „Die russische Schule“ spiegelten die Vielfalt des freien Bildungsgeschehens im Gegensatz zu der stagnierenden Bildungspolitik der zaristischen Regierung wider.

Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi zählte zu den bedeutendsten libertären Reformpädagogen, die antiautoritäre Strömungen in der Erziehung wie die Summerhill-Pädagogik weltweit im 20. Jahrhundert beeinflusst haben. Für ihn existierte ein Zusammenhang zwischen Bildung, Freiheit und Erfahrung, was er als Einheit verstand. Seine Pädagogik wurde durch die Verarmung der Bauern und durch den despotischen Charakter der zaristischen Regimes geprägt. Die russisch-orthodoxe Kirche war eine weitere autoritäre Institution, deren Erziehungspraxis Tolstoi für die kinderfeindliche Erziehung verantwortlich machte.

Ein großer Teil der russischen Bauern lebte Mitte des 19. Jahrhunderts in Armut. Die Bevölkerung hatte sich vermehrt, die Höfe wurden geteilt, damit sanken Betriebsgröße und Ausstattung mit Betriebsmitteln. Seit dem gescheiterten Dekabristen-Aufstand nahm der Reformdruck im Reiche immer mehr zu Die Forderung nach Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft war nicht nur in der Intelligenzia populär, sondern auch unter Staatsbeamt_innen und Aristokrat_innen. Nach der Niederlage im Krim-Krieg waren die Reformen unaufschiebbar geworden. Nach fünf Jahren Beratungen wurde das Manifest über die Aufhebung der Leibeigenschaft am 2. März 1861 unterzeichnet.

Dem Manifest folgte ein Gesetz, das die Landzuteilung an die Bauern regelte. Die Landanteile waren zu klein und wurden mit übergroßen Lasten belegt, da die Bauern die Entschädigung, die der Staat den Grundbesitzer_innen gezahlt hatte, innerhalb von 49 Jahren an ihn zurückzahlen mussten. Ergebnis der Bauernbefreiung von 1861 war also, dass sich die Lage der Bauern eher verschärfte. Der entstehende Bevölkerungsüberschuss konnte nirgends anders aufgefangen werden, die Landwirtschaft arbeitete weiter am Rand der Existenzkrise, was sich in den immer wiederkehrenden Hungersnöten zeigt. Die alte Abhängigkeit der Bauern von den Grundbesitzern wandelte sich in eine neue Abhängigkeit durch drückende Schulden.

Aus diesen Gründen setzte sich die Verelendung bei den Bauern weiter fort. Rosenstock-Huessy stellte fest:„ Die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 in Rußland imitiert die Zerstörung des Feudalstaates von 1789. Der Zarbefreier hat damit nicht den Feudalstaat zerstört, sondern nur die französische Revolution verhaßt gemacht. Denn diese Idee von 1789 sah in Rußland so aus, daß die Bauern persönlich frei wurden, ohne zu wissen wohin. Auch wenn man sie viele Jahre beim Militär hielt, so war das doch noch kein genügender Abfluß. (...) Den Bauern hat der Zarbefreier begehrlich, haltlos, landgierig, böse gemacht. Die Aufhebung der Leibeigenschaft von 1861 war eine Mißhandlung des Bauern (...) Die Bauern haben seit 1861 hartnäckig darauf gewartet, daß der Zar ihnen das Land geben werde. Viele kauften durch Jahre keine Parzelle, weil sie darauf warteten. Der Zar mußte wiederholt erklären lassen, dergleichen sei nicht zu erwarten. Ein Minister, der das erklärte, beging wenig später Selbstmord. Die Bauern behaupteten, der Zorn des Zaren habe ihn getroffen. Der Bauer ist also seit der `Freiheit` in Gärung. Die Freiheit ist der Fluch dieses Bauern. Also wird er gegen diese Freiheit Revolution machen. Er wird nach Ordnung verlangen. Wirtschaftsordnung, Gesellschaftsordnung lautet der Ruf der russischen Revolution, weil 'Freiheit' für ihn nur Unordnung war."

Verschärfend wirkten die Missernten und Hungersnöte der Jahre 1891-1893; sie haben die Unfähigkeit der Regierung bewiesen, katastrophale Situationen zu meistern. Die Bauern lebten in einem autonomen Rechtsbereich; in der Praxis fungierte nur die Landgendarmerie als mehr oder minder dubioses Kontrollorgan. Das Proletariat erwuchs aus der Freisetzung bäuerlicher Untertanen, ähnlich wie in anderen westeuropäischen Ländern auch. 1902/03 kam es infolge von Hungersnöten zu Bauernaufständen. Im Zusammenhang mit der ersten russischen Revolution von 1905 kam es dann erneut zu Bauernaufständen und Plünderungen des adligen Besitzes. Die Notwendigkeit einer Reform der Agrarverhältnisse, die eine tatsächliche Entwicklung des Kapitalismus ermöglichte, wurde unübersehbar. Der damalige Ministerpräsident Stolypin legte Pläne für diese Reform vor, dessen Ziel es war, eine Schicht kapitalistischer Bauern herauszubilden.

Der russische Staat konnte aus Mangel an Alternativen den wirtschaftlichen Rückstand nur dadurch überwinden, dass er selber eine kapitalistische Industriewirtschaft aufbaute, indem er von oben in das Wirtschaftsleben eingriff. Neben subventionierten Staatsbetrieben beteiligte er sich selbst an den Unternehmen oder gewährte Großbetrieben im Hüttenwesen sowie Maschinenbau Geldmittel und sorgte für den Absatz ihrer Produkte. Durch hohe Importzölle versuchte der Staat einheimische Unternehmer_innen vor der Konkurrenz des Auslandes zu schützen. Die russische Regierung gründete staatliche Banken, um damit westliches Kapital anzulocken.

In den 1870er Jahren begannen die Planungen für eine Eisenbahn durch ganz Sibirien. Nachdem die russische Eisenbahn 1886 den Ostrand des Ural erreichte, wurden verschiedene Trassenführungen erwogen. Verkehrsminister Sergei Juljewitsch Witte warb bei Zar Alexander III. für eine durchgehende Bahnstrecke, die Transsibirischen Eisenbahn.

Die Überzeugung der Regierung von dieser Notwendigkeit einer Eisenbahnlinie, die bis Wladiwostok an der Ostküste Asiens reichen sollte, war ein schwieriges Unterfangen. Es gab Kritiker_innen in der Regierung, die an dem wirtschaftlichen Nutzen und der Finanzierung der Eisenbahn zweifelten. Außerdem war es sich schwer, in der Bevölkerung die Ideologie der Transsibirischen Eisenbahn zu vermitteln.

Witte argumentierte, dass Russland durch die Transsibirischen Eisenbahn einen leichteren Zugang zum chinesischen Markt hätte, so dass auch der europäische Handel mit China zum Teil auf diesen Weg verlagert werden könnte, vor allem der wiederbelebte chinesischen Teehandel. Ebenso würde eine Eisenbahn die Möglichkeit eröffnen, sibirisches Getreide in den europäischen Teil Russlands und nach Russisch-Mittelasien zu transportieren. Weiterhin schürte Witte die Erwartung, dass die Bahn die sibirische Wirtschaft ankurbeln und ausländische Investitionen anlocken würde.

Neben der Schaffung neuer Rohstoffquellen und Märkte in China warb Witte mit der verstärkten Erschließung Sibiriens, dessen reiche Bodenschätze durch den Bau der Eisenbahn den Reichtum des russischen Staates vermehren könnten. Der aus dem Bau der Eisenbahnlinie resultierende ökonomische Aufschwung in Russischen Reich sollte die Armut beheben und die eigene wirtschaftliche Rückständigkeit im Vergleich zu den westlichen Staaten überwinden.

Um mit den anderen industriell höher entwickelten imperialistischen Staaten konkurrieren zu können, sollte Russland als erste Großmacht in China eine Einflusszone gesichert und diese in wirtschaftliche Abhängigkeit gedrängt werden. Diese Expansionspolitik nach Ostasien wäre mit dem Bau der Eisenbahn strategisch machbar: „Das russische Unternehmen im Fernen Osten gegen Ende des 19. Jahrhunderts war ohne Eisenbahnen unmöglich“. Von Anfang an strebte Witte eine „friedliche Durchdringung“ („pénétration pacifique“) Nordchinas an, indem das Gebiet allmählich wirtschaftlich abhängig gemacht und dem russischen Einfluss unterwerft werden sollte. Russland sollte als imperialistische Macht eine bedeutende Rolle in der Beziehung zwischen Europa und Asien spielen. Mit diesen Argumenten konnte Witte die russische Regierung überzeugen und der Bau der Transsibirischen Eisenbahn 1891 durchsetzen.

Dieses von Witte geleitete Projekt übertraf in seiner Größe alles Bisherige und spielte in der Ostasienpolitik Russlands eine tragende Rolle. Witte wurde zum Finanzminister ernannt und war von nun an der prägende Kopf der russischen Politik. Der Bau der Transsibirischen Eisenbahn gewann durch Investitionen aus dem Ausland zunehmend an internationaler Bedeutung und war gleichzeitig „Motor und Gleitschiene der Industrialisierung“ in Russland. Insgesamt umfasste das Projekt schließlich eine Strecke von 25.300 Kilometern und verschlang 39 Prozent der russischen Roheisenerzeugungen.

Die russische Eisenbahn verband Mitte der 1880er und 1890er Jahre die entstehenden Industriezentren mit den Eisen- und Kohlerevieren sowie mit den zentralen Agrarregionen und den Ausfuhrhäfen an der Ostsee und am Schwarzen Meer. Vom Eisenbahnbau profitierten gleichzeitig die Schwerindustrie und der Maschinenbau, die zu zentralen Bereichen der Industrialisierung wurden.

Roheisenproduktion und Kohleförderung verzehnfachten sich bis 1900, das Erdölgebiet um Baku übertraf 1901 die Förderung in den USA. Die Industrie konzentrierte sich besonders in Sankt Petersburg und Moskau, in der Ukraine und in den Ölgebieten Transkaukasiens. Seit der zweiten Hälfte der 1880er Jahre erfolgte ein rascher industrieller Aufschwung. Die durchschnittlichen Wachstumsraten lagen bei sechs Prozent, in den 1890er Jahren bei acht Prozent. Trotz der fortschreitenden Industrialisierung blieb Russland ein Agrarland. Um 1900 trug die Landwirtschaft mit 53 Prozent zum Nationaleinkommen, die Industrie mit 21 Prozent bei. Industrieprodukte trugen mit weniger als 10 Prozent zum russischen Export bei.

Seit den Reformen Peters des Großen wurde das Russland von einer aufgeblähten Bürokratie mit Unterstützung der Kirche mit dem Zaren an der Spitze verwaltet. Dabei war die Hierarchie des Staatsdienstes wichtiger als die Hierarchie der Geburt. Der Adel war verpflichtet, als Beamt_innen oder Soldat_innen dem Staat zu dienen, Landverteilung und Titel waren an die jeweilige Funktion im Staatsapparat verknüpft. Einfache Beamt_innen bekamen so wenig Lohn, so dass sie auf Bestechungsgelder angewiesen waren. Korruption war an der Tagesordnung, was besonders in der armen Bevölkerung das Vertrauen in den Staat im Laufe der Zeit erschütterte.

Die Geschwindigkeit der industriellen Entwicklung ab den 1890er Jahren führte zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen. Als Motoren der Industrialisierung galten neben dem Bau der Sibirischen Eisenbahn, die Kapitalbildung über ein Bank- und Kreditwesen, Kapital aus dem Ausland sowie eine protektionistische Außenpolitik. In den Städten St. Petersburg und Moskau sowie im Ural und der südlichen Ukraine entstanden Industriezentren. Diese Modernisierung des Russischen Reiches und Anpassung an westeuropäische Entwicklungen, die mit wachsender Mobilität einherging, stand die sich nur langsam ändernde sozio-ethnische Struktur des Vielvölkerreichs gegenüber. Die sozialen und nationalen Fragen trugen zur Instabilität des Reiches bei. Es gelang dem Zaren nicht, die Wurzel der aufkommenden Nationalkonflikte und der Unzufriedenheit der breiten Bevölkerungsmasse zu bekämpfen. Er hielt immer noch an einem auf die orthodoxe Kirche gestütztes Reich, das militärische Stärke gegenüber dem Ausland und seinen imperialen Gebieten demonstrieren sollte, fest und ignorierte die realen offenen Problemfelder.

Mit der Wendung der russischen Gesellschaft zur kapitalistischen Ordnung wurde die Reform der inneren Verhältnisse noch dringlicher. Eine wirtschaftende Mittelschicht war am Entstehen, die ihren Anteil an der Verfügung über die Staatseinnahmen und die Mitverantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten erstrebte. Dieses neue Bürgertum hatte sich verhältnismäßig rasch entwickelt, war aber nur zu einem geringen Teil aus einem Stande selbständiger Handwerker mit eigenen Traditionen der Selbstverwaltung erwachsen. Diese Mittelschichten waren zwar noch nicht in ein gemeinsames politisches Bewusstsein integriert, aber die Intelligenzia hat ihnen die Forderungen des Tages vermittelt. Politische Freiheit war für den wirtschaftenden Stand weder ein abstraktes noch moralisches Ziel, sondern meinte konkret Freiheit der materiellen Entfaltung und Besteuerung. Waren diese Ansprüche erfüllt, so konnte der Mittelstand durchaus als stabilisierender Faktor des öffentlichen Lebens wirken. Zarenhof und die höhere Beamt_innenschaft haben nicht verstanden, dass der Industrialisierung als staatlicher Politik eine neue politische Struktur entsprechen musste.

Tolstoi erbte das Landgut Jasnaja Poljana im Alter von 18 Jahren. Zu dem Gut gehörten damals über 1800 Hektar Land, fünf Dörfer und 300 Leibeigene, worunter Männer im arbeitsfähigen Alter gezählt wurden. Er wurde in Jasnaja Poljana in einem schlichten Grab beerdigt Das Gut ist heute ein vielbesuchtes Museum, das seit 1921 existiert. Seine Hauptwerke Krieg und Frieden und Anna Karenina, die Tolstois literarischen Weltruhm begründeten, schrieb er auf dem Landgut. Die politisch-soziale Situation in Russland war durch die Entstehung eines Industrieproletariats in den großen Städten wie Moskau oder St. Petersburg und auf dem Lande durch Armut und ein Fortbestehen feudaler Herrschaftsverhältnisse geprägt. Es fand eine Vielzahl von Bauernaufständen statt, die sich gegen die zaristische Repression auflehnten. Insbesondere für die ärmeren Schichten der russischen Bevölkerung forderte Tolstoi den Zugang zur Bildung. Er gründete 1849 im Alter von 21 Jahren die erste Bauernschule auf diesem Gut, die jedoch keine zwei Jahre nach ihrer Eröffnung wieder schließen musste. Die mangelhafte finanzielle Absicherung begleitete das Projekt Tolstois von Anfang an. Seine Bauernschule in Jasnaja Poljana galt als Ort der selbsttätigen, freiwilligen und alltagsorientierten Bildung. Sein widerwilliger Eintritt in die russische Armee 1851, wo er am Kauskasus- und am Krimkrieg teilnahm, bedeutete die Hinwendung Tolstois zu einer antimilitaristischen Überzeugung. Es gab freundschaftliche Kontakte und einen Briefwechsel zwischen Tolstoi und Mahatma Ghandi und dessen Widerstandsbewegung im von Großbritannien kolonisierten und ausgebeuteten Indien. Gemäß der reinen christlichen Lehre wandte er sich nun gegen Krieg und Militarismus, Feudalismus, gegen Leibeigentum sowie gegen die Kirche und ihre Dogmen. Nach dem Kriegsdienst kehrte er auf sein Landgut zurück und gab den Leibeigenen 1856 die Freiheit. Das war eine mutige Tat, denn die Leibeigenschaft in Russland endete erst 1861, in Wirklichkeit erst viel später.

Tolstoi entwickelte eine Abneigung gegenüber der rituellen Form der Religiosität wie es in der russisch-orthodoxen Kirche damals üblich war. Seine ideologischen Überzeugungen orientierten sich am Urchristentum, das die starren Regeln und Dogmen der russisch-orthodoxen Kirche ablehnte. Das Urchristentum bezeichnet die Anfangsjahre des Christentums, die vom Jesus von Nazareth bis zur Abfassung der letzten urchristlichen Schriften reicht (30–ca. 100). Tolstoi orientierte sich besonders an der Jerusalemer Urgemeinde und die als normatives Wort Gottes im Neuen Testament gesammelten Schriften und am Gebot der Nächstenliebe. Ausgangspunkt für seine Kritik an Gesellschaft und Kirche war die „Bergpredigt“ aus dem Neuen Testament. In seinem Werk „Das Himmelreich in Euch“ aus dem Jahre 1893 entwickelte er seine grundlegenden christlichen Überzeugungen und deren politischen und gesellschaftlichen Folgen. Er übersetzte ebenfalls die Evangelien erneut ins Russische.

Aus Gründen persönlicher pädagogischer Weiterbildung bereiste er 1857 und 1860/61 westeuropäische Länder. Dabei besuchte er Künstler wie Charles Dickens oder Iwan Sergejewitsch Turgenew und Pädagogen wie Adolph Diesterweg. Tolstoi übernahm Diesterwegs Ansätze der Anschauung und Selbsttätigkeit als didaktische Grundsätze und die Ideen der Volksschule als Lehranstalt für die arbeitenden Klassen. Außerdem war Tolstoi von Diesterwegs Ziel der Heranbildung eines mündigen und kritischen Bürger durch Bildung angetan, was im krassen Gegensatz zum despotischen zaristischen Russland seiner Zeit stand. Negative Eindrücke erhielt er bei der Hospitation in Preußen an einigen Schulen und Kindergärten. Tolstoi bemerkte: „Außer der abstumpfenden Wirkung der Schule, für die der Deutsche das schöne Wort ‚verdummen‘ hat, und die in einer dauernden Verkrüppelung der geistigen Fähigkeiten besteht, gibt es noch eine andere viel schädlichere Wirkung, die darin besteht, daß das Kind im Laufe von mehreren Stunden, durch das Schulleben stumpf gemacht, täglich während dieser Zeit, die für das Lebensalter so kostbar ist, aus jenen Lebensbedingungen herausgerissen wird, die die Natur selbst für seine Entwicklung vorbestimmt hat.“ Nach seiner Rückkehr bemerkte er außerdem, „daß die einzige Grundlage der Erziehung die Erfahrung und ihr einziges Kriterium die Freiheit ist“. Bildung interpretierte er als Begegnung von Menschen zum Zweck der Emanzipation. Im Jahre 1859 gründete er auf seinem Gut erneut eine Bauernschule, die bis 1862 von ihm geleitet wurde. Zwischen 1859 und 1862 kam es zur Gründung weiterer 20 dieser Schulen. Der Zeitraum von 1859 bis 1863 gilt heute als die Phase seiner intensivsten Beschäftigung mit pädagogischen Fragen. Daneben gab er auch eine eigene pädagogische Zeitschrift heraus, die von 1862 bis 1863 in zwölf Ausgaben erschien. Sie diente der Verbreitung seiner Erziehungs- und Bildungskonzeption und sollte im despotischen Rußland eine Reformdiskussion innerhalb des staatlichen Erziehungswesens darstellen. 1862 wurden seine Schulen durch die Staatsgewalt geschlossen. Dies wurde damit begründet, sie seien „ein Hort von Anarchie, Negation und Chaos“. Tolstoi wurde außerdem einer angeblichen Verschwörung gegen den Zaren beschuldigt, was einen Vorwand darstellte, sein Wohnhaus sowie seine Schule zu durchsuchen und zu verwüsten. 1863 zog sich Tolstoi daraufhin aus der pädagogischen Arbeit zurück und konzentrierte sich wieder verstärkt auf seine literarischen Werke. Der dritte Versuch, die „Universität der Bastschuhe“, eine höhere Schule für die Bauernschaft, scheiterte an den fehlenden Finanzen.

In seiner pädagogischen Theorie ging Tolstoi davon aus, dass die frühkindliche Erziehung hauptverantwortlich dafür ist, wie sich Menschen im späteren Leben in ihrem Charakter entwickeln würden. Sein Wille, die Gesellschaft zu verändern, wurde für ihn vor allem eine Frage der künftigen Erziehung. Er ging davon aus, dass Kinder ein im Vergleich zu Erwachsenen viel stärker von „Bildern“, „Farben“ und „Tönen“ geprägtes unterbewusstes Denken besäßen.

Tolstoi wurde inspiriert von Jean-Jacques Rousseaus pädagogisches Werk „Emile oder über die Erziehung“. Besonders der weitgehende Verzicht der Autorität gegenüber den Schülern und das Erfahrungslernen beeindruckten Tolstoi. Neben dem Unterricht standen Schwimmen, Schlittschuhlaufen, Reisen und Wandern und die dazugehörigen Naturerfahrungen im Mittelpunkt.

Er unterschied ausdrücklich zwischen Erziehung als Anwendung von Zwang und Bildung als eine freiwillige und freiheitliche Begegnung zwischen Lehrer und Schüler: „Woran liegt es, daß es eine Erziehung gibt? Wenn eine so unmoralische Erscheinung, wie Zwang in der Bildung, d.h. Erziehung Jahrhunderte existieren kann, so muß die Ursache dazu in der menschlichen Natur wurzeln. Diese Ursache glaube ich zu entdecken, erstens in der Familie, zweitens in der Religion, drittens im Staat und viertens in der Gesellschaft.“

In den Schulen Tolstois gab es keinen Zwang zur Pünktlichkeit, was auch in der Realität funktionierte. Laut Tolstoi waren nur diejenigen Schüler unpünktlich, die durch Arbeit für ihre Eltern vom Schulbesuch abgehalten wurden. Seiner notenfreien Beurteilung widersetzten sich seine Schüler, die eine Einordnung ihrer Leistungen verlangten. Die Mitbestimmung bei der Auswahl des Unterrichtsstoffes und eine Konfliktregelung, die in den Händen der Schüler lag, stellten neuartige Ansätze von Demokratisierung des Schulsystems dar. Demokratie in der Schule bedeutet für Tolstoi eine Dynamik der Lehrer-Schüler-Interaktion. Bildung wurde als Dialog mit den Schülern verstanden, nicht als Belehrung oder Unterweisung (Didaktik des Dialoges). Dies führte dazu, dass die Schule Tolstois jedoch nicht nur die Lust am Lernen erhöhte, sondern auch mit Lernerfolgen verbunden war. Jegliche Erziehung und Bildung sollte die Persönlichkeit eines Kindes respektieren. Die Lehrer sollten Tolstois Ansicht nach nur wenig in die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes eingreifen und ihre Schüler zu mündigen Persönlichkeiten erziehen. Schroedter bilanzierte: „Der Zwang zum Stillsitzen und die daraus resultierende fehlende Bewegung ist ein wesentliches Element der Kritik an den Schulen sowohl Russlands als auch der Schulen Westeuropas. Dies wurde in den von Tolstoi errichteten Bauernschulen, die nach dem Vorbild von Jasnaja Poljana entstanden, eine deutliche Absage erteilt. Die Kinder durften sich unterhalten, sie durften, ja, sie sollten sich bewegen. In seinen Betrachtungen fasste er Bildung tendentiell als die die freiwillige Teilnahme an einem ungezwungenen Unterricht auf und sah in der Erziehung den zwangsweisen Unterricht. Die Auseinandersetzung mit den Jugendlichen sollte da beginnen, wo sie mit ihrem Erfahrungsschatz anknüpfen können.“ In seinen Schulen entwickelte er auch Ansätze für Untersuchungen und Systematisierungen von Lernsituationen: „Erst wenn die Erfahrung zur Grundlage der Schule gemacht wird, wenn die Schule sozusagen ein pädagogisches Laboratorium geworden ist, erst dann wird die Schule nicht hinter dem allgemeinen Fortschritt zurückbleiben und dann wird auch die Beobachtung im Stande sein, feste Grundlagen für die Wissenschaft der Erziehung zu schaffen.“

Tolstoi verfasste Lesebücher zu den Fächern Geschichte, Physik, Biologie und Religion, um Kindern moralische und soziale Werte zu vermitteln. Generationen russischer Schüler erhielten bis in die 1920er-Jahre mit seinem erstmals im Jahre 1872 erschienen Schulbuch Alphabet die Grundschulbildung. Die überarbeitete Neuauflage aus dem Jahre 1875, mit einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren, wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Das Bildungswesen vor der Oktoberrevolution

Sowohl in finanzieller wie organisatorischer Hinsicht bildete die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die zugleich die wichtigste Voraussetzung für die allmähliche Beseitigung des hohen Anteils der Analphabeten in der russischen Bevölkerung darstellte, das Hauptproblem. Die Duma beauftragte im Jahre 190 die lokalen Selbstverwaltungskörperschaften in Stadt und Land damit, Schulbaupläne für den Ausbau der Elementarschulen bis zur vollen Erfassung aller Kinder im Grundschulalter vorzulegen, aufgrund derer staatliche Zuschüsse bewilligt wurden. Die Planung und der Ausbau der Grundschulen schritten bis zum Jahre 1916 voran, so dass mit der tatsächlichen Einführung der allgemeinen Schulpflicht für alle Kinder vom achten Lebensjahr an im Unfang von mindestens vier Jahren in ganz Russland im Jahre 1925 rechnete. Im Jahre 1915 erfasste das Grundschulnetz rund 51% aller Kinder von 8-11 Jahren. Die Zahl der Grundschulen war seit 1911 von 100.295 mit 6.180.510 Schülern auf 123.745 mit 7.788.552 Schülern um rund ein Viertel gestiegen. Allerdings war der Beschulungsgrad sehr ungleichmäßig verteilt; die Dorfbewohner waren gegenüber den größeren Städten ebenso benachteiligt wie die Mädchen auf dem Lande gegenüber den Jungen und die östlichen Reichsteile gegenüber dem europäischen Teil Russlands.

Die Volkszählung von 1897 mit einem Anteil von 78,9% Analphabeten an der Gesamtbevölkerung des Reiches oder 73% bei Ausschluss der noch nicht schulpflichtigen Kinder unter 9 Jahren dokumentierte den Rückstand Russlands in der elementaren Volksbildung gegenüber West- und Mitteleuropa sowie den USA eindeutig. In den zwei Jahrzehnten bis zur Revolution von 1917 hatte sich der Anteil der lese- und schreibkundigen Personen über 9 Jahre auf rund 38-39% erhöht. Das Analphabetentum von rund 60% der Bevölkerung und der fehlende Schulunterricht für nahezu die Hälfte der Kinder bildeten eine schwere Hypothek, die alle bildungspolitischen Maßnahmen der Sowjetregierung in den ersten beiden Jahrzehnten überschattete.

Da das russische Bildungssystem des Staates von oben nach unten im Sinne der absolutistischen Ideologie konzipiert war, wiesen die mittleren und höheren Lehranstalten einen quantitativ und qualitativ besseren Stand auf als die Volksschulen. Unter dem Begriff der „mittleren Bildung“ und der „Mittelschule“ fielen im Zarenreich um 1900 die klassischen Gymnasien für Jungen (achtjährig), die siebenjährigen Gymnasien und die Progymnasien für Mädchen, die siebenjährigen Realschulen und die Handelsschulen (sieben- oder achtjährig), in denen ebenfalls die allgemein bildenden Inhalte überwogen. Die Kadettenanstalten, die Diözesanschulen für Mädchen und die „Institute für adelige Fräulein“ konnte man als Relikte der ständischen Herkunft im mittleren Schulwesen ansehen. Die staatliche Schulpolitik im 19. Jahrhundert hatte mehrfach versucht, die verschiedenen Schultypen auf bestimmte Stände zu begrenzen, aber der Demokratisierungsprozess ließ sich nicht aufhalten. Die entstehende bürgerliche Gesellschaft in Russland schuf sich ihre eigene bürgerliche Schule, die keine geburtsständischen Privilegien mehr kannte und jedem das formale Recht auf freien Zutritt zu den höheren Bildungsstufen gewährte.

Während noch im Jahre 1894 unter den 54.590 Schülern der Knabengymnasien 56,4% dem Adel und der höheren Beamtenschaft, 33,5% den „städtischen Ständen“, 6,7% der Bauernschaft und 3,4% der Geistlichkeit entstammten, hatte sich das Bild im Jahre 1914 (152.110 Schüler) folgendermaßen verändert: 32,3% Adel und Beamten, 45,6% Angehörige städtischer Stände (darunter 26,9% Arbeiter und Handwerker), 22% Bauern und 5,6% Geistlichkeit. In den Realschulen stellten 1914 von den 80.800 Schülern die Bauernkinder mit 32,1% zusammen mit den städtischen Handwerkern und Arbeitern mit 29,6% sogar die Mehrheit der Schüler; ähnliches galt für die Mädchenanstalten. Das mittlere Schulwesen in Russland vor der Revolution 1917 kann daher nur bedingt als klassengebunden bezeichnet werden, auch wenn die sozialistischen Kritiker mit Recht auf die materiellen Ungleichheiten, die die Chancen für Kinder aus ärmeren Familien beeinträchtigten, hinwiesen.

Die Krisenerscheinungen des mittleren Schulwesens, insbesondere der Gymnasien, lagen auf einem anderen Gebiet: in dem Dualismus von klassischer und realistischer Bildung, der zwischen 1900 und 1904 zu verschiedenen Reformprojekten Anlass gab, und in der allgemein als pädagogisch rückständig empfundenen Erziehungs- und Unterrichtspraxis. Die Entfremdung von der Familie, bürokratischer Charakter, trockener Formalismus, Überbürdung der Schüler durch bloßes Auswendiglernen und fehlende Berücksichtigung der kindlichen Eigenarten waren regelmäßig erhobene Vorwürfe. Die Schüler der oberen Gymnasialklassen sympathisierten meistens mit den oppositionellen Strömungen und nahmen weiterhin an revolutionären Geheimzirkeln zusammen mit Studenten teil.

Für die russischen Universitäten und Hochschulen waren die letzten Jahre der zaristischen Herrschaft eine Periode permanenter politischer Unruhen bei einem gleichzeitigen Hochstand wissenschaftlicher Leistungen auf vielen Gebieten und einem starken Zuwachs der Studentenzahlen. Zwischen den Jahren 1900 und 1914 erhöhte sich die Zahl der Studenten an den neun Universitäten des Reiches von 16.357 auf 55.695, wobei allein an der Moskauer Universität im Jahre 1914 9.892 Studenten eingeschrieben waren. Auch die Zahl der Fachhochschulen, die ausschließlich Männern vorbehalten waren, und die der Höheren Frauenkurse, die den Universitäten kaum nachstanden, erlebte einen beträchtlichen Aufschwung. Insgesamt wurden im Studienjahr 1912/1913 an den genannten Hochschulen und Kursen 66.981 Personen unterrichtet. In der sozialen Zusammensetzung der Studenten hatte sich ebenfalls ein Wandel zugunsten der mittleren und unteren Sozialschichten vollzogen. An den Universitäten gehörten 1914 zwar noch 36,1% dem Adel und Beamtentum an, aber es folgten mit 24,3% Handwerker und Arbeiter; 14,8% gehörten dem städtischen Bürgertum, 14,5% der Bauernschaft und 10,3% der Geistlichkeit an. An den Technischen Hochschulen und den Höheren Frauenkursen war die Zusammensetzung noch stärker demokratisiert.

Alle russischen Universitäten und die meisten anderen Hochschulen waren Staatsanstalten; im 19. Jahrhundert waren preußisch-deutsche und französische Einflüsse für ihre innere Organisation maßgebend gewesen. Bis zur Oktoberrevolution von 1917 handelte es sich um einen wechselhaften Kampf um ihre Autonomie, d.h. die rechtlich gesicherte Selbstverwaltung, nach dem Vorbild der deutschen Universitäten. Die Autonomie wurde vom Staat – je nach den allgemeinen politischen Entwicklungen – abwechselnd teilweise geändert und dann wieder zurückgenommen. Die Hoffnungen aus dem Revolutionsjahr 1905 erfüllten sich nicht; im Jahre 1911 kam es zu Massenrelegierungen von Studenten sowie Entlassungen und Rücktritten von Professoren. Diese Krisensymptome zeigten die große Entfremdung zwischen den überwiegend demokratisch gesinnten Professoren, den zum Sozialismus neigenden Studenten und der konservativ-bürokratischen Staatsgewalt.

Gegenüber dem allgemein bildenden mittleren Schulwesen und den Universitäten und Hochschulen befand sich die „beruflich-technische Bildung“ in einem erheblichen Rückstand, gemessen an den wirtschaftlichen Bedürfnissen der kapitalistischen Industrialisierung, vor allem seit den 1890er Jahren. Dabei machte sich das niedrige allgemeine Schulniveau der arbeitenden Bevölkerung ebenso hemmend bemerkbar wie die noch ungenügende Zahl von Berufs- und Fachschulen. So hieß es in einer Resolution: „Das Analphabetentum der Arbeiter stellt das Haupthindernis für die Verbreitung technischer Kenntnisse im Volke dar und ist zugleich die wichtigste Ursache für die Unproduktivität der Arbeit.

Es wurden drei Berufsschultypen festgelegt: mittlere technische Lehranstalten zur Ausbildung von Technikern, niedere technische Schulen für künftige Werkmeister und handwerkliche Gewerbeschulen für Facharbeiter. In der Folgezeit entstanden verschiedene neue Typen, die von den jeweiligen Ressorts ins Leben gerufen wurden, so dass hier eine große Zersplitterung herrschte. Insgesamt ergab eine Zählung aus dem Jahre 1910 3.036 mittlere und niedere Berufsschulen aller Art mit 213.860 Schülern, wovon fast neun Zehntel zur zweiten Kategorie gehörten. Dabei handelte es sich um Vollzeitschulen, d.h. der Typ der in Deutschland um die Jahrhundertwende entstehenden Berufsschule als einer berufsbegleitenden Teilzeitschule blieb in Russland unbekannt. Die meisten der in die Industriebetriebe eintretenden jüngeren und älteren Arbeitskräfte wurden unmittelbar am Ort nur kurz angelernt; eine planmäßige betriebliche Lehrlingsausbildung gab es lediglich in einigen Staatsbetrieben.

Die Reformpläne am Vorabend der Revolution von 1917

Die Stagnation der von der zaristischen Regierung betriebenen Schul- und Hochschulpolitik und die im Gegensatz dazu äußerst produktive Selbsthilfe der Gesellschaft blieb ein Kennzeichen der russischen inneren Entwicklung bis zum Zusammenbruch der Monarchie. Lediglich in der knapp zweijährigen Tätigkeit des vorletzten Ministers für Volksbildung, P. N. Ignat’ev, der im Januar 1915 in sein Amt berufen wurde, schien sich eine Überwindung dieser Kluft und ein entschiedener Kurs auf eine umfassende Modernisierung und Reform des russischen Bildungswesens anzubahnen.

Ignat’ev, der sich von den zeitgenössischen westlichen pädagogischen Reformideen, so z.B. von den Gedanken des amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey, anregen ließ, plante die Errichtung eines einheitlichen Schulsystems, das an die Stelle des bisherigen Nebeneinanders von Volksschule und Mittelschule treten sollte. Es war kein radikaler Bruch mit den bestehenden Schulverhältnissen vorgesehen, aber eine entschiedene Orientierung auf neue pädagogische, ökonomische und gesellschaftliche Bedürfnisse. So schlug die von Ignat’ev berufene Reformkommission für das mittlere Schulwesen anstelle der bisherigen Typen des Gymnasiums und der Realschule eine in drei Zweige gegliederte vierjährige II. Stufe vor, die auf einem gemeinsamen dreijährigen Unterbau beruhte. Dieser wiederum sollte im Lehrplan mit den entsprechenden Klassen der höheren Grundschule identisch sein, so dass ein Übergang auch erst zu diesem Zeitpunkt möglich war. Die vierjährige gemeinsame Grundschule für alle Kinder im Unterschied zu den bisherigen gesonderten Vorklassen der Gymnasien und Realschulen sollte die Einheit des Schulsystems unterstreichen. Wenn man die gleichzeitige Erweiterung der Rechte für die Lehrerkonferenz und die Elternausschüsse hinzunimmt, wird deutlich, dass es Ignat’ev auf eine strukturelle und pädagogische Erneuerung ankam, die den Grundsätzen einer bürgerlichen Verfassung im Staate von den Schulen vorarbeiten sollte.

Die gleichzeitigen Pläne für eine Reform und einen umfassenden Ausbau des Berufs- und Fachschulwesens, die ein im Jahre 1916 gebildeter „Rat für Angelegenheiten der Berufsbildung in Russland“ vorbereiten sollte, dienten dem ökonomischen Programm der Erschließung Russlands, das Ignat’ev folgendermaßen formulierte: „Die Wohlfahrt Russlands und seine ganze Zukunft hängen von der Hebung der Produktivkräfte des Landes ab. Ein schneller und kräftiger Aufschwung ist ohne die breite Entwicklung der Berufsausbildung undenkbar. Eine vernünftige und ausgedehnte Nutzung der gewaltigen natürlichen Reichtümer unseres Vaterlandes verlangt tausende technisch gebildeter Menschen.“

Lenins Programm der umfassenden Elektrifizierung des Landes wie die in dem späteren Hauptkomitee für beruflich-technische Bildung entwickelten Grundsätze waren in ihrem praktischen Teil eine direkte Weiterführung der vorrevolutionären Pläne. Ignat’ev selbst scheiterte jedoch damit am Widerstand konservativer Kreise am Zarenhof.

Der nach dem Sturz des aus der Februarrevolution 1917 hervorgegangenen Provisorischen Regierung, die seit dem Mai eine bürgerlich-sozialistische Koalition darstellte, fehlte es umgekehrt nicht an politischen Zielvorstellungen und weitreichenden Reformideen, wohl aber in dem krisengeplagten Land infolge des 1. Weltkrieges mit seinen wachsenden inneren Spannungen an der realen Macht und den faktischen Möglichkeiten. Obwohl die bolschewistische Oktoberrevolution bald über die Dekrete und Pläne der Provisorischen Regierung zur Neugestaltung des Schul- und Hochschulwesens hinweg geschritten ist, verdienen diese Beachtung, da sie die Brücke zwischen dem alten Regime und der Sowjetmacht darstellen und auf diese Weise die trotz aller Umbrüche nicht verloren gegangene Kontinuität in den zentralen bildungspolitischen Aufgaben und praktischen Reformen dokumentieren.

Schon in den ersten Wochen nach dem Februarumsturz formierte sich die Lehrerschaft in verschiedenen lokalen und regionalen gewerkschaftlich-politischen Zusammenhängen, die in der Neugründung des Allrussischen Lehrerverbandes im April 1917 gipfelten. Die Initiatoren der Lehrerbewegung standen überwiegend im sozialistischen Lager, wobei die parteipolitischen Grenzen eher fließend waren und die Bolschewiki noch kaum Anhänger besaßen. Die auf den verschiedenen Lehrerkongressen erhobenen Forderungen waren das Resultat der geistigen Vorarbeit seit dem Jahre 1905, auf den Bildungskongressen vor 1914 und in den Spalten der pädagogischen Zeitschriften. Eine an das Ministerium gerichtete Resolution des Moskauer Lehrerkongresses Anfang April 1917 stellte die Grundsätze der Freiheit, Demokratisierung und Dezentralisierung an die Spitze der allgemeinen Reformforderungen. Im Einzelnen hieß das vor allem: „Selbstverwaltung und Selbstbestimmung der Schulen aller Nationalitäten auf allen Stufen unter breiter Einführung des Wahlprinzips; Beseitigung der Beschränkungen und Privilegien im Bildungswesen, die auf dem Geschlecht, der Nationalität, der Konfession und dem Stand beruhen; Unterricht in der Muttersprache; Einheit und Aufeinanderfolge aller Schultypen; allgemeine Grundschulpflicht; Unentgeltlichkeit der Bildung auf allen Stufen und Gewährleistung eines tatsächlichen Zugangs zu den Bildungseinrichtungen für alle; Freiheit der Privatinitiative im Bereich der Volksbildung; breite Entfaltung der Vorschulerziehung und der außerschulischen Bildung“.

Diese prinzipiellen Forderungen wurden vom Volksbildungsminister, dem ehemaligen Rektor der Moskauer Universität A. A. Manuilov, anerkannt. Allerdings war man in den zentralen Behörden gezwungen, vor allem die immer schwieriger werdenden äußeren Verhältnisse zu meistern, so dass lediglich ein Teil der Reformpunkte bis zum Herbst 1917 auch in administrative Verordnungen umgesetzt worden ist. Dazu gehörten unter anderem die Übertragung der lokalen Schulaufsicht auf die neuen demokratischen Verwaltungsorgane, die Übernahme der kirchlichen Grundschulen durch die staatliche Verwaltung, was allerdings auf den Widerspruch der orthodoxen Kirche stieß, das Recht auf Befreiung vom Religionsunterricht, die Aufhebung der Diskriminierung jüdischer Kinder bei der Zulassung zum Mittelschulbesuch und zum Studium, verschiedene Schritte zur Vereinheitlichung des mittleren Schulwesens sowie die Förderung von Koedukationsschulen. Auch die neue russische Rechtschreibung, die allerdings sehr umstritten war, wurde in den Schulen eingeführt. Für die russischen Hochschulen war die Gewährung der Universitätsautonomie am wichtigsten, die einen zentralen studentischen Ausschuss als Interessenvertretung der Studenten einschloss.

Die genannten Reformschritte wiesen in eine Richtung, die eine umfassende Neugestaltung des russischen Bildungswesens zum Ziel hatten. Die entscheidende Rolle sollte dabei dem Staatskomitee für Volksbildung zufallen. In den verschiedenen Kommissionen besaßen die wichtigsten Männer der Volksbildungsbewegung seit 1900 den entscheidenden Einfluss.

Aus den über 40 Einzelentwürfen, die bis zum Oktober 1917 erarbeitet wurden, sind zwei Dokumente besonders entscheidend: die „22 Leitsätze für die Ausarbeitung der Reform der Volksbildung“ sowie die „Provisorische Ordnung für die allgemeinbildende öffentliche Einheitsschule“. Das erste Dokument sollte das Verhältnis von Staat und Bildungswesen, das zweite die inneren Verhältnisse der Schule regeln. In beiden wurden die schon oben genannten Prinzipien eines demokratischen Bildungssystems und der pädagogischen Reformbewegungen im Einzelnen entwickelt, vor allem die Übertragung der Schulangelegenheiten auf die lokale Selbstverwaltung als Reaktion auf den bürokratischen Zentralismus der Zarenzeit, die Schaffung kollegialer Gremien in der Schule selbst und in der Schulverwaltung, die starke Heranziehung gesellschaftlicher Kräfte, die Einführung eines dreistufigen Einheitsschulsystems sowie zahlreiche weitere Schritte zur Modernisierung des Unterrichts.

Die Reformentwürfe des Staatskomitees für Volksbildung bildeten den konsequenten Abschluss der vorevolutionären demokratischen Reformbestrebungen der fortschrittlichen russischen Intellektuellenbewegung. Die mit der Oktoberrevolution begonnene radikale Umgestaltung im kommunistischen Sinne hat bestimmte Motive aufgegriffen und fortgeführt, andere dagegen nicht beachtet oder unterdrückt.

Revolution 1917

Die Niederlage des Zarenreiches gegen England und Frankreich im Krimkrieg 1856 hatten schonungslos offengelegt, dass eine grundlegende wirtschaftliche und soziale Erneuerung nötig war. Es folgten die Großen Reformen, die die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861, die Justizreform im Jahre 1864 und die Einrichtung von Selbstverwaltungsorganen auf Gouvernementebene, den Semstwos, im Jahre 1864 umfasste. Dazu gehörte auch eine Strategie zum Aufbau einer eigenen Schwerindustrie, wie es sie in Großbritannien gab.

Die bisherige Beschränkung auf Textilindustrie und sonstige Leichtindustrie sollte überwunden und Russland in die Lage versetzt werden, selbst Lokomotiven, Dampfmaschinen und Kanonen herzustellen. Die daraufhin neu erbauten Fabriken, zumeist große Unternehmen, die dank ausländischem Kapital und staatlichen Subventionen errichtet wurden, zogen immer mehr Arbeiter aus den ländlichen Regionen in die neuen Industriezentren. Diese neue Verstädterung sollte durch die Beibehaltung der Passkontrolle durch die Dorfgemeinden aufgehalten werden, konnte aber nicht verhindern, dass die Zahl von Abwanderern in die Städte schnell anwuchs. Daraufhin wurde beides zum Problem, zum einen die große Anziehungskraft der höheren Löhne in den Fabriken (Städte) und im Gegensatz dazu die abstoßende Kraft einer zunehmenden Überbevölkerung auf dem Land. Dies machte alle Gegenmaßnahmen der zaristischen Autokratie zunichte, es entstanden Arbeitervororte, Massenelend und eine Soziale Frage in den wenigen, aber umso größeren Städten des Zarenreiches.

Auf die Entstehung eines Vierten Standes war die zaristische Regierung schlecht vorbereitet. Die neue Arbeiterschaft passte nicht in die im Zarenreich bestehende agrargesellschaftliche Ordnung. Sie blieb ein Fremdkörper, den trotz partieller Modernisierungsbereitschaft weder die Autokratie akzeptierte noch der Adel, der den kleinsten Anteil an der Bevölkerung des Zarenreiches darstellte und den Staat weiterhin trug.

Der wirtschaftliche, soziale und administrative Wandel ging zumindest in den Städten mit einer Art kulturellen Modernisierung einher. Russland schickte sich an, eine konkurrenzfähige Industrie aufzubauen, um den Anforderungen des Krieges zu entsprechen, die Gesetzeskonformität durch ein zeitgemäßes Justizsystem zu befördern und durch Dezentralisierung die Effizienz der regionalen Verwaltungen zu verbessern, und musste deshalb die Breitenqualifikation deutlich erhöhen. In der Tat leisteten die Regionalverwaltungen, die Semstwos, beim Aufbau eines Bildungswesens und in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge Erstaunliches. Der Staat baute die Universitäten aus und zog eine Bildungselite aus Lehrern, Ärzten, Juristen und Ingenieuren heran, die in erheblichem Maße unter den Einfluss westeuropäischer politischer Ideen geriet. Diese galten zu dieser Zeit als fortschrittlich, an ihnen richteten viele ihre Lebensziele und Gewohnheiten aus. Es bildete sich eine Intelligenzija heraus, die für Reformen aufgeschlossen war und es ablehnte, sich in ihrem öffentlichen Handeln vom Staat einschränken zu lassen. Es wäre aus heutiger Sicht jedoch falsch, die Intelligenz und Opposition gleichzusetzen, erst recht hatten „intelligent“ und „revolutionär“ nicht die gleiche Bedeutung.

Zar Nikolaus II. ließ alle politischen Gegner durch Polizeigewalt und Verhaftungen unterdrücken. Politische Gefangene wurden in sibirische Arbeitslager deportiert. Im Jahr 1905, am Petersburger Blutsonntag, ließ er auf Demonstranten schießen, seine Geheimpolizei und das Militär wurden angewiesen, jeden Aufstand im Keim zu ersticken. Durch den Druck des sich anschließenden Generalstreiks in Petrograd musste der Zar im so genannten Oktobermanifest eine Duma als zweiter Kammer neben dem Reichsrat gewähren, die er aber in ihren Rechten stark beschränkte. In der Verfassung von 1906 ließ sich Nikolaus ausdrücklich den autokratischen Charakter seiner Herrschaft bestätigen. Ohne die Regierung kontrollieren und zur Verantwortung ziehen zu können, blieb die Duma weitgehend machtlos, der Zar ließ sie 1906, 1907 und 1912 auflösen. Den Rat seines früheren Finanzministers Sergei Witte, der ihm schnelle und umfassende Reformen empfahl, ignorierte er weitgehend.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war wie in allen europäischen Staaten im Sommer 1914 von einem nationalen Hochgefühl begrüßt worden. Nach der Wende an der deutschen Ostfront mit der Schlacht von Gorlice-Tarnów 1915 erlitt Russland jedoch mehrere empfindliche Niederlagen. Im Zuge der deutschen Gegenoffensive des Jahres 1915 musste die Kaiserlich Russische Armee sich immer mehr nach Osten zurückziehen. Infolge dieses Großen Rückzugs gingen zunächst Polen, Litauen, Kurland und weite Teile des westrussischen Gebietes bis zu einer Linie von der Düna zur rumänischen Grenze verloren. Dieser regelrechte Zusammenbruch der zumeist schlecht ausgerüsteten Armee an der Westfront hatte eine schwere Krise in der obersten militärischen Führung zur Folge.

Obwohl ihm auf einer Sitzung des Ministerrates seine Minister einstimmig abrieten, setzte der Zar den russischen Oberbefehlshaber Nikolai Nikolajewitsch ab, übernahm am 23. August/ 5. September 1915 selbst den Oberbefehl und ernannte General Michail Wassiljewitsch Alexejew zum Generalstabschef. Am selben Tag traf er im Hauptquartier an der Kriegsfront in Mogilew ein. Die Regierung trat geschlossen zurück, nun lag der „Schlüssel des Schicksals“ des durch den Krieg und die Inflation ökonomisch stark eingeschränkten Landes bei der Armee, da der Zar jeden weiteren Rückzug und jede weitere Niederlage auch persönlich verantworten musste. Zunächst gelang es jedoch im September 1915, durch starke Gegenangriffe die Front zu stabilisieren.

Nikolaus II. widmete sich seiner neuen Aufgabe mit Hingabe und wurde in seiner Entscheidung durch den Erfolg der Brussilow-Offensive 1916 bestärkt. Andererseits desertierten allein 1916 eineinhalb Millionen russische Soldaten.

Im Herbst 1916 flammten die Streiks der Petrograder Arbeiter, die im Vorkriegsjahr einen Höhepunkt erreicht hatten, danach aber im Geiste des Burgfriedens nationaler Solidarität und als Folge der Mobilmachung abgeflaut waren, wieder auf. Fortan weiteten sie sich, angefacht durch dramatisch zunehmende Versorgungsprobleme sowie Brennstoffmangel und einen ungewöhnlich kalten Winter 1916/17 zu einem regelrechten Flächenbrand aus, den die Autokratie nicht mehr einzudämmen vermochte. Im November schrieb Großfürst Michail an seinen Bruder, den Zaren: „Ich bin überzeugt, dass wir auf einem Vulkan stehen und schon der kleinste Funke, der kleinste falsche Schritt eine Katastrophe für Dich, für uns alle und für Russland auslösen kann.“

Durch die Missstände zerbrach der vereinbarte Burgfrieden, der erst das Stillhalten der Opposition innerhalb des Krieges sichern sollte, recht schnell. Die wachsende Protestbereitschaft der Bevölkerung zeigte sich in der Duma, die im Februar 1916 erneut zusammengetreten war. Hier hatte sich ein Progressiver Block gebildet, der aus verschiedenen liberalen Parteien bis hin zu moderaten Monarchisten bestand. Er forderte eine Liberalisierung Russlands und machte sich Sorgen, dass in der Abwesenheit des Zaren der Wanderprediger Grigori Jefimowitsch Rasputin allzu großen Einfluss auf die mächtige Zarin Alexandra nehmen würde, der man eine sexuelle Affäre mit dem Mönch unterstellte. Als Rasputin kurz darauf ermordet wurde und die Attentäter unbehelligt blieben, wurde das als Indiz für die Wahrheit dieser Anschuldigung gedeutet. Die Autorität des Zaren, der nun als moralischer Schwächling dastand, sank weiter.

Der russische Staat machte während des Ersten Weltkrieges eine enorme Wirtschaftskrise durch. Die Erfordernisse der modernen Kriegsführung veranlassten das Zarenreich zum Ausbau der industriellen Kapazitäten. Zu deren Finanzierung wurde nach dem Scheitern von Kriegsanleihen schließlich vermehrt Geld gedruckt. Das löste im zweiten Kriegsjahr eine signifikante Inflation aus. Bis Ende 1916 verteuerten sich Arbeit und Güter um durchschnittlich 400 %. Dadurch wurde wiederum die Nahrungsmittelproduktion der Großgrundbesitzer nahezu lahmgelegt, da diese auf die Beschäftigung von Lohnarbeitern angewiesen waren.

1916 verschlechterte sich die Ernährungslage der Bevölkerung beträchtlich. Die Heeresverwaltung kaufte die Lebensmittel für die Armee in den westlichen Provinzen auf, wodurch es immer schwerer wurde, Ersatz für die Zivilbevölkerung zu beschaffen. Im Herbst 1916 begann das Schlangestehen der Bevölkerung vor den Bäckereien. Bei Streiks wurde immer lauter das Ende des Krieges und ab Oktober 1916 auch das Ende der Zarenherrschaft gefordert.

Die Kleinbauern produzierten zwar noch genügend Nahrungsmittel, allerdings wurde für sie der Verkauf ihrer Erträge unrentabel. Inflation und Konzentration auf die Fertigung für das Militär trieben Preise für industrielle Güter, die die Bauern benötigten, nach oben. Da der Strom von Fertiggütern von den Städten auf das Land versiegte, kam auch der Gegenstrom von landwirtschaftlichen Erzeugnissen in die Städte zum Erliegen. Des Weiteren fielen mehrere Millionen Haushalte weg, die sich bis zum Kriegsbeginn auf dem Land durch simple handwerkliche Fertigung von Gebrauchsgütern über Wasser gehalten hatten. Diese halbbäuerliche Schicht wurde teilweise durch die Verpflichtung in der Armee, zum größten Teil allerdings durch die höheren Löhne in den Fabriken der Städte geschwächt.

Die russische Volkswirtschaft war um das Jahr 1916 immer noch überwiegend landwirtschaftlich geprägt: 85 % der Bevölkerung lebte auf dem Lande, ohne deren Mithilfe es keine Revolution geben konnte. Aufgrund von Not und enttäuschten Erwartungen an die Regierung war es bereits öfter zu Erhebungen der Bauern gekommen, die meist mit dem Niederbrennen von Gutshöfen, der Plünderung von Vorratsspeichern und der eigenmächtigen Inbesitznahme von Land verbunden waren, besonders jener „abgeschnittener Landstücke“, die vor der schwierigen Entflechtung von Guts- und Bauernwirtschaften im Gefolge der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 von der Dorfgemeinde bewirtschaftet worden waren und von dieser beansprucht wurden. Zumeist brachen solche Aufstände ebenso schnell wieder zusammen, wie sie entstanden waren.

Nach Kriegsbeginn 1914 gab es kaum agrarischen Sozialprotest. Da die große Mehrheit der Rekruten aus Dörfern kam, lebte hier kaum noch jemand, der sich gegen die Obrigkeit hätte erheben können. Erst eine neu entstehende Verbindung zwischen den Bauern in den ländlichen Regionen und den Städtern verlieh einem neu ausbrechenden Sozialprotest eine revolutionäre Qualität. Nach Manfred Hildermeier war eine Ursache der Revolution, dass der parochiale Horizont der traditionell kleinräumigen Dorfgemeinschaft aufbrach und sich „für überregional-gesamtstaatliche Probleme öffnete“. Diese Öffnung sei zum einen durch die Wanderarbeit erfolgt, die Bauern saisonal oder für ganze Lebensabschnitte in die größeren Städte brachte, wo sie mit allgemeinen sozialen und politischen Fragen konfrontiert wurden und auf Angehörige der oppositionellen Intelligenz trafen. Zum anderen hätten immer mehr Bauern Militärdienst zu leisten gehabt, was sie ebenfalls außerhalb ihrer Heimatregionen brachte.

Die weitere Verschlechterung der Versorgungslage der Bevölkerung im harten Winter der Jahre 1916/1917, Zwangseintreibungen und ein neues, fehlgeschlagenes Ablieferungssystem verstärkten die Unzufriedenheit. 1917 kam es in den Industriezentren zu Hungerrevolten, Streiks und Demonstrationen. Deren Anlass war unter anderem der 12. Jahrestag des Petersburger Blutsonntages am 9. Januar. Die Verhaftungen von Regimekritikern konnten der revolutionären Stimmung nicht entgegenwirken, sondern führten nur zu einer stärkeren Radikalisierung.

Mittlerweile füllten sich die Petrograder Straßen mit zahlreichen hungernden und aufgebrachten Menschen, da die Lebensmittelversorgung ins Stocken geriet. Bereits nachts standen Menschen in langen Schlangen um Brot an. Es kam zu vereinzelten Plünderungen. Die Eröffnung der Duma am 14. Februar wurde von einer Großdemonstration begleitet, die diese zu energischen Maßnahmen auffordern sollte.

Am 18. Februar brach bei den Putilow-Werken, einem Petrograder Rüstungsbetrieb, ein Streik aus. Daraufhin verfügte die Direktion die Aussperrung von 30.000 Mann. Prompt kam es zu einer Protestdemonstration gegen die katastrophale Versorgungslage. Lawinenartig dehnten sich die Proteste auf andere Betriebe aus, der Generalstreik wurde proklamiert. Tausende demonstrierten mit roten Fahnen auf dem Newski-Prospekt.

Die Arbeiterkomitees hielten es für unwahrscheinlich, von der Armee die notwendige Unterstützung für eine großangelegte proletarische Revolution zu bekommen. Daher verfolgten sie die Idee einer friedlichen Volksbewegung. Es war kein gezielter Aufruf für Streiks geplant, um gewaltsame Zwischenfälle mit der gefürchteten Polizei zu vermeiden. Aber es zeigte sich bei den ersten Zusammenstößen, dass die Soldaten größtenteils bereit waren, zum Schutz der Zivilisten (unter denen sich auch viele Soldatenfrauen befanden) gegen die Polizei vorzugehen. Fabrikarbeiter aus dem Wyborger Rajon und weiteren Stadtteilen schlossen sich darauf in großer Zahl den Streiks an. Weitere Demonstrationen von Arbeiter- und Soldatenfrauen bedrohten die für den Krieg notwendigen Munitionsfabriken Petrograds und verbreiteten sich von Petrograd aus bald im ganzen Land. Die Arbeiter- und Soldatenfrauen forderten eine sofortige Beendigung des Krieges, die Herausgabe von Lebensmitteln und die sofortige Abdankung des Zaren.

Am 21. Februar berichtete die täglich erscheinende Börsen-Gazette, dass auf der Petrograder Seite Plünderungen von Bäckereien begannen und sich dann auf die ganze Stadt ausweiteten. Durch die Straßen ziehende Menschenmengen stünden vor Bäckereien und Backwarengeschäften und schrieen „Brot, Brot“. Die Streiks in den großen Rüstungs- bzw. Munitionsfabriken flammten wieder auf. Die Streiks nahmen am Folgetag weiter zu. Dessen ungeachtet reiste der Zar zum Stab der Truppen. Zuvor versicherte ihm Innenminister Alexander Dmitrijewitsch Protopopow, die Situation in der Hauptstadt wäre vollständig unter seiner Kontrolle. Am 23. Februar begann in Petrograd die eigentliche Revolution. Erneut wurde in den Putilow-Werken gestreikt, die Streikenden demonstrierten für eine bessere Versorgung, vor allem mit Brot. Die Nachricht der Arbeitsniederlegungen verbreitet sich rasch auch auf andere Stadtbezirke, sodass sich Werktätige fast aller Industrieunternehmen dem Streik anschlossen. Sie bildeten mit ihren Familien lange Demonstrationszüge und riefen: „Gebt uns Brot, wir verhungern, wir brauchen Brot.“ Mittags um zwei Uhr traten die Arbeiterinnen in der Fabrik Ayvas ebenfalls in den Ausstand. Gegen 15 Uhr kam der Zar in Mogilew an. Abends um sieben Uhr begab sich die Belegschaft (1500 Menschen) der Vulcan-Werke ans Werktor, weil dort ein Polizei-Offizier aufgetaucht war und mit einem Revolver in der Hand forderte, ihre Versammlung aufzulösen. Ein paar Arbeiter entwaffneten und verprügelten ihn. Die Menschenmenge strömte nun auf die Straße. Angeblich schloss sich mehr als die Hälfte des Petrograder Arbeiterstandes dem Aufstand an. Sehr schnell gab es in den Betrieben Wahlen zu Arbeiterräten, der Form der Selbstorganisation, die die Arbeiter schon 1905 herausgebildet hatten. Daraus entstehen in Folge Arbeiter- und Soldatenräte im ganzen Land, die den Petrograder Sowjet als ihre Regierung anerkannten.

Am 24. Februar kabelte der Zar aus dem Hauptquartier in Mogilew an den Stadtkommandanten General Sergei Semjonowitsch Chabalow den Befehl, die Unruhen in der Stadt „schon morgen zu liquidieren“. Am folgenden Nachmittag schossen Angehörige des Wolhynischen Garderegiments in der Hauptstadt auf die Aufrührer, sechzig Demonstranten starben. An anderen Orten dagegen gingen Soldaten gegen die Polizei vor. Kosaken, die der Petrograder Stadtkommandant zur Entwaffnung der Aufständischen geschickt hatte, verweigerten den Befehl und nahmen stattdessen die roten Nelken entgegen, die man ihnen überreichte. Dumapräsident Michail Wladimirowitsch Rodsjanko forderte den Zaren telegrafisch auf, „unverzüglich Maßnahmen zu treffen, denn morgen wird es zu spät sein.“ Die Stunde sei gekommen, in der über das Vaterland und die Dynastie entschieden werde. Das Telegramm blieb unbeantwortet; ob es den Zaren überhaupt erreichte, ist ungewiss.

Am 26. Februar erhielt Dumapräsident Rodsjanko telegrafisch ein Dekret des Zaren, mit dem er die Duma erneut auflöste. Doch der Ältestenrat und die Abgeordneten weigerten sich angesichts der Unruhen, dem Folge zu leisten.

Am 27. Februar konstituierte der Ältestenrat ein Provisorisches Komitee zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung unter der Leitung des Dumapräsidenten Rodsjanko und eröffnete das Parlament wieder, das nun die Regierungsgeschäfte übernahm. Ein neuer Oberkommandierende wurde ernannt und Duma-Bevollmächtigte in den Ministerien eingesetzt. Das provisorische Duma-Komitee bestand bis zu den nächsten Wahlen. Staatsrechtlich gesehen war dies eine Usurpation und zugleich der entscheidende revolutionäre Akt: So wie sich im August des Jahres 1789 der Dritte Stand in der französischen Hauptstadt Paris zur Nationalversammlung erklärt hatte, so reklamierte das russische Parlament mit dieser Bekanntmachung alle Befugnisse für sich, die eben noch von der zaristischen Regierung ausgeübt wurden. Deshalb wird dieser Montag, der 27. Februar, auch als Roter Montag bezeichnet, weil u. a. mit diesem Tage klar wird, dass neben der Beteiligung der Räte nun auch die Duma aktiv mitwirkt und damit aus der Straßenrevolte eine echte Revolution wird.

Am 27. Februar wechselte das Wolhynische Garderegiment in Petrograd auf die Seite der Revolution über. Das Preobrashenskij- und das Litowskij-Garderegiment folgten. Mehrere Kommandanten wurden erschossen, die Soldaten fraternisierten sich mit den Arbeitern, die mit der Erstürmung der Waffenarsenale ebenfalls Gewehre erhielten. Die Polizei wurde entwaffnet, in beschlagnahmten Fahrzeugen mit roten Fahnen fuhren die Revolutionäre unter lautem Jubel durch die Straßen.

Ein Teil des Moskauer Regimentes leistete kurze Zeit Widerstand. Nachdem dieser gebrochen war, wurden zahlreiche Offiziere getötet, und auch das Moskauer Regiment schloss sich der Erhebung an. Gerichtsgebäude, Polizeikasernen und Gefängnisse wurden gestürmt und nach der Befreiung der Gefangenen in Brand gesteckt.

Am Nachmittag wurde auch das Gebäude der Duma von bewaffneten Soldaten und Arbeitern besetzt, und noch am Abend versammelte sich im Sitzungssaal der Duma der erste Arbeiter- und Soldatenrat. Die noch immer amtierende zaristische Regierung verhängte über Petrograd den Belagerungszustand. An einigen Orten werden Aufständische mit Maschinengewehren beschossen, andernorts verhafteten die Aufständischen ihrerseits zaristische Würdenträger im Namen des Arbeiter- und Soldatenrates. Die bisherigen Ereignisse überrollten auch die Arbeiterkomitees. Hier herrschte bislang die Meinung, dass von der Armee Hilfe nicht zu bekommen sei. Nun riefen auch sie zur Unterstützung der sich schnell ausbreitenden Bewegung auf.

Der Zar schrieb in sein Tagebuch: „Ging um 3 1/2 zu Bett, weil ich noch lange mit N. I. Iwanow gesprochen habe, den ich mit Truppen nach Petrograd schicke, um Ordnung zu schaffen“. Um fünf Uhr morgens verließ er das Hauptquartier in Mogilew, um zu seiner Familie nach Zarskoje Selo zu fahren, seiner Sommerresidenz. Dorthin beorderte er zu seinem Schutz auch Truppen von der Kriegsfront.

Am 28. Februar brach der Aufstand in Moskau aus und nahm einen ähnlichen Verlauf wie in Petrograd. Im Taurischen Palast in Petrograd bildeten sich zwei politische Zentren: Im rechten Flügel die Provisorische Regierung unter Fürst Georgi Jewgenjewitsch Lwow, im linken Flügel der Sowjet mit den Delegierten der Arbeiter und Soldaten.

Währenddessen bemächtigten sich die Revolutionäre in Petrograd aller Bahnhöfe, des Telefonamtes, der Peter-Pauls-Festung und der Admiralität. Zarskoje Selo wurde von Aufständischen besetzt und die Kaiserin fortan bewacht. Der Zug des Zaren musste nachts bei Wischera umkehren, weil Ljuban und Tosno bereits in den Händen der Aufständischen war. Er fuhr nach Pskow, dem Hauptquartier der Nordfront, die sich dem Zaren abgewandt hatte. Hier meldete deren Befehlshaber, General Nikolai Wladimirowitsch Russki, dem Zaren den Ausbruch der Revolution in Petrograd und riet ihm, abzudanken und sich der Gnade der Sieger zu ergeben. Die Aussicht auf eine Niederschlagung des Aufstands war in den Augen der Generäle in Pskow so gering, dass sie den Zaren dazu zwangen, einer neuen Regierung des gesellschaftlichen Vertrauens zuzustimmen. Dies genügte den neuen Machthabern in Petrograd aber lange nicht, sie forderten den Thronverzicht des Zaren, einige sogar seinen Tod.

Am 1. März wurde Nikolaus sowohl vom Duma-Präsidenten Rodsjanko als auch von Michail Wassiljewitsch Alexejew, dem Stabschef und damit de facto Befehlshaber aller Armeen telegraphisch aufgefordert abzudanken. Der Befehlshaber der Nordfront Russki berichtete ihm über ein langes Telefongespräch mit Dumapräsident Rodsjanko, wonach seine Abdankung unerlässlich sei. Russki gab den Inhalt des Gespräches an das Hauptquartier weiter, und von dort ging es an alle Befehlshaber der Armeen. Bis zum frühen Nachmittag sprachen sich ausnahmslos alle für die Abdankung des Zaren aus. Nikolaus unterzeichnete in der folgenden Nacht ein Manifest, in dem er ein dem Parlament verantwortliches Ministerkabinettes einberief, doch Rodsjanko, der davon telefonisch in Kenntnis gesetzt wurde, antwortete, dieses Zugeständnis komme viel zu spät, erforderlich sei vielmehr die Abdankung des Zaren.

Am 2. März vereinbarten Duma und Arbeiter- und Soldatenrat, dass der Zar abgesetzt sei und eine Provisorische Regierung gebildet werde. Um 15 Uhr gab der Fraktionsvorsitzende der liberalen Kadettenpartei Pawel Nikolajewitsch Miljukow im Taurischen Palast eine Liste der neuen Minister mit seinem Parteifreund Fürst Georgi Jewgenjewitsch Lwow an der Spitze bekannt. Die von den Soldaten verhafteten Minister des Zaren wurden in die Peter-Pauls-Festung überführt. Gegen 22 Uhr trafen Alexander Iwanowitsch Gutschkow vom Reichsrat und der Duma-Abgeordnete Wassili Witaljewitsch Schulgin aus Petrograd im Salonwagen des Zarenzuges ein. Gutschkow berichtete dem Zaren, es bestehe die Gefahr, dass Petrograd und die Front in die Hände von Anarchisten falle und die Gemäßigten hinweggefegt würden. Das Volksempfinden könne nur beruhigt werden, wenn Nikolaus zugunsten seines kleinen Sohnes zurücktreten und Großfürst Michail die Regentschaft übertrage. Der Zar erwiderte, er habe das tun wollen, doch aufgrund der Krankheit des Zarewitsch könne er sich nicht von ihm trennen. Eigenhändig änderte er das am Morgen ausgearbeitete Abdankungsmanifest zugunsten seines Bruders, des Großfürsten Michail, und übergab es um 23:40 Uhr an Gutschkow. Auf Bitten der Deputierten fügte er einen Zusatz über den Eid des neuen Zaren auf die Verfassung ein. Gleichzeitig unterzeichnete er Ukasse, in denen er Fürst Lwow zum Vorsitzenden des Ministerrates und Großfürst Nikolai Nikolajewitsch wieder zum Oberbefehlshaber ernannte.

Um nicht den Eindruck zu erwecken, Nikolaus habe unter dem Druck der angereisten Deputierten gestanden, wurden die Abdankungsurkunde und die Ukasse auf den 15. März, 15 Uhr und 14 Uhr vordatiert. Auf Drängen Lwows, Kerenskis und anderer Duma-Mitglieder unterzeichnete der neue Zar Michail bereits am 3. März seine Abdankungsurkunde mit dem Aufruf, sich der Provisorischen Regierung unterzuordnen. Damit endete die 300-jährige Herrschaft der Romanow-Dynastie.

Am 8. März wurde Nikolaus II. in Haft genommen und nach Internierung in Zarskoje Selo mit seiner Familie nach Sibirien verbannt. Nachdem sie im April 1918 nach Jekaterinburg verlegt worden waren, wurden sie dort am 16./17. Juli 1918 ermordet.

Das aus dem Rücktritt von Zar und Regierung entstandene Machtvakuum wurde von zwei Institutionen gefüllt: von der Duma und dem wieder gebildeten Petrograder Sowjet. Beide mussten sich sofort mit der Bildung einer Exekutive beschäftigen. Ein erster Kompromiss fiel im Überschwang des Sieges der Revolution vergleichsweise leicht. Die Menschewiki, die im Sowjet die Mehrheit hatten, nahmen als Marxisten an, der historischen Entwicklungsstufe der feudalistischen Monarchie müsse zunächst eine bürgerlich-kapitalistische Demokratie folgen. Daher müsse dem liberalen Bürgertum in der Duma das Feld gehören. Hinzu kommt wohl auch, dass die liberalen Politiker um den hoch geschätzten Fürst Lwow und den unbestrittenen Kopf der Kadetten Miljukow über parlamentarische Erfahrung, eine komplette Mannschaft aus den Reihen des Progressiven Blocks und ein Programm verfügen.

Die streikenden Soldaten und ihre radikalen Deputierten in den Räten mussten aber noch gewonnen werden. Sie setzten ihr wichtigstes unmittelbares Anliegen durch, als sie dem Exekutivrat des Sowjets den berühmten Befehl Nr. 1 des Petrograder Sowjets, der die Wahl von Regimentskomitees und die Unterstellung der Regimenter unter die Sowjets sowie die Einrichtung von Soldatenräten in jeder militärischen Einheit verfügte, abrangen. Eine Wahl aller Offiziere durch die Mannschaften war zwar vorgesehen, wurde aber nach Kritik der Offiziere wieder zurückgezogen. Die Verhandlungsführer der Sowjets forderten in den Gesprächen mit dem Dumakomitee am 11. März als Konsequenz aus diesem Dekret zwar auch die Wahl der Offiziere, ließen die Forderung aber mit Rücksicht auf die Kampfkraft der Armee im laufenden Krieg fallen. In Folge dieses Befehles wuchs die bereits erhebliche Unruhe unter den Soldaten weiter an.

Am Nachmittag des 2. März verkündete Miljukow im Taurischen Palais, dem Sitz der Duma, die Einigung und stellte das neue Kabinett der Provisorischen Regierung unter Fürst Lwow vor. Damit war der Übergang von einer Autokratie zur Herrschaft des – wenn auch nicht demokratisch gewählten, so doch von den aufständischen Arbeitern und Soldaten akzeptierten – Parlaments vollzogen.

Noch wichtiger als der Kompromiss zwischen den neuen Machtzentren vor Ort aber war die stillschweigende Billigung der Generäle. Diese hegten keine Sympathie für Liberalismus und Demokratie, sondern waren einzig an der Verteidigungsfähigkeit und die Fortsetzung des Krieges interessiert. Im Loyalitätskonflikt zwischen Monarchie und Nation entschied sich der Generalstab für die Nation. Die Schwäche der zaristischen Armee lag weniger in der Moral ihrer Soldaten und deren Ausrüstung als in ihrer inneren Zerrissenheit zwischen adligen Gutsbesitzern, die zumeist die Offiziere stellten, und den Massen der Landlosen oder Kleinbauern in den Mannschaften. Klassenkampfparolen zündeten deshalb nicht zuletzt in der Armee. Die Soldaten gaben somit, noch stärker als die Arbeiterschaft, im Laufe des Jahres 1917 den entscheidenden Rückhalt der Revolution.

Die neue Freiheit und Volkssouveränität regierten nur ein halbes Jahr, bis es vor den geplanten demokratischen Wahlen im Oktober zur Oktoberrevolution durch die Bolschewiki kam. Es gelang der provisorischen Regierung zwar vergleichsweise leicht, die Reste des aufgelösten Ancien régimes zu beseitigen und ihre neuen demokratischen Grundsätze in den ländlichen Gebieten zu festigen, sie vermochte jedoch weder die Versorgung der Menschen sicherzustellen, noch die Wirtschaftskrise und die Inflation zu beheben und Frieden zu schaffen. An diesen wichtigen Aufgaben scheiterte das Februarregime.

In den folgenden Monaten der Doppelherrschaft stand der provisorischen Regierung der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat mit einem Exekutivkomitee an der Spitze gegenüber, das zunächst vor allem aus Menschewiki und Parteilosen gebildet wurde. Ziel des Sowjets war die Herstellung der Ordnung und der Versorgung sowie die endgültige Beseitigung der Zarenherrschaft. Eine konstituierende Versammlung auf Basis allgemeiner Wahlen sollte über die Regierungsform entscheiden.

Der neue Außenminister Miljukow wollte den schon drei Jahre andauernden Krieg fortsetzen, das Bündnis mit Frankreich und England aufrechterhalten und einen Sieg über die Mittelmächte erreichen. Demgegenüber sah sich der Petrograder Sowjet in der Pflicht, um seinen Rückhalt in der Bevölkerung zu festigen, die Soldaten zu gleichberechtigten Bürgern zu machen. Im April betrat mit Wladimir Iljitsch Lenin ein weiterer Akteur die Bühne des revolutionären Russland. Unter Mithilfe des Deutschen Kaiserreichs war der Führer der Bolschewiki aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt und forderte in seinen viel beachteten Aprilthesen eine Landreform, eine Übertragung der staatlichen Macht an die Räte und eine sofortige Beendigung des Krieges. Eine Zusammenarbeit mit der provisorischen Regierung lehnte er ab. Versuche des Kriegsministers und späteren Vorsitzenden der Provisorischen Regierung, Alexander Fjodorowitsch Kerenski von der agrarsozialistischen Partei der Trudowiki, durch eine militärische Offensive eine bessere Verhandlungsposition für Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten zu erreichen, scheiterten.

Für den jungen Staat, der sich durch die Februarrevolution in einem ersten Schritt des Zaren als Regenten entledigt hatte, stand noch eine Reihe dramatischer Entwicklungen bevor. Der Weltkrieg war noch nicht zu Ende, der Machtkampf zwischen Menschewiki und Bolschewiki sollte sich in der Oktoberrevolution entladen. Von Sowjetrussland und seiner Roten Armee gingen zwischen den Jahren 1918 und 1921 eine Restitution des ehemaligen Zarenreiches und des damaligen Vielvölkerreiches aus. Von den ehemaligen Gebieten, die zum Zarenreich gehörten, wurden das vom Zarenreich besetzte Polen, die Baltischen Staaten und Bessarabien unabhängig. Der darauf folgende Russische Bürgerkrieg dauerte bis 1920, endete mit einem Sieg der Bolschewiki und führte zur Konstituierung der UdSSR im Jahre 1922.

Nach der Februarrevolution herrschte in Russland ein Nebeneinander von Parlament mit seiner provisorischen Regierung unter Kerenski und den Sowjets mit ihren Exekutivkomitees. Über die endgültige Verfassung sollte eine verfassungsgebende Versammlung entscheiden, die zunächst am 25. November gewählt werden sollte. Die provisorische Regierung unter Kerenski konnte sich nicht dazu durchringen, in Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Kaiserreich und den übrigen Mittelmächten einzutreten.

Der Führer der bolschewistischen Fraktion der SPR, Lenin, erreichte die russische Hauptstadt aus seinem Exil in der Schweiz über Deutschland, Schweden und Finnland. Der ursprünglich von Julius Martow initiierte Austausch russischer Exilanten gegen in Russland internierte Deutsche wurde durch die Provisorische Regierung verzögert, da insbesondere Außenminister Miljukow gegen eine Rückkehr der defätistischen Revolutionäre war. Lenin und 31 weitere Exilanten drängten jedoch auf eine schnellstmögliche Rückkehr. Durch Vermittlung des Schweizer Genossen Fritz Platten unterstützten ihn die deutschen Behörden bei dieser Reise. Die Fahrt ging in einem Eisenbahnwaggon bis zur deutschen Ostseeküste, um von dort per Schiff weiterzureisen. Durch das Eingreifen von Lenin und anderen Revolutionären in das politische Geschehen erhoffte sich die deutsche Oberste Heeresleitung eine weitere Destabilisierung Russlands, um daraus an der Ostfront militärischen Nutzen ziehen zu können. Über Parvus sollten die Revolutionäre dann weitere finanzielle Unterstützung erhalten.

Inwieweit diese den Bolschewiki oder anderen revolutionären Sozialisten zugutekam und ihre Aktivitäten beeinflusste, ist umstritten. Der russische Historiker und ehemalige Generaloberst Dmitri Wolkogonow etwa sieht es aufgrund der Auswertung von deutschen Dokumenten als belegt an, dass die Bolschewiki über Parvus große Geldmengen erhielten. Dessen Beweise hält Orlando Figes jedoch für „nicht überzeugend“ und hält es für abwegig, die Bolschewiki deswegen als „deutsche Agenten“ zu bezeichnen. Der britische Historiker Robert Service weist darauf hin, dass mehrere Millionen Mark von der deutschen Regierung an Sozialisten in Russland geflossen sind. Die massive Expansion der Parteipresse der Bolschewiki in den Tagen der Revolution sieht er als klares Indiz dafür an, dass diese von den Zahlungen profitierten.

Der Historiker Oleh Fedyshyn vermerkt gleichfalls die Zahlungen an russische Sozialisten und beschreibt die Bolschewiki als Hauptnutznießer dieser Geldtransfers. Er gibt Schätzungen anderer Historiker von 20 bis 50 Millionen Mark wieder.

Der amerikanische Historiker Alexander Rabinowitsch weist dagegen anhand einschlägiger Quellen darauf hin, „dass die meisten bolschewistischen Führer, und die Parteibasis ohnehin, von diesen finanziellen Zuwendungen nichts wussten. Während Lenin von dem deutschen Geld gewusst zu haben scheint, gibt es keinen Beweis dafür, dass seine Politik oder die der Partei davon beeinflusst wurde. Am Ende hat diese Hilfe den Ausgang der Revolution auch nicht entscheidend beeinflusst“.

Am 7. April veröffentlichte Lenin seine Aprilthesen, in denen er seine Ansichten zur weiteren Entwicklung der Revolution darlegte.

Politische Unentschlossenheit und das Weiterführen des Krieges auch durch Menschewiki und Sozialrevolutionäre (August/September 1917), die massive Gebietsverluste an das Deutsche Kaiserreich vermeiden wollten, führten zu einer Polarisierung in den Arbeiter- und Soldatenräten. Es kam erneut zu einem Linksrutsch in Teilen der Bevölkerung. Die Bolschewiki beherrschten nun die wichtigsten Sowjets in Petrograd, Moskau, und den anderen großen Arbeiterstädten. Darüber hinaus bewaffneten sich die Parteianhänger der Bolschewiki. Der Linksruck in Teilen des Volkes stärkte diejenigen Kräfte, die unter Lenin zielstrebig an die Macht drängten. Leo Trotzki wurde Vorsitzender des Petrograder Sowjets und Organisator der Machtübernahme. Im Oktober kehrte Lenin aus seinem finnischen Versteck nach Russland zurück. Er drängte die Partei zur Übernahme der alleinigen Regierungsmacht, da er die Zeit für günstig hielt, die schwache Position der Regierung auszunutzen.

In der Führung der Partei der Bolschewiki war umstritten, ob sie sich an den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung beteiligen oder stattdessen auf einen gewaltsamen Aufstand setzen sollte. Nach hitzigen Debatten setzten sich schließlich Lenin und Trotzki durch. Lenin, der am 27. September heimlich nach Petrograd zurückgekehrt war, versammelte 12 der 21 Mitglieder des ZK der bolschewistischen Partei um sich. Nach zehnstündiger Diskussion wurde mit 10 gegen 2 Stimmen eine Resolution für eine gewaltsame Machtübernahme um den 3. beschlossen. Diese Zeitspanne war zu kurz.

Am 3. tagte das Zentralkomitee mit Vertretern der Petrograder Parteiarbeit erneut. Die Resolution von 27. September fand nunmehr eine Mehrheit von 22 Stimmen, bei wiederum zwei Gegenstimmen. „Den Tag des Aufstandes“, so Stalin, „bestimmen die Umstände.“ Am nächsten Tag wurde der zum 7. geplante Kongress der Sowjets auf den 12. verschoben. Der „bewaffnete Aufstand“ sollte jedoch vor dem Kongress stattfinden, damit dieser die Revolution „legitimieren“ konnte.

Auf Beschluss des Petrograder Sowjets stellte Trotzki eine militärische Organisation auf, welche die militärische Machtergreifung übernehmen sollte – das Militärisch-Revolutionäre-Komitee Petrograds. Die Truppen beschränkten sich auf wenige tausend Soldaten der Petrograder Garnison, der Kronstädter Marine, der dem MRKP beigetretenen Roten Garden sowie wenige Hundertschaften aus den Arbeiterkomitees stammender, militanter Bolschewiki.

Am 22. Oktober weigerte sich der Truppenkommandant des Petrograder Distrikts, seinen Stab der Kontrolle der Kommissare des MRKP zu unterstellen. Auf Veranlassung von Leo Trotzki und Jakow Swerdlow übernahm nun das Militärrevolutionäre Komitee des Petrograder Sowjets unter Führung Trotzkis die Befehlsgewalt über die Garnisonen der Hauptstadt.

Ab dem Morgen des 11. tagten die entscheidenden Mitglieder des Zentralkomitees in Permanenz im Smolny, dem Sitz des bolschewistischen Stabes von 1917. Das Gebäude wurde befestigt.

In der Nacht zum 25. Oktober nahmen Truppenteile strategische Punkte (Waffenkammer) der Stadt ein. Der Aufstand begann. Das Signal für den Sturm auf das Winterpalais gab der Kreuzer Aurora mit einem Platzpatronenschuss aus der Bugkanone.

Eine Nacht später kam es zur Einnahme des Winterpalastes, der als Regierungssitz gedient hatte. Alle Regierungsmitglieder, außer Ministerpräsident Kerenski, der vorher floh, wurden verhaftet. Sie wurden freigelassen, nachdem sie eine Erklärung unterschrieben hatten, dass sie sich aus der Politik zurückziehen würden. Es wurde kein Blut vergossen. Die Regierung Kerenski wurde durch ein sozialistisches Regime unter Lenin ersetzt. Die Machtübernahme der Bolschewiki erfolgte derart reibungslos und unauffällig, dass viele Bürger über die Geschehnisse erst durch die Zeitung erfuhren. (Das große Tor mit dem Eisengitter, das die roten Matrosen im Film von Eisenstein von 1927 stürmen, führte nicht zum Inneren des Palastes, sondern zu den Pferdeställen und Kutschen. Der Haupteingang des Winterpalastes ist am linken Ende der Fassade. Die Wachen haben ohne Widerstand die Waffen niedergelegt und wurden vom Militärdienst entlassen).

Lenin schrieb ein Jahr später: „Alle praktische Organisationstätigkeit für den Aufstand wurde unter der direkten Leitung des Vorsitzenden des Sowjets von Petrograd, des Genossen Trotzki, geführt. Man kann mit Sicherheit behaupten, dass die Partei den schnellen Übergang der Garnison auf die Seite der Sowjets und die kühne Durchführung der Arbeit des Revolutionären Militärkomitees hauptsächlich und vor allem dem Genossen Trotzki verdankt. Die Genossen Antonow und Podwoisky waren die Hauptgehilfen des Genossen Trotzki.“

Der Allrussische Sowjetkongress war von Kerenski um fünf Tage verschoben worden. Am Abend des 25. Oktober begann der 2. Allrussische Sowjetkongress mit Vertretern von mehr als 400 örtlichen Sowjets. Die Bolschewiki hatten den Zeitplan ihrer Revolution genau auf den Beginn des Kongresses abgestimmt, um die Machtübernahme im Nachhinein absegnen zu lassen.

Der größte Teil der Vertreter stammte aus den großen Industrieregionen und den politischen Zentren des Landes (Petrograd, Moskau, Kiew und Odessa). Es waren Vertreter von fast allen nationalen Regionen anwesend. Im Kongress hatten die Bolschewiki und die Sozialrevolutionäre die Mehrheit. Von den 649 Delegierten waren 390 Bolschewiki, 160 Sozialrevolutionäre und 72 Menschewiki.

Es wurde über die Entmachtung aller Gutsherren und Kapitalisten abgestimmt, und es wurden Fragen zur zukünftigen Machtorganisation geklärt.

Vor dem Hintergrund des bewaffneten Aufstandes verlangten die rechten Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, den Kongress aufzuschieben. Ihr Antrag wurde jedoch abgelehnt und die meisten ihrer Abgeordneten verließen den Kongress unter Protest. Einige Sozialrevolutionäre und Menschewiki verharrten, am formalen Ablauf des Kongresses änderte sich dadurch nichts.

Der Kongress tagte bis in die frühen Morgenstunden des 26. Oktober, und nach dem Sturm auf den Winterpalast um zwei Uhr früh wurde die Machtübernahme um fünf Uhr morgens in einem Schreiben mit dem Titel An die Arbeiter, Soldaten und Bauern juristisch verankert. In diesem Schreiben finden sich auch die ersten Normen des sowjetischen Rechts.

Lenin proklamierte die Sozialistische Sowjetrepublik, die von einem Rat der Volkskommissare unter seiner Führung geleitet wurde. Die Regierung bestand nur aus Bolschewiki. Die wichtigsten Ressorts übernahmen Trotzki (zunächst Äußeres, dann ab 1918 Verteidigung), Georgi Tschitscherin (ab 1918 Außenpolitik) und Alexei Rykow  (Inneres). Stalin war lediglich für Nationalitätenfragen zuständig. Die Machtübernahme gestaltete sich relativ einfach, die Erhaltung der Macht hingegen als ungleich schwerer.

Die generelle politische Führung von Staat und Gesellschaft hingegen blieb der KPR, also den Bolschewiki, vorbehalten und nicht wie angekündigt den Räten. Die Räteidee sah eine sozialistische Politik unter der Führung von Räten ohne die Festlegung auf eine bestimmte Parteilinie vor. Die Partei hielt jedoch an einer rigorosen Durchsetzung ihres Machtmonopols fest.

Am 26. Oktober 1917 wurde das Dekret über den Frieden erlassen. Sofortige Verhandlungen über einen „gerechten Frieden“ wurden von Russland angeboten. Die Regierungen der Mittelmächte bestanden auf einem Frieden zu ihren Bedingungen. Am 15. Dezember 1917 war ein Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und Russland geschlossen worden. Die russische Verhandlungsdelegation wurde erst von Adolf Joffe, dann von Trotzki geleitet. Im März 1918 wurde der Friedensvertrag abgeschlossen. Die Bolschewiki konnten dadurch ihre noch schwache Macht im Lande festigen und die Rote Armee unter Führung von Trotzki dann den von 1918 bis 1920 folgenden Russischen Bürgerkrieg gewinnen.

Am 11. November 1917 fanden die Wahlen zur Konstituante (verfassungsgebenden Versammlung) statt. Die Bolschewiki trugen eine schwere Niederlage davon, sie erhielten nur 25 % der Stimmen. Lenin löste die Konstituante am 5. Januar 1918 kurzerhand durch Waffengewalt auf, ohne dass es zu einem Massenaufstand kam. Am 2. November wurden die Vorrechte aller christlichen Bekenntnisse und am 11. Dezember der Religionsunterricht in den Schulen abgeschafft. Am 20. Januar folgte das Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche. Nach einer kurzen und relativ ruhigen Konsolidierungsphase wurden alle Konfessionen und Religionsgemeinschaften massiv verfolgt. Die Sicherheitsbehörden verhafteten zahlreiche Pastoren, engagierte Laien und einfache Gläubige; ein großer Teil von ihnen kam unter anderem in Lagern ums Leben..

Am 7. Dezember 1917 wurde die Tscheka gegründet, die in den folgenden zwei bis drei Jahren nach Schätzungen hunderttausende vermutete politische Feinde unter Einschluss widerspenstiger Teile der Bevölkerung tötete. Ihr Ziel war die Ausschaltung der politischen Opposition durch Gewalt und die landesweite Durchsetzung des Machtmonopols der Partei. Durch die Tscheka erlangte sie auch auf dem Lande die Herrschaft, obwohl sie dort selbst nach der Oktoberrevolution nur schwach vertreten war.

Die Oktoberrevolution sicherte den Bolschewiki um Lenin und Trotzki zunächst nur die Macht in Petrograd und bildet deshalb nur einen Schritt auf ihrem Weg zur Herrschaft in Russland. Immerhin war der wichtigste Gegner, die Regierung Kerenski, gestürzt.

Es folgte ein langer und grausamer Bürgerkrieg, verbunden mit dem Kriegskommunismus. Der Bürgerkrieg wurde infolge der Oktoberrevolution spätestens durch den Aufstand der Tschechoslowakischen Legion ausgelöst; westliche reguläre und freiwillige Truppen unterstützten die weißen Truppen hauptsächlich mit Material und logistischer Hilfe. Die Rote Armee kämpfte bis 1920 gegen die Weißen. Über 20.000 Juden wanderten nach Palästina aus, sie flohen vor dem Bürgerkrieg und dem verbreiteten Antisemitismus. Bis zur ersten Teilung Polens, im Jahre 1772, der noch drei weitere folgen sollten, war die Anzahl der Juden auf russischem Territorium verschwindend gering. Daher hatten die meisten Einwohner dieses Landes keine Erfahrungen mit Juden gesammelt. Antisemitische Tendenzen innerhalb der Bevölkerung vor dieser Zeit sind der Literatur nicht zu entnehmen.

Somit stand das Zarenreich seit 1772 vor der großen Herausforderung, die Juden, deren Anteil an der russischen Bevölkerung sich mit der Okkupation des polnischen Gebietes stark erhöhte, in die eigene Bevölkerung möglichst reibungslos zu integrieren. Als problematisch erwies sich dabei die Tatsache, daß die sozio- ökonomische Struktur der Juden, die weitestgehend im Handel und im Handwerk beschäftigt waren, schwer in die sozio-ökonomische Struktur Rußlands zu integrieren war. Denn im Zarenreich lag der wirtschaftliche Schwerpunkt im Bereich der Landwirtschaft. Der Bereich des Handels war fast ausschließlich dem Adel vorbehalten. Es gab kein aufstrebendes Bürgertum in Rußland, wie in anderen europäischen Staaten, in das die Juden hätten integriert werden können. Somit war auch nicht die Möglichkeit einer ähnlichen Emanzipation der Juden, wie sie vor allem in den westeuropäischen Gesellschaften im 19.Jahrhundert anzutreffen war, gegeben.

1772 erließ die Zarin Katharina II. ein Manifest, das die Gleichstellung der Juden beinhaltete. Der Besitz der Juden und ihre Religion blieben unangetastet. Das Ziel der Politik Katharinas II. war die zunehmende Integration der Juden in das russische Ständegefüge, um mit ihrem wirtschaftlichen Potential die Modernisierung des Reiches zu beschleunigen. Die Politik der Zarin zielte also darauf ab, die Juden langfristig zu assimilieren, ohne ihre Religion und Kultur zu unterdrücken, und sie nicht auszugrenzen. Hierin lag eine große Chance, mögliche antisemitische Vorurteile abzubauen.

Es kam aber anders. Denn mit der Okkupation des polnischen Territoriums wurden auch polnische antijüdische Vorurteile, die sich im Laufe von Jahrhunderten in Polen bildeten, von der russischen Gesellschaft übernommen. Besonders große Ressentiments gegenüber den Juden hatten die Moskauer Kaufleute, die in den Juden eine neue und gefährliche Konkurrenz sahen. Auf deren Petition ging auch das sogenannte Ansiedlungsrayon von 1804 zurück, das erst nach der Februarrevolution von 1917 abgeschafft wurde. Es besagte, daß die Juden sich nicht außerhalb eines Territoriums ansiedeln durften, welches aus den ehemaligen polnischen Gebieten, der linksufrigen Ukraine und Neurußland bestand. Bis zur Mitte des 19.Jahrhunderts verschärften sich diese antisemitischen Tendenzen. Sie waren jedoch nicht rassistisch, sondern vor allem wirtschaftlich und religiös motiviert.

Eine ganz neue und grausame Qualität bekam der russische Antisemitismus in den Jahren zwischen 1881 und 1906. Diese Phase der Geschichte der russischen Juden kann man als die Zeit der Pogrome bezeichnen. Das russische Wort Pogrom, das Gewitter bedeutet, wurde zum ersten mal im Jahr 1871 verwendet, als die in Odessa lebenden Juden Opfer eines Übergriffes der griechischen Minderheit wurden. In diesen Jahren entlud sich, wie ein Gewitter, der Antisemitismus der Russen in blutigen Ausschreitungen mit unzähligen Todesopfern.

Bei der Suche nach den Gründen für diese Pogrome muss zwischen zwei Phasen dieser Pogromwellen unterschieden werden.

Die erste Pogromwelle, etwa 250 Pogrome, ereignete sich zwischen 1881 und 1884. Als deren Auslöser gilt die Ermordung des Zaren Alexander II. im Jahre 1881, welche das Resultat einer vermeintlichen jüdischen Verschwörung, die der Bevölkerung in einer antisemitischen Kampagne vorgetäuscht wurde, gewesen sei. Die Ursachen dieses verbreiteten Antisemitismus auf einen Faktor zu reduzieren ist sicherlich verkehrt. Ein wichtiger Faktor war die Tatsache, dass der exklusive Nationalismus im Europa und auch im Rußland des 19.Jahrhunderts, vor allem ab den 1870er Jahren, einen verstärkten Fremdenhass und somit auch Antisemitismus mit sich brachte. Iris Boysen führt als weitere Ursache für die Pogrome an, dass sich große Teile der russischen Bevölkerung, bedingt durch die beschleunigte Industrialisierung und Modernisierung, in einer ökonomisch schwierigen Lage befanden. Dies wurde auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden zurückgeführt. Die große Anzahl an Wanderarbeitern, die sich an diesen Pogromen beteiligten, scheint diese These zu bestätigen. Denn die wirtschaftliche Situation der Wanderarbeiter war zu dieser Zeit sehr schlecht. Der wirtschaftlich bedingte Antisemitismus verschärfte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so stark, daß er sich, ergänzt durch weitere Ursachen, in Form von gewalttätigen Ausschreitungen gegen die Juden entlud. Dass die russische Regierung diese Pogrome angezettelt hat, was in der älteren Historiographie häufig behauptet wurde, scheint ausgeschlossen. Ein potentielles Ausufern dieser Ausschreitungen wäre eine zu große Gefahr für die Regierung selbst gewesen.

Bei der zweiten Pogromwelle zwischen 1903 und 1906, etwa 600 Pogrome, schließt auch die revisionistische Historiographie, die den Verschwörungstheorien der älteren Historiographie ablehnend gegenübersteht, eine teilweise Verstrickung lokaler Behörden nicht aus. Diese Ausschreitungen waren wesentlich blutiger als die Pogrome 20 Jahre zuvor. Sie hatten einen urbaneren Charakter. Träger der Pogrome war nun vor allem die städtische Mittel- und Unterschicht. Neben den Ursachen, vor allem der wirtschaftlich schlechten Situation, die bereits bei der ersten Pogromwelle erwähnt wurden, spielte bei den Pogromen von 1903 bis 1906 die Tatsache, dass sich unverhältnismäßig (im Vergleich zum Anteil an der Bevölkerung) viele Juden in sozialrevolutionären Parteien organisierten, eine wichtige Rolle. Die Ursache dafür lag vor allem in den wirtschaftlichen Beschränkungen der Juden, die zur Folge hatten, dass diese, trotz ihres Bildungsstandes, nicht in die Wirtschaft integriert werden konnten und somit zunehmend verarmten. Juden und linke Gruppierungen sowie Parteien wurden infolgedessen sehr häufig als identisch angesehen, was zur Folge hatte, daß sich zu den vielen Vorurteilen gegenüber den Juden nun auch das des Revolutionärs gesellte. „Im ‚Juden‘ waren die Feinde der traditionellen, agrarischen und autokratischen russischen Gesellschaft in einer Gestalt vereinigt.“ Mit dem Abebben der Pogrome verbesserte sich die Lage der russischen Juden nicht wesentlich. Die bestehenden Einschränkungen blieben bestehen. Antisemitische Agitationen blieben an der Tagesordnung, vor allem vor Duma-Wahlen(seit 1905), um die „jüdische-Linke“ zu diskreditieren. Die Gesellschaft des Zarenreiches war geprägt von Gegensätzen. Und in dieser angespannten innenpolitischen Lage stolperte Russland, sowie der restliche Teil Europas in den Ersten Weltkrieg.

1874 wurde in Russland eine allgemeine vierjährige Wehrpflicht eingeführt. Da jüdische Jugendliche mit einem russischen Sekundarschulabschluss Erleichterungen erhielten, besuchten zahlreiche Juden russische Schulen. Hingegen konnten Juden nicht zu Offizieren befördert werden. Im April 1880 gründeten fünf Philanthropen, gestützt auf ein Edikt von Zar Alexander II., die spätere internationale Organisation ORT als wohltätige „Gesellschaft für handwerkliche und landwirtschaftliche Arbeit“, zur Förderung der Berufsausbildung von Juden in Russland. Bis zur Oktoberrevolution 1917 bestand ORT nur im Russischen Reich.

Die Teilnahme zahlreicher Juden am Aufbau des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens – wie der Musiker Anton Rubinstein, der Bildhauer Mark Antokolski und der Maler Isaak Lewitan – führte in der russischen Öffentlichkeit sofort zu scharfen Reaktionen. Zu den führenden Gegnern des Judentums gehörten bedeutende Vertreter der slawophilen Bewegung, wie Aksanow und Dostojewski. Die Juden wurden beschuldigt, einen „Staat im Staate zu errichten und die russischen Massen auszubeuten; auch die Ritualmordlegende, die 1817 von Alexander I. gesetzlich verboten worden war, wurde 1878 wieder in Rang und Geltung gesetzt. Das Hauptargument der Hassprediger war jedoch, die Juden seien fremde Eindringlinge im russischen Leben, die wirtschaftliche und kulturelle Positionen unter ihre Kontrolle brächten und einen zersetzenden Einfluss hätten. In vielen Zeitungen, darunter der führenden („Neue Zeit“), erschienen agitatorische Artikel. Die antijüdische Bewegung gewann besonders nach dem Balkankrieg von 1877 bis 1878, der in ganz Russland zu einem Anwachsen des slawophilen Nationalismus führte, neu an Bedeutung.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gewann die jüdische Aufklärungsbewegung Haskala im russischen Judentum an Einfluss. Sie manifestierte sich zunächst in verschiedenen Großstädten. Innerhalb der Bewegung gab es verschiedenste Strömungen: die Polen mosaischen Glaubens sowie nihilistische und sozialistische Zirkel in Russland setzten sich für weitestgehende Assimilation ein, während andere, darunter Peretz Smolenskin auf der Suche nach einer nationalen jüdischen Identität waren. Wortführer der Haskala in Russland war der Schriftsteller Levinsohn. Weitere führende russische Maskilim (Anhänger der Haskala) waren Abraham Mapu, Begründer des modernen hebräischen Romans, und der Dichter Jehuda Leib Gordon (1831–1892). Die Maskilim standen zunächst der jiddischen Sprache ablehnend gegenüber und wollten sie durch Russisch ersetzen, doch einige unter ihnen, wie Mendele Moicher Sforim, schufen später eine bedeutende weltliche jiddische Literatur.

Für Kant stellt die Aufklärung eine historistische Epoche dar, deren Aufgabe es ist, die Menschen geistig zu emanzipieren und irrationalem Denken Einhalt zu bieten. Dabei unterscheidet Kant zwischen dem „Zeitalter der Aufklärung“ und dem „aufgeklärten Zeitalter“. Ersteres ist als reine historische Epoche anzusehen, in der gesellschaftliche Institutionen aufgeklärten Inhalt behandeln und nicht mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gleichzusetzen ist, denn diese betitelt Kant nicht als aufgeklärt. Vielmehr wird in ihr der Mensch dazu befähigt, aus der „Unmündigkeit“ herauszutreten und sich seiner Vernunft zu bedienen, ohne sich anderen fügen zu müssen.8 Dies soll in vielen verschiedenen Bereichen erfolgen, beispielsweise beim staatlichen Gesetzgebungsprozess oder bei der öffentlichen Meinungsbildung. Gründe für ein Nicht-aufgeklärt-sein sind für Kant Faulheit und Feigheit, die den Menschen seiner Mündigkeit berauben. Es ist bequemer und vermeintlich sicherer, die eigenen Aufgaben anderen Menschen aufzuerlegen. Anstatt sein eigenes Handeln zu reglementieren und zu reflektieren, ist es angenehmer, Seelsorgern oder Ärzten die Verantwortung aufzubürden. Kant geht es hier nicht darum zu sagen, dass das Einholen eines medizinischen oder geistlichen Rates unrühmlich ist, das stellt er gar nicht in Frage. Es ist durchaus „aufgeklärt“, Expertenmeinungen einzuholen und sich selbst und letzten Endes auch die Gesellschaft durch Wissensaustausch voran zu treiben. Was Kant hier jedoch kritisiert, ist zum einen das Abwälzen der eigenen Verantwortung auf andere und somit auch das Über-Gebühr-Belasten dieser, was zur Konsequenz hat, dass diese somit weniger Raum haben, um sich selbst zu entwickeln. Hier findet also eine Art Ausnutzung der Gesellschaft statt. Zum anderen soll der Mensch weiter nach dem Fortschritt streben und die „Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“ jedes Mal aufs neue ablegen.

Früher, als der Mensch naturbedingt an fremde Leitung (naturaliter maiorennes) gebunden war, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Herrschenden zu unterwerfen und sein Schicksal hinzunehmen. Heute steht der Mensch in der Pflicht, sich nicht durch die Meinung oder Herrschaft anderer entmündigen zu lassen. „Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen,“ ist genau die falsche Vorgehensweise, die als „sehr gefährlich“ einzuschätzen ist. Kant ist sich der „Ungemütlichkeit“, seinen eigenen Geist zu bearbeiten, um der Unmündigkeit zu entfliehen, durchaus bewusst und appelliert an jeden Menschen sich in Selbstaufklärung zu betätigen. Hinsichtlich des Begriffes „Aufklärung“ versteht Kant darunter nicht die oder eine Epoche, sondern schreibt jeder Generation eine eigene Aufklärung oder besser Aufgeklärtheit zu, jeweils in ihrem eigenen Sinne. Es findet in jeder Epoche Aufklärung statt, welche die nachfolgende Epoche als Ausgangspunkt für ihr weiteres Aufklären benutzt. Bei Aufklären und Aufklärung handelt es sich im kantischen Sinne um zwei in Relation zueinander stehende Begriffe, wobei nicht jede aufklärende Epoche als aufgeklärt gelten kann. Im Idealfall und als Ziel der Menschengeschichte wird Aufklärung und Aufklären zu ein und derselben Sache und kultiviert durch Vernunft die Gesellschaft.

Kant versteht unter dem Begriff der Aufklärung Erziehung, Bildung und sittliche Vervollkommnung des Menschen. Aufklärung bedeutet jedoch auch Freiheit im Allgemeinen. Der Mensch darf gewissentlich handeln, seine Meinung frei äußern, Überzeugungen offen kundtun, politisch handeln und gesetzgebende Organe kritisieren. Dabei steht der Mensch im Vordergrund, der aktiv seine Handlungen ausführt und seine Vernunft gebraucht. Die Aufklärung stellt ein Symbol der Menschlichkeit dar. Würde der Mensch „roh“ und ohne Vernunft handeln, so wären seine Handlungen naturgetrieben, was ein Zurückwerfen in einen barbarisch-animalischen Zustand zur Folge hätte.

Die Aufklärungsdiskussion ab 1650 nahm Vorstellungen des Renaissance-Humanismus und der Reformation zwischen 1480 und 1550 auf, die das Mittelalter als vergangene Epoche definierten und von der Gegenwart eine Neuausrichtung in Form einer Wiederbelebung der Antike forderten, um dem Mittelalter zu entrinnen. Der Lichtmetaphorik bezüglich des „finsteren“ Mittelalters entsprach nun kontrastierend ein „helleres“ Zeitalter.

Allgemein versteht man unter dem Begriff "Aufklärung" das Vorhaben, durch Wissen und neue Erkenntnisse Antworten auf Fragen zu finden und Zweifel, Vorurteile oder falsche Annahmen auszuräumen. Im Zeitalter der Aufklärung wurde die menschliche Vernunft zum Maßstab eines jeden Handelns erklärt: Wie bereits erwähnt, war einer der Grundsätze der Aufklärung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen - lediglich das, was durch ihn erfasst und erklärt werden konnte, wurde als Grundlage und Maß für Entscheidungen und Handlungen anerkannt. Man spricht auch von der philosophischen Strömung des Rationalismus.

Der Begriff Aufklärung fasste verschiedene geistige, soziale und kulturelle Strömungen zusammen. Die Gemeinsamkeit dieser Strömungen bestand in der Kritik am absoluten Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligionen und an den absoluten Monarchien.

Man war bestrebt, sich von alten Denkweisen und früheren Vorstellungen zu befreien. Die Menschen sollten - anders als früher - ihren Kopf benutzen und nichts als gegeben hinnehmen, ohne es mittels der Vernunft zu hinterfragen. Dies richtete sich vor allem gegen blinden Gehorsam gegenüber der Kirche und anderen Obrigkeiten, gegen Vorurteile und Aberglauben. In den Augen der Aufklärer war allein der Verstand in der Lage, die Wahrheit ans Licht zu bringen und Vernunft und Freiheit das richtige Mittel, um die Menschen von Unterdrückung und Armut zu erlösen.

Durch die Abkehr vom Bösen, Schauernden und Abgründigen gelangt der aufgeklärte Mensch zu einem Optimismus, der ihn dazu anregen sollte, lachend und heiter durch die Welt zu wandern. Auf dem Weg durch das Leben erkannte jener dann die Einfachheit der Welt und beschäftigte sich mit Themen, auf die er geradezu spielerisch einfache Lösungen (er-)fand. Erstmals sollte der Mensch nicht nur ein Teil der Gesellschaft sein. Vielmehr stellte er die Gesellschaft selbst dar, in der er nicht seinem Schicksal ausgeliefert war, sondern es eigenhändig „schmiedete“. Über ganz Europa schwappte eine Welle der Euphorie für Wissen, Verstand und Bildung. In allen Bereichen entwickelte sich dabei ein Verlangen sein eigenes Wissen weiterzugeben, zu lehren und zu erziehen. Vor allem Staatsmänner, Dichter und Pfarrer entdeckten eine Lehrerperson in sich, die nach einfachen Erklärungen zur Weitergabe an das Volk trachtete. Einfachheit statt Komplexität, und damit vollkommene Verständlichkeit, sollten zu einem gebildeten und aufgeklärten Bürgertum führen.

Einen großen Stellenwert erkannten die Philosophen wie Johann Heinrich Pestalozzi und Jean-Jacques Rousseau in den Kindern. Die Erziehung zum eigenständigen und eigenverantwortlichen Denken sollte so früh wie nur möglich im Leben eines Menschen stattfinden. Rousseau fordert dazu am Anfang des ersten Buches aus „Emile oder Über die Erziehung“ folgendes: „Pflege und tränke das junge Gewächs, bevor es stirbt; eines Tages werden seine Früchte deine Wonne sein.“ Er sah im Kind und seinen Fähigkeiten die Chance eine bessere Gesellschaft und einen besseren Staat entstehen zu lassen, der allgemein und gerecht handeln sollte.

Wie bereits in der Einleitung angedeutet, stellte die Erziehung für John Locke eine essentielle Tätigkeit in der modernen Zeit dar. Vor allem der Erziehung der Kinder räumt er den größten Stellenwert ein und verweist zugleich auf die Pflichten und die Verantwortung, welche die Eltern dabei tragen. Er bedauert aber, dass sich leider nicht allzu viele Menschen damit auseinandersetzen, obwohl nach ihm „das Wohl und der Wohlstand der Nation“ in hohem Maße davon abhängen, wie die nächste Generation erzogen wird. Sein Hauptaugenmerk legt Locke auf seine Erziehung des Gentlemans. Dieser Status wird getragen von der führenden Gesellschaftsschicht, welche in öffentlichen Ämtern und im Staatsdienst ihre Berufung findet. Diese Menschen, die sich als Gentlemen bezeichnen dürfen, haben nach Locke eine edle und vollkommene Erziehung genossen, durch die sie auch Andere dazu bewegen können, ihrem Beispiel zu folgen. Sie müssen dabei nicht unbedingt wissenschaftlich gebildet sein, denn das stand bei Locke nicht an vorderster Stelle. Vielmehr sollte der Mensch erzogen statt ausgebildet werden, tugendhaft statt hochintelligent und Lebenskünstler statt Wissenschaftler sein. Sein Gentleman kann ohne Gefahr auf einen Teil der Bildung verzichten und sich auf die allgemeine Klugheit und das Benehmen konzentrieren, ohne dabei befürchten zu müssen, in seiner Persönlichkeit oder in seinem Beruf Schaden zu erleiden.

Daraus lässt sich auch erkennen, dass er sich auf den Leitspruch „res non verba“ berief, also den Dingen zugewandter war, als der Sprache. Er betrachtete die Diskussion als pure Zeitverschwendung, da sie letztendlich nur wenig oder gar nichts besagt. Die Kunst zu Diskutieren vergleicht er mit der ebenso unsinnigen Fähigkeit Knoten in ein Spinnennetz zu flechten.

Mit Hilfe seiner Erziehungsansätze versucht John Locke nicht das junge Wesen wissenschaftlich zu prägen, sondern dessen Geist und Verstand zu öffnen und vorzubereiten, um ihm die Voraussetzungen zum Erlernen einer Wissenschaft zu geben.

Ohne Zweifel spricht Locke bei seinem Gentleman nicht von den Armen und den Menschen, die der Gesellschaft zur Last fallen. Diese sollten zum Beispiel in der Wollindustrie einer erbarmungslosen und streng religiös geführten Disziplin unterliegen und so ihren Teil in die Gesellschaft beitragen. Hieran erkennt man schnell, dass Locke der erste Aufklärer war, weil er sich nur mit dem höheren Bürgertum abgab. Die unteren Schichten fielen durch sein Raster und wurden wie beschrieben als Arbeiter in den Bienenstock der Gesellschaft eingereiht.

Und doch hatten seine Ansätze großen Erfolg. Seine „Gedanken über Erziehung“ von 1693 wurden für die pädagogische Entwicklung im 18. Jahrhundert ausschlaggebend und für viele Teilbereiche wie das Schulwesen übernommen und weiterhin optimiert.

Ein wichtiger Faktor war dabei die Bildung, denn ein Spruch, den wir heute noch kennen, war ebenfalls einer der Leitsätze der Aufklärung: "Wissen ist Macht". Dieser Satz wurde vom englischen Philosophen Francis Bacon geprägt und bedeutet, dass es einem Menschen erst durch Bildung und Wissen ermöglicht wird, seinen Verstand zu benutzen und eine eigenständige und unabhängige Person zu werden. Bildung und Wissenschaft sollten gefördert und vor allem in allen Schichten der Bevölkerung verbreitet werden. Die Aufklärer wollten Freiheit und Gleichheit für die Menschen sowie Toleranz gegenüber anderen Religionen - eine Forderung, die in der damaligen Gesellschaft äußerst neuartig und einschneidend war.

Eine geschlossene Theorie der Aufklärung gibt es nicht. Eher wurden Theorien der Aufklärung zwischen Gruppen, die das Wort für sich beanspruchten, sich von ihm distanzierten oder einander das Recht absprachen, in der Tradition der Aufklärung zu stehen, diskutiert. Grundgedanken wie die Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen, wie sie in die Verfassung der Vereinigten Staaten einflossen, wurden von einzelnen Aufklärern wie Edmund Burke oder Moses Mendelssohn kritisch betrachtet.

An den Humanismus anknüpfend brachte in der philosophischen Auseinandersetzung zuerst der Rationalismus angeführt von Spinoza und Leibniz neue Denktheorien hervor. Das bis dahin hegemoniale System von den angeborenen Ideen von Descartes wurde vom Empirismus (Locke, Hume), die Abhängigkeit allen Wissens von der sinnlichen Erfahrung, kritisiert.

Als Bestandteil des ursprünglichen Gesellschaftsvertrags betrachtet Locke die Verpflichtung auf das Mehrheitsprinzip, da der Gesamtkörper nun einmal in die Richtung der größeren Kraft bewegt werden müsse. Speziell das Parlament stellt einen wichtigen Anwendungsbereich des Mehrheitsprinzips dar, da es als Gesetzgebungsorgan auf Entscheidungsfähigkeit gegründet sein muss. Zwischen dem Parlament als Legislativorgan und der allein für die ausführende Gewalt (Exekutive) zuständigen Krone sieht Locke eine ausbalancierte Gewaltenteilung vor.

Wie Locke war nach ihm auch der französische Adelsspross Montesquieu, der neben den französischen politischen Gegebenheiten seiner Zeit bei einem längeren England-Aufenthalt auch die britischen Verhältnisse gründlich studierte, Anhänger einer konstitutionellen Monarchie. Dem Modell einer Machtbeschränkung durch Gewaltenteilung (Le pouvoir arrête le pouvoir) zog er mit der Judikative die dritte tragende Säule ein.

Nach rechtswissenschaftlichen Studien in Bordeaux und Paris war Montesquieu für einige Jahre am Gerichtshof (Parlement) von Bordeaux im Amt und in dieser Funktion auch mit der kritischen Prüfung und Registrierung königlicher Erlasse befasst. Ausgeprägter Abstand zu dem im Niedergang befindlichen französischen Absolutismus spricht auch aus seinem 1721 veröffentlichten Werk, den Persischen Briefen (Lettres persanes), in denen die französische Monarchie nicht besser beurteilt wird als die auf literarischer Basis zum Vergleich herangezogene osmanische Despotie.

Auch in seinem epochemachenden staatstheoretischen Standardwerk Vom Geist der Gesetze (De l’esprit des lois) stellt Montesquieu eine Fülle von Vergleichen zwischen Europa und dem Orient an, und zwar bezogen auf die Ebene damals geltender sowie ehedem erlassener Gesetze. Freiheit im politischen Sinne wird aus seiner Sicht nicht durch Volksentscheide bewirkt, sondern gründet in der Sicherheit durch generelle Gesetze. Deren Geltung ist durch eine nach allen Seiten unabhängige Rechtsprechung zu gewährleisten, die allein an die Gesetze gebunden ist.

Gewisse unveräußerliche und schützenswerte Rechte der menschlichen Individuen im staatlichen Rahmen haben Vordenker aufklärerischen staatstheoretischen Denkens wie Grotius, Locke oder Montesquieu mit je unterschiedlichem Akzent in ihren Gesellschafts- und Herrschaftsmodellen bereits berücksichtigt. Als allgemeine Menschenrechte sind solche Vorstellungen in erweiterter Form eingegangen in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776, in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die Französische Nationalversammlung 1789 und schließlich in die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen 1948.

Das Herrschaftssystem im Übergang zum 18. Jahrhundert ist absolutistisch und hält an seinen Traditionen fest. Hier kann sich das neue Denken nicht entfalten. Auf politischer Ebene entstehen lang andauernde Probleme: Die Staatenbildung ist noch nicht abgeschlossen und die politische Macht in den Händen der Fürsten, die ihren Einfluss über die gewachsenen Abhängigkeitsstrukturen sicheren und ihre maroden Finanzen mit verstärkten Steuereinnahmen auszugleichen suchen. Der absolutistische Herrschaftsanspruch der Fürsten konkurriert mit dem aufsteigenden Besitzbürgertum der großen Städte, die in dieser Zeit aufgrund des erweiterten Handels im Zuge der Kolonialisierungen, dem Ausbau der Infrastruktur, des Bevölkerungswachstums und der immer differenzierter werdenden Bedürfnisse der Menschen nach Dienstleistungen und Waren größer werden; der Konflikt zwischen zentraler Herrschaft und dem alten Adel wird bis ins 19. Jahrhundert andauern.

Die Zeit bringt jedoch noch eine andere Schicht hervor, die zwar keine politischen Einflussmöglichkeiten hat, dessen geistige Dominanz die neue Strömung jedoch durchsetzen kann. Das Bildungsbürgertum. In ganz Europa tauschen sich die Gelehrten (in dieser Zeit noch auf Französisch), aber auch zunehmend nichtuniversitäre Bereiche der Gesellschaft (Frauen, der Adel) über die neuen Fragen aus, in Leipzig, Paris und London, um nur einige größere Zentren zu nennen, entstehen gesellschaftliche Tendenzen, die der ausschweifenden höfischen Rokoko-Kultur eine moralische Instanz entgegensetzen.

Das Jahr 1881 bildete in der Geschichte der russischen Juden einen Wendepunkt. Das Attentat auf Zar Alexander II. stürzte das ganze Land in Verwirrung. Narodnaja Wolja und weitere revolutionäre Gruppierungen riefen das Volk zur Rebellion auf.

Epizentrum des ersten Pogroms war das Governement Cherson. Insbesondere von 1881 bis 1882, vereinzelt noch bis 1884, kam es zu gewalttätigen Übergriffen. In zahlreichen Städten des südlichen Russlands brachen Pogrome aus: 1881 in Jelisawtgrad und Kiew, 1882 in Balta, 1883 in Nowomoskowsk usw. und 1884 in Nischni Nowgorod. Jüdische Häuser, Geschäfte, vor allem aber Wirtshäuser wurden geplündert. Es kam zu Vergewaltigungen und Morden, deren Zahl nur zu schätzen ist. Aronson geht allein für 1881 von 40 Todesopfern und 225 Vergewaltigungen aus. Nach Irwin Michael Aronsons Untersuchungen waren die Pogrome von 1881 bis 1884, entgegen vorherrschender Meinung, von der zaristischen Staatsmacht weder initiiert noch gewollt. Vielmehr war die Regierung äußerst beunruhigt, denn sie verstand die Vorkommnisse als Teil des revolutionären Plans. Das schließt die Duldung oder Mitwirkung einzelner lokaler Behörden nicht aus.

Die Tatsache, dass die russische Intelligenzija den Aufrührern Gleichgültigkeit oder auch Sympathie entgegenbrachte, schockierte zahlreiche Juden, besonders die Maskilim. Unter dem neuen Zaren Alexander III: wurden Provinzkommissionen ernannt, um die Ursachen der Pogrome zu ergründen. Im Wesentlichen kamen diese Kommissionen zu dem Schluss, dass die Ursache der Pogrome in der „jüdischen Ausbeutung“ läge. Aufgrund dieser Ergebnisse wurden im Mai 1882 die Zeitweiligen Gesetze erlassen, welche den Juden verboten, sich außerhalb von Städten und Kleinstädten niederzulassen. Als Reaktion darauf kam es zu einem Ansturm von jüdischen Schülern auf Mittel- und Hochschulen, worauf in einem neuen Gesetz 1886 der Anteil jüdischer Studenten in Sekundarschulen und Universitäten innerhalb des Ansiedlungsrayons auf 10 % und außerhalb auf 3–5 % beschränkt wurde. Dieser Numerus clausus trug viel zur Radikalisierung der jüdischen Jugend in Russland bei. 1884 kamen die Pogrome zu einem Ende, doch administrative Schikanen blieben weiterhin an der Tagesordnung. 1891 begann die systematische Vertreibung der meisten Juden aus Moskau. Von dem persönlichen Berater von Zar Alexander III., ist folgender Ausspruch überliefert: Ein Drittel (der russischen Juden) wird sterben, ein Drittel wird auswandern, und das letzte Drittel wird im russischen Volk völlig assimiliert werden.

Die judenfeindliche Politik unter Alexander III. wurde auch unter dessen Nachfolger Nikolaus II. fortgeführt. Als Reaktion auf die anwachsende revolutionäre Bewegung, in der jüdische Jugendliche eine zunehmende Rolle spielten, ließ die Regierung in der Presse, die strengen Zensurbestimmungen unterworfen war, hemmungslose antisemitische Propaganda verbreiten. In der Regierungszeit von Nikolaus II. fanden wiederum zahlreiche Pogrome statt: während Pessach 1903 in Kischinjow, und 1906 in Siedlce. Die Errichtung der kaiserlichen Duma nach dem Petersburger Blutsonntag brachte keine Verbesserung der Situation. Zwar waren in der ersten Duma von 1906 12 jüdische Abgeordnete vertreten. Sie standen jedoch mächtigen rechtsgerichteten Parteien wie dem Bund des russischen Volkes und damit verbündeten Gruppierungen gegenüber, welche öffentlich die Eliminierung des russischen Judentums forderten. Diese Kreise produzierten und veröffentlichten die Hetzschrift „Protokolle der Weisen von Zion“, „durch welche bis heute antisemitisches Gedankengut weltweit verbreitet wird.

Die Pogrome und restriktiven Erlasse sowie der administrative Druck führten zu einer Massenauswanderung. Zwischen 1881 und 1914 verließen etwa 2 Millionen Juden Russland, viele unter ihnen emigrierten in die USA. Zwar nahm infolge der hohen Geburtenrate die jüdische Bevölkerung Russlands nicht ab, ihre wirtschaftliche Situation verbesserte sich jedoch, insbesondere auch durch die finanzielle Unterstützung durch Emigranten aus dem Ausland. Zur Regelung dieser massenhaften Auswanderung wurden verschiedene Projekte unternommen. Das bedeutendste Vorhaben stammte vom jüdischen Philanthropen Maurice de Hirsch, welcher 1891 mit der russischen Regierung eine Vereinbarung zur Übersiedlung von 3 Millionen Juden innerhalb von 25 Jahren nach Argentinien traf und zu diesem Zweck die ICA gründete. Das Argentinien-Projekt kam zwar nicht zur Ausführung, doch ICA konnte landwirtschaftliche Ansiedlungsprojekte von Juden sowohl in den Auswanderungsländern als auch in Russland selbst fördern. Ein weiteres Projekt für auswanderungswillige russische Juden, das ebenfalls nicht zur Ausführung kam, war das britische Uganda-Programm.

Die neun Monate nach der Februarrevolution 1917 bildeten in der Geschichte des russischen Judentums eine kurze Blütezeit. Am 16. März 1917 hob die provisorische Regierung als eine ihrer ersten Maßnahmen sämtliche Beschränkungen gegen Juden auf und erteilte ihnen gleichzeitig die Möglichkeit, in der Verwaltung tätig zu sein, als Anwälte zu praktizieren und in der Armee aufzusteigen. Die russischen Juden beteiligten sich aktiv an der Revolution und nahmen am politischen Leben teil, das im ganzen Land aufblühte. Auch die zionistosche Bewegung verzeichnete unter den russischen Juden großen Zulauf. Im Mai 1917 wurde die siebte Konferenz der russischen Zionisten in Petrograd abgehalten, an der 140.000 Mitglieder vertreten waren. In vielen russischen Städten bildeten sich Jugendgruppen unter dem Namen Hechalutz („Der Pionier“), die sich auf die Alija nach Palästina vorbereiteten. Im November 1917 wurde die Nachricht der Unterzeichnung der Balfour-Deklaration mit Begeisterung aufgenommen.

Die sozialen Probleme des Landes konnten in dieser Zeit nur unzureichend gelöst werden. Allerdings erfüllte sich schnell eine der Hauptforderungen der Revolutionäre: Es gelang der neuen Regierung unter dem Volkskommissar für äußere Angelegenheiten Trotzki mit dem kaiserlichen Deutschland unter Inkaufnahme massiver Gebietsverluste den Friedensvertrag zu schließen.

Während der Zeit des Bürgerkrieges führte die neue Regierung auch Kriege gegen Polen, Finnland (27. Januar bis zum 5. Mai 1918) und Lettland. Nach Ende des Krieges wurde die unabhängige Macht der Sowjets (Arbeiterräte) nicht wiederhergestellt, wogegen sich der Kronstädter Aufstand wendete. Durch die Rote Armee wurde dieser Rebellionsversuch gegen die Bolschewiken niedergeschlagen.

Ob das, was sich im Oktober 1917 in Russland abspielte, als Revolution bezeichnet werden könne, war von Anfang an umstritten. So nannten die Menschewiki in der Nacht zum 26. Oktober 1917 das Vorgehen der Bolschewiki schlicht eine Verschwörung. Wegen der Leichtigkeit und Widerstandslosigkeit, mit der die Macht in Petrograd in die Hände der Bolschewiki überging, meinte der Menschewik Suchanow, es sei eigentlich nur eine Wachablösung gewesen. In der marxistischen Geschichtsschreibung dagegen wurden die Ereignisse zur „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ hochstilisiert. Der Pflege dieses Gründungsmythos der Sowjetunion dienten die Feierlichkeiten zur jährlichen Wiederkehr des Datums, die mit großen Paraden auf dem Roten Platz begangen wurde. Auch in Hervorbringungen der bildenden Kunst und der Literatur verherrlichte man immer wieder den „Roten Oktober“. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist der Spielfilm Oktober von Sergei Eisenstein aus dem Jahr 1928, der die Ereignisse dramatisierte: Aus der eher unspektakulären Verhaftung der provisorischen Regierung machte er den „Sturm auf das Winterpalais“, der in das kollektive Gedächtnis eingegangen ist. Tatsächlich wurde das Gebäude bei den Dreharbeiten stärker beschädigt als bei den tatsächlichen Ereignissen zehn Jahre zuvor. Noch in den Zeiten von Glasnost und Perestrojka feierte der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow die Erinnerung an den Oktober 1917: „Jene legendären Tage, die eine neue Epoche des gesellschaftlichen Fortschritts, der wahren Geschichte der Menschheit eingeleitet haben. Die Oktoberrevolution war in der Tat eine Sternstunde der Menschheit, ihre Morgenröte. Bei der Oktoberrevolution handelte es sich um eine Revolution des Volkes und für das Volk, für den Menschen, für seine Befreiung und Entwicklung.“

Der Zeitgenosse der Revolutionsepoche und einer der Wortführer der russischen Sozialisten Maxim Gorki wirft bereits in seiner Rede anlässlich des Jahrestages der Februarrevolution ein kritisches Licht auf die Folgen der Ereignisse und charakterisiert die russische Revolution vielmehr als einen Aufruhr, denn als Revolution:

„Eine Revolution ist nur dann vernünftig und großartig, wenn sie der natürliche und machtvolle Ausbruch aller schöpferischen Kräfte eines Volkes ist Wenn sie jedoch nur jene Gefühle und Gedanken befreit, die sich im Volk während seiner Versklavung und Unterdrückung angestaut haben, wenn es sich nur um einen Ausbruch von Erbitterung und Hass handelt, dann haben wir keine Revolution, sondern einen Aufruhr, der unser Leben nicht verändern kann und nur die Grausamkeit und das Übel vergrößert. Können wir guten Gewissens behaupten, dass im Jahr der Revolution das russische Volk, das sich von der Gewalt und dem Zorn des Polizei- und Beamtenstaats befreit hat, damit auch besser, freundlicher, weiser, ehrlicher geworden wäre? Nein, wer ehrlich ist würde das nicht behaupten. Wir leben weiterhin so, wie wir in der Monarchie gelebt haben, mit denselben Bräuchen, Gewohnheiten und Vorurteilen, genau so dumm und schmutzig. […] Das russische Volk, das die volle Freiheit erlangt hat, vermag nicht, ihren großen Segen für sich zu nutzen, sondern sie nur zum Schaden für sich und seinen Nächsten zu missbrauchen, und so riskiert es, endgültig zu verlieren, was es sich nach leidvollen Jahrhunderten erkämpft hat. Nach und nach wird all das Großartige vernichtet, was seine Vorfahren erarbeitet haben, verschwinden die nationalen Reichtümer und die Möglichkeiten, die Schätze dieser Erde zu mehren, werden Industrie, Verkehr und Post zerstört und die Städte verwüstet, die in Schmutz versinken.“

Weniger pointiert formulierte es der Osteuropahistoriker Dietrich Geyer im Jahr 1968. Auch er sieht in den Ereignissen vom Oktober 1917 einen Staatsstreich , betont aber gleichzeitig, dass die Bolschewiki durch kluge Politik und die Schwäche der Provisorischen Regierung eine ernst zu nehmende Massenbasis, wenn auch niemals eine echte Mehrheit in der Bevölkerung erlangt hatten: „Die Kunst des Aufstands war das Produkt politischer Kunst, das Resultat einer Politik, deren plebiszitärer Grundzug schwerlich angefochten werden kann.“

Zu einem ähnlichen Urteil kommt der britische Historiker Orlando Figes: Für ihn gab es im Oktober 1917 nur einen „militärischen Staatsstreich“, der „von der Mehrheit der Einwohner Petrograds gar nicht wahrgenommen wurde“. Aktiv teilgenommen hätten an der Aktion höchstens 25.000 bis 30.000 Menschen – knapp 5 % aller Arbeiter und Soldaten der Stadt. Auch der Historiker Manfred Hildermeier verweist darauf, dass die Zahl der aktiven Teilnehmer am Oktoberumsturz „bemerkenswert gering war.“ Noch bemerkenswerter findet er es, dass die Bolschewiki in den Krisenjahren 1918 bis 1920 die einmal errungene Macht nicht gleich wieder verloren. Diese Machtbehauptung bezeichnet er als „die zweite Revolution“. Der britische Politikwissenschaftler Richard Sakwa sieht in der Oktoberrevolution mehrere Revolutionen: In einem komplexen Prozess hätten sich sechs Revolutionen überlagert: Die soziale Massenrevolution, eine demokratische Revolution, die anti-elitäre Revolution der russischen Intelligenzia, die nationale Revolution der minoritären Völker innerhalb des Zarenreichs, die Revolution der marxistischen These, nur eine Gesellschaft mit vollausgebildeten Kapitalismus könne eine Revolution hervorbringen, sowie schließlich die Revolution innerhalb der Revolution, in der die Bolschewiki die Agenda aller anderen sozialistischen Gruppen usurpierten und so ihre Diktatur errichten konnten.

Die Zeit nach der Oktoberrevolution

Die bildungspolitischen Ziele der Bolschewisten

Als die Bolschewiki im Oktober 1917 an die Macht kam, verfügte sie in grobem Maße auch über ein pädagogisches und bildungspolitisches Programm, das auf den theoretischen Grundlagen des Marxismus beruhte und einige Zielvorstellungen mit der demokratischen Volksbildungsbewegung sowie anderer sozialistischer Parteien teilte. Konkrete Pläne und Reformentwürfe besaßen die Bolschewiki um diese Zeit jedoch noch nicht. Im Laufe des Jahres 1918 gesellten sich zu den wenigen Bolschewiki, die zuerst in Petrograd, dann in Moskau das ehemalige zaristische Ministerium für Volksbildung in den Generalstab der pädagogischen Revolution verwandelten, entschiedene Schulreformer wie P.P. Blonskij (1884-1941), S.T. Sackij (1878-1934) und V.N. Sulgin (1894-1965). Später kamen noch die beiden führenden pädagogischen Wissenschaftler der 1920er Jahre, A.P. Pinkevic (1883-1939) und M.M. Pistrak (1888-1940) hinzu.

Die pädagogischen Wortführer der Schulrevolution bezogen ihre Ideen vornehmlich aus drei Richtungen: aus der von Tolstoj beeinflussten radikalen pädagogischen Bewegung der freien Erziehung, aus der westeuropäischen und nordamerikanischen Reformpädagogik, für die John Dewey (näher darauf eingehen) repräsentative Geltung in Russland gewann, sowie aus der Theorie von Karl Marx. Während die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Ziele des Marxismus, in der von Lenin geschaffenen Form, den prinzipiellen und programmatischen Rahmen abgaben, innerhalb dessen sich die kommunistische Bildungspolitik abspielte, flossen in ihre Realisierung während der ersten Periode in starkem Maße auch nichtmarxistische Gedanken ein.

Diese Vorstellungen waren vor allem für die innere Revolutionierung von Schule und Erziehung bestimmend und kamen in den entsprechenden Dekreten, Programmen und Lehrplänen seit 1918 zum Ausdruck. Bevor der Autor sich dieser Seite der pädagogischen Neuorientierung zuwendet, müssen jedoch die umgreifenden sozialpolitischen Zielsetzungen des bolschewistischen Programms zur Umgestaltung des russischen Bildungswesens dargelegt werden. Sie beruhen vor allem auf den von Lenin entwickelten Vorstellungen von einer „sozialistischen Kulturrevolution“ und von den Aufgaben die dabei der Diktatur des Proletariats zufielen. Lenin hat dem Ausdruck „Kulturrevolution“ erst gegen Ende seines Lebens geprägt, als sich mit Beginn der Neuen Ökonomischen Politik die Erkenntnis Bahn gebrochen hatte, dass Russland ein langwieriger sozialer, ökonomischer und kultureller Transformationsprozess bevorstand. Lenin schrieb Anfang 1923: „Unsere Gegner hielten uns oft entgegen, es sei ein sinnloses Beginnen von uns, in einem Lande mit mangelnder Kultur den Sozialismus anpflanzen zu wollen. Ihr Irrtum entstand aber daraus, daß wir nicht von dem Ende angefangen haben, an dem es nach der Theorie hätte geschehen sollen, und daß bei uns die politische und soziale Umwälzung jener kulturellen Umwälzung jener Kulturrevolution vorausgegangen ist, der wir jetzt dennoch gegenüberstehen.“

Lenin kehrte den Zusammenhang um: der Aufbau der geplanten sozialistischen Gesellschaftsordnung musste alles das nachholen, was der Kapitalismus im Westen geleistet, in Russland aber versäumt hatte: „Wenn zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist (obwohl niemand sagen kann, wie dieses bestimmte ‚Kulturniveau’ aussieht, denn es ist in jedem westeuropäischen Staat anders), warum sollten wir also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Weg dieses bestimmte Niveau zu erringen, und erst dann, auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Sowjetordnung, vorwärts schreiten und die anderen Völker einholen.“

Schon lange vor 1917 hatte Lenin die bei der Verwandlung Russlands in einen Industriestaat auftretenden Hemmnisse mit dem niedrigen Bildungsniveau der Bevölkerung in Zusammenhang gebracht und betont, dass der „Faktor Kultur“ für den wirtschaftlichen Aufstieg von entscheidender Bedeutung sei. Kurz nach der Oktoberrevolution nannte er als die beiden wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung einer sozialistischen Wirtschaft in Russland „erstens die Hebung des Bildungs- und Kulturniveaus der Masse der Bevölkerung und zweitens die Hebung der Disziplin der Werktätigen, ihres Vermögens zu arbeiten, der Geschicklichkeit, der Intensität der Arbeit und ihre bessere Organisation.“

Lenin war sich aber dessen bewusst, auf welche großen Schwierigkeiten diese „Kulturrevolution“ stoßen musste, bei der „Umerziehung der Massen, bei der Organisations- und Schulungsarbeit, bei der Vermittlung von Wissen, beim Kampf gegen das uns zugefallene Erbe an Unwissenheit und Unkultur, Rohheit und Verwilderung.“

Im Unterschied zu den technikfeindlichen und zivilisationskritischen Kulturkonzeption Tolstojs, die noch im 20. Jahrhundert in der russischen Intelligenz lebendig war, erkannte Lenin den von Blonskij im Jahre 1919 niedergeschriebenen Satz an, dass die „technisch vollkommene Gesellschaft“ gleichbedeutend sei mit der „sozial vollkommenen Gesellschaft“ und dass „die Kultur der Zukunft eine industriell-kollektivistische Kultur“ sei. Die Verbindung von Technik und Sozialismus stellte Lenins Vermächtnis an Russland dar. Die Elektrifizierung der Industrie und der Anstieg der Kultur bildeten den Kern des „zweiten Parteiprogramms“, wie Lenin den Ende 1920 verabschiedeten Plan zur Elektrifizierung Russlands nannte. Bei der „Kulturrevolution“ in Russland handelte es sich also um ein Nachholen der europäischen und amerikanischen Entwicklung. Lenins Konzeption der „sozialistischen Kulturevolution“ unterstrich die rational-planerischen Aufgaben der neuen revolutionären Staatsmacht ebenso wie den instrumentellen Charakter der elementaren Massenbildung. „Kulturrevolution“ bedeutete in diesem Verständnis nicht die Schaffung einer neuen „proletarischen Kultur“, sondern den Erwerb wissenschaftlicher, technischer und organisatorischer Mittel zur Überwindung der sozioökonomischen Rückständigkeit des Landes und seiner Bevölkerung.

Aus der pragmatischen Einstellung Lenins und seinem Bewusstsein von der historischen Kontinuität ergab sich auch seine ablehnende Haltung gegenüber den Bestrebungen einer genuinen „proletarischen Kulturrevolution“, die fast alle Bereiche des kulturellen Lebens in den ersten Jahren der bolschewistischen Revolution durchdrangen. Die Bewegung des „Proletkul’t“ fand in der Literatur und in den bildenden Künsten den stärksten Ausdruck. Der „Proletkul’t“ sollte als autonome, von der Partei unabhängige Organisation die „proletarische Klassenkultur“ allein mit den Kräften des Proletariats unter ausdrücklichem Verzicht auf die Mitwirkung der Bauern und der bürgerlichen Intelligenz. Die kommunistische Partei war in diesem Konzept lediglich für die politische Revolution, die Gewerkschaften für die soziale Revolution zuständig. Lenin sah im proletarischen Radikalismus der Bewegung die Gefahr, dass dadurch die Bauern und die bürgerliche Intelligenz, deren Zustimmung für die Überlebensfähigkeit des Sowjetsystems entscheidend war, in eine scharfe Opposition zur Diktatur des Proletariats gebracht und damit der hegemoniale Bestand der kommunistischen Partei und auch seine eigene Position gefährdet wurde. Die Reglementierung des „Proletkul’t“ hatte in erster Linie politische Gründe, richtete sich aber gegen den dortigen Einfluss des Futurismus. Die Futuristen sahen in der Revolution vor allem die Befreiung der Künste aus verknöcherten Traditionen. Der Volkskommissar für das Bildungswesen, Lunacarskij, förderte zunächst die Futuristen und wies ihnen einflussreiche Posten auf dem Gebiet der Literatur-, Kunst- und Theaterpolitik zu. Aber es traten bald Differenzen auf. Der von den Futuristen propagierte totale Bruch mit der Kunst der zaristischen Vergangenheit widersprach der vor allem von Lenin vertretenen Ansicht, dass der Aufbau einer neuen Kultur nur mit Unterstützung der bürgerlichen Intelligenz und ihres Fachwissens eine gute Überlebenschance hätte. Bald darauf wurde deren Zeitung „Kunst der Kommune“ von der Regierung eingestellt. Der Einfluss der Futuristen auf die Literatur- und Bildungspolitik der Sowjetunion war damit gebrochen, obwohl sie sich bemühten, ihre Vorstellungen von einer revolutionären Kunst weiter zu verbreiten.

Der Geist der Absage an die Vorstellungen von einer besonderen proletarischen Kultur fand auch Eingang in die Thesen des ZK der „Gesamtrussischen Gewerkschaft der Kunstschaffenden“. Neben der Notwendigkeit einer Nutzung für die politische Agitation und der als Voraussetzung dazu erforderlichen „kommunistischen Propaganda unter den Dienern der Kunst selbst“ wurde darin hervorgehoben, dass „ die neue proletarische und sozialistische Kunst nur auf dem Fundament aller Errungenschaften der vergangenen errichtet werden kann“. Der „Proletkul’t“ entwickelte sich zu einer Massenorganisation, die mit der kommunistischen Partei zahlenmäßig konkurrieren konnte. Im Jahre 1920 gab es ca. 400.000 Sympathisanten und 80.000 aktive Mitglieder, die über 20 literarische und kulturpolitische Zeitschriften herausgaben.

Erkenntnistheoretisch nahm die Bewegung eine radikale Variante der Standpunkt-Theorie ein. Die Standpunkt-Theorie geht von einer Abhängigkeit der Erkenntnisgewinnung innerhalb gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse aus. Es geben bessere und schlechtere Standpunkte, von denen aus die Welt betrachtet und interpretiert werden könne. Die standpunkttheoretischen Konzepte setzen bei Hegels Herr und Knecht-Kapitel in der „Phänomenologie des Geistes“ aus dem Jahre 1802 an. Karl Marx hat Hegels Philosophie auf den Produktionsprozess im Kapitalismus bezogen, in der sich Kapitalisten und Proletarier in einer organisierten gesellschaftlichen Beziehung als Klassen gegenüberstehen. Aus der Sicht des Proletariers ist der Ablauf des Produktionsprozesses prinzipiell verfügbar, da seine Anstrengung die Beziehung zwischen Selbst und Gegenstand erst hervorbringe. Vom Standpunkt der herrschenden Klassen hingegen seien die tatsächlichen Praktiken nicht sichtbar. Aus dem Standpunkt des Proletariers resultiert sein Klassenbewusstsein und der damit verbundene Klassenkampf, wenn es von der Klasse an sich zur Klasse für sich werde.

Ab August 1919 betrieb Lenin aktiv die Unterordnung des Proletkul’t unter das Volkskommissariat für das Bildungswesen. Die erstrebte Unterordnung wurde schließlich im Oktober 1920 vollzogen und im Dezember 1920 durch einen ZK-Beschluss bestätigt. Lenin hatte eine völlige Unterordnung des Proletkul’t angestrebt, aber letztlich wurde ihm doch Autonomie in seiner künstlerischen Arbeit (Musik, Theater, Literatur, bildende Kunst) eingeräumt, wogegen ihm eigenständige politische und wissenschaftspolitische Arbeit verboten wurde.

Die Unterordnung des „Proletkul’t“ unter die Regierung leitete seinen Verfall ein. Seine bisherigen Wortführer, A. Bogdanov und V. Poljanskij, wurden ausgeschaltet; viele Zeitschriften wie „Proletarische Kultur“ und „Zukunft“ wurden im Jahre 1921 eingestellt.

Die Bewegung des „Proletkul’t“ beeinflusste auch einige pädagogische Konzeptionen. Der Geist der spontanen und kollektiven Experimentierlust war in den Projekten für Schulkommunen oder Kinderhäuser ebenso lebendig wie in den radikalen Ideen von der „Vernichtung der alten Schule“ und dem „Absterben der Schule“ überhaupt. Im Augenblick der bolschewistischen Machtübernahme waren die Unterschiede noch überdeckt; der erste amtliche Aufruf des neuen Volkskommissars Lunacarskij erhielt folgende Aussagen: „Die werktätigen Volksmassen, die Arbeiter, Bauern und Soldaten lechzen nach Unterricht im Lesen und Schreiben und nach allem Wissen. Sie lechzen aber auch nach Bildung. Diese kann ihnen weder der Staat noch die Intelligenz noch irgendwelche Macht außerhalb ihrer selbst geben. Schule, Buch, Theater, Museum usw. können hier nur Hilfsmittel sein. Die Volksmassen werden selbst ihre Kultur bewußt oder unbewusst ausarbeiten. (…) Der städtische Arbeiter und der auf dem Lande Arbeitende werden sich, jeder auf seine Art, ihre lichte, von dem Klassenbewusstsein des Arbeiters durchdrungene Weltanschauung schaffen. Es gibt keine erhabenere und schönere Erscheinung als die, deren Zeugen und Beteiligte die nächste Generation sein werden: das Aufbauen des eigenen, gemeinsamen, reichen und freien Seelenlebens durch schaffende, werktätige Kollektive. (…) Überall in Russland, besonders unter den städtischen Arbeitern, aber auch unter den Bauern, erhob sich eine mächtige Welle der Kultur- und Bildungsbewegung, vermehren sich zahllos die Arbeiter- und Soldatenorganisationen dieser Art; ihnen entgegenzukommen, sie auf jede Weise zu stützen, den Weg vor ihnen freizumachen, ist die erste Aufgabe der revolutionären Volksregierung auf dem Gebiete der Volksbildung.“

Auf der 1. gesamtrussischen Konferenz der „Proletkul’t“ - Organisationen wurden die drei wichtigsten Prinzipien herausgestellt:

  1. die kulturell aufklärende Bewegung des Proletariats sollte einen selbständigen Platz neben seiner politischen und ökonomischen Bewegung einnehmen;
  2. ihre Aufgabe bestand in der Ausarbeitung einer proletarischen Kultur, die mit der klassenlosen Gesellschaft zu einer allgemein-menschlichen wurde;
  3. der Aufbau dieser neuen Kultur basierte auf der gesellschaftlichen Arbeit und der menschlichen Zusammenarbeit.

Die Sozialisierung von Bildung und Wissenschaft war das Ziel, d.h jedem einzelnen Menschen sollten die Kulturgüter und wissenschaftliche Erkenntnisse zugänglich gemacht werden: „Der Arbeiterklasse steht bevor, nicht nur das wissenschaftliche Erbe der bürgerlichen Welt zu übernehmen und umzuwandeln. Ihre historische Aufgabe, ihr soziales Ideal erfordert, daß sie im Keime der Wissenschaft etwas ganz Neues schafft. (…) Die Verwirklichung des Sozialismus bedeutet eine Organisationsarbeit von einer Weite und Tiefe, zu der noch keine Gesellschaftsklasse in der Geschichte der Menschheit berufen war. (…) Eine Wissenschaft, die vom Standpunkt der Arbeiterklasse betrieben wird, ist die gesammelte Arbeitserfahrung der Menschheit, ein Mittel der Organisation der Arbeit, ein Mittel der Organisierung des sozialen Kampfes und Aufbaues – eine Macht nicht der Person, sondern der Gesamtheit“

Eine sozialistische Gesellschaftsordnung war nicht in erster Linie durch die Übernahme technischer Errungenschaften und der bloßen Aneignung notwendiger Arbeitsfertigkeiten aufzubauen, sondern durch die Selbstorganisation des Proletariats auf dem Wege über ihre kollektiven Erfahrungen im sozialen Leben, d.h. im Produktions- und Lernprozess.

Im Unterschied dazu räumte Lenin der Bildungsarbeit unter der Bevölkerung im Sinne der Aufklärung eindeutig den Vorrang vor der Schaffung neuer proletarischer Kulturprinzipien ein. Deshalb nahm er auch zum „bürgerlichen Kulturerbe“ der Vergangenheit eine andere Stellung ein, als es die vom „Proletkul’t“ beeinflussten Strömungen in Fragen der Pädagogik und Bildung taten. Lenin schrieb: „Der Marxismus hat seine weltgeschichtliche Bedeutung als Ideologie des revolutionären Proletariats dadurch erlangt, daß er die wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters keineswegs ablehnte, sondern sich umgekehrt alles, was in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war, aneignete und es verarbeitete.“

In seiner Rede auf dem III. Kongress des Kommunistischen Jugendverbandes erklärte Lenin im Oktober 1920: „Wir können den Kommunismus nur aus jener Summe von Wissen, Organisationen und Institutionen aufbauen, mit jenen Vorräten an menschlichen Kräften und Mitteln, die uns die alte Gesellschaft hinterlassen hat. (…) Kommunist kann man nur werden, wenn man sein Gedächtnis mit der Kenntnis aller jener Schätze bereichert, die die Menschheit erarbeitet hat.“ Weiterhin nahm er auch „das Gute, das an der alten Schule war“, gegen die radikalen Reformer in Schutz. Dieses „Gute“ bestand für ihn ebenso in der systematischen Aneignung von Kenntnissen und in der wissenschaftlichen Methode des Unterrichts wie in der Überlieferung eines bestimmten Umfangs an gesichertem Wissens. Eine moderne Bildung war für Lenin diejenige, die sich dem industriell-kollektivistischen Ideal einordnen ließ, in unmittelbarer praktischer Beziehung zum wirtschaftlichen Aufbau des kommunistischen Russlands stand sowie die heranwachsende Generation zu einem revolutionären Bewusstsein erzog.

Für die weitere Entwicklung der Sowjetunion war die ideologische Konzeption Lenins von Wissenschaft und Wissenschaftspolitik. In seinen Schriften findet sich keine zusammenhängende, systematisch entwickelte Theorie der Wissenschaft, doch lassen sich aus seinen verstreut geäußerten Ansichten bestimmte Grundzüge herleiten. Lenin ging formal und inhaltlich vom Standpunkt des Klassenkampfes aus an die Auffassung von Wissenschaft heran. Grundlegend erschien hier der am Marxismus gewonnene materialistische Wissenschaftsbegriff, den Lenin bereits im Jahre 1908 scharf gegen die bürgerliche Auffassung abgrenzte: „Von der bürgerlichen Wissenschaft und Philosophie, die von staatlich ausgehaltenen Professoren in staatserhaltenem Geist gelehrt werden, um die heranwachsende Jugend der besitzenden Klassen zu verdummen und die auf den äußeren und inneren Feind zu ‚dressieren’, braucht man erst gar nicht zu reden. Diese Wissenschaft will vom Marxismus nichts wissen. (…) Das Wachstum des Marxismus, die Verbreitung und das Erstarken seiner Ideen in der Arbeiterklasse führen unausbleiblich zu immer häufigerer Wiederkehr und zur Verschärfung solcher bürgerlicher Ausfälle gegen den Marxismus, der aber aus jeder ‚Vernichtung’ durch die offizielle Wissenschaft immer stärker, gestählter und lebenskräftiger hervorgeht.“

Lenin verstand also Wissenschaft nicht nur, im Sinne des Marxismus, an die Arbeiterklasse gebunden, sondern musste auch in ihrem Dienst stehen und zu ihrem Nutzen angewendet werden. Das bedeutete eine Aktivierung wissenschaftlicher Forschung ganz allgemein, aber auch, dass durch diese Funktion jeglicher wissenschaftlicher Tätigkeit eine bestimmte Richtung gegeben wurde, die mit Herrschaft und Gesellschaft in Zusammenhang stand: hier lagen die Anfänge der wissenschaftspolitischen Konzeption. Kurz nach der Oktoberrevolution hat Lenin diese Auffassung formuliert: „Früher war das ganze menschliche Denken, der menschliche Genius nur darauf gerichtet, den einen alle Güter der Technik und Kultur zu geben und dem anderen das Notwendigste vorzuenthalten – Bildung und Entwicklung. Jetzt dagegen werden alle Wunder der Technik, alle Errungenschaften der Kultur zum Gemeingut des Volkes, und von jetzt an wird das menschliche Denken, der menschliche Genius niemals mehr ein Mittel der Gewalt, ein Mittel der Ausbeutung sein.“

Aus dieser Äußerung geht hervor, dass für Lenin Wissenschaft niemals in der bloßen Theorie bestand, sondern immer auch zugleich in der praktischen Anwendung und Nutzung. Wissenschaft und Technik gehörten zusammen und ließen sich im Grunde nicht trennen: diese Konzeption sollte für die weitere Entwicklung der Wissenschaft und auch der Wissenschaftspolitik in der Sowjetunion zur Grundlage werden. In dem von ihm im April 1918 verfassten „Entwurf eines Planes wissenschaftlich-technischer Arbeiten“ fasste er seine Vorstellungen von der zukünftigen Aufgabe von Wissenschaft und Technik in der Sowjetunion zusammen, in dem er die „Ausarbeitung eines Planes für die Reorganisation der Industrie und den ökonomischen Aufstieg Russlands“ forderte, sich dabei auf die Akademie der Wissenschaften bezog und als wichtigste Aufgabe „eine rationelle Standortverteilung der Industrie in Russland“ nannte. Der abschließende Hinweis: „Besonders große Aufmerksamkeit für die Elektrifizierung der Industrie und des Verkehrswesens und für die Anwendung der Elektrizität in der Landwirtschaft“ leitete schon zu dem Plan zur Elektrifizierung Russlands über, der drei Jahre später endgültig Gestalt annahm.

Auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Auslandskontakte hat sich vor allem die Akademie der Wissenschaften um einen Neubeginn bemüht. Hier lag der Schwerpunkt der angestrebten Beziehungen in Deutschland. Die Gelegenheit des 200. Gründungstages der Russischen Akademie der Wissenschaften im September 1925 wurde zu einer internationalen Feier genutzt. Es kamen 150 Wissenschaftler aus dem Ausland, darunter 30 Personen aus Deutschland. Vertreter der Preußischen Akademie der Wissenschaften war Max Planck, der im Jahre 1926 Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR wurde. Die deutsche Teilnahme hat sich insbesondere durch die Aktivität des ehemaligen preußischen Kulturministers Friedrich Schmidt-Ott als bereichernd für die deutsch-sowjetische wissenschaftliche Zusammenarbeit ausgewirkt.

Einen großen Umfang nahmen wechselseitige Reisen zu Information und Forschung ein. Von deutscher Seite handelte es sich im Wesentlichen um Besuche von Wissenschaftlern, deren Forschung unmittelbar Russland oder die Sowjetunion betraf. Auf sowjetischer Seite lag der Schwerpunkt in den Naturwissenschaften und der Mathematik.

Eine Verbreiterung dieser Basis wurde am 08.03.1924 in Moskau durch die Gründung der sowjetisch-deutschen Gesellschaft „Kultur und Technik“ gelegt, zu deren Ehrenpräsident Albert Einstein, zu deren Vorsitzendem der stellvertretende Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, B.S. Stomonjanov, berufen wurde. Der wichtigste Partner der sowjetischen Mitglieder war in Deutschland der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) mit seinem Vorsitzenden Professor Matschoss, daneben der Deutsche Verband wissenschaftlich-technischer Gesellschaften. Um die sowjetischen Wissenschaftler über die Leistungen der ausländischen Wissenschaft zu informieren, gab die Gesellschaft einige russische Periodika mit russisch-deutschem Redaktionskollegium heraus. Die Gesellschaft „Kultur und Technik“ trug über ihre Verbindungen zu deutschen Wissenschaftlern und Technikern und ihren Organisationen vor allem zur Auswertung und Ausnutzung der deutschen Wissenschaft und Technik für den sozialistischen Aufbau bei. Das bedeutendste Ereignis dieser sowjetisch-deutschen wissenschaftlich-technischen Kooperation war eine „Woche der deutschen Technik“, die vom 7. bis 14.01.1929 von der Gesellschaft in Moskau durchgeführt wurde. Zur Intensivierung der Beziehungen wurde in Moskau mit dem Verband deutscher Ingenieure eine Vereinbarung geschlossen, die neben Publikations- und Dokumentationsaustausch der sowjetischen Seite folgende Möglichkeiten gab: „Organisation von Lektionszyklen deutscher Spezialisten in verschiedenen Industriezentren der Sowjetunion, Beschaffung von Ausbildungsmöglichkeiten für sowjetische Spezialisten in Deutschland, technische Konsultationen für die UdSSR.“

Es fanden zweimal monatlich „Tage der deutschen Technik“ statt, zu denen deutsche Wissenschaftler in die Sowjetunion reisten. Insgesamt wurden in den Jahren 1929 und 1930 57, im Jahr 1931 allein 55 Vorträge gehalten.

Zusammengefasst finden sich die allgemeinen bildungspolitischen Grundsätze der bolschewistischen Partei in dem Programm der RKP (B), das auf dem VIII. Parteikongress im März 1919 angenommen wurde und formell bis zur Neufassung des Parteiprogramms im Jahre 1961 galt. Die wichtigsten Forderungen lauteten:

  1. Allgemeine und polytechnische Bildung sowie Verbindung von Unterricht und Produktionsarbeit für alle Kinder und Jugendlichen bis zum 17. Lebensjahr;
  2. Schaffung eines breiten Netzes von Vorschuleinrichtungen zum Zwecke der Verbesserung der gesellschaftlichen Erziehung und der Emanzipation der Frau;
  3. Ausbau der beruflichen Ausbildung und Errichtung zahlreicher außerschulischer Bildungseinrichtungen für Erwachsene,
  4. Eröffnung eines breiten Zugangs zu den Hochschulen, besonders für die Arbeiter.

Die Schule und alle anderen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sollten „aus einem Werkzeug der Klassenherrschaft der Bourgeoisie in ein Werkzeug der vollständigen Aufhebung der Klasseneinteilung in der Gesellschaft, in ein Werkzeug der kommunistischen Umgestaltung der Gesellschaft“ verwandelt werden. Besonders die Bildungseinrichtungen erhielten eine zentrale gesellschaftspolitische Funktion zugewiesen: „In der Periode der Diktatur des Proletariats (…) muß die Schule nicht nur die Prinzipien des Kommunismus im allgemeinen, sondern auch den geistigen, organisatorischen und erzieherischen Einfluß des Proletariats auf die halbproletarischen und nichtproletarischen Schichten der werktätigen Masse verwirklichen, um eine Generation zu erziehen, die fähig ist, den Kommunismus endgültig zu errichten.“

Es galt die These, dass es „im Grunde keine Wissenschaft und keine technischen Fertigkeiten gibt, die nicht in Beziehung zur Idee des Kommunismus oder zum kommunistischen Aufbau stehen.“ Die marxistische Ideologie wurde deshalb als unentbehrliches Moment der Erziehung und Volksbildung bezeichnet.

In diesem geistigen und politischen Führungsanspruch der kommunistischen Partei gegenüber Schule, Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung liegt eine der wichtigsten Konstanten der sowjetischen Bildungspolitik seit der Oktoberrevolution. Während sich die traditionelle Form der staatlichen Oberhoheit über das Bildungswesen in den letzten Jahrzehnten des Zarenreiches immer weiter auflockerte und der freien gesellschaftlichen Initiative zunehmend Raum gab, unterband der neue revolutionäre Etatismus bald alle unabhängigen Bildungsbestrebungen im Namen der universellen kommunistischen Ideologie.

Die Einheits-Arbeitsschule

Das erste Jahr der bolschewistischen Herrschaft brachte die Zerschlagung der pädagogischen Institutionen des alten Zarenreiches. An seinem Ende stand der Plan einer neuen Schule, deren Name ein Programm war: die Einheits-Arbeitsschule. Die folgenden Jahre bis 1920 brachten dann den Versuch, die neuen pädagogischen Grundsätze auch zu praktizieren. Da die Kluft zwischen Anspruch und Realität zu groß war, folgte bald eine Phase der Ernüchterung. Der Beginn der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) im Frühjahr 1921 zwang zu einer Besinnung auf das Mögliche und zu einer ersten Konsolidierung der Schulpolitik. Die pädagogische NEP, die bis zum Jahre 1927 andauerte, wurde dann unter Stalins Führung von einer zweiten radikalen Reform abgelöst, die in den Jahren 1930/31 kulminierte. Deren Scheitern und die folgende „Stabilisierung“ des Schul- und Hochschulwesens in den frühen dreißiger Jahren beendeten schließlich die frühsowjetische Periode und leiteten zu den folgenden beiden Jahrzehnten der Stalinschen Bildungspolitik über.

Die vom Volkskommissariat für das Bildungswesen der RSFSR im ersten Jahr nach der Oktoberrevolution erlassenen zahlreichen Dekrete und Aufrufe beseitigten die äußeren Merkmale der zaristischen Schule und proklamierten noch sehr vage die Umrisse einer neuen. Die wichtigsten Maßnahmen betrafen die Trennung der Schule von der Kirche (Dekret vom 21.01.1918), d.h. die Aufhebung der Religionsunterrichtes, die Konzentration aller Schulen und Bildungseinrichtungen (einschließlich der Berufsschulen) im Ressorts für Volksbildung, die allgemeine Einführung der Koedukation, die Abschaffung der Schulzensuren und des Lateinunterrichts als Pflichtfach (Dekret vom 31.05.1918), die Einführung des Kollegialitätsprinzips anstelle der Einzelleitung in der Schule sowie das Verbot der Schüler- und Studentenuniformen. Im Dezember 1917 wurde ein eigener kommunistischer Verband der „Lehrer-Internationalisten“ als Gegenpol zum Allrussischen Lehrerverband gegründet. Im Dezember 1918 wurde diese traditionelle Lehrerorganisation aufgelöst; der neue kommunistische Lehrerverband wurde im Sommer 1919 als „Gewerkschaft der Bildungsarbeiter“ reorganisiert und von nun an als einzige Vertretung der Lehrerschaft vom Staat unterstützt und anerkannt.

Die lokalen vorschulischen, schulischen und außerschulischen Angelegenheiten wurden im Januar 1918 besonderen „Räten für Volksbildung“ übertragen, die gleichzeitig die Funktionen der früheren Volksbildungsabteilungen bei den Zemstva und Stadtdumen übernahmen. Die neuen Organe bildeten ein entscheidendes Element einer demokratischen Schulreform, da auf diese Weise die Bevölkerung zur Mitarbeit herangezogen und eine wirksame Kontrolle der Schulbürokratie gewährleistet werden sollte.

Diese weitreichende Dezentralisierungs- und Demokratisierungstendenz geriet jedoch schon im Frühjahr 1918 in Konflikt mit den zentralistischen Bestrebungen des Staatsapparates, hervorgerufen unter anderem durch den beginnenden Bürgerkrieg. Eine allgemeine „Ordnung für die Organisation des Volksbildungswesens“ vom 26.06.1918 beließ den Räten für Volksbildung zwar Kontroll- und Beratungsrechte, konzentrierte die eigentliche Schulverwaltung aber in den Abteilungen für Volksbildung, die bei den entsprechenden lokalen und regionalen Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten errichtet wurden und nach dem Grundsatz des demokratischen Zentralismus der jeweils höheren Behörde, bis hin zum Volkskommissariat, verantwortlich waren. Die für die Gesamtleitung des Bildungswesens vorgesehene zentrale Staatliche Kommission trat nur bis zum Jahre 1919 zusammen, der als periodisch wiederkehrend gedachte Allrussische Kongress für das Bildungswesen tagte lediglich einmal, im August 1918.

Während somit die grundsätzliche Entscheidung für ein zentralistisches Leitungssystem im Schulwesen schon sehr früh gefallen war, bewegte sich die pädagogische Schulreform noch mehrere Jahre lang zwischen den Ideen anarchosyndikalistischer Theoretiker, die den „Tod der alten Schule“ proklamierten und den gemäßigten Reformern, die einen radikalen Bruch mit der bisherigen Bildungsaufgabe der Schule vermeiden wollten.

Die Meinungsverschiedenheiten über das Ausmaß der von allen pädagogischen Reformern gewünschten Umgestaltung der Schule kamen deutlich bei der Vorbereitung der grundlegenden Verordnungen vom 16.10.1918, der „Ordnung für die Einheits-Arbeitsschule der RSFSR“ und der erläuternden „Deklaration“ zum Ausdruck. Während die Moskauer „Linken“ für die Schulkommune eintraten, war die gemäßigte „Petrograder Gruppe“ gegen eine weitgehende Auflösung der Schule in der ökonomischen und sozialen Umwelt. Diese Reformgruppe wollte eine Arbeitsschule, die zwar die polytechnische Erziehung und eine produktive Arbeit der Schüler berücksichtigte, gleichzeitig jedoch an festen Lehrplänen und an einem systematischen Unterricht in den oberen Klassen festhielt.

Die wichtigsten Merkmale der Einheits-Arbeitsschule waren:

  1. der Aufbau einer zweistufigen horizontal gegliederten Schule im Umfang von neun Schuljahren (8. bis 17. Lebensjahr);
  2. diese Einheitsschule sollte zugleich eine Differenzierung vom 14. Lebensjahr ermöglichen;
  3. die Schülerselbstverwaltung und ein partnerschaftliches Verhältnis von Seiten der Lehrer sollte an die Stelle des autoritären Schulsystems treten;
  4. Individualität des Einzelnen und sozial verpflichtender Kollektivismus wurden nicht als Gegensätze, sondern als komplementäre Seiten aufgefasst;
  5. produktive Arbeit und polytechnische Bildung sollten den didaktischen Kern der neuen Schule darstellen.

Insgesamt beruhte das Projekt der Einheits-Arbeitsschule auf einer Verbindung reformpädagogischer Ideen und marxistischer Prinzipien, es war der Versuch einer Synthese von Pädagogik und Politik.

Die Revolutionierung der Erziehung und des Unterrichtes, die im Jahre 1918 einsetzte, traf in den von den Bolschewiki beherrschten Teilen des Landes und in den von ihnen 1920/1921 wieder eroberten Gebieten auf ein Schulwesen, das in materieller Hinsicht auf einen Stand zurückgefallen war, der weit unter dem von 1914 lag. Der Tiefpunkt war in den Jahren 1921-1923 erreicht, als zu der großen Hungersnot radikale Kürzungen der Staatsausgaben für das Bildungswesen hinzukamen. In einer solchen Situation konnten die weit reichenden Entwürfe für eine neue sozialistische Schule nur bruchstückhaft verwirklicht werden: „Wieviel Enttäuschungen haben wir erlebt! Der Kriegskommunismus erschien vielen als der direkte und kürzeste Weg in das Reich des Kommunismus. (…) Für uns kommunistische Pädagogen war die Enttäuschung besonders groß. Über alle Maßen wuchsen die Schwierigkeiten, in einem dunklen analphabetischen Land ein sozialistisches Volksbildungssystem aufzubauen; es fehlte völlig an kommunistischen Lehrern, Menschenreserven, materielle Mittel und Geld reichten nicht aus.“

Die 1920er Jahre, die bis 1927 im Zeichen der „Neuen Ökonomischen Politik“ standen, spiegelten den notwendig gewordenen Kompromiss zwischen den ursprünglichen Idealen der pädagogischen Revolution und den praktischen Möglichkeiten auf zahlreichen Gebieten wider. Während im Programm der RKB (B) und in der „Ordnung für die Einheits- Arbeitsschule“ noch ein obligatorischer Schulbesuch bis zum 17. Lebensjahr vorgesehen war, musste dieser Gedanke bald fallen gelassen werden. Als im Jahre 1923 die einzelnen Sowjetrepubliken damit begannen, gesetzgeberische Maßnahmen zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht zu entwickeln, begnügte man sich zunächst damit, einen vierjährigen allgemeinen Schulbesuch anzustreben.

Insgesamt gesehen war man im Jahre 1927 von der Verwirklichung der allgemeinen Grundschulpflicht noch fast ebenso weit entfernt wie vor der Oktoberrevolution: die Gruppe der 8-11jährigen Kinder wurde lediglich zu etwa 50% beschult, nur knapp ein Drittel dieser Grundschulen entsprach dem vierklassigen Normaltypus und besonders auf dem Lande war der Schulbesuch der Mädchen seltener und kürzer als bei den Jungen. Ein Gesetz zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht wurde erst im Jahre 1930 erlassen.

Die sowjetische Erziehungspolitik war in den 1920er Jahren von einem anderen Massenproblem fast noch stärker herausgefordert: dem der Kinderverwahrlosung. Die Wurzeln dieses Problems reichten bis in den 1. Weltkrieg zurück, aber erst der Bürgerkrieg und vor allem die große Hungersnot 1921/1922 bewirkten das starke Anwachsen der Zahl heimatloser, verwahrloster Kinder und Jugendlicher; im Jahre 1922 waren nach Schätzungen 7-9 Millionen davon betroffen. Der Hunger trieb Scharen Minderjähriger aus dem Wolgagebiet und dem Ural in die Großstädte und in den Süden. Die Eisenbahnstrecken wurden zu Bahnen des Elends, die Bahnhöfe in Moskau, Rostow, Odessa und zahlreichen anderen Städten zu Sammelpunkten der Verwahrlosung. 1921 hatte eine Sonderkommission den Kampf gegen die Massenverwahrlosung aufgenommen; bis zur Neuregelung im Jahre 1935 erging eine Fülle von amtlichen Bestimmungen auf diesem Gebiet. Folgerichtig wurde das Kinderheim für Kinder bis zum 15. Lebensjahr als „universale Form der sozialen Einrichtung“ proklamiert, „in der sich das Kind in einer kommunistischen Umwelt und in der Gemeinschaft seiner Kameraden entwickelt, die den Forderungen seiner Natur entsprechen.“

Die überlieferten Formen der Schule und Erziehung wurden in Frage gestellt. In diesem Zusammenhang gründete eine eigene kommunistische Kinder- und Jugendorganisation. Durch den Kommunistischen Jugendverband (Komsomol), der im Oktober 1918 gegründet wurde, und durch die Kindergruppen der Jungen Pioniere, die im Jahre 1922 dem Komsomol unterstellt wurden, wirkte die Kommunistische Partei unmittelbar an der Erziehung der Jugend mit. Die von Anfang an hervorgehobene Hauptaufgabe der Kinder- und Jugendorganisationen bestand darin, eine „Schule der kommunistischen Erziehung der Jugend“ zu sein, und zwar einmal als Nachwuchsschmiede der Partei und zweitens als Träger des kommunistischen Einflusses in der jungen Generation. Zusammen mit der im Jahre 1924 errichteten Unterorganisation der „Oktoberkinder“ im Alter von 8 bis 10 Jahren entstand so parallel zur Schule und Hochschule eine völlig neue Erziehungssituation.

Im System der sozialen Erziehung wurde der Pionierbewegung darüber hinaus die Aufgabe zugedacht, eine Einheit der schulischen und der gesellschaftlichen Erziehung zu schmieden. Es hieß unter anderem: (…) die Kinder aufs engste in die Ereignisse des Klassenkampfes einzubeziehen.“

In den ersten Jahren der Sowjetregierung galt dies insbesondere für die antireligiöse und atheistische Erziehung. Die Zirkel „Junger Gottloser“, die antireligiösen Umzüge („Komsomol-Weihnachten, „Komsomol-Ostern“) waren Formen einer amtlich gebilligten ideologischen Erziehung.

Von den drei charakteristischen Merkmalen der neuen sozialistischen Schule – Arbeitsschulprinzip, Selbstorganisation der Schüler und soziale Erziehung – wurde der schulischen Selbstverwaltung seit den Reformdekreten wesentliche Bedeutung für die innere Umwandlung der Schule beigelegt. Von den Anhängern der „Schulkommune“ wurde darunter die gemeinsame Leitung durch gewählte Lehrer- und Schülerorgane verstanden, die gemäßigten Reformer wollten sich mit der Bildung von gewählten Schülerausschüssen, die im Rat der Schule mitsprechen sollten, begnügen.

Die Schulrevolution hat auch auf didaktischem und unterrichtsmethodischem Gebiet eine Periode der Experimente eingeleitet, die bis zum Jahre 1931 dauerte und in den Kreisen der reformpädagogischen Erziehung im Ausland ein lebhaftes Echo hervorrief. In den Plänen und Versuchen mit dem fächerübergreifenden „Komplex-System“, dem Dalton-Plan und der Projektmethode kam es zu verschiedenen pädagogischen Aktivitäten. Diese aus dem westlichen Ausland übernommenen Neuerungen wurden mit kommunistischen Ansichten gefüllt und nicht wie in der Stalin-Ära als bürgerlich-reaktionär abgelehnt. Zentrum der didaktisch-methodischen Reformen war die Erziehungswissenschaftliche Sektion des Staatlichen Gelehrtenrates. Zwischen den Jahren 1923 und 1927 wurden von ihr neue Lehrpläne für die Einheits-Arbeitsschule der RSFSR ausgearbeitet. Gruppiert um die Achse „Arbeit“ sollten die beiden flankierenden Prinzipien „Natur“ und „Gesellschaft“ den dialektischen Zusammenhang und die materialistische Wurzel aller Erscheinungen verkörpern. Für die Schulpraxis ergaben sich daraus Schwierigkeiten, die man durch laufende Korrekturen der Lehrpläne zu beheben suchte. Bis auf einige Versuchsschulen blieben die oben genannten didaktisch-methodischen Reformen jedoch meistens oberflächlich und in formalen Einzelheiten stecken.

P.B. Blonskijs Buch „Die Arbeitsschule“, das im Jahre 1919 erschien, wirkte wie ein „wahrhaftig neues Wort, das mit gewaltiger Kraft und Leidenschaft gesprochen wurde.“ Indessen lief das Arbeitsschulprinzip in der Praxis auf Handarbeit und „gesellschaftlich-nützliche“ Arbeit (kulturelle, wirtschaftliche oder ideologische Vorhaben) hinaus.

Bis zum Ende der 1920er Jahre kann man daher lediglich von einer formalen Polytechnisierung der sowjetischen Schule sprechen. Hier standen sich schon früh zwei Konzeptionen gegenüber: Blonskij und andere unterstrichen die Bedeutung einer allgemeinen polytechnischen Bildung als unerlässliche Grundlage für eine relativ spät einsetzende berufliche Spezialausbildung; im Unterschied dazu verlangten die Gewerkschaften und der Komsomol eine monotechnische Bildung, d.h. die Umwandlung der beiden letzten Jahre der Einheits-Arbeitsschule in beruflich-technische Schulen. Die wurde folgendermaßen begründet: „Die Interessen der Produktion und des wirtschaftlichen Aufbaus verlangen gebieterisch die Verkürzung der sogenannten allgemeinbildenden Schule, die in Wirklichkeit eine reine Buch-Schule ist, sowie den möglichst frühen Übergang zu einer konkreten Spezialausbildung.“

Diese Auffassung hat sich im Jahre 1921 auch praktisch in der Weise durchgesetzt, dass man in der Ukrainischen SSR an der Stelle der früheren Gymnasien und Realschulen dreijährige Berufsschulen schuf, die den 15- bis 18jährigen eine Fachausbildung zusammen mit allgemeinen Kenntnissen vermittelten. In der RSFSR entstanden unter dem formal beibehaltenen Dach der Einheits-Arbeitsschule mehrere getrennte Schultypen allgemeinbildender oder stärker berufsbezogenen Art sowie daneben Fabrik- und Werkschulen für Lehrlinge, die zum Berufsschulsystem zählten.

Die „proletarische Hochschule“

Das Ziel der vorrevolutionären Bewegung im Bereich der Universitäten und Hochschulen war die rechtlich gesicherte Selbstverwaltung. Die Sowjetregierung wandte sich aber gegen die revolutionäre Umgestaltung der Hochschulen; es war keine Autonomie mehr gewünscht, sondern eine volle politische und gesellschaftliche Integration geplant. Die ersten Jahre nach der Oktoberrevolution waren daher gekennzeichnet durch die politische Eroberung der Universitäten und Hochschulen. Die überwiegende Mehrheit der russischen Professoren verhielt sich der Sowjetregierung aus politischen Gründen und wegen der Proklamierung radikaler Reformabsichten ablehnend. Die Entwürfe für eine Reform der inneren Universitätsstruktur, die nach dem Vorbild der rätedemokratischen Anfangsphase der Revolution erfolgen sollte, wurden im Juli und September 1918 auf zwei Hochschulkonferenzen abgelehnt. Die Professoren stimmten den Vorschlägen für eine studentische Mitbestimmung und eine Reform des Berufungs- und Prüfungswesens zwar zu, betrachteten aber das Recht auf Eigenergänzung des Lehrkörpers und auf die Verleihung akademischer Grade als unverzichtbar. Daraufhin wurden im Herbst 1918 die bisherigen Bestimmungen über die staatlichen Examina und Diplome, die akademischen Grade und die Amtsbezeichnung sowie die Stellung der Hochschullehrer durch Regierungsdekrete aufgehoben und im Jahre 1919 weitere Maßnahmen zur inneren Umgestaltung der Hochschulen ergriffen. So wurden bedingt durch die verschärfte Situation des Bürgerkrieges besondere Bevollmächtigte in jeder Hochschule eingesetzt, die gegenüber den teilweise formal fortbestehenden akademischen Organen das entscheidende Wort zu sprechen hatten. Andererseits wurden unter den Studenten kommunistische Zellen organisiert, die bisherigen studentischen Ältestenräte, die mehrheitlich bürgerlich und nationalistisch orientiert waren, fielen im Juni 1919 der Zwangsauflösung zum Opfer.

Anfang 1919 wurden die juristischen und historisch-philologischen Fakultäten der Universitäten aufgelöst, da hier der intellektuelle Widerstand gegenüber der sowjetischen Politik am stärksten verankert war. An ihre Stelle trat bis zur Reorganisation in einzelne fachliche Fakultäten im Jahre 1925 – die geisteswissenschaftliche Fakultät, in denen die Grundlagen der marxistischen Ökonomie, Philosophie und Geschichte als neue Lehrfächer einbezogen wurden.

IM Jahre 1921 erfolgte die Gründung des „Instituts der Roten Professur“, das kommunistisch geschulte Hochschullehrer für die Gesellschaftswissenschaften ausbildete. Dieses Institut bestand bis zum Jahre 1938, wurde dann aufgelöst.

Trotzdem blieben noch bis zum Ende der1920er Jahre zahlreiche gesellschaftswissenschaftliche Lehrstühle von Nichtkommunisten besetzt. Der Anteil von kommunistischen Parteimitgliedern war zehn Jahre nach der Oktoberrevolution gering; in der RSFSR betrug er im Jahre 1926 lediglich 6,5%.

Mit Beginn der NEP im Jahre 1921 verstärkte die Kommunistische Partei ihre Bemühungen, als Gegengewicht zu den notwendigen Zugeständnissen an „kapitalistische Elemente“ auf wirtschaftlichen Gebiet, die politische und ideologische Kontrolle im Bildungswesen, vor allem an den Hochschulen, zu verstärken.

In der einzelnen Hochschule wurde durch ein Dekret vom 02.09.1921 eine Verwaltung von 3 bis 5 Personen errichtet, wobei neben dem vom Staat ernannten Rektor das Lehrpersonal und die Studenten durch ein oder zwei gewählte Vertreter an der Leitung der Hochschule beteiligt waren. Diese kollegiale Leitungsstruktur sollte in erster Linie der Entmachtung der nichtkommunistischen Professoren dienen, sie wurde in den folgenden Jahren sukzessive der neuen politischen Situation an den Hochschulen angepasst, bis schließlich im Jahre 1932 das Mitbestimmungsrecht der kommunistischen Studenten ganz beseitigt und die „Ein-Mann-Leitung“ konsequent verwirklicht wurde.

In den Jahren 1921 und 1922 verließen zahlreiche russische Gelehrte die Sowjetunion, nachdem ihre Proteste gegen die Beseitigung der wissenschaftlichen Lehr-, Forschungs- und Selbstverwaltungsfreiheit wirkungslos geblieben waren. Um die administrativen Posten in den Hochschulen durch zuverlässige Kommunisten zu besetzen, wurden zwischen 1921 und 1925 führende Parteifunktionäre als Rektoren und Direktoren an die Hochschulen abkommandiert und zur Stärkung der ideologischen Arbeit im August 1924 ebenfalls über 60 leitende Parteikommunisten mit Lehraufgaben betraut.

Der eigentlich revolutionäre Faktor, auf den sich die Kommunistische Partei bei der Eroberung der Hochschulen vor allem stützte, war um diese Zeit die „proletarische Studentenschaft“ mit ihrem kommunistischen Kern. Die Studentenschaft als Ganzes gesehen war anfangs der 1920er Jahre in ihrer sozialen Zusammensetzung bei weitem nicht überwiegend proletarisch, nur eine kleine Minderheit gehörte dem Komsomol oder der KPdSU an. Im Studienjahr 1927/28 lautete die soziale Zugehörigkeit folgendermaßen: 25,4% Arbeiter, 23,9% Bauern, 33,9% Angestellte, 16,8% Sonstige. Rund ein Viertel aller Studenten waren 1925/1926 Parteimitglieder, rund ein Drittel gehörte dem Komsomol an.

In den Maßnahmen der frühsowjetischen Bildungspolitik standen egalitär-demokratische und proletarisch-revolutionäre Zielsetzungen auch im Bereich der Hochschulen anfangs oft nebeneinander. Am 2.August wurde ein von Lenin unterzeichnetes Dekret verkündet: „Jede Person, gleich welchen Bürgerstandes und welchen Geschlechts, im Mindestalter von 16 Jahren, kann als Hörer in eine beliebige Hochschule eintreten, ohne Vorlage eines Diploms, eines Zeugnisse oder eines Nachweises über den Abschluss der Mittelschule oder irgendeiner anderen Schule. Es ist untersagt, von den Eintretenden irgendeinen Nachweis zu verlangen, außer einer Bescheinigung über ihre Personalien und über ihr Alter.“ Studiengebühren wurden ebenfalls aufgehoben. Die meisten neuen Hörer ohne entsprechende Vorkenntnisse verließen bald wieder die Hochschulen. Das Ziel, die Studenten künftig vor allem aus den Reihen der Arbeiter und Bauern zu rekrutieren, musste planmäßig und langfristig in Angriff genommen werden; als Mittel dafür dienten die im Jahre 1919 gegründeten Arbeiterfakultäten. Diese Arbeiterfakultäten verfolgten zwei Ziele: einmal sollten sie „die Kluft zwischen der Arbeiterjugend und der Universität überbrücken“, indem sie neben der neunjährigen Einheits-Arbeitsschule einen zweiten Bildungsweg eröffnete, zweitens sollten sie „dem Proletariat helfen, die Hochschulen faktisch für sich zu erobern“. Den Arbeiterfakultäten, die bis 1940/1941 bestanden, kam eine erhebliche Bedeutung für die Heranbildung der neuen sowjetischen Intelligenz zu. Seit den 1930er Jahren stellten sie auch einen erheblichen Anteil an der politischen Führungsschicht der Sowjetunion.

Durch die Verordnung vom 11.09.1919 wurden die Arbeiterfakultäten organisatorisch in die bestehenden Universitäten und Hochschulen eingegliedert und den regulären Fakultäten gleichgestellt. Als Hörer wurden Arbeiter und Bauern zugelassen, „die eine Bescheinigung entweder eines Fabrikkomitees oder einer kommunistischen Zelle darüber vorweisen, daß sie zur Klasse der Arbeiter oder der Bauern gehören, nicht die Arbeitskraft anderer ausbeuten und auf der Plattform der Sowjetmacht stehen.“ Im Jahre 1927/1928 gab es 147 Arbeiterfakultäten mit 49.200 Hörern; ihren höchsten Stand erreichten die Arbeiterfakultäten aber erst 1932/1933 mit 1.025 Schulen und 339.500 Teilnehmern.

Die erfolgreichsten Absolventen der Arbeiterfakultäten genossen beim Eintritt in die Hochschulen gegenüber anderen Bewerbern ein Vorzugsrecht, obwohl ihre Lernleistungen im Vergleich mit den normalen Schulabgängern im Allgemeinen geringer blieben. Die Regulierung der Zulassungen zum Hochschulstudium erfolgte seit 1923 nach strengen Partei- und sozialpolitischen Kriterien aufgrund eines Quotensystems, wobei die Zentralorgane der RKP (B) der Gewerkschaften und des Komsomol die meisten Plätze für das Studium zugeteilt bekamen. Während die Arbeiter- und Bauernstudenten Stipendien erhielten, mussten die aufgrund einer Wettbewerbsprüfung für die restlichen Plätze aufgenommenen Studenten Gebühren entrichten.

Kampf gegen das Analphabetentum und Erweiterung der Berufs- und Fachbildung

Unter den ungelösten Problemen, die die Bolschewisten in Russland vorfanden, stand das Analphabetentum von mehr als der Hälfte der erwachsenen Bevölkerung an erster Stelle. Lenin sah in der Überwindung des Analphabetentums eine der fundamentalen Voraussetzungen für die sozialistische Kulturrevolution und die Industrialisierung Sowjetrusslands.

Im Bereich der außerschulischen Bildung, wie bis zum Jahre 1919 die Erwachsenenbildung bezeichnet wurde, musste daher der Unterricht der Analphabeten einen zentralen Platz einnehmen, gefolgt und begleitet von verschiedenen weiterbildenden Kursen, der Einrichtung von Bibliotheken und dörflichen Lesestuben. Auf dem I. Kongress für außerschulische Bildung im Mai 1919 wurde die „politische Aufklärung“ anstelle der bisherigen unpolitischen „Kulturarbeit“ als oberstes Ziel der Erwachsenenbildung proklamiert. Damit wurde auch die Analphabetenschulung unter die direkte Kontrolle der Kommunistischen Partei gestellt. In der ersten gesamtstaatlichen „Ordnung für die Organisation des außerschulischen Bildungswesens“ vom 14.06.1919 hieß es, dass „überall Herde der sozialistischen Kultur unter der Kontrolle des Proletariats und der werktätigen Bauernschaft“ errichtet werden sollten.

Den Schlusspunkt dieser Entwicklung bildete im November 1920 die Gründung des Hauptkomitees für politische Aufklärung. Ihm wurde „die Zusammenfassung der gesamten politischen Aufklärungsarbeit, der Propaganda und Agitation in der Republik“ übertragen. Ein weiterer Ausdruck dieser teilweisen Verschmelzung der staatlichen und der von der Partei betriebenen Schulungsarbeit war die Errichtung der Sowjet- und Parteischulen als unterster Stufe eines eigenen Schulungs- und Fortbildungssystems für die Kader der Partei und des Staatsapparats. An seiner Spitze standen die Kommunistischen Universitäten, von denen die im Jahre 1919 gegründete Sverdlov-Universität, die Kommunistische Akademie der Werktätigen des Ostens und die Kommunistische Akademie am wichtigsten waren. Dieses System blieb bis zur Mitte der 1930er Jahre bestehen.

In der politischen Aufklärung der Bevölkerung erkannten die Bolschewiki eine große Chance, die sich ihnen dadurch bot, dass in vielen Fällen das Buch und die Zeitung zugleich mit der kommunistischen Ideologie in das russische Dorf und unter die analphabetischen Bewohner der Randgebiete eindrangen.

Die vorhandenen Ansätze für eine Methodik des Analphabetenunterrichts wurden immer weiter ausgebaut. Dabei konzentrierte man sich stärker als zuvor auf bestimmte Analphabetengruppen. Unter der Arbeiterschaft sollten zunächst die Mitglieder der Gewerkschaften lesen und schreiben lernen, unter der Bauernschaft die Landarbeiter, von der weiblichen Bevölkerung die Deputierten in den Sowjets. Weitere Schwerpunkte bildete die Arbeit im Komsomol und vor allem in der Roten Armee, die eigene Analphabetenschulen unterhielt.

Trotz dieser Bemühungen förderte die erste Volkszählung vom 17.12.1926 die bedrückende Tatsache zu Tage, dass die Zahl der Analphabeten stagniert. Jedes Jahr wurden ungefähr 1 Million Analphabeten unterrichte, aber die gleiche Zahl wuchs aus den Schuljahrgängen nach.

Der Anteil der Analphabeten an der Bevölkerung über 9 Jahre belief sich immer noch auf 48,9%, was aber einen großen Fortschritt gegenüber dem Jahre 1897 bedeutete, wo 73% der Bevölkerung nicht lesen und schreiben konnten. Den höchsten Anteil der Lese- und Schreibkundigen wies die Gruppe der 20-24jährigen auf (81% der Männer und 53% der Frauen), d.h. derjenigen Jahrgänge, die ihre Schulbildung noch vor der Revolution begonnen und zum Teil abgeschlossen hatten. Hingegen betrug der Anteil der Analphabeten unter den Kindern im Alter von 9 bis 12 Jahren im Durchschnitt der UdSSR 45,2%. Das Analphabetentum war in erster Linie ein Problem des Dorfes und der Frau. 76,3% der städtischen Bevölkerung über 9 Jahren konnte lesen und schreiben gegenüber 45,2% der Landbewohner; darunter 66,5% aller Männer, aber lediglich 37,1% der Frauen.

Im Bereich der beruflich-technischen Bildung verfolgte die Sowjetregierung in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution einen zwiespältigen Kurs. Auf diesem Gebiet war der Widerspruch zwischen den ideologisch motivierten Forderungen und den praktischen Bedürfnissen und Möglichkeiten besonders groß. Mitarbeiter des Bildungsministeriums begannen nach der Proklamierung der Einheits-Arbeitsschule im Oktober 1918 damit, die bestehenden Berufs- und Fachschulen in Einheitsschulen umzuwandeln, was einem Abbau des ohnehin schwach entwickelten Berufsschulwesens gleichkam. Diese Linie stieß jedoch auf den Widerstand der Berufs- und Fachschullehrer, der Wirtschaftsbehörden und der Gewerkschaften. So machte der III. Gewerkschaftskongress im April 1920 geltend, dass die wirtschaftliche Krise Russlands nur durch eine Erhöhung der Arbeiterqualifikation und durch die Schaffung qualifizierter Abschlüsse auf dem Wege einer geregelten Lehrlingsausbildung behoben werden könne.

Im Hinblick auf die zu erwartenden Aufgaben des Wirtschaftsaufbaus nach dem Ende des Bürgerkrieges wurde die Bedeutung der Berufs- und Fachbildung von der Sowjetregierung immer deutlicher erkannt. Das Dekret „Über die Verpflichtung zum beruflich-technischen Unterricht“ vom 29.07.1920 ordnete für alle Arbeiter von 18 bis 40 Jahren und alle Lehrlinge über 14 Jahre die Teilnahme an beruflichen Schulungskursen an, aber in der Praxis konnte diese Vorstellung nicht realisiert werden. In der RSFSR wurde der entscheidende Schritt zur Neuordnung der Berufsausbildung durch die Gründung des oben bereits erwähnten Hauptkomitees für berufliche-technische Bildung im Januar getan. Ihm wurden alle berufsbildenden Lehranstalten einschließlich der Hochschulen unterstellt, so dass auf diese Weise ein selbständiges, mehrere Stufen umfassendes Berufsschulsystem entstand, dessen Aufbau dem vorrevolutionären Muster weitgehend folgte.

Gerade die Entwicklung der beruflich-technischen Schulung in den 1920er Jahren zeigte, in welch starkem Maße die ökonomischen Notwendigkeiten die ursprünglichen, stärker ideologisch begründeten Konzeptionen der kommunistischen Bildungspolitik beeinflussten und modifizierten. Besonders deutlich trat dies am Schicksal der FZU-Schulen, d.h. der Fabrik- und Werkschulen für Lehrlinge, hervor. Die FZU-Schulen wurden im Jahre 1921 gegründet und stellten die wichtigste Form der niedrigsten Berufsausbildung dar. Es handelte sich um betriebsgebundene Schulen, die einen fachlich qualifizierten und kommunistisch geschulten Arbeiternachwuchs heranbilden sollte. Die FZU-Schule avancierte jedoch zum Modell einer polytechnischen und allgemeinbildenden Schule, die neben beruflichen Spezialkenntnissen und praktischen Fähigkeiten gelehrt wurde.

Auf der Stufe der mittleren Berufsausbildung wurde bald nach 1920 das „Technikum“ gegründet. Fast alle industriellen und landwirtschaftlichen Technika während der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution beruhten auf den entsprechenden Einrichtungen vor 1917. Die Bezeichnung „Technikum“ hatte sich inzwischen auch auf alle übrigen mittleren Fachschulen ausgedehnt. Sie bauten auf der siebenjährigen Mittelschule auf und verliehen ihren Absolventen die Hochschulreife, was zur Folge hatte, dass die Technika oft nur als Durchgangsstadium für den späteren Hochschulbesuch benutzt wurden.

Bildungspolitik in der Stalin-Ära

Kaderpolitik und Fünfjahresplan

Ca. 11 Jahre nach der Oktoberrevolution trat die sowjetische Bildungspolitik in eine neue Phase ein. Die Zäsur lag für die einzelnen Bereiche des Bildungswesens zu verschiedenen Zeitpunkten, aber die Wandlungen, die um die gleiche Zeit auch die anderen Gebiete des Kulturlebens erfassten, waren seit 1928/1929 unübersehbar. Sie hingen erstens mit der ökonomischen Umwälzung zusammen, die durch die Kollektivierung der Landwirtschaft und die beschleunigte Industrialisierung im Rahmen der Fünfjahrespläne bewirkt wurde, und zweitens mit der Herausbildung und Festigung der politischen Alleinherrschaft Stalins.

Auf dem XV. Parteitag der KPdSU im Dezember 1927, der den Wechsel von der Neuen Ökonomischen Politik zum ersten Fünfjahresplan einleitete und gleichzeitig Stalins Sieg über die Opposition besiegelte, durchzog die Feststellung von dem großen Rückstand der kulturellen gegenüber der ökonomischen Entwicklung alle Reden und Diskussionen. Die Kernwörter waren die der „kulturellen Schere“, was bedeutete:

  1. die Disproportion zwischen der Kapazität und der Leistungen des Bildungswesens einerseits und die wirtschaftlichen Anforderungen andererseits,
  2. das Missverhältnis der einzelnen Teile des Bildungswesens untereinander, vor allem den niedrigen Stand des Berufs- und Fachschulwesens,
  3. die tiefe soziale, technische und kulturelle Kluft, die zwischen der Stadt und dem Dorf bestand.

In den vom XV. Parteikongress angenommenen Direktiven für den Fünfjahresplan wurden dementsprechend diejenigen Maßnahmen im Bereich der Volksbildung als grundlegend bezeichnet, die „das kulturelle Wachstum der breiten werktätigen Massen (allgemeine Schulpflicht, Beseitigung des Analphabetentums, beruflich-technische Massenausbildung) sowie die Heranbildung qualifizierter Spezialisten und Wissenschaftler“ gewährleisten sollten.

Zwei Jahre später hieß es in der Resolution des ZK der KPdSU: „Das Tempo der Heranbildung neuer Kader steht in keinem Verhältnis zum Tempo der Industrialisierung und des sozialistischen Umbaus der Landwirtschaft. (…) Die Partei muß alle ihre Anstrengungen auf die Lösung des Kaderproblems konzentrieren, auf das wichtigste Problem für den sozialistischen Aufbau.“ Die zuständigen Behörden wurden daher angewiesen, „innerhalb von drei Monaten einen Fünfjahresplan für die Heranbildung von Spezialisten höherer und mittlerer Qualifikation und für den Bau neuer Technischer Hochschulen und Technika, in Übereinstimmung mit den konkreten Erfordernissen der Zweige der Volkswirtschaft, auszuarbeiten.“

Die Planansätze für die Kaderausbildung wurden daher drastisch heraufgesetzt; von 41.500 Ingenieuren und 60.000 Technikern auf 75.000 bzw. 110.000 am Ende des Fünfjahresplanes. Der erste Fünfjahresplan sollte den „großen Sprung nach vorn“ bringen, den die Sowjetunion nach dem Willen Stalins tat, um seine Rückständigkeit zu überwinden und die kapitalistischen Länder einzuholen und dann zu überholen. Mit dieser Parole wurde das erste Mal auch der „Bildungswettstreit“ mit dem kapitalistischen Westen als Arena der großen Auseinandersetzungen der Systeme angesprochen.

Für Stalin und seine Mitarbeiter stellten Bildung und Kultur weit mehr noch als für Lenin in erster Linie politische und wirtschaftliche Machtfaktoren dar. Ganz in diesem Sinne bemerkte ein Abgeordneter auf dem XVI. Parteikongress im Jahre 1930: „Wir brauchen nicht ganz allgemein die Kultur um der Kultur willen; was wir brauchen, ist eine Kultur, die einen raschen Aufschwung des sozialistischen Aufbaus gewährleistet. Wir brauchen die Kultur für die Beseitigung der Unwissenheit und Hilflosigkeit der ungeheuren Bauernmassen. (…) Mehr Elementarbildung und Kultur, mehr Technik – und wir werden in Kürze ein reiches Land sein.“ Es kam Stalin darauf an, in kürzester Zeit eine gleichmäßige Massenkultur zu schaffen, ohne die eine moderne technische Entwicklung nicht möglich war und eine industrielle Gesellschaft nicht auskommen konnte.

In den Betrieben, Kolchosen, Behörden, Hochschulen und Instituten wurden „Abteilungen der Kulturarmee“ organisiert, die bestimmte „Stoßeinsätze“ durchführten, z.B. Kampagnen unter Analphabeten in den Dörfern. Auch aus ökonomischen Gründen war die kommunistische Partei bestrebt, die gesellschaftliche Initiative in der Bevölkerung zu wecken: aus dem Staatshaushalt allein konnten die Massenbildungsaufgaben – trotz einer vorübergehend eingeführten „Kultursteuer“ – nicht finanziert werden. Freiwillige „Kultursoldaten“ mussten daher den Analphabetenunterricht übernehmen, Betriebe sich verpflichten, die Schulen auszurüsten und die Kolchosen, Kindergärten zu errichten.

Stalins Vorstellungen, das Industrialisierungstempo der Sowjetunion immer stärker zu beschleunigen, kam auch in seiner Aussage bei der Diskussion um den Jahresplan im Jahre 1931 zum Ausdruck: „Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in 10 Jahren durchlaufen. Entweder wir bringen das zuwege, oder wir werden zermalmt.“

Neben der ökonomisch-technischen Seite besaß die von Stalin proklamierte „Kulturrevolution“ auch einen ausgeprägt politischen Aspekt. Die „Kulturfront“ wurde als eine „Front des Klassenkampfes“ bezeichnet, an der Lehrer und Schüler in vorderster Linie gegen den „Klassenfeind“ kämpfen sollten. Praktisch bedeutete dies erstens eine Durchführung von Agitationskampagnen zur Kollektivierung des Dorfes, zweitens die politische Säuberung in den Reihen der leitenden Kader im Volksbildungswesen und in großen Teilen der Lehrerschaft, ähnlich wie in den Hochschulen und wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen. Dabei handelte es sich um die geistige Gleichschaltung und die endgültige Festigung der politischen Kontrolle der Parteizentrale über alle Bereiche der Bildung und Kultur. Auf pädagogischem Gebiet waren die Folgen unter anderem darin zu sehen, dass zwischen den Jahren 1929 und 1932 die führenden Zeitschriften „Bote der Bildung“, „Volksbildung“ und „Auf dem Wege zur neuen Schule“ ganz eingestellt oder durch Parteizeitungen ersetzt wurden.

Stalins „Kulturrevolution“ war der Versuch der Schaffung einer neuen, sozialistischen Gesellschaft in möglichst kurzer Zeit. Jeder Wissenschaftler sollte sich als vollwertiges Mitglied dieser neuen Sowjetgesellschaft aktiv als ein marxistischer Gelehrter begreifen, dessen Arbeit allein in den Dienst des sozialistischen Aufbaus, also in den „Dienst des Volkes“ gestellt war. Die Formierung einer neuen technischen Intelligenz gehörte in diesen Zusammenhang; durch sie wurde zugleich ein Wissenschaftsbegriff postuliert, der sich mehr als nur graduell von den Auffassungen Lenins unterschied. Am 17.05.1938 sagte Stalin vor den Mitarbeitern der Hochschulen in Moskau: „Auf das Gedeihen der Wissenschaft, jener Wissenschaft, die sich vom Volk nicht abgrenzt, sich vom Volk nicht fernhält, sondern bereit ist, dem Volk zu dienen, bereit ist, dem Volk alle Errungenschaften der Wissenschaft zu übermitteln, die dem Volk nicht aus Zwang, sondern freiwillig, mit Freuden dient. – Auf das Gedeihen der Wissenschaft, die es nicht zulässt, daß ihre alten und anerkannten Führer sich selbstgefällig als Priester der Wissenschaft, als Monopolisten der Wissenschaft abkapseln, die den Sinn, die Bedeutung und die Allmacht des Bundes der alten Wissenschaftler mit den jungen Wissenschaftlern begreift, die freiwillig und mit Freuden alle Tore des Wissens den jungen Kräften unseres Landes öffnet und ihnen die Möglichkeit gibt, die Gipfel des Wissens zu bezwingen, die anerkennt, daß die Zukunft den jungen Wissenschaftlern gehört. – Auf das Gedeihen der Wissenschaft, jener Wissenschaft, deren Vertreter, obgleich sie die Kraft und Bedeutung der Traditionen, die sich in der Wissenschaft herausgebildet haben, begreifen und die verständnisvoll im Interesse der Wissenschaft ausnutzen, dennoch nicht Sklaven dieser Tradition sein wollen, der Wissenschaft, die die Kühnheit und Entschlossenheit besitzt, alte Traditionen, Normen, Einstellungen zu brechen, wenn die veralten, wenn sie zu einem Hemmschuh für den Vormarsch werden, und die es versteht, neue Traditionen, neue Normen, neue Einstellungen zu schaffen.“

Ab dem Jahre 1929 setzte der „Umbruch an der Front der Wissenschaft“ ein. Als richtungweisend kann die Verordnung des ZK der KPdSU „Über Maßnahmen zur Verstärkung der wissenschaftlichen Arbeit“ vom 27.05.1919 angesehen werden, die in Verbindung mit den Ergebnissen der 2.Gesamt-Unionskonferenz der marxistisch-leninistischen wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen erlassen wurde. Kernpunkt dieser Verordnung war die Forderung, die wissenschaftliche Forschung im Lande neu zu organisieren und zwar „in entschiedenem Widerstand gegen die bürgerliche und kleinbürgerliche Ideologie und zur Mitwirkung bei der Lösung der praktischen Aufgaben des sozialistischen Aufbaus. Diese Verordnung enthielt auch das Postulat nach einem institutionalisierten Zentrum zur Planung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit.

Lag bis zum Ende der 1920er Jahre der Schwerpunkt der Wissenschaft noch bei der Kommunistischen Akademie, die vom Institut der Roten Professur unterstützt wurde, so wies die Gründung eines neuen Dachverbandes für Wissenschaftler und Techniker in eine andere Richtung, die dem noch vorhandenen „marxistischen Wissenschaftspluralismus“ ein Ende setzte. Die Initiative dazu ging von einer Gruppe marxistischer Wissenschaftler und Ingenieure um den bekannten Biochemiker A.N. Bach aus, der auch Mitglied der Akademie der Wissenschaften war. Dies führte im Jahre 1928 zur Gründung der „Gesamtunions-Vereinigung der Arbeiter in Wissenschaft und Technik für die Unterstützung des sozialistisches Aufbaus in der UdSSR“, deren Statut am 13.02.1928 durch den Rat der Volkskommissare der UdSSR bestätigt wurde.

Die Verordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR „Über wissenschaftliche Grade und Titel“ vom 13.01.1924 regelte die gesamte wissenschaftliche Ausbildung neu. Mit der Einführung des Kandidaten- und Doktor-Grades wurde eine Rangfolge wissenschaftlicher Qualifikation geschaffen wie durch die Einführung fester Dienstbezeichnungen für das Lehrpersonal an den Universitäten und Hochschulen. Ebenfalls wurden die Fachrichtungen für den Erwerb wissenschaftlicher Grade festgelegt und mit der Höchsten Attestationskommission entstand ein Prüfungsorgan auf Unionsebene. Es führte ein Rechtsverzeichnis aller Institutionen des Landes, die berechtigt waren, wissenschaftliche Grade zu verleihen und Amtsbezeichnungen zu vergeben. In der Neufassung dieser Verordnung aus dem Jahre 1937 wurde die Trennung zwischen wissenschaftlichen Graden und den Amtsbezeichnungen für die Lehrtätigkeit – vom Assistenten bis zum Professor – noch deutlicher hervorgehoben.

Für die Wissenschaft waren die institutionellen und personellen Verluste im „Großen Vaterländischen Krieg“ schwer zu schultern. Die Besetzung großer Gebiete des Landes durch die deutsche Wehrmacht, die Zerstörung wichtiger Anlagen und Einrichtungen fast im gesamten europäischen Teil der Sowjetunion und der Kriegseinsatz des personals schnitten tief in die gesamte Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung ein und verursachten schwere Schäden und Verluste. Die Evakuierung von Instituten und Wissenschaftlern führte zum Ausbau neuer wissenschaftlicher Zentren wie etwa im Uralgebiet, wo z.B. die Kommission für die Mobilisierung des Urals für den Verteidigungsbedarf mit über 800 Wissenschaftlern und Technikern arbeitete. Eine Folge davon war die Erweiterung des Systems der Filialen der Akademie der Wissenschaften, die im Jahre 1949 eine einheitliche Rechtsform und die Einrichtung eigener Akademien der Wissenschaften in den einzelnen Unionsrepubliken. Georgien hatte dabei noch vor dem Ausbruch des Krieges eine eigene Akademie erhalten; während des Krieges folgten Armenien und Usbekistan (1943) sowie Aserbaidschan und Kasachstan (1945). Die weitere Entwicklung nach dem Krieg führte dazu, dass nach den drei baltischen Republiken (1946) auch die übrigen mittelasiatischen Unionsrepubliken Tadschikistan, Turkmenien (1951) und Kirgisien (1954) wissenschaftliche Akademien erhielten.

Gerade durch die Kriegsmaßnahmen wurde auf diese Weise das in den 1930er Jahren entworfene Organisationsschema erweitert und ausgefüllt. Mitten im Krieg gelang die Gründung von zwei weiteren Fachakademien: im Jahre 1943 die der Akademie der pädagogischen Wissenschaften der RSFSR und ein Jahr später die der Akademie der medizinischen Wissenschaften der UdSSR. Während das Präsidium der Akademie der Wissenschaften der UdSSR 1941 bis 1943 aus Moskau nach Sverdlovsk evakuiert wurde, blieben die Wissenschaftler Leningrads zum größten Teil auch während der Blockade in der belagerten Stadt. Der Einsatz der Wissenschaftler im Kriege vollzog sich organisatorisch in besonderen Kommissionen, wie z.B. der Kommission für die geologisch-geographische Betreuung für die Rote Armee oder der Kriegssanitätskommission, die unter der Leitung des bekannten Akademiemitglieds L.A. Orbeli stand.

In der Verwaltung des Bildungswesens traten ebenfalls im Jahre 1930 organisatorische Veränderungen ein, in deren Gefolge eine große Anzahl parteigebundener und Stalin ergebener jüngerer Funktionäre leitende Stellungen erhielt.

Im Zentrum des „Kulturfeldzuges“ standen die Überwindung des Analphabetentums und die Einführung der allgemeinen Elementarschulpflicht. Im Laufe des ersten Jahrzehnts nach der Oktoberrevolution hatten sich die optimistischen Erwartungen von 1918 lediglich zu einem geringen Teil erfüllt. Im Sommer 1928 wurde nun ein Umschwung verkündet und durch die neuen Methoden der organisierten Massenaktion in Angriff genommen. Die Zahl der erfassten und unterrichteten Analphabeten stieg sprunghaft an, aber die Erfolge blieben trotzdem hinter den Planziffern zurück. Stalin sprach auf dem XVI. Parteikongress im Jahre 1930 sogar von der Geringfügigkeit der bisherigen Ergebnisse, so dass die Kampagnen im Winter 1930/1931 noch einmal verstärkt wurden. Am 15. August 1931 wurde schließlich die gesetzliche Unterrichtspflicht für alle analphabetischen Personen zwischen 16 und 50 Jahren festgelegt.

Die Methoden des „Kulturfeldzuges“ brachten es mit sich, dass es oft nur bei formellen Verpflichtungen blieb, die Erfolgszahlen absichtlich überhöht wurden und vor allem die tatsächlichen Lese- und Schreibfertigkeiten in vielen Fällen sehr fragwürdig waren.

Als Massenphänomen war das Analphabetentum aber Ende der 1930er Jahre verschwunden; die Volkszählung am 17.01.1939 ergab, dass 81,2% der Bevölkerung über 9 Jahre und 89% der Altersklasse zwischen 9 und 49 Jahren lesen und schreiben konnten, wobei die Erfolge in den asiatischen Gebieten besonders ins Auge fielen. Die Volkszählung vom 17.01.1959 ergab zwei Jahrzehnte später lediglich eine Quote von 1,5% Analphabeten unter den 9 bis 49 Jahre alten Personen.

Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hatte die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, das zweite höchst bedeutsame Ereignis im Bereich der allgemeinen Volksbildung nach 1930. Durch zwei Beschlüsse der obersten Partei- und Staatsorgane vom Juli und August 1930 wurde die allgemeine Schulpflicht in der gesamten Sowjetunion gesetzlich eingeführt. Danach sollte zunächst in der ersten Phase die vierjährige Grundschulpflicht in Stadt und Land realisiert werden; in der zweiten Stufe sollte, beginnend in den Industriestädten und Arbeitersiedlungen, die allgemeine siebenjährige Schulzeit obligatorisch werden.

Ein im Februar 1931 abgehaltener Allrussischer Kongress für die allgemeine Schulpflicht zog eine erste Bilanz. Dabei wurde deutlich, wo die größten Hindernisse lagen, die auch in den folgenden Jahren die Planerfüllung beeinträchtigten: in der Lehrerfrage und im Schulraum. Zwischen den Jahren 1930 und 1932 mussten allein in der RSFSR ca. 114.000 Grundschullehrer ausgebildet werden; die Absolventen der regulären Lehrerbildungsanstalten (Pädagogische Technika und Pädagogische Hochschulen) reichten dafür bei weitem nicht aus.

Im Jahre 1936 besaßen in der RSFSR 43% der Grundschullehrer keine abgeschlossene mittlere Schulbildung und 76,3% der Lehrer an den Siebenjahres- und Zehnjahresschulen kein Hochschulzeugnis. Dieses schlimme Bildungsdefizit der Lehrenden machte sich natürlich in den ungenügenden Kenntnissen der Schulabgänger bemerkbar. Durch die Anwerbung zehntausender rasch und oberflächlich ausgebildeter, häufig zwangsweise vom Komsomol zum Lehrerstudium kommandierter „Neulehrer“ erlebte die sowjetische Schule auf Jahre hinaus qualitative Einbußen, die bei der gleichzeitigen quantitativen Ausdehnung des Schulbesuchs nicht übersehen werden dürfen.

Die materiellen Voraussetzungen der allgemeinen Schulpflicht, um die sprunghaft ansteigenden Schülerzahlen zu bewältigen, blieb ebenfalls ein Problem. Neben der Schulraumnot, die vor allem durch Ausdehnung des Schichtunterrichts und die Benützung anderer Gebäude bekämpft wurde, bildete die Versorgung mit Unterrichtsmitteln einen ständigen Engpass. Die damaligen Zustände wurden folgendermaßen beschrieben: „Die Berichte aus der Provinz zeigen, daß die Versorgung der Schulen mit Lehrmittel unter aller Kritik ist. Ich brauche mich darüber nicht weiter auszulassen, jeder kennt das selbst zu Genüge. Vor kurzem hat das Zentralkomitee einen Beschluß über die Versorgung mit Heften und Schreibmaterialien gefaßt (…) und darin dem ZK des Komsomol empfohlen, eine Altpapiersammlung zu organisieren, um zusätzlich Papier für die Schulen zu bekommen. Diejenigen Schulen, die das meiste Papier gesammelt haben, werden als Prämien Hefte erhalten. In allen Schulen muß der Kampf um das Heft, um den Bleistift, um den Griffel geführt werden.“

Der Prozentsatz der Kinder im Alter von 8 bis 14 Jahren, die einen Schulunterricht erhielten, wuchs in der gesamten UdSSR von 46,6% im Jahre 1927/1928 auf 83,8% im Jahre 1931/1932. In der Altersgruppe der 8 bis 11jährigen lag er 1931/1932 bereits bei 95,2% (auf dem Lande bei 86,1%), unter den 12 bis 14jährigen bei 67,3% (auf dem Lande bei 47%). Bis zum Jahre 1936 ergab sich in der Altersgruppe der 12 bis 14jährigen zwar eine weitere Verbesserung, aber erst im Jahre 1940 wurde die vierjährige Grundschulpflicht restlos durchgeführt. Nach den angestellten Berechnungen wäre im Jahre 1943 auch die siebenjährige Schulpflicht realisiert worden, wenn nicht der 2.Weltkrieg eine weitere Verzögerung bewirkt hätte.

Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht und der weitgehenden Zurückdrängung des Analphabetentums waren nur die elementaren Bildungsvoraussetzungen für die von den Fünfjahresplänen in Angriff genommene durchgreifende Industrialisierung der Sowjetunion geschaffen. Die eigentliche Daueraufgabe lag in der Heranbildung einer breiten und differenzierten Schicht technischer, ökonomischer und wissenschaftlicher Fachkräfte oder wie es im sowjetischen Sprachgebrauch hieß: in der Kaderausbildung. Im engeren Sinne zählten zu den Kadern nur die Spezialisten mit Hochschul- oder Fachschulvorbereitung, die leitende Funktionen in der Wirtschaft und im Staats- und Parteiapparat innehatten sowie die wissenschaftlichen Kader. In der Kaderausbildung überschnitten sich demnach Bildungs- und Arbeitskräftepolitik, wobei von der letzteren ein entscheidender Einfluss auf die Zielsetzung, Art und Dauer der einzelnen Ausbildungswege ausging. So kann man das gesamte Bildungswesen als ein Mittel zur „Produktion und Reproduktion qualifizierter Arbeitskraft“ bezeichnen und in der Kaderausbildung das Kernstück der sowjetischen Bildungspolitik seit dem Jahre 1928 erblicken. Stalins Bildungspolitik konzentrierte sich auf die begabte und intellektuell gehobene Schicht von jungen Menschen, die den Staat ökonomisch voranbringen sollten und dabei ideologisch nicht gegen die Politik Stalins opponierten. Die ungebildete und für höhere Aufgaben völlig unqualifizierte Masse spielte in den Planungen höchstens eine untergeordnete Rolle; Stalins Worte aus dem Jahre 1935 „Die Kader entscheiden alles“ spiegelte dies wieder.

Die Bemühungen Stalins, aus Arbeiter und Bauern Literaten heranzubilden, hatten den Zweck, den Einfluss der KPdSU in der Literatur zu sichern. Während die Proletkul’tstudios nach der Oktoberrevolution noch eine aufklärerische Funktion erfüllten, hatte die zu Beginn der 1920er Jahre angekurbelten Massenbewegung der Arbeiter- und Bauernkorrespondenten den Sinn, als Reservoir künftiger sowjetischer Literaten zu dienen, die im Dienst an Staat und Partei geschult waren. Die Bemühungen, Autoren aus Arbeiter- und Bauernkreisen heranzuziehen, wurde nach 1927 – mit dem Einbau der Literatur in den sozialistischen Aufbau – verstärkt. Die KPdSU verpflichtete die Verlage, den Arbeiter- und Bauernautoren mit literatischem Rat und Weiterbildungsmöglichkeiten zur Seite zu stehen. Es entstanden massenhaft „Literaturkreise“ in den Betrieben, die von der Partei unterstützt wurde. Der Schriftstellerverband wurde im Jahre 1934 dazu verpflichtet, Literaten für Unterricht und Beratung schreibender Arbeiter abzustellen. Die Zeit zwischen 1934 und 1941 war durch eine Stagnation der Literatur gekennzeichnet, die ihren Grund in der drückenden Atmosphäre des stalinistischen Terrors hatte. Im Jahre 1937 wurden einige hundert frei schaffenden Literaten Opfer der „Säuberungen“. Die Verfolgung reichte von praktischem Berufsverbot, das viele Literaten auf übersetzenden Tätigkeiten oder Kinderliteratur ausweichen ließ, bis zum Tod im Lager. Die Verfolgung der Literaten war indessen weniger eine speziell literaturpolitische Maßnahme als vielmehr ein Teil der „Säuberungen“ seit Mitte der 1939er Jahre. Allerdings war der Prozentsatz der Literaten – gemessen an ihrer Zahl – besondern hoch. Dies hatte folgenden Grund; Literaten gehörten zu den geistig eigenständigsten Menschen in der Stalin-Ära, die für oppositionelle Neigungen am ehesten anfällig waren. Viele bedeutende marxistische Literaturhistoriker und – theoretiker sind dem Terror unter Stalin zum Opfer gefallen. Bislang konnte der Vorwurf nicht entkräftet werden, dass der Tod Maxim Gorkis, des ersten Vorsitzenden des sowjetischen Schriftstellerverbandes, im Jahre 1936 von Stalin angeordnet wurde.

„Stabilisierung“ von Schule und Hochschule

Von den Ansprüchen der Wirtschaft an das Bildungswesen, wie sie in den Parteibeschlüssen zur Industrialisierung erhoben wurden, gingen erhebliche Wirkungen auf die Organisationsformen und die pädagogische Binnenstruktur der Schulen und Hochschulen aus. Die bildungspolitischen Diskussionen um die Neugestaltung des Schulsystems standen zwar eindeutig im Zeichen der ökonomischen Forderungen, aber gleichzeitig traten in ihrem Verlauf die pädagogischen und schulpolitischen Grundsatzfragen wieder hervor, die schon in den Revolutionsjahren erörtert worden waren. Im Mittelpunkt der Reformpläne stand die Frage nach der Polytechnisierung und der Produktionsorientierung der allgemeinbildenden Schule, insbesondere der beiden oberen Klassen (8. und 9. Klasse): „Wenn wir den Fünfjahresplan mit einer echten sozialistischen Umgestaltung verbinden wollen, dann müssen wir der polytechnischen Bildung die allergrößte Aufmerksamkeit zuwenden.“

Auf der II. Parteikonferenz für Volksbildung im April 1930 und auf dem I. Allrussischen Kongress für polytechnische Bildung im August wurde die Generallinie einer Polytechnisierung festgelegt, die in den Augen ihrer Verfasser einer „zweiten Schulrevolution“ nach der von 1918 gleichkam. Im Schuljahr 1930/1931 sollten alle Schulen einem Industriebetrieb, Staatsgut oder Kolchos angeschlossen werden; im Mittelpunkt der Lehrpläne und der Schularbeit sollte das Studium der Produktion und die Teilnahme der Kinder an der produktiven Arbeit stehen. Für die 12-13jährigen bedeutete dies teilweise die Arbeit unmittelbar im Betrieb. Die achten und neunten Klassen sollten in Technika umgewandelt werden, um besser die Aufgaben der Kaderausbildung zu erfüllen. Außerhalb der Schule sollte ein Netz technischer und landwirtschaftlicher Stationen entstehen; Schulklassen, Schulen und ganze Bezirke sollten sich an dem kollektiven „sozialistischen Wettbewerb“ beteiligen, wie er seit 1929 las wichtigstes Mittel der Planerfüllung galt. Schließlich wurde die Projektmethode und die Arbeits- und Schulbrigaden, die bisher nur selten angewendet wurden, als universale Unterrichtsmethode propagiert.

Der Aufbau der sowjetischen Industriegiganten und die Kollektivierung der Landwirtschaft schufen alle Voraussetzungen für eine polytechnische Massenerziehung und einen Wechsel von industrieller und landwirtschaftlicher Arbeit, den Marx und Engels als entscheidendes Charakteristikum der entfalteten kommunistischen Gesellschaft angesehen hatten. Die Idee einer Arbeits- und Erziehungsgesellschaft reichte von der umfassenden gesellschaftlichen Erziehung der Kinder im Vorschulalter über die polytechnische Ganztagsschule oder das Kinderheim bis hin zur kommunistischen Erwachsenenbildung. Diese Konstruktion war Ausdruck des utopischen Grundzugs der kommunistischen Pädagogik und Sozialphilosophie.

Der ukrainische Volkskommissar für das Bildungswesen, M.O. Skrypnik erklärte: „Das einheitliche System der Volksbildung muß alle Formen der ideellen Produktion, des geistigen Einflusses auf die Massen, alle Mittel und Wege der Erziehung des neuen Menschen, der für den Kommunismus kämpft und ihn erschafft, umfassen.“

Die „zweite Schulrevolution“ in der Sowjetunion erlebte um die Mitte des Jahres 1931 ihren Höhe- und Wendepunkt. Während nach der gesetzlichen Einführung der Grundschulpflicht Millionen von Kindern in die Schule drängten, drohte die Polytechnisierung der Schule mit ihren radikalen Experimenten zu einem Chaos zu führen. Neben den ideologischen Gründen für eine Revision des bisherigen Kurses spielten vor allem die realen Verhältnisse im Schulwesen die entscheidende Rolle für die im Herbst 1931 beginnende „Stabilisierung“. Der Kurswechsel wurde eingeleitet durch den Beschluss des ZK der KPdSU vom 5. September „Über die Grund und Mittelschule“. Diesem Parteibeschluss kam in der Tat eine Schlüsselrolle zu. Mit ihm endete die frühsowjetische Periode der pädagogischen Experimente und es begann die Entwicklung zur autoritären Lern- und Leistungsschule der Stalin-Ära. Der Beschluss enthielt vor allem eine Kritik an der Situation des polytechnischen Unterrichts und an den bisherigen methodischen Prinzipien der sowjetischen Schule. Ohne bereits der Polytechnisierung eine grundsätzliche Absage zu erteilen, hieß es darin, dass die „gesamte gesellschaftlich produktive Arbeit der Schüler den Unterrichts- und Erziehungszielen der Schule untergeordnet werden müsse. Jeder Versuch, die Polytechnisierung der Schule von der soliden und systematischen Aneignung der Wissenschaften, insbesondere der Physik, Chemie und Mathematik, zu trennen, stellt eine grobe Abweichung von der Idee der polytechnischen Schule dar.“

Der Unterricht sollte daher künftig nach genau gegliederten und sorgfältig ausgearbeiteten Lehrplänen und Stundentafeln erfolgen, in den Hauptfächern musste ein genau umrissener Kreis systematischen Wissens festgelegt werden.

Den durch den Beschluss vom 5. September 1931 vorgezeichneten Weg ist die Parteiführung in den folgenden Jahren konsequent weitergegangen. Dabei sind schrittweise nahezu alle charakteristischen Merkmale der Revolutionspädagogik und der frühsowjetischen Arbeitsschulidee abgebaut worden; eine neue Periode der „Stabilisierung der Schule“ wurde geschaffen.

Am 25.081932 erging ein weiterer richtungsweisender ZK-Beschluss, der sich den Lehrplänen und der inneren Schulordnung zuwandte. Am wichtigsten hinsichtlich der Lehrplangestaltungen waren diejenigen Abschnitte, die eine historische Einstellung in den Lehrplänen der gesellschaftlichen Fächer verlangten weiterhin im muttersprachlichen Unterricht den Nachdruck auf schriftliche Arbeiten und grammatische Analysen legten und schließlich eine Vermehrung der Stundenzahl für Mathematik vorsahen. Dabei waren alle drei Schwerpunkte der künftigen Inhalte in den allgemeinbildenden Schulen bezeichnet, die bei allen Wandlungen im Einzelnen bis zum Jahre 1956 konstant blieben.

Der ZK-Beschluss ordnete weiterhin an: „Die grundlegende Organisationsform der Unterrichtsarbeit muß die Unterrichtstunde sein“. Diese sollte im Klassenverband nach einem genau bestimmten Plan stattfinden. Damit wurden die reformpädagogischen Versuche einer freieren Unterrichtsgestaltung endgültig aus der sowjetischen Schule verbannt. Stattdessen wurde die „führende Rolle des Lehrers“ unterstrichen; im Jahre 1933 stand ihm auch die alte Zensurenskala wieder zur Verfügung. Seit einem besonderen ZK-Beschluss vom 12.02.1933 nahm auch das „stabile Lehrbuch“ einen zentralen Platz im Unterrichtssystem ein. Für jedes einzelne Fach gab es künftig lediglich ein obligatorisches Lehrbuch aus dem Staatlichen Lehrbuchverlag der betreffenden Republik – ein wichtiger Schritt zur einheitlichen geistigen Ausrichtung und Kontrolle der Lehrer und Schüler.

Durch die Direktive vom 25.08.1932 wurde auch die bisherige innere Schulverfassung entscheidend verändert. Mit der Autoritätsanhebung des einzelnen Lehrers gegenüber den Schülern wurde auch das Direktorialprinzip anstelle der kollegialen Schulleitung eingeführt. Im gleichen Umfang verlor die Schülerselbstverwaltung den Rest ihrer früheren Rechte; in einer neuen Ordnung von 1933 wurde es als ihre wichtigste Aufgabe bezeichnet, für Disziplin und gute Lernleistungen zu sorgen.

Bereits auf der II. Parteikonferenz über Volksbildung im Jahre 1930 wurde beschlossen, die bestehenden Unterschiede in dem sowjetischen Schulsystem – insbesondere die zwischen der RSFSR und der Ukrainischen SSR – aufzuheben. In der entsprechenden Resolution hieß es: Die Eigenart der nationalen Kultur und der lokalen Bedingungen muß innerhalb eines einheitlichen Systems der Volksbildung und eines einheitlichen Plans für die Kulturarbeit in der gesamten UdSSR berücksichtigt werden.“

Erst im Jahre 1934 kam es jedoch zu einem einheitlichen Aufbau des allgemeinbildenden Schulwesens, das folgende Typen aufwies:

  1. Grundschule (Klassen 1-4)
  2. unvollständige Mittelschule (Klassen 1-7)
  3. Mittelschule (Klassen 1-10)

Durch das Dekret vom 16.05.1934 wurde außerdem festgelegt, dass „die Absolventen der unvollständigen Mittelschule das Recht haben, bevorzugt in die Technika, die Absolventen der Mittelschule bevorzugt in die Hochschulen aufgenommen zu werden.“

Da für die beruflich-technischen Schulen geringere Voraussetzungen als die siebenjährige Schulzeit galten, ergab sich seit Mitte der 1930er Jahre eine ziemlich eindeutige Zuordnung der verschiedenen Schultypen und Ausbildungswege zu der künftigen Berufsposition und sozialen Stellung: Wer eine Schule weniger als sieben Jahre besucht hatte, wurde Kolchosbauer oder unqualifizierter Industriearbeiter; nach Abschluss einer Siebenjahresschule konnte ein Technikum besucht werden, das „mittlere Spezialisten“ ausbildete. Die zehnjährige Mittelschule berechtigte ausschließlich zum Universitäts- und Hochschulstudium. Wer sein Studium erfolgreich absolviert hatte und damit zur Gruppe der Hochschulspezialisten zählte, gehörte damit auch nach der amtlichen Klassifizierung zur sowjetischen Intelligenz. Die gestufte Kaderausbildung trug damit entscheidend zur sozialen Differenzierung innerhalb der Sowjetgesellschaft bei.

Die „Stabilisierung“ des Schulwesens wurde zwischen 1935 und 1937 endgültig abgeschlossen. In einer gemeinsamen Verordnung des Rates der Volkskommissare und des ZK der Partei vom 03.09.1935 erfolgte eine detaillierte Festlegung der täglichen Schularbeit, der Prüfungs- und Versetzungsbedingungen und erneut der disziplinarischen Ordnung in den Schulen. Für wiederholte Störungen der Disziplin konnte eine Überweisung in besondere Schulen erfolgen; auch die angekündigte Einführung der Schüleruniform diente in erster Linie der äußeren Disziplinierung. Parallel zu diesen Maßnahmen waren die rigorose Verschärfung der Bestimmungen zur Verhinderung und Bekämpfung der Kinderverwahrlosung und der Jugendkriminalität.

Auch auf dem Gebiet der polytechnischen Bildung führte die angestrebte „Stabilisierung“ schließlich zu einer völligen Negation der ursprünglichen Prinzipien. Zunächst sollten lediglich Überspitzungen und Fehler der Jahre 1929-1931 überwunden und die geforderte Verbindung des polytechnischen Unterrichts mit dem systematischen Fachunterricht in den Naturwissenschaften hergestellt werden. Indessen führten die erwähnten anderen Maßnahmen fast zwangsläufig zur Restauration der „Buchschule“, entscheidend gefördert durch die mangelhaften Voraussetzungen für eine wirksame technische Unterweisung, über die nur wenige Schulen verfügten. Als im März 1937 auch das Fach „Arbeit“, d.h. der Werkunterricht, aus dem Stundenplan gestrichen wurde, war zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution die Wiederanknüpfung an die traditionellen Formen der russischen Schule unübersehbar.

Die sowjetischen Hochschulen und mittleren Fachschulen durchliefen vom Ende der 1920er Jahre bis etwa 1940 einen in vieler Hinsicht ähnlichen Weg wie die Schulen. In noch höherem Maße als letztere unterlagen sie seit dem Jahre 1928 den Anforderungen der Kaderpolitik. Die zwischen 1928 und 1931 beschlossenen Maßnahmen bezweckten unter dem Leitgedanken einer Annäherung an die Produktion eine Verkürzung der Studiendauer, eine enge Spezialisierung und eine Verstärkung des praktischen Anteils an der Ausbildung. Gleichzeitig entstand seit dem Herbst 1928 ein neuer Typ der Technischen Hochschulen und Fachschulen, die in verkürzter Frist Ingenieure und Techniker mit guten Kenntnissen auf einem enger begrenzten Spezialgebiet und mit beträchtlicher Produktionspraxis ausbilden sollten. Im Jahre 1930 stellten diese neuen Lehranstalten mit ausgeprägter Spezialisierung und einer Ausbildungsdauer von drei Jahren die Hauptform der höheren und mittleren Spezialistenausbildung dar. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im Juli 1930, als die Universitäten aufgelöst und in Hochschulen umgewandelt wurden, die nach Produktionszweigen gegliedert und mit bestimmten Betrieben verbunden waren. Auf der Hochschulebene war damit dieselbe Ideologie der Verschmelzung von Studium und Produktion wirksam wie im Programm der Polytechnisierung der Schulen. Ausdruck dieser Bestrebungen war auch die Errichtung von Technischen Betriebshochschulen in Moskau, Leningrad und Charkow als integrierter Form einer produktionsgebundenen Ausbildung von Facharbeitern, Technikern und Ingenieren in Großbetrieben. Durch die Aufsplitterung der bestehenden Universitäten und Hochschulen, vor allem der Technischen Hochschulen, in eng spezialisierte Fachinstitute schnellte die Zahl der Lehranstalten im ersten Fünfjahresplan steil nach oben.

Die Zahl der Hochschulen aller Fachrichtungen stieg von 148 im Jahre 9127/1928 auf 832 im Jahre 1932/1933, die der Studenten von 168.500 auf 504.400. Im Bereich des mittleren Fachschulwesens gab es 1927/1928 1.037 Anstalten mit 189.400 Fachschülern und 1932/1933 3.509 mit 723.700 Personen.

Die zahlenmäßige Expansion der Hoch- und Fachschulbildung im Zuge der Fünfjahresplanpolitik war begleitet von dem Versuch einer zweiten „Proletarisierung“ der höheren Bildungseinrichtungen. Die Zahl der Werktätigen, die sich auf den Arbeiterfakultäten auf ein Studium vorbereiteten, erhöhte sich von 56.663 1928/1929 auf 339.517 1932/1933, so dass diese Gruppe in der Mitte der 1930er Jahre den größten Anteil an den Zugängen zum Hochschulstudium stellte und erst seit 1937 von den Abiturienten der zehnjährigen Mittelschule überholt wurde.

Auf dem XVI. Parteikongress wurde festgestellt: „Wir schicken die besten Proletarier auf die Hochschulen und erreichten gewaltige Erfolge bei der kommunistischen Durchdringung und Proletarisierung unserer Hochschulen. (…) Zehntausende Proletarier und Kommunisten, die an den Hochschulen studieren, werden morgen technische Kommandeurposten übernehmen (…) und damit das Gesicht der technischen Kader verwandeln.“

Die „Proletarisierung der Hochschulen“ hat zweifellos einen sozialen Strukturwandel innerhalb der sowjetischen intellektuellen Schicht, besonders in der technischen Intelligenz, bewirkt, auch wenn angesichts der rigorosen Lenkungs- und Restriktionsmaßnahmen der Unterschied zwischen 1928 und 1938 nicht besonders groß ausfiel.

Als Beginn der „Stabilisierung“ im Hoch- und Fachschulwesen kann das Jahr 1932 angesehen werden. Die Reaktion auf die organisatorischen Experimente machte sich schon bemerkbar, als die Zerschlagung der Universitäten ein Jahr später teilweise wieder rückgängig gemacht wurde und die naturwissenschaftlichen Fakultäten als erste wiederhergestellt wurden. Geblieben ist aus dieser Zeit die Ausgliederung der medizinischen Fakultäten; die Wiedereingliederung der historisch-philologischen Disziplinen sowie der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften zog sich über einen längeren Zeitraum – bis etwa 1941 – hin.

Das Problem der Qualität in der Kaderausbildung trat jetzt immer stärker in den Vordergrund. In der grundlegenden Verordnung vom 19. September „Über die Studienpläne und die Leitung in der Hochschule und in den Technika“ wurde festgestellt, dass „man die Aufmerksamkeit einseitig auf die wachsende Zahl des Hochschulnetzes und der Studenten gerichtet hat, unter mangelnder Beachtung der Qualität der Lehrtätigkeit und bei übermäßiger Aufspaltung der Fachrichtungen. Die zweite richtungsweisende Verordnung vom 23.06.1936 „Über die Tätigkeit der Hochschulen und über die Leitung der Hochschulen“ forderte von den Hochschulen „die Heranbildung hochqualifizierter, politisch erzogener, allseitig und kulturell gebildeter Kader, die fähig sind, sich in vollem Umfange die neuesten Errungenschaften der Wissenschaft anzueignen, die Technik von Grund auf auszunutzen und auf bolschewistische Weise die Theorie mit der Praxis zu verbinden sowie die Erfahrungen der Produktion mit der Wissenschaft zu vereinigen.“

Die „Stabilisierung“ erstreckte sich auf die administrative Lenkung des Hoch- und Fachschulbereichs, die innere Struktur der Hochschulen und vor allem auf das Studiensystem. Im Jahre 1932 wurde für alle Technischen Hochschulen ein zentrales Aufsichts- und Lenkungskomitee geschaffen, dessen Kompetenz im Jahre 1936 auf die Hochschulen und auf die Universitäten ausgedehnt wurde. Wenn auch an der unmittelbaren Leitung der Hochschulen weiterhin die entsprechenden Fachbehörden, vor allem die Industriezweige beteiligt blieben, so hatte das zentrale Komitee doch die Verantwortung für die gesamte Hochschulbildung der UdSSR. Die einzelnen Aufgaben waren:

  1. die Prüfung des Budgets der Republiken und der Volkskommissariate der UdSSR für den Unterhalt der Hochschulen,
  2. die Festlegung der Anzahl und der Typen der Hochschulen,
  3. die Bestätigung der Muster für die Stundentafeln und Studienpläne,
  4. die Festsetzung der Kontingente für die Aufnahme der Studenten,
  5. die Prüfung des Planes für die Verteilung der Hochschulabsolventen,
  6. die Bestätigung der Direktoren der Hochschulen,
  7. die Bestätigung der Hochschullehrer im Range eines Professors und eines Dozenten.

Ähnlich wie in den Schulen und analog zu den Betrieben wurde auch in den Hochschulen und Technika die Einzelleitung konsequent eingeführt. In den Verordnungen aus den Jahren 1932 und 1936 wurden die Pflichten der Direktoren nach diesem Grundsatz ebenso festgelegt wie die der Dekane und Professoren. Durch Verordnungen über wissenschaftliche Grade und Titel sowie über ein neues Planstellen- und Gehältersystem aus dem Jahre 1937 wurde eine feste Hierarchie von Hochschullehrern und wissenschaftlichen Mitarbeitern geschaffen. Den studentischen Organisationen war es untersagt, sich in administrative und methodische Angelegenheiten einzuschalten. Die Hochschulleitungen wurden weiterhin angewiesen, durch Vorschriften für die Hausordnung und die Kontrolle der Lehrveranstaltungen auf eine strenge Studiendisziplin zu achten; sie konnten mit Disziplinarstrafen bis hin zur Entlassung Verstöße und eine mangelnde Lerndisziplin ahnden. Für das wissenschaftliche und technische Personal galten analoge Bestimmungen.

Die Maßnahmen zur Aufrichtung einer äußeren Ordnung im Studien- und Lehrbetrieb wurden unterstützt von den ebenfalls 1932/1933 begonnenen Studienreformen, die schließlich zu einer Verschulung des Hochschulstudiums führten. Im Zuge der Überprüfung der Fachrichtungen, die im Herbst 1936 im Wesentlichen abgeschlossen wurde, entstand eine zentrale Nomenklatur der Studienrichtungen als Basis der Ausbildung und des jeweiligen Profils der Hochschule. Dieses System bildete seitdem das Gerüst der fachlichen Spezialisierung und der dadurch bestimmten Ausbildung. Der Anteil der theoretischen Grundstudien wurde schon im Jahre 1932 auf Kosten der übermäßig langen Produktionspraktika erhöht. Auch das Fernstudium, das sich seit dem Jahre 1929 rasch ausgebreitet hatte, wurde durch eine Verordnung vom 29.08.1938 „stabilisiert“. Aufnahmebestimmungen, Organisationsformen, Studien- und Prüfungsordnungen, Urlaub mit Lohnfortzahlung wurden einheitlich geregelt.

Im Lehrbetrieb der Universitäten und Hochschulen hatte sich wie auch in den Schulen um das Jahr 1930 das Gruppenstudium („Labor- und Brigademethode“) anstelle der Vorlesungen und Kurse weitgehend durchgesetzt; jetzt wurde diese Studienform als wenig effektiv abgeschafft. Die schon oben genannte Verordnung vom 23.06.1936 enthielt detaillierte Informationen über die erlaubten Lehr- und Studienformen, Noten und Examina, die Anzahl der Lehrveranstaltungen und deren Dauer. Durch eine weitere Anordnung vom Mai 1936 wurde die Schaffung von verbindlichen Hochschullehrbüchern für alle Studienfächer in die Wege geleitet, wobei die neu gebildeten Autorenkollektive die inzwischen erfolgten ideologischen Wandlungen berücksichtigen mussten. Im Studienjahr 1938/1939 erfolgte auch eine Reorganisation des obligatorischen gesellschaftswissenschaftlichen Studiums. Die neuen vereinigten Lehrstühle für Marxismus-Leninismus waren für den Kurs „Grundlagen des Marxismus-Leninismus“ und die anschließende Unterweisung in der politischen Ökonomie und im dialektischen und historischen Materialismus verantwortlich.

Als Schlusspunkt der „Stabilisierung“ im Hochschulbereich kann der Erlass des neuen „Normalstatuts für die Hochschule“ vom 05.09.1938 angesehen werden, in dem die vorangegangenen administrativen und didaktischen Maßnahmen systematisiert und noch einmal erneuert wurden. Die darin enthaltene mehrfache Bezugnahme auf Stalin machte deutlich, dass die autoritäre Leitungsstruktur, die fachliche Qualitätssteigerung und die politisch-ideologische Disziplinierung Grundbestandteile der neuen, mit dem Namen Stalins verknüpften sowjetischen Ordnung waren, die sich in den Schulen und Hochschulen ebenso ausbildete wie in den anderen Bereichen von Kultur und Wirtschaft.

Bildungspolitik während des 2. Weltkrieges und im Spätstalinismus

Gegen Ende der 1930er Jahre wies das sowjetische Schul- und Hochschulwesen zahlreiche Merkmale auf, die an das zaristische Bildungssystem erinnerten:

  1. bürokratischer Zentralismus,
  2. politische Kontrolle auf allen Gebieten des Bildungswesens,
  3. staatspatriotische Appelle,
  4. fachliche Leistungsorientierung und bloße Wissensvermittlung.

Den Säuberungen und Verhaftungen zwischen den Jahren 1936 und 1939 fielen auch leitende Pädagogen und Funktionäre aus dem Volksbildungssektor zum Opfer. Die Folgen des Stalin-Kultes bildeten die negative Kehrseite jenes ideologischen Wandlungsprozesses, der ebenfalls Mitte der 1930er Jahre einsetzte und in der Erziehungs- und Bildungspolitik seinen Niederschlag fand. Es handelte sich um die Ausarbeitung und Propagierung einer neuen Staatsgesinnung, des sowjetischen Patriotismus, die im Jahre 1934 planmäßig begann. Der Sowjetpatriotismus erfuhr dann im „Großen Vaterländischen Krieg“ (1941-1945) seine Bewährungsprobe. In den Nachkriegsjahren wurde der Sowjetpatriotismus vor allem als Abgrenzungsmittel gegenüber dem kapitalistischen Westen benutzt und bildete den Kern der staatsbürgerlichen Erziehung der Jugend. Nach Stalins Tod und der Kritik an seinem autoritativen Führungsstil behielt er trotzdem die Funktion einer integrativen Staatsideologie in der Sowjetunion.

In der frühsowjetischen Periode bildete die am Leitbild des revolutionären Klassenkämpfers orientierte Erziehung zum proletarischen Internationalismus den wesentlichen Inhalt der politischen Erziehung. Die kommunistische Erziehung betonte vor allem den Gedanken der internationalen Klassensolidarität, den sie dem „bürgerlichen Nationalismus“ in den Schulen der kapitalistischen Länder des Westens entgegenstellte. Lunacarskij wandte sich im Jahre 1919 entschieden gegen einen „patriotischen Geschichtsunterricht“, eine bewusste Erziehung zum Nationalismus und eine überbetonte Hervorhebung der russischen Kultur auf Kosten der internationalistischen Ausrichtung: „Da die nationale Erziehung aufs engste mit dem Militarismus verbunden ist, müssen die Sozialisten dem Unterricht vor allem das internationalistische Prinzip zugrunde legen, das Prinzip der Einheit der Menschheit.“ Im Jahre 1926 schrieb Schulgin: „Wir sind nicht dazu berufen, ein russisches Kind, ein Kind des russischen Staates zu erziehen, sondern einen Weltbürger, einen Internationalisten, ein Kind, das die Interessen der Arbeiterklasse als Ganzes begreift und fähig ist, für die Weltrevolution zu kämpfen. (…) Wir erziehen unsere Kinder nicht zur Verteidigung des Vaterlandes, sondern für weltweite Ideale.“

In der Erziehungspolitik bahnte sich ein Wandel schon Ende der 1920er Jahre an, als eine ausgedehnte Kampagne für eine Verstärkung der Landesverteidigung auch Schulen, Hochschulen und Komsomol einbezog und seit dem Jahre 1928 schrittweise mit der Einführung einer vormilitärischen Ausbildung begonnen wurde. Vom Schuljahr 1932/1933 an besaßen die Wehrkunde und die praktische vormilitärische Ausbildung mit wechselnder Stundenzahl und Altersbegrenzung einen festen Platz im Lehrplan der Schulen. Im Rahmen des Gesetzes über die allgemeine Wehrpflicht vom 01.09.1939 wurde die vormilitärische Ausbildung an den Schulen in zwei Stufen festgelegt.

Wehrerziehung und vormilitärische Ausbildung der Jugend bildeten aber nur einen Teil der sowjetpatriotischen Erziehung, die sich seit Beginn der 1930er Jahre deutlich gegenüber der vorangehenden Periode der Erziehung zum proletarischen Internationalismus abhob. Nicht auf ein bestimmtes Unterrichtsfach begrenzt, sondern als Prinzip in allen Fächern, nicht nur in der Schule, sondern ebenso der außerschulischen Erziehung. Die sowjetpatriotische Erziehung war auch nicht allein auf die lernende und arbeitende Jugend beschränkt, sondern als Teil der Erwachsenenbildung gewann sie seit Mitte der 1930er Jahre eine zentrale Stellung im Gesamtsystem der politisch-ideologischen Erziehung der Bevölkerung. Dabei traten zwei Merkmale besonders hervor: die Schaffung eines neuen Geschichtsbildes, die Herausbildung eines neuen Staatsbewusstseins und einer darauf bezogenen staatsbürgerlichen Erziehung.

Die Anfänge der sowjetpatriotischen Ideologie in Presse und Rundfunk fielen zeitlich mit einer Neuorientierung des Geschichtsunterrichts zusammen. Die Verordnung vom 16.05.1934 „Über den Unterricht in staatsbürgerlicher Geschichte in den Schulen der UdSSR“ sagte folgendes aus: „An Stelle eines Unterrichts der staatsbürgerlichen Geschichte in einer lebendigen, interessanten Form an Hand der Darlegung der wichtigsten Ereignisse und Tatsachen in einer chronologischen Folge und einer Charakteristik der historischen Persönlichkeiten werden den Schülern abstrakte Definitionen der sozialökonomischen Gesellschaftsformation geboten, so daß auf diese Weise eine zusammenhängende Darstellung der staatsbürgerlichen Geschichte durch abstrakte soziologische Schemata ersetzt wird.“

Es handelte sich bei der Revision des Lehrplane und der Lehrbücher für den Geschichtsunterricht jedoch in erster Linie um eine politisch-ideologische Umorientierung. Der Unterricht sollte das neue patriotisch gefärbte Geschichtsbild vermitteln, als dessen Urheber Stalin sich feiern ließ. Größen der russischen Vergangenheit wie Alexander Nevskij oder Peter I. wurden auf die Gegenwart projiziert. Indem Stalin in diese historische Reihe gestellt wurde, nahm die Kontinuität der russischen zur sowjetischen Geschichte plastische Gestalt an.

Als Propagandist des sowjetischen Patriotismus, einer neuen kommunistischen Moral und einer darauf beruhenden Erziehung trat besonders M. I. Kalinin (1875-1946) hervor. Auch das literarische Werk von A.S. Makarenko (1888-1939), das nach 1936 starke Resonanz fand, ließ sich wegen der Betonung eines autoritär-kollektivistischen Erziehungsstils und des staatsbürgerlichen Ideals in das neue sowjetpatriotische Modell einfügen.

Der sowjetische Patriotismus versuchte sich seit seiner offiziellen Propagierung als national übergreifender sozialistischer Patriotismus zu präsentieren, als Flickenteppich für die zahlreichen kulturell unterschiedlichen Nationalitäten der Sowjetunion. In der Bildungspolitik galt seit dem Jahre 1918 der Grundsatz, dass jede Nationalität „das Recht der Organisierung des Unterrichts in der Muttersprache“ in Schulen und Hochschulen besaß, wobei „mit dem Ziel der kulturellen Annäherung und der Entwicklung der Klassensolidarität der Werktätigen der verschiedenen Nationalitäten die Sprache der Mehrheit der Bevölkerung des entsprechenden Gebietes obligatorisch gelehrt“ werden sollte.

Seit der Oktoberrevolution galten drei Grundsätze als Leitlinien der sowjetischen Nationalitätenpolitik:

  1. die Priorität des Territorialprinzips,
  2. die Souveränität,
  3. der proletarische Internationalismus.

Die Nationalitätenpolitik im Bildungswesen war bis Anfang der 1930er Jahre dadurch gekennzeichnet, dass im Rahmen der nationalen Autonomie die nichtrussischen Nationalitäten mit eigenständiger kultureller Tradition ein nationales Schulwesen in ihrer Muttersprache unbehindert entwickeln konnten. Im Jahre 1927 wurde nach amtlichen Angaben der Unterricht in der Grundschule in 66 Sprachen, in der neunjährigen Mittelschule in 12 und auf den Hochschulen in 5 Sprachen abgehalten. Im Jahre 1932 gab es bereits Lehrbücher in 94 Sprachen. Die Gewährleistung des Gebrauches der Muttersprache vor Gericht und in der allgemeinen Verwaltung, ihre Verwendung in der Öffentlichkeit, vor allem zur Kennzeichnung öffentlicher Gebäude und der Benennung von Straßen und Plätzen, sowie die Verwendung der Muttersprache als Unterrichtssprache in Schulen und Hochschulen war entsprechend der sowjetischen Verfassung (Artikel 121) gesetzlich geregelt.

Eine russische Zentralisierung war seit der Ausschaltung derjenigen Kräfte durch Stalin, die weiterhin für lokale Autonomie im Bildungsbereich plädierten, augenscheinlich. Zwischen 1933 und 1938 vollzog sich im Zusammenhang mit den politischen „Säuberungen“ und getragen von der neuen sowjetpatriotischen Propaganda auch eine Gewichtsverlagerung zugunsten der russischen Geschichte, Sprache und Kultur. Am 13.03.1938 erging eine Verordnung über den obligatorischen Russischunterricht in den nationalen Schulen, die einheitliche Lehrpläne, neue Lehrbücher und eine Verstärkung des Anteils der russischen Sprache vorschrieb. Die „Prawda“ bejahte diese Maßnahme unter anderem mit der Begründung, dass „die russische Sprache zur internationalen Sprache der sozialistischen Kultur wird, so wie Latein die internationale Sprache der Oberschichten der frühmittelalterlichen Gesellschaft und die französische Sprache die internationale Sprache des 18. und 19. Jahrhunderts war.“

Die zwischen 1937 und 1940 durchgeführte Umstellung der Schrift derjenigen nichtrussischen Nationalitäten, die in den 1920er Jahren das lateinische Alphabet übernommen hatten wie die Tartaren, auf das kyrillische Alphabet, beseitigte die Schranke, die einem Einfluss der russischen Sprache von dieser Seite entgegenstand.

Die russische Komponente im Sowjetpatriotismus wurde durch den 2. Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren weiter verstärkt. Während des 2. Weltkrieges, vor allen nach dem Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf die Sowjetunion am 22.06.1941, unterlagen alle Bereiche des Bildungswesens den militärischen und wirtschaftlichen Anforderungen der Verteidigung des Landes. Dies hatte zur Folge, dass die Disziplinierung der Jugend, die bürokratische Reglementierung des Schullebens und die sowjetpatriotische Ausrichtung der Erziehung weiter verstärkt wurden. Der Alltag in den nicht von den deutschen Truppen besetzten Gebieten wurde vor allem durch die Massenevakuierung schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher in die entfernteren Landesteile, die Verlagerung von Instituten und Hochschulen, den Schichtunterricht, die Einberufungen von Lehrern zum Militär, den Einsatz von älteren Schülern in Rüstungsbetrieben und in der Landwirtschaft sowie durch andere kriegsbedingte Maßnahmen charakterisiert. Zwischen 1940/1941 und 1945/1946 sank die Schülerzahl der allgemeinbildenden Schulen um 26%, in den oberen Klassen (8-10) sogar auf 41%, die Zahl der Hochschüler verringerte sich dagegen lediglich um 10%.

In den Kriegsjahren 1941-1945 standen die Bewältigung der konkreten materiellen und personellen Schwierigkeiten und die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Schulen und Hochschulen im Vordergrund. Die ergriffenen Maßnahmen prägten die Struktur und Inhalte des Bildungswesens auch über die Kriegszeit hinaus. Bis zum Beginn der 1950er Jahre lässt sich von einer Verkrustung der Prinzipien und Formen in Unterricht und Erziehung sprechen.

Eine wesentliche Veränderung erfuhr im Jahre 1940 das System der Berufsausbildung. Durch einen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 2.Oktober „Über die Staatlichen Arbeitsreserven der UdSSR“ und eine Reihe von Ausführungsbestimmungen wurde die beruflich-technische Ausbildung neu geordnet und einem Zentralorgan, der Hauptverwaltung der Arbeitsreserven unterstellt. Damit war ein entscheidender Schritt zur staatlichen Erfassung, Ausbildung und Verteilung des Nachwuchses für die Industrie und das Bauwesen getan. In dem Erlass hieß es: „Dem Rat der Volkskommissare der UdSSR wird das Recht eingeräumt, alljährlich 800.000 bis zu einer Million Menschen der Stadt- und Kolchosjugend männlichen Geschlechts im Alter von 14 bis 15 Jahren zur Ausbildung in Gewerbe- und Eisenbahnerschulen sowie im Alter von 16 bis 17 Jahren zur Ausbildung in den Schulen der Fabrik- und Werksausbildung einzuberufen.“

Diese Maßnahme sollte den drastischen Rückgang in der Ausbildung von Facharbeitern in den früheren FZU-Schulen auffangen und gleichzeitig die Voraussetzungen für eine kriegsmäßige Mobilisierung der Arbeitskräfte schaffen. Die militärähnliche Einberufung in den Schulen der Arbeitsreserven nach bestimmten Quoten wurde erst im Jahre 1955 aufgehoben. Zwischen 1941 und 1955 wurden insgesamt 8,2 Millionen Personen in den Schulen der Arbeitsreserven ausgebildet, davon 5,1 Millionen in Berufsschulen mit nur sechs- bis zwölfmonatiger Ausbildungsdauer.

Die sowjetische Führung war sich darüber klar, dass sie die qualitative Arbeit der Industrie nur verbessern konnte, wenn es ihr gelang, das technische Niveau der Arbeiterschaft bedeutend zu heben. Die Arbeiterschaft wurde aufgefordert, sich das so genannte technische Minimum anzueignen; bereits im Jahre 1935 legte Hunderttausende von Arbeitern in der Schwerindustrie ein technisches Examen ab. Arbeiter, die sich der Überwindung der technischen Normen, der projektierten Leistungsfähigkeiten und der bestehenden Produktionspläne zum Ziel setzten, wurden von der Staatsführung mit Orden ausgezeichnet. So gelang es, überholte Arbeitsmethoden und mangelhafte Qualifikation zu überwinden.

Ende der 1930er Jahre hatte man eine mächtige Schwerindustrie mit zahlreichen neuen Produktionszweigen geschaffen. Es waren Tausende neuer Betriebe entstanden, und die meisten alten Werke und Fabriken waren mit moderner Ausrüstung ausgestattet worden. So gab es im Bereich der Schwerindustrie kaum noch Betriebe mit veralteter Technik. Fast die gesamte Industrie war elektrifiziert, wobei der Kraftstrom zugleich technologischen Zwecken diente. Auch die Mechanisierung der Produktionsprozesse hatte inzwischen bedeutende Fortschritte gemacht, die vor allem dem Kohleabbau zugute kamen. Die Standortverteilung der Industrie hatte sich im Laufe der 1930er Jahre völlig geändert. Während sich die Industrie im zaristischen Russland in den südlichen und zentralen Gebieten des Landes konzentriert hatte, waren nun auch die östlichen und nördlichen Gebiete in hohem Maße von in den Industrialisierungsprozess einbezogen. Im Ural, in den Steppen Mittelasiens, in der Taiga Sibiriens und der Tundra im hohen Norden entstanden Industriegebiete und wurden Eisenbahnen gebaut. Das Ural-Kuzneck-Kombinat bildete die Voraussetzung für die industrielle Erschließung der östlichen und fernöstlichen Landesteile, die mit der Errichtung weiterer Industriezentren in Sibirien ihren Fortgang nahm, so dass sich das Schwergewicht der Investitionsarbeiten – auch aus strategischen Erwägungen – immer mehr in Richtung Osten verlagerte.

Im Jahre 1940 erzeugten allein die Betriebe von Moskau wertmäßig etwa doppelt soviel wie die Industrie des zaristischen Russlands zusammengenommen. Die Sowjetunion hatte dem Produktionsumfang nach Frankreich, England und Deutschland überholt und nahm somit den führenden Platz in Europa und nach den USA den zweiten Platz in der Welt ein.

Der Beginn des 2. Weltkriegs lenkte die Aufmerksamkeit der politischen Führung auf die Bedeutung der Fremdsprachen, die bisher im Schulunterricht noch nicht allgemein gelehrt wurden. In der Verordnung vom 16.09.1940 „Über den Unterricht in deutscher, englischer und französischer Sprache“ wurde die Einführung des Unterrichts in einer westlichen Fremdsprache in allen Mittelschulen von der 5. Klasse an bis zum Jahre 1943 angeordnet, weiterhin eine Erweiterung der Ausbildung von Fremdsprachenlehrern und für die Hochschulen das obligatorische Studium einer Fremdsprache für alle Studenten. An 50 Moskauer und Leningrader Schuler sollte bereits von der 3. Klasse an eine Fremdsprache unterrichtet werden. Erst im Jahre 9161 wurde eine grundlegende didaktisch-methodische Reform des Fremdsprachenunterrichts eingeleitet, die sich vor allem eine Verbesserung des Niveaus zum Ziel setzte.

Der seit dem Jahre 1940 amtierende Volkskommissar für das Bildungswesen der RSFSR, V.P.Potemkin (1878-1946), führte eine Reihe von Neuerungen ein, die eine Leistungssteigerung bezwecken sollten. Dazu gehörte unter anderem die mit dem Schuljahr 1943/1944 zuerst in Moskau, dann auch in anderen größeren Städten begonnene Einführung des getrennten Unterrichts für Jungen und Mädchen. Außerdem gab es einen Erlass verbindlicher „Regeln für die Schüler“, die in einem Schülerausweis abgedruckt waren und ständig bei sich getragen werden sollten. Drittens sollten die in Verbindung mit der Einführung der Reifeprüfung am Ende der Mittelschule die besten Schüler mit goldenen und silbernen Medaillen ausgezeichnet werden. Eine entsprechende Anordnung vom März 1944 stellte einen Katalog von Erziehungsmaßnahmen (Auszeichnungen, Belobigungen, Strafen) auf, der an die Schulideologie im zaristischen Russland erinnerte. In den Jahren nach dem Ende des 2.Weltkrieges wurden zahlreiche weitere Maßnahmen zur inneren Reglementierung des Schullebens getroffen, die das Bild einer umfassend verwalteten und durchgeplanten Schule vervollständigten.

In den Kriegsjahren wurden auch neue Schultypen geschaffen. Die nach Militaristen der napoleonischen Kriege und des Krimkriegs benannten Kadettenschulen waren ursprünglich nur für Kinder verdienter Offiziere bestimmt und nahmen bereits vom 8.-10. Lebensjahr Schüler zur Vorbereitung auf den Offiziersberuf in Armee und Flotte auf. Von zahlenmäßig größerer Bedeutung waren die 1943 und 1944 errichteten Schulen der Arbeiterjugend und Abendschulen der Landjugend. Beide Typen waren allgemeinbildende Schulen, die bereits berufstätigen Jugendlichen, die lediglich über eine vierjährige Grundschulausbildung verfügten, den Abschluss der Siebenjahresschule oder der zehnjährigen Mittelschule zu ermöglichen. Schon 1945/1946 wurden 348.000 Personen in den Schulen der Arbeiterjugend und 335.000 in den Schulen der Landjugend unterrichtet. Im Schuljahr 1955/1956 war die Zahl auf 1,4 Millionen in den Arbeiterschulen gestiegen, während die auf dem Lande mit 345.000 stagnierte.

Eine wichtige wissenschaftspolitische Entscheidung für die Pädagogik und das Bildungswesen wurde ebenfalls noch während des Krieges getroffen. Im Oktober 1943 erfolgte die Errichtung der Akademie der pädagogischen Wissenschaften der RSFSR in Moskau. Die Akademie stellte die zentrale erziehungswissenschaftliche Forschungs- und höchste Ausbildungsstätte der Sowjetunion dar. Ihr gehörten ca. 100 ordentliche und korrespondierende Mitglieder an. Die Aufgabe an die Akademie bezog sich von Anfang an auf alle wichtigen Gebiete der pädagogischen und psychologischen Wissenschaft, unter besonderer Berücksichtigung der Schulfächer. Ihr Gewicht bei der Vorbereitung bildungspolitischer Entscheidungen war in der Vergangenheit unterschiedlich stark und nahm erst in den 1960er Jahren erheblich zu.

Die Reformperiode Chruschtschows und das Ende der stalinistischen Bildungspolitik

Der XX. Parteitag und die Auswirkungen auf die Bildungspolitik

Nach ersten Versuchen zur Unterrichtsreform und zur Lenkung der Schulabsolventen in die benötigten Berufe wurde im Jahre 1956 eine breite Reformdiskussion in Gang gesetzt, die 1958 ihren Höhepunkt erreichte und in der Verabschiedung eines umfassenden Reformgesetzes gipfelte. Da diese Entwicklung von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre wesentliche Impuls dem unmittelbaren Eingreifen Chruschtschows in die bildungspolitischen Grundsatzfragen verdankte, erscheint es gerechtfertigt, von der Reformperiode Chruschtschows zu sprechen.

Schon auf dem im Oktober 1952 abgehaltenen XIX. Kongress der KPdSU – einige Monate vor dem Tode Stalins – zeichneten sich gewisse Veränderungen ab, die aber als kontinuierliche Weiterentwicklung und nicht als grundsätzliche Neuerungen gedacht waren. In den vom Parteitag angenommenen Direktiven für den 5. Fünfjahresplan wurden drei bildungspolitische Hauptziele verkündet:

  1. Bis zum Jahre 1955 sollte in den größeren Städten und Industriezentren die siebenjährige allgemeine Schulpflicht auf zehn Jahre erweitert werden. Bis zum Jahre 1960 sollten dann die Voraussetzungen für eine volle Verwirklichung der allgemeinen mittleren Bildung (Zehnjahresschule) in den restlichen Städten und auf dem Lande geschaffen werden.
  2. Es sollte mit der Verwirklichung des polytechnischen Unterrichts in der Mittelschule begonnen werden, damit später der Übergang zum allgemeinen polytechnischen Unterricht erfolgen könne.
  3. Die Entwicklung der allgemeinbildenden Schulen mit Unterricht am Abend sowie des Abend- und Fernstudiums an Hochschulen und mittleren Fachschulen sollte weiter vorangetrieben werden.

Damit war in groben Zügen der Rahmen für die weitere Entwicklung des Bildungswesens über den Tod Stalins hinaus abgesteckt. Ökonomische und pädagogische Überlegungen wirkten dabei bei den politischen Entscheidungen ebenso mit wie ideologische Momente. Demzufolge stellten die Reformen dieser Jahre einen vielschichtigen Prozess dar, in dem sich langfristige Zielsetzungen mit gegenwärtigen Problemen und deren Lösungsversuchen mischten.

Schon Anfang der 1950er Jahre wurde deutlich, dass ein Hauptziel der Kaderpolitik als erfüllt angesehen werden konnte: der erhöhte Bedarf der Hochschulen an gut vorbereiteten Abiturienten, die ein Studium aufnahmen, war gedeckt. Mit der Ausdehnung der zehnjährigen Schulausbildung wuchs nun die Zahl derjenigen, die nach Abschluss der Mittelschule keinen Studienplatz erhielten. Schon im Jahre 1954 gab es auf 276.000 Studienplätze 1.113.600 Bewerber; im Jahre 1958 standen 1.570.000 Abiturienten lediglich 215.000 Zulassungen gegenüber. Diese Diskrepanz veranlasste im Jahre 1954 die Hauptverwaltung der Arbeitsreserven dazu, einen neuen Schultyp, die Technischen Lehranstalten zu schaffen, die speziell für Mittelschulabsolventen zur Ausbildung qualifizierter Facharbeiter bestimmt waren. Zwischen 1955 und 1963 wurden auf diesem Wege 744.000 Personen ausgebildet. Ebenfalls im Jahre 1954 erging eine Verordnung des Ministerrats der UdSSR, in der weitere Maßnahmen zur Eingliederung der Mittelschulabsolventen in die Produktion, z.B. durch die Teilnahme an verschiedenen beruflichen Kursen, getroffen wurden. Drei Jahre später wurden diese Bestimmungen noch erweitert.

Auf dem Juli-Plenum des ZK der Partei von 1955 sprach N.A. Bulganin davon, dass man „an der Schwelle einer neuen wissenschaftlichen-technischen und industriellen Revolution stehe, die in ihrer Bedeutung jene industrielle Revolution weit übertrifft, die mit dem Erscheinen von Dampf und Elektrizität verbunden waren.“ Die hier angedeutete Perspektive der wissenschaftlich-technischen Revolution, aus der neue und höhere Qualifikationsanforderungen erwuchsen, gewann in der Folgezeit ein immer größeres Gewicht für die Reform der Bildungsziele und –inhalte in der sowjetischen Schule.

Außerdem erfuhr die Idee der polytechnischen Bildung eine Wiederbelebung. Dieses zentrale Thema der kommunistischen Pädagogik war auch nach 1937, als die praktische polytechnische Unterweisung in den Schulen aufgehoben wurde, nicht aus den theoretischen Erörterungen verschwunden; die Unterrichtspraxis wurde davon jedoch kaum betroffen. In den Jahren 1954 und 1955 wurden jedoch neue Stundentafeln und Lehrpläne für die allgemeinbildenden Schulen eingeführt, in denen zum ersten Mal seit achtzehn Jahren wieder Elemente der polytechnischen Bildung enthalten waren (Werkunterricht in den Klassen 1-4, praktische Arbeiten in Schulwerkstätten und Schulgärten in der 5-7 Klasse sowie Praktika zur Maschinenkunde, Elektrotechnik und Landwirtschaft in der 8-10 Klasse).

Die pädagogischen Theoretiker, die sich um eine Reaktivierung der polytechnischen Bildung bemühten, argumentierten für eine mit Hilfe des polytechnischen Unterrichts angestrebte stärkere „Verbindung der Schule mit dem Leben“. Chruschtschow gab diesem Stichwort, das zum Motto der Reformen werden sollte, auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 eine deutliche Wendung ins Praktische: Er bemängelte, dass „der Unterricht nicht lebensnah genug ist, daß die Absolventen der Schule nur ungenügend auf eine praktische Tätigkeit vorbereitet sind. Mann muß schneller von Worten zu Taten übergehen.“

Die Schüler sollten nicht nur Kenntnisse über Technik und Produktion erwerben, sondern systematisch zur Arbeit in Betrieben, Kolchosen und Sovchosen herangezogen werden; entsprechend sollten die Lehrpläne im Sinne einer stärkeren Produktionsspezialisierung umgestaltet werden. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Masse der Schulabsolventen, die nicht studieren konnte, sondern gezwungenermaßen eine Arbeit aufnehmen musste, auf diese praktische Tätigkeit schon in der Schule vorbereitet werden.

Zwischen 1956 und 1958, in der Anlaufphase der Reform, wurde in der RSFSR zunächst in 585 Versuchsschulen, dann in einem Viertel aller Schulen, ein erweiterter polytechnischer lehrplan eingeführt, der Elemente einer speziellen Berufsorientierung enthielt.

Auf dem Parteitag von 1956 setzte mit den Enthüllungen Chruschtschows über Stalins Verbrechen und der Kritik an seinem Personenkult die von der Partei gelenkte und kontrollierte Entstalinisierung ein, die in unterschiedlichem Ausmaß die verschiedenen kulturpolitischen Bereiche erfasste. Auf der Grundlage des ZK-Beschlusses vom 30.06.1956 unterzogen sich auch die leitenden pädagogischen Instanzen der Kritik und Selbstkritik. So hieß es zum Beispiel in einem ausführlichen Redaktionsartikel der führenden Zeitschrift „Die Sowjetpädagogik“ vom September 1956: „Unter den Ursachen, die eine Entfremdung der Pädagogik vom Leben bewirkten, spielt der in ihr verbreitete Personenkult Stalins zweifellos eine wichtige Rolle. Infolge dieses Kultes wurden in der pädagogischen Wissenschaft die lebendigen Ideen gefesselt und zum Verstummen gebracht, es entstand eine dem Bolschewismus fremde Furcht davor, auf schöpferische Weise neue Fragen zu lösen. (…) Als Folge einer abergläubischen Hochachtung vor der Autorität Stalins erfuhren Dogmatismus und Buchstabengelehrtheit weite Verbreitung. Viele pädagogische Theoretiker verlernten zu experimentieren und selbständig zu denken, sie hatten Angst, bestimmte wissenschaftlichen Positionen einzunehmen.“

Die in den Entstalinisierungsappellen enthaltene Aufforderung, die neuen Probleme auf schöpferische Art zu lösen, bewirkte zweifellos eine gewisse Befreiung von alten Denkschemata und eine größere Selbständigkeit bei vielen Theoretikern und Praktikern der Erziehung. In den Schullehrplänen und Lehrbüchern wirkte sich die Kritik an Stalin vor allem im Geschichtsunterricht, im Literatur- und Biologieunterricht aus. Allerdings trat nach der ersten Diskussionswelle 1956/1957 die grundsätzliche kritische Erörterung des Stalin-Erbes im Bereich des Bildungswesens bald fast ganz hinter den sich überstürzenden Reformplänen Chruschtschows zurück.

Die Abkehr von Stalin auf dem XX. Parteitag wurde von einem großen Teil der literarischen Intelligenz mit der Hoffnung verbunden, dass nun die Stalinzeit und mit ihr ihre literaturpolitischen Methoden endgültig überwunden seien. Doch diese Hoffnungen trogen. Die Literatur konnte sich zwar freier entwickeln, aber es erwies sich immer wieder, dass Chruschtschow mit der Distanzierung von Stalin nur so weit gehen wollte, als ihm daraus kein politischer Schaden erwuchs.

Der XX. Parteitag löste eine neue Belebung in der Literatur aus, die als „zweites Tauwetter“ bezeichnet wurde. Aber der ungarische Aufstand im Jahre 1956 und die auf das „zweite Tauwetter“ folgenden Reaktionen der Konservativen, die an die Partei appellierten, eine härtere Linie einzuschlagen, führten schon im Herbst 1956 zu einer neuen Abkühlung. Die Konservativen befürchteten von den nonkonformen Literaten, die die „Wahrheit“ und „Aufrichtigkeit“ zum Kriterium der Literatur machten und demzufolge, wo sie konnten, harte Kritik an Überresten des Stalinismus übten, dass die eines Tages auch Grundprinzipien des Sowjetstaates, z.B. das Machtmonopol der KPdSU in Frage stellen könnten.

Nach der Abrechnung Chruschtschows mit Stalin ging die Entwicklung zur Meinungsvielfalt weiter; das Buchsortiment stieg nach dem XX. Parteitag schnell an; im Jahre 1956 erschien die im Jahre 1941 eingestellte Konsomol-Zeitschrift „Junge Garde“ wieder als Monatsschrift. Als spontane Publikationen der Nonkonformen konnten die beiden Sammelbände „Literarisches Moskau“ und – von nun an alljährlich und in immer mehr Städten- interessante Bände mit dem Titel „Tag der Poesie“ erscheinen. Im November 1956 wurde durch einen ZK-Beschluss die Herausgabe einer literaturwissenschaftlichen Zeitschrift verfügt, die ab dem Jahre 1957 als „Fragen an die Literatur“ erschien. Die Tendenz zur Verwissenschaftlichung, die sich auf anderen Gebieten durch die Übernahme früher verpönter naturwssenschaftlichen Theorien (Quantenmechanik, Relativitätstheorie) und moderner Forschungszweige (Kybernetik, Soziologie) zeigte, machte sich auch in der Literaturwissenschaft durch das größere Bemühen um historische Objektivität und methodische Modernisierung bemerkbar. Seit dem Jahre 1957 erschien in Leningrad die literaturhistorische Zeitschrift „Russische Literatur“.

Die Schul- und Hochschulreform von 1958/1959

Auf dem XIII. Kongress des Komsomol im April 1958 trug Chruschtschow zum ersten Mal ausführlich in der Öffentlichkeit die Gründe und Pläne für eine umfassende Reform des Bildungswesens vor. Ein Zeichen des neuen politischen Führungsstils im Gegensatz zur Stalin-Ära war die von ermutigte, lebhaft einsetzende öffentliche Diskussion mit kontroversen Standpunkten über die Kernpunkte der Reform. Die Diskussionen erreichten ihren Höhepunkt, nachdem Chruschtschow in eigenen Memorandum vom 19.09.1958 noch einmal ausführlich seine Vorschläge zur „Festigung der Verbindung der Schule mit dem Leben und zur weiteren Entwicklung des Volksbildungssystem im Lande“ dargelegt und dem ZK der Partei zugeleitet hatte. Daraufhin wurden vom ZK der KPdSU und vom Ministerrat der UdSSR insgesamt 47 Thesen zur Bildungsreform verabschiedet und am 16. November 1958 veröffentlicht. Sie bildeten die Grundlage für das am 24.12.1958 vom Obersten Sowjet der UdSSR beschlossene Gesetz. In den Monaten März bis Mai 1959 wurden dann in den einzelnen Unionsrepubliken entsprechende Gesetze – mit gelegentlich geringfügigen Unterschieden, für die jeweilige Republik verabschiedet.

Der Grundgedanke der Reform bestand gemäß der These 11 darin, „die gesamte Jugend von einem gewissen Alter an in die gesellschaftlich nützliche Arbeit einzubeziehen und den Unterricht in den Grundlagen der Wissenschaft mit produktiver Arbeit in Industrie und Landwirtschaft zu verbinden. Daraus folgt auch die Notwendigkeit, in der Mittelschule ein richtiges Verhältnis zwischen der allgemeinen, polytechnischen und beruflichen Bildung herzustellen.“

In seiner Rede auf dem Komsomolkongress drückte sich Chruschtschow deutlicher aus: „Jeder Junge und jedes Mädchen muß wissen, daß sie sich beim Lernen in der Schule auf die Arbeit vorbereiten müssen, um für die Menschen und die Gesellschaft nützliche Werte zu schaffen. Für jeden darf es, unabhängig von der Stellung der Eltern, nur einen Weg geben, zu lernen und, nachdem er ausgelernt hat, zu arbeiten.“

Die angestrebte Verbindung von Bildung und Produktion bekam neben dem erwähnten arbeitsökonomischen Zweck und der bildungstheoretischen Begründung eine starke gesellschaftliche Note. Chruschtschow meinte auf diese Weise die soziale Entfremdung zwischen der sowjetischen Intelligenz und der Masse der Produktionsarbeiter und Kolchosbauern überwinden zu können. Er schlug folgendes vor: „Meiner Ansicht sollten alle Schüler ohne Ausnahme, nachdem sie die siebente oder achte Klasse beendet haben, in die gesellschaftlich nützliche Arbeit in den Betrieben, Kollektivwirtschaften usw. einbezogen werden. Ob in der Stadt, im Dorf oder in der Arbeitersiedlung, im ganzen Land müssen alle Schulabgänger in die Produktion gehen; keiner soll darum herumkommen. Das wird erstens demokratisch sein, da für alle Bürger gleiche Bedingungen geschaffen werden: weder die Stellung der Eltern noch deren Gesuche werden irgend jemanden von der produktiven Arbeit befreien; zweitens wird das eine ausgezeichnete Schule der Erziehung unserer gesamten Jugend im Geiste der heldenhaften Traditionen der Arbeiter- und Bauernklasse sein.“

Chruschtschow versuchte in seiner Bildungspolitik, den dialektischen Zusammenhang der ökonomischen und pädagogischen Aufgabe deutlich zu machen, der seit dem Programm der sozialistischen Kulturrevolution als Lenins leitendes Prinzip der sowjetischen Erziehungs- und Bildungspolitik war. Auf dem Allrussischen Lehrerkongress im Juli 1960 führte er aus: „Wir lösen gegenwärtig zwei Aufgaben: die Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus und die Erziehung des neuen Menschen. Im Grunde genommen ist das ein einheitlicher Prozeß. Bleiben wir mit der Bildung und Erziehung des Sowjetmenschen zurück, dann wird unvermeidlich der gesamte Aufbau des Kommunismus ins Stocken geraten.“

Unter Chruschtschow wurde der Versuch unternommen, die revolutionären Potenzen des ideologischen Fernziels zu reaktivieren und die Vision des Kommunismus zu einer unmittelbar motivierenden politischen Kraft werden zu lassen. Das neue Parteiprogramm der KPdSU, das auf dem XXII. Parteitag im Oktober 1961 verabschiedet wurde, enthielt einen Zwanzigjahresplan, an dessen Ende die klassenlose kommunistische Gesellschaft stehen sollte. Als wichtigste Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung des kommunistischen Bewusstseins nannte das Programm sieben Punkte:

  1. Formung einer wissenschaftlichen Weltanschauung,
  2. Erziehung zur Arbeit,
  3. Entwicklung und Sieg der kommunistischen Moral,
  4. Entwicklung des proletarischen Internationalismus und des sozialistischen Patriotismus,
  5. allseitige und harmonische Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit,
  6. Überwindung der Überbleibsel des Kapitalismus im Bewusstsein und Verhalten des Menschen,
  7. Entlarvung der bürgerlichen Ideologie.

Die durch das Unions- und die Republikgesetze beschlossenen Reformen erstreckten sich auf die Struktur des Bildungswesens und auf die Inhalte und Methoden von Erziehung, Unterricht und Studium. Zwischen 1959 und 1963 wurde der gesetzlich vorgeschriebene Rahmen durch zahlreiche weitere Verordnungen und Instruktionen auszufüllen gesucht. Die sowjetischen Schulen und Hochschulen erlebten eine ähnliche Phase der Experimente wie um das Jahr 1930, wenn auch in einem zahlenmäßig größerem Umfang.

Das Gesetz vom 24.12.1958 verlängerte die allgemeine Schulpflicht von sieben auf acht Jahre; die Umstellung sollte innerhalb von fünf Jahren erfolgen. Die Stundentafel der neuen Achtjahresschule wies neben den herkömmlichen Unterrichtsfächern 15,3% der zur Verfügung stehenden Zeit für den Werkunterricht aus. Diese Arbeitserziehung sollte auf den polytechnischen Produktionsunterricht vorbereiten, der sich innerhalb der reformierten Mittelschule abspielte. Sie bekam jetzt den Namen „allgemeinbildende polytechnische Arbeits-Mittelschule mit Produktionsunterricht“ und wurde um ein Jahr, d.h. auf insgesamt elf Schuljahre verlängert. Ein Drittel der wöchentlichen Unterrichtszeit in den Klassen 9 bis 11 war nunmehr technischen Fächern, theoretischem und praktischem Produktionsunterricht sowie der „produktiven Arbeit“ vorbehalten. Die Schüler gingen meistens an zwei Tagen in der Woche in Fabriken und auf Baustellen, arbeiteten in landwirtschaftlichen Betrieben mit oder erfüllten in Schulwerkstätten bestimmte Produktionsaufträge der Industrie. Sie wurden für ihre Arbeit nach den bestehenden Normen und Lohntarifen bezahlt. Die Absolventen der Mittelschule erhielten, gemäß der neuen Schulordnung vom 29.12.1959, zusammen mit dem Abiturzeugnis „ein Zeugnis über die erworbene Qualifikation in dem gewählten Beruf“

Als den besten Weg zum Erwerb einer vollständigen mittleren Schulbildung hatte Chruschtschow im Herbst 1958 die Schulen der Arbeiter- und Landjugend bezeichnet, die im folgenden Jahr den Namen „allgemeinbildende Abend-bzw.-Schicht-Mittelschulen“ erhielten. Aus den früheren Schulen für eine nachholende Bildung sollte der Prototyp eines produktionsverbundenen Ausbildungsganges werden, der allgemeine und berufliche Elemente miteinander verband und die Trennung zwischen „Schule und Leben“ am besten zu überwinden versprach. Dieser Schultyp expandierte zwischen 1958/1959 und 1962/1963 am stärksten; die Schülerzahl stieg von 2,32 Millionen auf 3,96 Millionen, wovon allerdings nur 1,88 Millionen die drei Oberklassen besuchten.

Neben den drei genannten Hauptformen des allgemeinbildenden Schulwesens wurden durch die Reformen von 1958/1959 drei weitere Erziehungseinrichtungen in besonderem Maße weiter ausgebaut:

  1. Die Vorschulerziehung,
  2. Die Internatsschulen,
  3. Die Ganztagsgruppen oder –schulen.

Die bisher getrennt bestehenden und verwalteten Kinderkrippen (bis zu drei Jahren) und Kindergärten (3-7 Jahre) wurden zu einer gemeinsamen Vorschuleinrichtung für Kinder zusammengelegt und den für das Schulwesen zuständigen Behörden unterstellt.

Die Internatsschulen wurden schon im Jahre 1956 gegründet. In gewisser Hinsicht verkörperten sie das Zukunftsmodell der angestrebten Erziehung im entwickelten Stadium der kommunistischen Gesellschaft.

In der Akademie der pädagogischen Wissenschaften wurde geschätzt, dass bis zum Jahre 1980 40 Millionen Kinder in Vorschuleinrichtungen und 55 bis 60 Millionen Schüler in Internats- und Ganztagsschulen untergebracht sein würden.

Im Bereich der beruflich-technischen Bildung brachte das Reformgesetz von 1958 vor allem eine organisatorische Vereinheitlichung mit sich. Die verschiedenen Anstalten im System der staatlichen Arbeitsreserven sollten im Laufe von drei bis fünf Jahren in städtische beruflich-technische Tages- und Abendschulen mit ein- bis dreijähriger Dauer und in ländliche Schulen desselben Typs mit ein- bis zweijähriger Unterrichtszeit umgewandelt werden. Die bisherige Hauptverwaltung der Arbeitsreserven wurde im Jahr 1959 in „Staatskomitee des Ministerrats der UdSSR für beruflich-technische Bildung“ umbenannt und in ein allgemeines Leitungs- und Koordinierungsorgan verwandelt, während die einzelnen Republikbehörden größere Vollmachten erhielten. Da durch die Reform die bisherige allgemeinbildende Mittelschule ebenfalls Aufgaben einer beruflichen Ausbildung übertragen bekam, blieb die Frage offen, wie sich in Zukunft das Verhältnis beider Ausbildungsbereiche zueinander gestalten würde.

Für die sowjetischen Hochschulen und die mittleren Fachschulen bedeutete die Reform von 1958/1959 ebenfalls einen erheblichen Einschnitt, wie für das allgemeinbildende Schulwesen. Im Prinzip wurde auch hier die Verbindung von Studium und gesellschaftlich nützlicher Arbeit proklamiert, allerdings mit dem Zusatz, dass „die konkreten Formen der Verbindung der Ausbildung mit der Praxis, mit der Arbeit je nach der Fachrichtung der Hochschule, nach der Zusammensetzung der Studentenschaft sowie nach den nationalen und lokalen Besonderheiten festgelegt werden“

Eine wichtige Veränderung betraf die Aufnahmebestimmungen zum Hochschulstudium. Hier waren bereits vor dem Reformgesetz seit dem Jahre 1955 schrittweise die Zulassungsbedingungen dahingehend geändert worden, dass „in erster Linie Personen in die Hochschulen aufgenommen werden, die eine mindestens zweijährige Arbeitspraxis in der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion oder in anderen Zweigen der Volkswirtschaft und Kultur abgeleistet und sich bei dieser Arbeit bewährt haben. Das gleiche Recht wird den aus der Reihe der Sowjetarmee und der Kriegsflotte Demobilisierten gewährt.“

Diesen Bewerbern wurden bis zu 80% der freien Studienplätze zur Verfügung gestellt, gleichzeitig wurden die Privilegien der Gold- und Silbermedaillenträger unter den Abiturienten vermindert. In manchen Studienfächern wurden die Neuzulassungen ausnahmslos von einer zweijährigen Arbeitstätigkeit abhängig gemacht. Von 1957 bis 1960 stieg der Anteil der für ein Studium zugelassenen Studenten, die über praktische Arbeitserfahrungen verfügten, von 28 auf 59%.

Ähnlichen sozialpolitischen Motiven entsprang auch die im September 1959 geregelte „Kommandierung“ ausgewählter „Praktiker“ zum Studium durch die Betriebe, Kolchosen und Behörden sowie die Bevorzugung des Abend- und Fernstudiums an den Hochschulen und Fachschulen. Diese Studienform rückte in der Prioritätenskala nunmehr an die erste Stelle. Es war beabsichtigt, dass einige Studiengänge überwiegend im Fernunterrichtssystem absolviert werden sollten, andere mit dem Tagesstudium begonnen und anschließend während der praktischen Produktionstätigkeit im Abendstudium abgeschlossen wurden.

Eine Verordnung vom 02.07.1959 legte umfassende Vergünstigungen (Beurlaubung mit Lohnfortzahlung) für die einzelnen Abschnitte des Fern- und Abendstudiums fest. Im Jahre 1960 gab es 30 selbständige Abend- und Fernhochschulen sowie 880 Fern- und Abendfakultäten an den regulären Hochschulen. Der kontinuierliche Anstieg der Abend- und Fernausbildung in den Hochschulen, der schon Anfang der 1950er Jahre beträchtlich war, führte seit 1959 dazu, dass im Hochschulwesen die Gruppe der Fern- und Abendstudenten die der Vollzeitstudenten überholte und an den mittleren Fachschulen knapp die Hälfte betrug.

Die Bevorzugung des Fern- und Abendstudiums, die durch die Reform bewirkt wurde, sollte auch der angestrebten stärkeren „Verbindung des Studiums mit der Produktion“ dienen. Dieser Studienweg schien am ehesten zu gewährleisten, dass die von Chruschtschow beklagte Entfremdung der Intelligenz von den Werktätigen aufgehoben wurde und zugleich eine an den berufspraktischen, konkreten Bedürfnissen der Wirtschaftszweige orientierte Ausbildung erfolgte. Für alle Studienrichtungen, nicht nur für die technischen oder landwirtschaftlichen, wurden Zahl und Dauer der Produktionspraktika erhöht und in den Studienablauf eingebaut. In der neuen „Ordnung für die Hochschulen der UdSSR“ vom 21.03.1961, die das Statut aus dem Jahre 1938 ablöste, wurden die daraus resultierenden Veränderungen ebenfalls berücksichtigt. Die didaktischen und organisatorischen Probleme, die bei der Durchführung auftraten, gaben jedoch zu ständigen Klagen und neuen Vorschriften Anlass. Rund fünf Jahre nach Beginn der Reform musste sich eine gemeinsame Verordnung von ZK und Ministerrat vom 09.05.1963 mit den bestehenden Mängeln auseinandersetzen.

Die engste Verbindung von Berufsarbeit und Studium verkörperten die Technischen Betriebshochschulen, deren Errichtung an technisch führenden Industriebetrieben Ende 1959 beschlossen wurde. Die Technischen Betriebshochschulen sollten vor allem eine betriebseigene Intelligenz heranbilden, indem sie „Ingenieure aus den Reihen des betreffenden Betriebes ausbilden, und zwar in der Weise, daß die theoretischen Kenntnisse der Studierenden mit ihrer produktiven Arbeit im Betrieb auf ihrem Fachgebiet (…) während der ganzen Ausbildung und unter breiter Ausnutzung der Produktions- und Laboratoriumsbasen verbunden werden.“

Im Jahre 1963 studierten auf diese Weise an den 5 bestehenden Fachhochschulen etwa 7.000 Personen.

Die Veränderungen in der Wissenschaftspolitik, die sich auf dem XX. Kongress der KPdSU angedeutet hatten, konzentrierten sich im Jahre 1961 auf eine Reihe von politischen und organisatorischen Maßnahmen. Sie besaßen die Qualität einer historischen Zäsur in der wissenschaftspolitischen Entwicklung. Dazu kam, dass es sich nicht nur um organisatorische Maßnahmen handelte, sondern dass durch neue Definitionsversuche der Rolle der Wissenschaft ein Funktionswandel begründet wurde, der dazu berechtigte, die 1960er Jahre al eine eigene Periode der sowjetischen Wissenschaftspolitik aufzufassen.

Seine prägnanteste Formulierung fand dieser Funktionswandel der Wissenschaft in dem neuen Programm der KPdSU, das am 30.10.1961 vom XXII. Kongress der KPdSU angenommen wurde. Im Kapitel über die „Aufgaben der Kommunistischen Partei der Sowjetunion beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft“ wurde im Zusammenhang mit den Aufgaben der Partei beim wirtschaftlichen Aufbau, bei der Schaffung und Entwicklung der materiell-technischen Basis des Kommunismus auch zur Industrie Stellung genommen. Dabei wurde festgestellt, dass die „maximale Beschleunigung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts“ zu den wichtigsten Aufgaben der sowjetischen Bevölkerung gehörte. Über die Rolle der Wissenschaft hieß es dann: „Die Partei wird alles tun, um beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft der ‚Wissenschaft’ noch mehr Gewicht zu verleihen, um Forschungen zu fördern, durch die neue Möglichkeiten zur Entwicklung der Produktivkräfte entdeckt werden, und den neuesten wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen auf jede Weise und schnellstens Eingang in die Praxis zu verschaffen, die Forschungs- und Versuchsarbeiten, namentlich unmittelbar in der Produktion, entschieden zu intensivieren und die wissenschaftliche und technische Information sowie das ganze System der Auswertung und Weiterleitung der besten Erfahrungen des In- und Auslands mustergültig zu gestalten. Die Wissenschaft wird in vollem Maße zu einer unmittelbaren Produktivkraft.“

Die Formel von der Wissenschaft als einer unmittelbaren Produktivkraft hat während der 1960er Jahre in der wissenschaftspolitischen Diskussion als Leitmotiv gewirkt. In der Theorie markierte sie für die Sowjetunion den Übergang von der partiellen zur systematischen Wissenschaftspolitik, als deren Kennzeichen die Leitung der wissenschaftlichen Forschung im Gesamtmaßstab der Sowjetunion anzusehen ist. Die enge Verbindung der Wissenschaft mit Technik und Produktion fand auch darin ihren Ausdruck, dass man in diesem Zusammenhang von einem „System Wissenschaft-Produktion“ sprach. Inhaltlich ging es darum, sich von der Konzeption einer in mehrere, vertikal gegliederte Bereiche geteilten Durchführung der wissenschaftlichen Forschung, wie sie sich organisatorisch im Laufe der 1930er Jahre herausgebildet hatte, zu trennen. Auch die Teilung zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und Entwicklung erschien nach dieser neuen Definition nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen war das „System Wissenschaft-Produktion“ aufzufassen als ein einheitlicher Innovationsprozess, der von der ersten theoretischen Hypothese über die verschiedenen Stadien der Entwicklung und Erprobung bis hin zum fertigen Produkt oder Verfahren einen in sich zusammenhängenden Vorgang bildete.

Dieser neuen Auffassung standen nicht nur organisatorische Schwierigkeiten entgegen, sondern auch Eigentümlichkeiten der sowjetischen Wirtschaftsverwaltung, die sich unmittelbar aus der sozialistischen Gesellschaftsordnung ergaben. Die Einführung neuer Verfahren oder Produkte in der Produktion stieß nicht selten auf den Widerstand in den Betrieben, denen primär nicht an Gewinnmaximierung, sondern an Planerfüllung gelegen sein musste. Es gewannen daher Überlegungen die Oberhand, wie die Sicherung der Verbindung zwischen wissenschaftlicher Forschung und der Einführung ihrer Ergebnisse in den Produktionsprozess zu gewährleisten sei: dies machte den Gegenstand der wissenschaftspolitischen Diskussion in den 1960er Jahren in der Sowjetunion aus.

Nach Stalins Tod wurden die kulturellen und wissenschaftlichen Austauschprogramme wieder belebt. Zunächst wurden systematisch mit allen volksdemokratischen Ländern Abkommen über den wissenschaftlichen Austausch geschlossen. Der Hochschulbereich und der wissenschaftlich-technische waren allgemein durch Sonderabkommen gedeckt. Die Akademie der Wissenschaften der UdSSR hat in der Regel selbständige Abkommen mit analogen Institutionen anderer Länder abgeschlossen. Partner waren unter anderem die Royal Society, National Academy of Sciences of the USA, American Council of Learned Societies und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Die zum Zuständigkeitsbereich des Staatskomitees für Wissenschaft und Technik gehörende angewandte Forschung, insbesondere die Ingenieurswissenschaften, waren vom individuellen Austausch ausgeschlossen. Teils unmittelbar von der westlichen Industrie, teils von staatlichen Stellen wurden Gruppeninformationsreisen vereinbart.

Zahlenmäßig das größte Gewicht hatte der Austausch mit dem Ministerium für Hochschul- und mittlere Fachschulbildung der UdSSR, dem alle Universitäten und Hochschulen unterstanden. Es handelte sich nicht um einen Studentenaustausch, da von sowjetischer Seite aus lediglich Hochschulabsolventen, bevorzugt Aspiranten, die ihre Dissertation vorbereiteten, entsandt wurden. Von sowjetischer Seite aus wurden etwa 80% qualifizierte Nachwuchswissenschaftler der technischen und naturwissenschaftlichen Fächer entsandt, die eine Fortbildung in aktuellen Schwerpunktgebieten anstrebten. Neben dem langfristigen Austausch wurde ein kurzfristiger für Hochschullehrer durchgeführt. Der Austausch von Wissenschaftlern bildete für die Sowjetunion insbesondere im ökonomisch-technischen Bereich ein großes Anliegen. Das von der KPdSU gesetzte Ziel, „auf allen Hauptgebieten die führenden Positionen in der internationalen Wissenschaft einzunehmen“, prägte die Struktur (Entsendungssystem, Ablehnung und Begrenzung westlicher Anträge) sowjetischer internationaler Wissenschaftspolitik.

Die Revision der Chruschtschow-Reform

Am 13.08.1964 veröffentlichte die sowjetische Presse eine gemeinsame Verordnung des ZK und des Ministerrats „Über die Änderung der Schulzeit in den allgemeinbildenden polytechnischen Arbeits-Mittelschulen mit Produktionsunterricht.“ Hinter der scheinbar bloß schulorganisatorischen Maßnahme einer Verkürzung der Unterrichtsdauer von elf wiederum nur zehn Jahre verbarg sich in Wirklichkeit der Anfang einer wichtigen Revision der Schulreform aus dem Jahre 1958. Durch den zwei Monate später, im Oktober 1964, erzwungenen Rücktritt Chruschtschows von seinen Partei- und Staatsämtern trat diese Maßnahme noch deutlicher als ein Wendepunkt der Schulpolitik hervor.

Auf der Mitte August 1964 tagenden, jährlich stattfindenden Gesamtrussischen Volksbildungskonferenz, erläuterte der Minister für das Bildungswesen der RSFSR, E. I. Afanesenko, die angekündigten neuen Maßnahmen. Er stellte fest, dass „die Erfahrung von fünf Jahren gezeigt hat, daß die Verlängerung der Unterrichtsdauer in der Mittelschule um ein Jahr, das im allgemeinen für den Produktionsunterricht verbraucht wurde, sich in der Mehrzahl der Fälle nicht bewährt hat: der Produktionsunterricht verwandelte sich infolge des Fehlens richtiger Bedingungen nicht selten als eine nutzlose Zeitvergeudung. Dieser Stand der Dinge rief bei den Schülern, ihren Eltern und in der Öffentlichkeit ernste Unzufriedenheit hervor.“

Seit Mitte 1963 hatte sich schon eine Kritik an den Mängeln der Berufsausbildung in der Mittelschule artikuliert. In der RSFSR empfahl schon im Herbst 1963 der Volkswirtschaftsrat eine Kürzung der Schulzeit, andere Republiken schlossen sich dem an.

Von entscheidendem Einfluss waren die bedenken der höchsten wissenschaftlichen Instanz, der Akademie der Wissenschaften, gegen eine Fortführung des Chruschtschow-Experimentes. Schon im Jahre 1958 hatten bekannte Mathematiker und Naturwissenschaftler die Befürchtung geäußert, dass durch die obligatorische Einführung einer zeitraubenden praktischen Berufsvorbereitung besonders diejenigen Schüler in ihrer Entwicklung gehemmt würden, deren wissenschaftliche Begabung deutlich erkennbar war und aus denen der wissenschaftliche Nachwuchs hervorging. Die Entwicklung seit dem Jahre 1958 gab diesen geäußerten Befürchtungen Recht. Die allgemein festgestellte Tendenz einer Niveausenkung in den technischen Fächern, die besonders bei den Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen auftrat, wurde vor allem auf die Überlastung der Schüler durch den Produktionsunterricht zurückgeführt.

Andererseits blieben in den meisten Fällen die von der Reform erhofften positiven Ergebnisse für eine bessere Berufsorientierung ebenfalls aus. Wie veröffentlichte soziologische Studien zeigten, ergab sich nur in einer geringeren Zahl der Fälle eine positive Korrelation zwischen den am Ende der Schulzeit erworbenen Berufsqualifikationen und der danach von den Jugendlichen ergriffenen beruflichen Tätigkeit. Somit erwies sich sowohl der aus planökonomischen als auch aus pädagogischen Überlegungen der Versuch, von Seiten der Schule die Mängel der Arbeitskräftepolitik zu korrigieren, als ein Fehlschlag. Anfang März 1965 konstatierte der damalige Präsident der Akademie der pädagogischen Wissenschaften, I.A. Kairov, als Fazit der Reform: „Die Erfahrung hat überzeugend gezeigt, daß sich die Berufsausbildung der Schüler im Rahmen der Mittelschule nicht bewährt hat. Unter den Bedingungen unseres Landes erwies sich es als untauglich, das territoriale Prinzip bei der Erfassung der Schüler durch die allgemeinbildende Schule mit der Planung und Organisation der Berufsausbildung in Einklang zu bringen und dabei die Bedürfnisse der jeweiligen Wirtschaftsbezirke an Kadern in Rechnung zu stellen. Die persönlichen Interessen und Neigungen der Schüler wurden dabei fast gar nicht berücksichtigt.“

Aufgrund der Verordnung vom August 1964 sollten die elften Klassen mit Ende des Schuljahres 1965/1966 auslaufen und Lehrpläne sowie Stundentafeln entsprechend verändert werden. Nach der neuen Regelung wurde der Anteil des Produktionsunterrichts in den Klassen 9 und 10 um eine Viertel der Wochenstundenzahl herabgesetzt. Im März 1966 wurde die obligatorische Berufsausbildung in den Mittelschulen auch formell aufgehoben.

Der Fehlschlag der Reformen von 1958/1959 auf einem zentralen Gebiet der kommunistischen Bildungstheorie, wie ihn die Verbindung von Unterricht und Produktion darstellte, führte zu einer Neueinschätzung der Bildungsaufgaben der Mittelschule und einer gründlichen Überarbeitung der Lehrpläne.

Im Oktober 1964 wurde eine zentrale Kommission zur Bestimmung des Inhaltes der Bildung in der allgemeinbildenden Mittelschule ins Leben gerufen, der Wissenschaftler der verschiedenen Disziplinen, Unterrichtsmethodiker und leitende Funktionäre des Bildungswesens unter Vorsitz des Vizepräsidenten der Akademie der pädagogischen Wissenschaften, A. I. Markusevic, angehörten und der 15 Fachkommissionen angeschlossen waren. Innerhalb von zwei Jahren wurden durch eine in der Geschichte der sowjetischen Schule bisher einmalige Kooperation von Wissenschaftlern, Schulpraktikern und Politikern neue Lehrpläne für den Unterricht der Klassen 1 bis 10 erarbeitet. Die neuen Lehrpläne sollten „die modernsten Errungenschaften der Wissenschaft, Technik und Kultur vollständiger und organischer zum Ausdruck bringen als bisher und die theoretischen Grundlagen im Unterricht verstärken.“

Die polytechnische Bildung erfuhr eine didaktische Differenzierung, die aber nicht verhindern konnte, dass sie an den Rand des Unterrichts gedrängt wurde.

Den Schlusspunkt der ca. zehnjährigen Schulreformperiode bildete die gemeinsame Verordnung des ZK und des Ministerrats vom 10.11.1966 „Über Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der Arbeit der allgemeinbildenden Mittelschule“. Das Anliegen war eine Rationalisierung der Reformschritte, eine bessere wissenschaftliche Begründung und einer größeren Stetigkeit des Innovationsprozesses. Die Hauptpunkte der Verordnung betrafen die Verwirklichung der zehnjährigen Schulbildung für alle Jugendlichen bis zum Jahre 1970, die gleichzeitige Einführung der neuen Lehrpläne, eine Differenzierung des Unterrichts in den oberen Klassen sowie die Verbesserungen in der Lehrerbildung und in der materiellen Ausstattung der Schulen.

Der durch die Verordnung vom 10.11.1966 markierte Einschnitt wurde auch dadurch deutlich, dass im August 1966 ein zentrales Ministerium für das Bildungswesen der UdSSR geschaffen wurde, das erste gesamtstaatliche Ministerium für das allgemeinbildende Schulwesen und der Lehrerausbildung seit der Oktoberrevolution. Gleichzeitig erfolgte die Umwandlung der Akademie der pädagogischen Wissenschaften der RSFSR in eine Unionsakademie.

Beide Maßnahmen verdeutlichen die Absicht, die sowjetische Bildungsplanung koordinierter, langfristiger und wissenschaftlich gründlicher zu betreiben, um damit besser den vielfältigen Aufgaben gewachsen zu sein.