Reformpädagogik im engeren Sinne bezeichnet jene Versuche, die sich Ende des 19. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gegen die Lebensfremdheit und den unterwerfenden Autoritarismus der vorherrschenden starren Staatsschule wandten. Anstelle einer Didaktik, die aus heutiger Sicht als Entfremdung bis zur Kindesmisshandlung im Bildungssystem zu werten ist, wollten die Reformpädagogen über eine veränderte Bildungstheorie und Lerntheorie zu einer veränderten Didaktik gelangen, die in einem handlungsorientierten Unterricht vor allem die Selbsttätigkeit der Schüler in den Mittelpunkt stellt.
Etwa gleichzeitig mit dem Entstehen der Jugendbewegung, die die Jugend erstmals als einen eigenständigen, nach Freiheit und Naturerfahrung suchenden Lebensabschnitt begriff, entstanden reformpädagogische Konzepte, die ähnlich zur Bandbreite der Jugendbewegung in politischer Hinsicht von demokratischer bis zu völkischer Erziehung reichten. Einigkeit herrschte lediglich in der Ablehnung der alten Schule und der alten Erziehung sowie der didaktischen Ausrichtung an den Erfahrungen der Kinder statt an Unterrichtsstoffen oder organisatorischen Gesichtspunkten. Ihre Selbsttätigkeit sollte im Zentrum stehen.
Der Beginn wird oftmals im Jahr 1890 angesetzt mit dem Erscheinen von Julius Langbehns Buch Rembrandt als Erzieher sowie der Eröffnungsrede Kaiser Wilhelms II. zu der von ihm nach Berlin einberufenen Schulkonferenz. Andere setzen ihn erst mit der Jahrhundertwende an, u. a. mit der Ausrufung des Jahrhunderts des Kindes durch die schwedische Autorin Ellen Key.
In Deutschland standen dabei in einer ersten bewegten Phase vor allem die Konzepte der Arbeitsschule vor allem durch Georg Kerschensteiner zur allgemeinen und beruflichen Bildung breiter Bevölkerungsschichten im Vordergrund. Weiterhin ist die Landerziehungsheimbewegung begründet durch Hermann Lietz zu nennen, die auf das Lernumfeld und eine „Erziehung auf dem Land“ setzten. Die Erziehung zur Toleranz und den Gesamtunterricht durch Berthold Otto und das Konzept der Einheitsschule unter anderem durch Johannes Tews sind dabei ebenfalls zu nennen. Diese Entwicklungen geschahen in enger Verbindung mit der Kunsterziehungsbewegung durch Alfred Lichtwark und der Jugendbewegung.
In der folgenden Arbeit soll die pädagogische Konzeption der Landerziehungsheimbewegung anhand von ausgewählten Beispielen im Blickpunkt stehen. Angefangen über Cecil Reddie und seine Schulgründungen, die von Hermann Lietz in den deutschen Diskurs eingebracht wurden, sollen dessen Schulen und die Gründungen von Paub Geheeb untersucht werden. Zum Abschluss werden dann thesenartig die Ergebnisse der Arbeit nochmals zusammengefasst und bewertet.
Cecil Reddie, der als Begründer der internationalen Landerziehungsheimbewegung gilt, gründete im Oktober 1889 aus Protest gegen die traditionelle britische Public School das erste Landerziehungsheim in Abbotsholme bei Rochester/England.[1]
Die Public Schools stellten exklusive höhere Internatsschulen mit alter Tradition dar.[2] In der Geschichte Englands waren sie vor allem die Träger der Erziehung der wohlhabenden und sowohl politisch als auch wirtschaftlich einflussreichen Gesellschaftsschicht. Die Erziehung der Public Schools baute auf strenger Zucht und der exakten Fortführung des Überlieferten und Althergebrachten auf. Finanziert aus dem Schulvermögen, durch Zuwendungen von Gönnern und ehemaligen Schülern sowie dem Schulgeld wurden dort junge Menschen im Alter von 11- 18 Jahren unterrichtet. Vom „Public Schools Act von 1868“[3] wurde auf Grundlage der Untersuchungen der Clarendon Commission in den Jahren 1861 bis 1864 vom britischen Parlament eine Gruppe von neun Schulen betroffen.[4] Das Gesetz sollte diese Schulen reformieren und regulieren. Die Schulen standen allein Jungen offen und waren ursprünglich als Stiftungen gegründet worden. Sie werden als "Public" School bezeichnet, da sie nicht nur Schüler eines bestimmten geographischen Gebietes aufnahmen und die Aufnahme auch nicht auf Angehörige des Adels beschränkt war. Obwohl die Schulen aus wohltätigen Stiftungen entstanden, erheben sie alle Gebühren für den Unterricht und die Unterbringung der Schüler.
Zu den außerhalb Großbritanniens bekanntesten und angesehensten Public Schools zählten u.a Eton College, Rugby School und Winchester College. Charakteristisch für diese Schulform waren laut Brereton Korpsgeist, Kameradschaftlichkeit, Willensschulung und körperliche Erziehung.[5]
Typische Eigenschaften der englischen Public Schools waren:[6]
Die traditionelle Schule in England sah Reddie als Ort harter Arbeit und sturer Wissensvermittlung an; er vermisste in den Erziehungsplänen die Vermittlung der Freude am Lernen und die Formung des Charakters der Schüler:[7] „Anstatt die Grundbegriffe der (...) Orthographie zu pauken, sollte unseren Kindern beigebracht werden, zu leben und zu lieben, das Gute zu wollen (...). Statt Herzensbildung haben wir ihnen pure technische Kennerschaft aufgezwungen, und zwar auf Gebieten, die für das Leben unwesentlich sind. (...) Die Hauptaufgabe der Schule ist, dem Kind seine Umwelt und das Leben zu erklären und es dazu zu bringen, die Verbesserung von beidem zu unterstützen. Das kann man durch eine Kombination von Disziplin und Liebe (...) erreichen (...).“
Reddie studierte an den Universitäten Edinburgh und Göttingen Chemie und Mathematik, wenige Jahre nach der Gründung von Abbotsholme ging er nach Jena zu dem Herbartianer Wilhelm Rein, in dessen Übungsschule er auch Hermann Lietz als Oberlehrer kennen lernte.[8] Gemäß Andreesen trug die Beschäftigung mit Reins Werken zur Entfaltung und Entwicklung seines eigenen erzieherischen Grundkonzeptes bei.[9] Reddie zeigte sich vor allem vom Herbartianismus, der in England unter dem Thema „The five steps“[10] großen Anklang fand, in hohem Maße angetan. Was den intellektuellen Bereich betraf, schätzte er den deutschen Schulunterricht sehr hoch ein. Reddie hatte die Absicht ihn „(...) mit unserer englischen Vorliebe für Freiheit und Selbstvertrauen (...) zu kombinieren.“[11]
Reddie besaß den Anspruch, zuerst Schüler und erst dann Fächer zu unterrichten:[12] „Der Erziehungsplan von Abbotsholme richtet sich nach dem Postulat, daß die Seele - ebenso wie Geist und Körper - auf die Umgebung reagiert und so auf die sittliche Natur eine Reihe von gebändigten Kräften einwirken läßt, die denen parallel laufen, welche den Jungen geistig und körperlich erziehen sollen. Nun ist die zwingenste bekannte Kraft jene, die sich aus einer Haltung von mit Verantwortungsbewußtsein gepaarter Zuneigung ergibt.“
Nicht abstraktes Wissen, sondern nützliches dem Leben angemessenes Wissen sollte vermittelt werden, was für die weitere Entwicklung der Schüler dienlich sei: „The whole life at the school is planned to develop harmoniously all the powers oft he boy-physical, intellectual, artistic, moral and spirituel – to train him, in fact, how to live, and become a wholesome, reasonable ans useful member of the human society.”[13]
In Abbotsholme stand der Unterricht in den neuen Sprachen, Geschichte und die Naturwissenschaften im Vordergrund, daneben führten die klassischen Sprachen ein Schattendasein.[14] Der Schulalltag war in Unterrichtsarbeit (vormittags) und freiere Aktivitäten (nachmittags) gegliedert. Zu den freieren Aktivitäten zählten neben Sport, Exkursionen und künstlerischen Tätigkeiten auch das Arbeiten auf dem Feld, im Garten oder in der Werkstatt. Der Schulalltag sah morgens die Unterrichtsstunden und am Nachmittag die freieren Aktivitäten vor, zu denen neben Sport, Exkursionen, musischen Tätigkeiten auch praktische Arbeit auf dem Feld, in den Werkstätten oder im Garten zählten. Das geistige Zentrum des Schultages, das die verschiedenen Tätigkeitsbereiche in einer Einheit zusammenschließen sollte, war die „Chapel“ von Abbotsholme, die einen „meditativen Haltepunkt, der von christlicher Geistigkeit durchdrungen ist“[15], darstellte.[16]
Kurt Hahn erfuhr im Jahre 1903 von Abbotsholme durch das Werk „Emlohstobba[17] - Roman oder Wirklichkeit“ von Hermann Lietz. Dieses Buch machte auf ihn einen nachhaltigen Eindruck:[18] „Man gab mir das Buch ‚Emlohstobba’, das mein Schicksal besiegelte.“Hahn lernte die Schule Abbotsholme erst in den 30er Jahren kennen, jedoch kam es zu keiner persönlichen Begegnung mit Cecil Reddie. Der Besuch von Abbotsholme School und die dort angewandten Erziehungsmethoden beeindruckten Hahn sehr:[19] „Ich hatte riesigen Respekt vor der Pionierarbeit von Cecil Reddie, fühle mich jedoch von seinem exzentrischen Wesen wenig angezogen, da es mit mir verwandt war.“
Reddie lag das Entstehen einer europäischen Kultur am Herzen:[20] „Der Tag wird kommen, da kein Lehrer in England für gebildet angesehen wird, der nicht Englisch, Französisch und Deutsch sprechen und schreiben kann, - ob er Latein oder Griechisch oder Hebräisch kann, danach wird nicht einmal mehr gefragt werden. Ein Lehrerkollegium, das somit in der Lage ist, die Kultur dreier Völker aufzunehmen, wird englischen Jungen in Bälde etwas von jenem Weltkulturgeist einflößen vermögen, dessen Fehlen uns gegenwärtig untauglich für die Verwaltung des weiten Machtsbereich macht, den uns eher der Zufall als ein ausgeklügelter Plan übertrug. (...) Britische Universitäten sind gegenwärtig wenig mehr als Colleges provinziellen Charakters - internationale Stätten kultureller Begegnung sollten sie sein.“
Reddie wandte sich vehement gegen eine Spezialisierung des Lernens; die Erziehung der jungen Menschen sollte möglichst alle Facetten des Wissensspektrums enthalten, damit der Geist der Schüler in alle Richtungen hin zur freien Entfaltung gelangen konnte:[21] „(...) also muß der Pädagoge dafür sorgen, daß solche Eigenschaften wie physischer Mut, Schärfe des Denkens, Gesundheit und Lebensfreude ausgebildet werden, damit der von ihm erzogene Mensch nicht in der Freiheit seiner Wahl beschränkt wird.“
Reddie betonte weiterhin die Wichtigkeit körperlicher Fitness:[22] „Körperliches Training ergibt sich nicht nur einseitig aus bloßem Spielen, sondern in einem gewissen vernünftigem Maß aus nutzbringender Handarbeit.“
Die Gründung der Schule Abbotsholme blieb in Großbritannien bis auf das Interesse einiger weniger Fachleute aus dem Erziehungswesen unbemerkt.
In anderen Ländern wie Frankreich[23]
Demolins, E.: L’Education nouvelle, Paris 1901 oder Bäcker, M.: Die Landerziehungsheime in Frankreich, Langensalza 1914, Deutschland, Niederlande, Schweiz, Finnland und Schweden besaßen die Ideen Reddies eine größere Bedeutung.
In Deutschland war für die Verbreitung der Vorstellungen Reddies die Veröffentlichung des bereits oben erwähnten Buches „Emlohstobba“ von Hermann Lietz entscheidend.[24] Lietz war ein Jahr lang Gastlehrer in Abbotsholme, wo er die pädagogischen Vorstellungen von Cecil Reddie kennen lernte und verinnerlichte. Er begeisterte sich schnell für eine Übernahme dieser Erziehungsidee in Deutschland.
Weitere wichtige Anregungen für das eigene Schulkonzept erhielt er durch die Fröbelschule in Keilhau, die Knabenerziehungsanstalt von Karl Volkmar Stoy, dem Gründer des Universitätsseminars, und durch das Erziehungsheim und Jugendsanatorium für elternlose, schwererziehbare und körperbehinderte Heranwachsende unter Leitung von Johannes Trüper auf der Sophienhöhe bei Jena.[25]
Die Bewegung der deutschen Landerziehungsheime oder der New Schools bzw. Ecoles Nouvelles à la Campagne, wie dieselbe Bewegung im englischen und französischen Sprachraum hieß, war ein Teil der kulturkritischen und lebensreformerischen Protestbewegungen, mit denen das ausgehende 19. Jahrhundert in Europa und den USA auf die Industrialisierung und die diese begleitenden gesellschaftlichen Veränderungen reagierte. Die Landerziehungsheimbewegung wollte die diagnostizierte Krise durch eine von Grund aus neuen Erziehung auffangen und überwinden. Lietz stand der gesellschaftlichen Moderne und seinen Folgen kritisch gegenüber. Er wandte sich auch gegen äußeren Daseinskomfort, Genussleben und Suchtmittel wie Alkohol oder Nikotin. Er stellte die Forderung auf, dass in die Schüler keinen Alkohol oder Nikotin zu sich nehmen sollten. Diese Ansicht begründete er mit der medizinischen Feststellung, dass besonders das Herz im Wachstumsalter sehr empfindlich auf Suchtmittel reagierte. Außerdem war er der Meinung, dass die Schüler die festgesetzten körperlichen Ziele wegen der Einnahme von Suchtmitteln nicht erreichen würden.
Lietz machte 1891/1892 an der Universität Jena die Staatsprüfung für das höhere Lehramt in Philosophie, Deutsch, Religion und Hebräisch und wurde anschließend bei Rudolf Eucken promoviert mit einer Arbeit zum Thema: „Die Probleme im Begriff der Gesellschaft bei Auguste Comte im Gesamtzusammenhang seines Systems“. Euckens Philosophie verband er mit Strömungen eines liberalen und sozial-engagierten Protestantismus zu einer eigenen Form praktischer Pädagogik.
Die in Abbotsholme gesammelten Erfahrungen veranlassten ihn, im Jahre 1889 ohne staatliche Unterstützung ein Landerziehungsheim bei Ilsenburg im Harz zu gründen. Diese Gründung zog weitere nach sich, so entstanden Heime in Schondorf am Ammersee (1905), die Freie Schulgemeinde Wickersdorf (1906), die Odenwaldschule (1910), Gandersheim (1923), Juist (1925), Laacher See (1928) usw., die direkt oder indirekt auf Lietz zurückgingen. Lietz wurde demnach als „Vater der deutschen Landerziehungsheime“ bezeichnet.[26]
Die Auswahl der Unterrichtsfächer war breit und abwechslungsreich. Neben dem obligatorischen Fächern (Deutsch, Mathematik, Religion, Geschichte, Sprachen) erteilte ein Arzt einmal wöchentlich Unterricht in Gesundheitslehre, auf dem Schuldach wurden astronomische Beobachtungen angestellt und im selbst gebauten Schwimmbassin übte man das Retten und Wiederbeleben von Wasserunfallopfern. Der normale Unterricht wurde so oft wie möglich im Freien abgehalten und stand meist in engem Zusammenhang mit der Werkstattarbeit, so dass die Schüler durch ihnen vertraute, praktische Abläufe die Theorie besser verstehen konnten.
Von der „New School Abbotsholme“ übernahm Lietz vielseitige Anregungen zur äußeren Gestaltung.[27] Das geistige Fundament erhielt er von dem Herbartianer Wilhelm Rein an dessen Universitätsübungsschule in Jena. Rein formulierte das programmatische Ziel einer Erziehungsschule, deren Ziel darin bestand „(…) eine allgemeine Menschenbildung, die im Dienste der religiös - sittlichen Interessen steht, zu vermitteln; die Veredelung einer Gesamtbildung anzubahnen, die nicht an gewisse Stände geknüpft ist.“[28] Laut Blättner bekam Lietz durch die Beschäftigung mit der Schrift Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ in der Jenaer Übungsschule wichtige Gedankenanstöße für die Gründung der Landerziehungsheime.[29] Lietz übernahm auch die nationalistischen Sichtweisen von Fichte, nach der die Erziehung auch an die Interessen der „deutschen Nation“ auszurichten wäre.[30]
Lietz nahm die zu seiner Zeit gängige Kritik an der Staatsschule und ihren Lehrmethoden auf. Heinrich Schorrelmann kritisierte die innere Erstarrung der Schule:[31] „Die Schule ist durch und durch dogmatisch, und zwar nicht nur im Religionsunterricht. Sie ist es in jedem Fache. Immer dann, wenn ich eine Antwort gebe, ehe ich gefragt wurde, eine Lösung, ehe das Problem da war, wenn ich eine allgemeine Erkenntnis mitteile, ohne daß das Kind über die vielen nötigen Einzelheiten orientiert ist, die zum Verständnis notwendig sind, immer dann unterrichte ich dogmatisch. In den vielen Abstraktionen und Deduktionen, die wir den Kindern an den Kopf werfen, kommt der dogmatische Charakter der Schule am ehesten zum Ausdruck. Und dieses Dogmatische, das in allen Fächern herrscht, macht die Schule so ungenießbar für das Kind.“
Friedrich Wilhelm Foerster befasste sich mit der Erziehungsaufgabe der Schule und stellte deren völliges Versagen fest. Er sprach von der „schleichenden Nervenzerrüttung“ und der „tiefen Depression der Lebenslust“ unter den Schülern. Weiterhin stellte er ein Vakuum an sittlicher Bildung, Willenstärke und Charakterfertigkeit fest.[32]
Die Klage über die „Seelenmorde in den Schulen“[33], die die schwedische Pädagogin und Schriftstellerin Ellen Key in ihrem im Jahre 1902 in deutscher Sprache erschienenen Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ erhob, spiegelte eine weit verbreitete Stimmung in Deutschland wider. Ellen Key griff die „Lernschule“ ihrer Zeit an, die in „mechanischer Weise ohne Rücksicht auf das kindliche Aufnahmevermögen“ einen „einseitigen Intellektualismus“ pflegte und den Schülern „wirkliche Bildung“ vorenthielt.[34]
In seinem Werk „Buddenbrooks“ aus dem Jahre 1901 schilderte Thomas Mann die Schulleiden des kleinen Hanno.[35] Arno Holz beschrieb in seiner Schrift „Traumulus“ aus dem Jahre 1904 die realistische Darstellung einer Schulatmosphäre, an der ein Jugendlicher zerbrach.[36] In „Professor Unrat“ aus dem Jahre 1905 schuf Heinrich Mann das groteske Bild eines Schultyrannen.[37]
In dem Drama „Die Wandlung“ von Ernst Toller hieß es:[38] „Du Kind gehst in die Schule und Angst befällt dich auf deinem Weg. Das Schulzimmer sieht aus, als ob Regentag wäre und dabei scheint doch die Sonne. Der Lehrer sitzt auf dem Katheder wie der böse Geist aus einem Märchen, das du heimlich lasest. Er blickt dich zornig an und schilt dich, weil du deine Aufgabe nicht behalten konntest“
Lietz kritisierte in seinen schriftlichen Zeugnissen vor allem das traditionelle Schulwesen in Deutschland:[39] „Man hat bei der Aufstellung der Lehrpläne eben fast nur die Menge der Kenntnisse berücksichtigt, die der Schüler wissen müßte. Um das wahre Erziehungsziel, um die Einheit des Ganzen, um die Verbindung der Fächer, den psychologischen Fortschritt von der Anschauung zur Vorstellung, zum Denken bekümmert man sich dabei nur zu wenig.“ Er spottete in einer Traumschilderung über die „Lehrer der Vergangenheit“:[40] „(...) eine Schar meist bebrillter, ziemlich grämlich dreinschauender Leute (...)“
Bei der Beschäftigung mit den Schriften von Hermann Lietz wird deutlich, dass seine eigenen negativen Erlebnisse während der Schulzeit ein entscheidender Auslöser dafür waren, die traditionelle Schulform seiner Zeit abzulehnen. Lietz behielt vor allem die Prügelstrafe und das Extemporalienschreiben in negativer Erinnerung: „Wurden doch diese Arbeiten in allen Hauptfächern allwöchentlich geschrieben und übermäßige Zeit damit vergeudet. Alles hing von ihnen ab. Aus diesen Gründen bin ich später ein schroffer Gegner der Extemporalienschreiberei geworden und habe sie ebenso eifrig bekämpft wie die erbärmliche Prügelstrafe.“[41]
Er stellte der traditionellen „Unterrichtsschule“[42] eine neue „Erziehungsschule“ entgegen:[43] „(...) Das Ziel der Unterrichtsschule alten Systems war und ist die Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten, von Wissen, von Gelehrsamkeit. (...) Ganz anders, ja gerade entgegengesetzt, in Zielen wie in Mitteln, verfährt die Schule, welche die alte Unterrichtsschule ablösen wird oder hier und da schon abgelöst hat: die Erziehungsschule. Nicht Kenntnisse, Wissen, Gelehrsamkeit, sondern Charakterbildung, nicht alleinige Ausbildung des Verstandes und Gedächtnisses, sondern Entwicklungen aller Seiten aller Kräfte, Sinne, Organe, Glieder und guten Triebe der kindlichen Natur zu einer möglichst harmonischen Persönlichkeit; nicht Lesen, Schreiben, Griechisch, sondern Leben lehren: das ist das ideale Ziel, welches die Erziehungsschule bei allem, was sie mit dem Zögling vornimmt, nie außer acht läßt.“
Während die städtischen Schüler ihre Schulerfahrungen zum Teil am Nachmittag durch familiäre Gegebenheiten etwas aufwiegen konnten, so blieben die Kinder und Jugendlichen vom Land nach dem Unterricht sich selbst überlassen.[44] In der Enge ihrer Pensionen versuchten sie, sich den Lernstoff einzupauken. Nicht wenige gerieten im Großstadtleben in Kreise, die ihr Leben negativ beeinflussten oder begannen, dem Alkohol zuzusprechen.
Um dies zu verhindern, wollte Lietz ein Bildungsideal schaffen, wo die Charakterentwicklung der Schüler einen ebenbürtigen Platz neben der Wissensvermittlung einnahm:[45] „Wenn somit Ziel jeder Erziehungsschule (...) Vorbereitung aufs Leben durch Ausbildung eines charakterstarken Willens ist, so nimmt als Mittel zu solchem Ziel die Ausbildung der Körperkraft und Gewandtheit, sowie der Tüchtigkeit im Gebrauch der Gliedmaßen zu praktischer Handarbeit und die Ausbildung der Sinne eine ebenso hohe Stellung ein, als die Ausbildung des Intellekts.“
Lietz verurteilte die negative Einstellung der städtischen Schule zu körperlicher- und zur Landarbeit.[46] Er, der selbst zeitweilig das Bauerngut seiner Eltern geleitet und lange den Berufswunsch eines Gärtners gehegt hatte, konnte den positiven Einfluss, den die praktische Arbeit auf sein Leben und seine Entwicklung gehabt hatte, nicht übergehen.
Vier Mitarbeiter von Hermann Lietz, die am Deutschen Landerziehungsheim in Ilsenburg tätig waren, gründeten 1909 das Landschulheim am Solling.[47] Wie zuvor Gustav Wyneken, Paul Geheeb, Martin Luserke, Gustav Marseille sich von Lietz getrennt und eigene Schulen gegründet hatten, so verließen ihn auch die vier Ilsenburger Alfred Kramer, Theophil Lehmann, Gerhard Viebrock und Gerhard Zimmermann. Sie gründeten auf einem großzügig bemessenen Gelände im Wesertal am Rande des Sollings bei Holzminden mit Hilfe von Schülereltern ein neues Heim.
Die Lietzsche Pädagogik wurde fortgeführt, in der die eigene Landwirtschaft und die Werkstätten ebenso zum Heimleben gehörten wie Morgenlauf und Wanderungen. Allerdings maß man der Schulbildung größere Bedeutung bei, was in der Namensgebung Landschulheim zum Ausdruck kam. In ganz besonderer Weise widmete man sich der Pflege des Theaterspiels und der Musik. Die Leitung der Schule übernahm Alfred Kramer und nach seinem Tod 1918 Theophil Lehmann. Er gab dem Landschulheim in den zweieinhalb Jahrzehnten seiner Leitungstätigkeit die äußere und innere Gestalt, den pädagogischen Stil, der als "LSH-Geist" das Heim bis in die 60er Jahre prägte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Koedukation eingeführt, in den 20er Jahren ein Unterrichtsmodell erprobt, das bereits unterschied zwischen Schwerpunkt- und Orientierungsfächern.
Die Ausbildung zu handwerklichen Tätigkeiten übernahm Lietz vom Pädagogen Georg Kerschensteiner. Georg Kerschensteiner[48] (1854-1932) war der Verfechter eines einheitlich aufgebauten Schulsystems, förderte den naturwissenschaftlichen Unterricht und rückte die Charakterbildung der Jugendlichen in den Mittelpunkt der Schulerziehung.[49] Kerschensteiner richtete neben der Einführung von kindgemäßem Physik- und Chemieunterricht Holz- und Metallwerkstätten, Schulküchen und Schulgärten ein. Ihm zufolge müsse pädagogische Arbeit manuell, praktisch und geistig zugleich geprägt sein. Als Befürworter der Eigenbewertung schulischer Leistungen regt er an, dass jeder Schüler für sich selbst ein Urteil finden müsse. Für Kerschensteiner lagen die essentiellen Merkmale der Arbeit im pädagogischen Sinne in der geistigen Planung, der Vollendungstendenz und der Möglichkeit der Selbstprüfung:[50] „Jeder Zögling muß imstande sein und sich innerlich dazu genötigt fühlen, seine Arbeit, mag sie theoretischer oder praktischer Natur sein, bei jedem Schritt ihrer Durchführung auf ihre Übereinstimmung mit den Forderungen zu überprüfen.“
Seine Zielvorstellung lag in Bildung, die er zugleich als Charakterbildung und Erziehung zum Staatsbürger verstand; diese kann nach seiner Auffassung auch durch Berufserziehung verwirklicht werden. Er besaß entscheidenden Einfluss auf die pädagogischen Reformbewegungen zu Beginn des 20. Jh. und prägte besonders die Arbeitsschulbewegung.[51] Im Gegensatz zur Schule einer bloßen Rezeptivität erkannte er den pädagogischen Wert berufsorientierter Arbeit und wollte die Menschenbildung durch Berufsbildung fördern.[52] Laut Campbell fielen der Schule in Kerschensteiners Erziehungskonzeption drei Aufgaben zu:[53]
Auf einem Vortrag am 12.1.1908 zum 162. Geburtstag Pestalozzis in der Peterskirche in Zürich stellte Kerschensteiner die Forderung auf:[54] „Aus unserer Buchschule muß eine Arbeitsschule werden, die sich an die Spielschule der ersten Kindheit anschließt.“
Statt unkritischem Auswendiglernen und abgefragtem Faktenwissen gehören in den Schulen Wissensvermittlung und Charakterbildung untrennbar zusammen. Mit einer Einheit aus Bildung und Erziehung, Tradition und Moderne sollen die Schulenden Kindern und Jugendlichen vor allem eines: Lebenskompetenz. Schüler sollten hier zu belastbaren, selbstbewussten und gelassenen Persönlichkeiten heranreifen, mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstbeobachtung.
In der Erziehungsschule sollten laut Lietz körperliche Übungen, Handfertigkeiten, Turnen und spielerische Übungen durchgeführt werden:[55] „Die alte Unterrichtsschule hatte naturgemäß zunächst gar keine körperliche Betätigung der Jugend. Dann führte sie langsam und meist widerwillig Turnen ein. (…) In der reichen Skala der körperlichen Bethätigungen der Erziehungsschule nimmt Turnen etwa nur die Stelle ein, wie früher Erdkunde, inmitten der übrigen Unterrichtsfächer. Schwimmen, Rudern, Zweiradfahren, jede Art von Spiel und körperlicher Arbeit, kommen hinzu und werden methodisch betrieben. Denn nur so kann aus ihnen Nutzen für die Charakterbildung entspringen. Das Spiel z.B. muß geordnet, organisiert sein. In ihm hat jeder seinen Posten und auf diesem etwas ganz bestimmtes zu thun. Dabei wird freiwillig Unterordnung, wird Zusammenarbeit gelernt, wird Geistesgegenwart, Mut, Stärke, Geschicklichkeit entwickelt.“
Lietz verfolgte die Absicht, durch die Betonung handwerklicher Tätigkeiten soziale Unterschiede zu nivellieren:[56] „(...) die Handarbeit unserer vornehmsten Knaben (wird, M.L) eine Brücke abgeben können, über die klaffenden gesellschaftlichen Klassenunterschiede“. Weiterhin lieferten ökonomische Zwänge die Begründung für die praktische Arbeit in den Landerziehungsheimen von Hermann Lietz. Die Arbeiten im Garten, in der Landwirtschaft und beim Bau stellten einen Beitrag der Schüler zur Aufrechterhaltung des Heimlebens dar.[57] Lietz gestaltete die von ihm gegründeten Landerziehungsheime zu Stätten lebendiger Persönlichkeitsbildung aus. In den Heimen wurden die Schüler zu selbständigen Menschen vor allem in den Tätigkeitsfeldern Handwerk, Landarbeit, Wissenschaft und Kunst erzogen.[58] Es existierte zumeist ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen Erziehern und Schülern, es bildeten sich sogar familienartige Gruppen oder Erziehungsgemeinschaften.[59]
Lietz Erziehungsverständnis wurde auch von Herbarts Pädagogik beeinflusst.[60] Es existieren bei Herbart zwei Seiten der Pädagogik, eine psychologische und eine moralische:[61] Die psychologische Seite der Pädagogik müsse von den Eigenarten des Kindes, ihren Anlagen, seinem Charakter und seinen Anlagen und Mittel, Wege und Grenzen der Erziehung angeben. Die moralische Seite der Pädagogik sollte an die praktische Philosophie anknüpfen und der Erziehung das Ziel vorschreiben. Das Ziel der Erziehung war die Tugend sowie die Charakterstärke der Sittlichkeit.
Die gesamte Erziehungslehre Herbarts wird bestimmt durch die drei Begriffe: Regierung, Unterricht und Zucht.[62] Die Regierung betrifft dabei lediglich das äußere Verhalten, sie sollte das Kind durch geeignete Beschäftigung und Leitung vor Fehlentwicklungen bewahren. Der Unterricht, der stets erziehend gemeint war, und durch die Bereitstellung geeigneter Vorstellungsmassen auf den Willen einwirkte, sollte auf möglichst vielen Gebieten ein inneres, geistiges Tätigsein, ein gleich bleibendes vielseitiges Interesse erzeugen. Die Zucht bedeutete Führung mit dem Blick in die Zukunft mit der Absicht, durch Gemütseinwirkungen die Kinder und Jugendlichen zu formen.[63]
Für die spätere Wirkung der Herbartschen Gedanken auf das praktische Schulleben sind besonders seine Bemühungen um die Gestaltung des Unterrichts bzw. des Lehrverfahrens bedeutsam geworden. Dabei sind besonders die von Herbart geforderten Formalstufen zu erwähnen. Die Formalstufen suchten den Lehr- und Lernvorgang psychologisch aufzugliedern und hieraus ein sachgerechtes Lehrverfahren zu entwickeln. Vielfach verfehlten sie aber später durch die schematische Anwendung auf jedes unterrichtliche Gebiet ihren eigentlichen Zweck.
Der Einfluss Herbarts auf seine Zeitgenossen vor allem in pädagogischen und psychologischen Fragen war nicht sehr groß. In umso stärkerem Maße verbreiteten sich seine pädagogischen Gedanken in der zweiten Hälfte des 19 Jh. und gelangten gegen Ende des Jahrhunderts zur beinahe unumschränkten Herrschaft.[64] Zu den Vertretern des Herbartianismus[65] zählen unter anderem der Leipziger Pädagoge Ziller, der vor allen Dingen die Formalstufentheorie in praktisch verwertbarer Weise fortbrachte, und Rein in Jena, der die Herbartsche Pädagogik mit neueren Bestrebungen verband und um die Jahrhundertwende eine ausgebreitete Wirksamkeit entfaltete.
Tuiskon Ziller gründet in Leipzig eine Übungsschule zur Ausbildung angehender Lehrer, eine „Bewahrungsanstalt“ für gefährdete Kinder und den „Verein für wissenschaftliche Pädagogik“.[66] Ziller baute die Pädagogik Herbarts für die Schulpraxis aus und förderte durch seine ausgedehnte Wirksamkeit ihr Eindringen in die Schule. Seine Hauptforderungen bestanden aus dem erziehenden Unterricht, der Kulturstufentheorie und den Formalstufen. Die Anwendung des Formalstufenschemas gehörte zu den Kennzeichen des Herbartianismus in den Schulen bis in das 20. Jahrhundert hinein.
Wilhelm Rein entfaltete an der Universität Jena eine umfangreiche Wirksamkeit als Lehrer der Erziehungswissenschaft, Förderer der Universitätsübungsschule und der Lehrerbildung, Mitbegründer und Ausgestalter der Universitätsferienkurse und Verfechter einer nationalen Einheitsschule und Volksbildung. [67]
Die Erfahrungen des Gemeinschaftslebens im Heim sollten zu Grundansichten über Sittlichkeit und Religion führen.[68] Dabei spielte die Übernahme von Verantwortung in der Selbstverwaltung der Heime eine ebenso wichtige Rolle wie die Erfahrung sittlicher Vorbilder. Lietz bemerkte: „Alles, was das Kind selbst finden und leisten kann, muss man es erst selbst finden und leisten lassen und ihm nicht abnehmen; denn nur so kann man zur Entwicklung sittlicher Tatkraft beitragen.“[69]
Die „Gewöhnung an Gehorsam und Anerkennung von notwendiger Autorität“ ergeben sich aus den Anforderungen des täglichen Lebens von ganz allein.[70] Die Ordnung innerhalb der Lietzschen Landerziehungsheime kannte nicht nur die soziale Organisation, sondern auch den Tagesrhythmus, der gekennzeichnet war von „Wechsel zwischen theoretischer und praktischer Beschäftigung, zwischen Spiel, freier ungehemmter Betätigung und pflichtgemäßer Arbeit“.[71] Lietz beschrieb den Tagesablauf folgendermaßen: „Natur lehrt uns früh aufzustehen, den Tag zur Arbeit und zwar im Wechsel zwischen geistiger und körperlicher, den Abend zu Spiel und Erholung, die Nacht von früher Stunde an zu ergiebigem Schlaf zu nutzen. So ist der Vormittag dem wissenschaftlichen Unterricht gewidmet, wobei wir uns hüten, ihn unzweckmäßig zu zerreißen, vielerlei Verschiedenes nacheinander bringend. Sondern wir behandeln im allgemeinen nur 2, höchstens 3 Gegenstände in etwa jeweils zweimal 45 Minuten. Mehr als 5 Stunden werden am Vormittag nicht erteilt. Den Unterricht unterbrechen wir durch ausreichende Pausen, Dauerlauf in der einen, Spiel in der anderen. Nach einer zweistündigen Mittagspause ist der erste Teil des Nachmittags praktischen Arbeiten in Garten, Werkstätten, Laboratorien und dem Unterricht im Zeichnen und der Musik gewidmet. Der zweite Teil dient dem Spiel, Turnen, den Geländeübungen u.a. sowie der Vorbereitung auf den Unterricht (Arbeitsstunde). Der stille Abend dann gemeinsamer Gesang, dem musikalischen Vorspiel und der Erzählung oder Vorlesung von solchen Dingen, die zu Herz und Gemüt sprechen.“[72]
Paul Geheeb[73] unterrichtete einige Zeit in dem von Cecil Reddie gegründeten Abbotsholme, wo er sich vielseitige Anregungen für sein eigenes pädagogisches Denken holte. Er studierte in Berlin und Jena (1893 theologische, 1899 philosophische Staatsprüfung in Religion und orientalische Sprachen). Schon als Student nahm er lebhaft an den aufbrechenden Reformbestrebungen dieser Jahre teil. Leidenschaftlich setzte er sich im Kampf gegen den Alkoholismus ein. Er wanderte und spielte mit den Kindern der Berliner Arbeiterviertel, er nahm an der Arbeiter- und Frauenbewegung stärksten Anteil und war durch viele menschliche Beziehungen mit den führenden Männern und Frauen dieser Zeit verbunden.[74]
Vor diesem Hintergrund wurde Geheeb zum Pädagogen. Schon 1893/94 war er Mitarbeiter an den Trübnerschen Anstalten bei Jena. Hermann Lietz, den er schon als Student kennengelernt hatte, zog ihn 1902 an sein Landerziehungsheim Haubinda, dessen Leitung er übernahm, als Lietz selber nach Bieberstein ging.
Er eröffnete im September 1906 zusammen mit Gustav Wyneken, Martin Luserke und einigen weiteren Mitarbeitern und Schülern von Haubinda die in der Nähe des thüringischen Saalfeld gelegene freie Schulgemeinde Wickersdorf. Das reformpädagogische Projekt sollte der Idee der Erziehung als Formung des Menschen im Sinne einer Weltanschauung dienen. Besonders für Wyneken ging es um eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler, das nicht nur die Züge des staatlichen Schulunterrichts tragen sollte. Die allgemeinen praktischen, hygienischen und didaktischen Errungenschaften (Pflege und Ausbildung des Körpers durch Sport und gesunde Ernährung, moderner Unterricht mit Beachtung von Hochbegabten und praktische Arbeit in der Natur) der neueren Pädagogik sah Wyneken als selbstverständliche Grundlage an. Die Besonderheiten der Freien Schulgemeinde sieht er in der bildenden Erziehung und in der Art und Weise wie er, und Anfangs noch Paul Geheeb, diese Arbeit leisten. Wie ein allgemeiner Grundsatz der Landerziehungsheime beinhaltete, fand auch Wyneken, dass eine wirklich freie und gesunde Jugenderziehung nur auf dem Lande stattfinden kann. Wyneken und Geheeb nutzten die Arbeit in Wiese, Garten und Werkstätten um die allgemeinen Ziele der Erziehung zu vermitteln. Dort wurde viel Wert auf künstlerische und musische Ausbildung gelegt, was den Argwohn reaktionärer und militärisch gesinnter Beamten im Vorfeld des 1. Weltkriegs kritisch erregte. Aufgrund von persönlichen Streitigkeiten mit Gustav Wyneken kehrte er Wickersdorf nach einigen Jahren den Rücken.
Im Jahre 1910 gründete Geheeb die Odenwaldschule in Oberhambach bei Heppenheim an der Bergstraße, die sich für die damalige Zeit zu einer viel beachteten Freien Schule entwickelte.
In seiner Eröffnungsrede vertrat Geheeb folgenden Standpunkt:[75]„Nicht bequemer wollen wir es euch machen - nein schwerer, insofern wir euch höhere Ziele stecken und größere Ansprüche an eure Einsicht, an eure Initiative, an eure Energie, an euer vernünftiges Wollen stellen. Leichter freilich machen wir es dadurch, dass wir die in euch wohnende Schaffenskraft nicht beengen und unterdrücken, sondern zur freien Entfaltung und kräftiger Erstarkung zu bringen suchen, in der Absicht, euch auf euch selbst zu stellen und uns nach und nach entbehrlich zu machen.“
Geheebs pädagogische Gedanken erhielten vielseitige Anregungen durch die Beschäftigung mit Platon, Aristoteles, Herder, Schiller, Goethe, von Humboldt, Fichte, Pestalozzi, Tolstoj und Gandhi. Seine Zielsetzung bestand laut Schäfer darin, die Odenwaldschule zu einer Stätte der Menschwerdung und Menschenbildung zu machen.[76]
Im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Intellektuellen stand Geheeb dem Ersten Weltkrieg von Anfang an ablehnend gegenüber. Geheeb weigerte sich, die deutschen Siege oder den Geburtstag des deutschen Kaisers zu feiern; stattdessen feierte man die Geburtstage der Heroen der Schule und anderer bedeutender Menschen.[77] Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Symbol deutscher Macht und dieser offensichtliche Mangel an nationaler Begeisterung führte im Verlauf des Krieges regelmäßig zu Reibereien mit Behörden und nationalistisch gesinnten Freunden, Bekannten und Kollegen, die berauscht von deutschen Imperialismusphantasien nur noch völkische Denkweisen zuließen und „Abtrünnige“ als „Vaterlandsverräter“ brandmarkten.
Er schloss Freundschaft mit Hermann Lietz, diese Verbindung befruchtete auch ihre jeweilige pädagogische Theorie und Praxis: „Zwischen Lietz und mir entstand bald eine innige und ungemein fruchtbare Freundschaft; Gemeinsam vertieften wir uns in die Philosophie Fichtes und entwickelten unsere pädagogischen Ideen. Wir hatten viel in Städten gelebt, einen Teil unserer Studienzeit in Berlin zugebracht, wo uns das soziale Elend der Großstadt mit Grauen erfüllte; und durchdrungen von der Überzeugung, daß nicht nur vor hundert Jahren die Welt mehr oder weniger verderbt gewesen sei, wurden wir in dem starken Gefühle für den Antagonismus zwischen wahrem Menschentum und den Übeln der Zivilisation begeisterte Jünger Fichtes. Uns beschäftigten also nicht eigentlich die damals allmählich in Fluß kommenden Fragen der Schulreform (…) Vielmehr interessierte uns der Mensch in seiner Totalität; mit warmem Interesse verfolgten wir, im Verkehr mit August Bebel und anderen sozialistischen Führern, die damals immer mächtiger anwachsende sozialdemokratische Bewegung, und es war hauptsächlich das unerquickliche parteipolitische Treiben, das uns hinderte, ihr uns anzuschließen. Uns handelte es sich um das Problem, das gesamte Leben der Menschen auf eine völlig neue, gesündere Basis zu stellen, und zwar vermittelst einer von Grund aus neuen Erziehung, wie Fichte sie in seinen Reden an die deutsche Nation gepredigt.“[78]
Geheeb übte heftige Kritik an der traditionellen Lernschule und sah als notwendige Alternative die nachhaltige Entwicklung der Individualität der Schüler:[79] „In ethischer Hinsicht führt die Forderung der individuellen Autonomie zu dem Bestreben, schon in dem Kinde möglichst früh ein starkes Verantwortungsgefühl zu entwickeln, Verantwortung für sich selbst sowie für die Gemeinschaft, in der es lebt; man erzieht zur moralischen Selbständigkeit dadurch, dass man auf die Gewissenhaftigkeit der Kinder vertraut, ihren Gemeinschaften eine weitgehende Selbstverwaltung zugesteht und dahin wirkt, dass die Disziplin sich aus den Kindern selbst entwickele, anstatt durch Vorgesetzte und Autorität von außen erzwungen zu werden.“
Statt auf Unterordnung, Befehl und Gehorsam sollte das Verhältnis von Schülern und Lehrern auf gegenseitigem Respekt und auf Dialog beruhen. Jeder Versuch, Menschen nach einem bestimmten Plan zu erziehen, muss laut Geheeb scheitern. Echte Bildung ließe sich nicht herstellen und vermitteln, sondern sei das Ergebnis eigener Erlebnisse und eigenen Engagements.
Geheeb war ein früherer Vertreter der ganzheitlichen Erziehung in Deutschland.[80] Die Forderung nach Ganzheitlichkeit will die gesamte Persönlichkeit des Lernenden in den Lernprozess einbringen und komplexe Unterrichtsstrukturen schaffen. Als programmatische Leitvorstellung wegweisend und sinnvoll, versagt sie jedoch angesichts der lernpsychologischen Realitäten der Lernenden und bei der praktisch-methodischen Umsetzung: Es ist weder von dem (sehr unterschiedlichen) Fähigkeitsspektrum der Lernenden und der Unterrichtsorganisation aus möglich noch von den Lernzielen her notwendig, immer den gesamten Menschen in die Lernprozesse einzubeziehen. Es reicht aus, das Prinzip der Ganzheitlichkeit im Gesamtkonzept des Unterrichtens im Auge zu behalten und dabei die individuellen, sehr verschiedenartigen Fähigkeiten der Lernenden zu berücksichtigen. Es gilt, die dem Einzelnen verfügbaren Lernpotenzen an der Struktur des mehr oder weniger komplexen Lernziels auszurichten und für die Optimierung der jeweiligen Lernprozesse zu aktivieren.
Die Unterscheidung von Lehrern und Zöglingen war laut Geheeb nicht mehr zeitgemäß. stattdessen sollten die Erwachsenen als eine Art ältere Freunde mit den Kindern und Jugendlichen leben: „Man muss wirklich miteinander leben; die Erwachsenen müssen nicht nur mit den Kindern spielen, arbeiten, wandern und alle die Interessen und kleinen und grossen Freuden und Leiden des Kindes teilen, sondern letzteres auch, je nach seiner Reife, am eigenen Erleben und Schaffen teilnehmen lassen, sodass mehr oder weniger innige persönliche Beziehungen entstehen.“[81] Die Heranwachsenden sollten „selbständig gehen lernen“, und der Erwachsene müsse sich stets bewusst sein, dass der eigene Weg niemals der des andern sein könne, dass er einem jungen Menschen „günstigstenfalls“ dabei helfen könne, seinen eigenen Weg zu finden. Aus diesen Überlegungen ergibt sich für Geheeb die Forderung, „alle Schulen in Lebensgemeinschaften umzuwandeln, in denen Menschen der verschiedensten Altersstufen (…) natürlich und unbefangen miteinander leben“.[82]
Diese Aussagen zeigen die Kritik Geheebs an den staatlichen Schulen seiner Zeit, die sich bei der Erziehung lediglich auf die Vermittlung von Wissen beschränkten und die Gesamterziehung der jungen Menschen vernachlässigten.[83]
Auch angesichts des 2. Weltkrieges sah Geheeb die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen und übertrug sie auf die folgenden Generationen: „Das Heil kommt von den Kindern (…) Wenn die heutige Menschheit diese uralte Weisheit in ihrer ganzen Größe und Tiefe verstände und anzuwenden wüsste, so würde sie die Erlösung für ungezählte Millionen gequälter Menschen auf der ganzen Erde bedeuten, die heute, mit mehr oder weniger klarem Bewusstsein, am Ende ihrer Erwachsenenweisheit sind. Die Menschheit liegt schwer krank. (…) Wohin wir treiben? darüber herrscht heillose Verwirrung. Anscheinend unlösbare politische, wirtschaftliche, kulturelle Probleme überall; von allen Seiten drohen neue Katastrophen; soweit die verantwortlichen Staatenlenker, die Politiker und Volkswirtschaftler, die Generäle und selbst die Philosophen noch ehrlich sind, bekennen sie, am Ende ihrer Weisheit zu sein.“[84]
Das Konzept der Gründer war anfänglich geprägt durch die Grundsätze der Arbeitsschule, beispielsweise in der Einführung eines Kurssystems und den Verzicht auf Jahrgangsklassen. Alle Schüler sollten mitgestalten, mitbestimmen und mitverantworten können. „Die Odenwaldschule ist eine freie Gemeinschaft, in der die verschiedenen Generationen unbefangen miteinander umgehen und voneinander lernen können“, hieß es in der Schulordnung.[85] Kinder und Jugendliche sollten möglichst individuelle Lernanregungen bekommen – intellektuelle, handwerklich-praktische, musisch-künstlerische. Das Lernen war mit einer Berufsausbildung verbunden. Gelebt wurde in altersgemischten Wohngruppen, den Familien, deren Oberhaupt der Lehrer war und die jedes Jahr neu zusammengestellt wurden. Die Schule war in den 1920er Jahren international angesehen; bis 1938 waren auch ausländische Lehrer aus England und den USA dort tätig.[86]
Die Zöglinge der Odenwaldschule kamen aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen sozialen Schichten. Weit intensiver als die anderen Landerziehungsheime pflegte die Odenwaldschule kurz nach ihrer Gründung und dann zwischen den Jahren 1918 und 1933 wichtige internationale Beziehungen. In den 1920er Jahren kam es zu häufigen Besuchen von Anhängern der Reformpädagogik aus den verschiedensten Ländern der Erde (Japan, Indien, der ehemaligen Sowjetunion, USA). Weiterhin spielte die Odenwaldschule schon früh eine wichtige Rolle in der deutschen Sektion des „Weltbundes für die Erneuerung der Erziehung“.
Die Wertschätzung der staatsbürgerlichen Erziehung in der Odenwaldschule wurde öffentlich vertreten:[87] „Jeder Jüngling, jedes Mädchen lernt im Landerziehungsheim, als verantwortungsvolles Glied einer kleinen Gemeinschaft zu leben, um als Staatsbürger später mit voller Hingabe dem Wohle der Nation zu dienen.“
Geheebs prägte die Konzeption der Übertragung von Verantwortung:[88] „Die zentrale Idee unserer Gemeinschaft ist eben die der Verantwortung, der Verantwortung jedes einzelnen für sich und für die Gesamtheit; und die ganze bei uns herrschende Atmosphäre und alle Einrichtungen zielen darauf ab, die Kinder schon möglichst früh mit einem starken Verantwortungsgefühl zu erfüllen, zugleich das Vertrauen der noch hilflosen und führungsbedürftigen Kinder zu den reiferen Kameraden und zu menschlich hochentwickelten Persönlichkeiten zu pflegen und so zu bewirken, daß eine wahre Aristokratie, äußerlich unkenntlich und auf den verschiedenen Lebensgebieten wechselnd, den stärksten Einfluß auf die Lebensgestaltung der Gesamtheit wie jedes einzelnen ausübe.“
Geheeb legte Wert auf die sorgfältige Ausbildung und Ausübung von handwerklichen Tätigkeiten:[89]„Keineswegs aber gilt etwa theoretische Arbeit als vornehmer denn praktische; vielmehr stehen alle Kultur - und Arbeitsgebiete als gleichwertig nebeneinander.“
Geheeb stärkte die Betonung der Lebensgemeinschaft zwischen Lehrern und Schülern:[90]„Durch das alltägliche Miteinanderleben findet die Auseinandersetzung und Verständigung des Kindes mit den Menschen seiner Umgebung statt; entsteht das Bedürfnis nach einer besonderen intellektuellen Auseinandersetzung oder nach theoretischer Klärung und Verständigung oder nach einer gemeinsamen Willenskundgebung der Gesamtheit.“ Die Odenwaldschule war in den 1920er Jahren international angesehen; bis 1938 waren auch ausländische Lehrer aus England und den USA dort tätig. Von 1924 bis 1932 war der Reformpädagoge Martin Wagenschein Mitarbeiter an der Odenwaldschule. Im Laufe der folgenden Jahre knüpfte er als Teilnehmer zahlreicher Tagungen viele für die Entwicklung der Schule äußerst wertvolle Verbindungen. Er engagierte sich – wenn auch oft mit beträchtlichem Widerwillen wegen der rein materiellen Zielsetzungen dieser Vereinigung – im Rahmen der im Oktober 1924 in der Odenwaldschule gegründeten Vereinigung der freien Schulen und Landerziehungsheime Deutschlands.
Geheeb war auch Mitglied des New Education Fellowship.[91] Dies ist die älteste internationale Organisation, die seit 1921 bis heute die Reformpädagogik begleitet hat, und war während der 1920er Jahre ihr eigentliches Forum, das den internationalen Erfahrungsaustausch in breitem Umfang erst ermöglichte und intensivierte. Die Konstituierung erfolgte 1921 in Calais. Die Zeitschrift "The New Era" wurde von New Education Fellowship gegründet und von Beatrice Ensor zeitweilig gemeinsam mit Alexander S. Neill herausgegeben, der 1921 auf einer Recherche-Reise in Hellerau bei Dresden seine später unter dem Namen Summerhill berühmt gewordene Schule gründete. Die Zeitschrift hatte einen bedeutenden Einfluss auf die internationale Entwicklung.Internationale Konferenzen fanden in Montreux 1923, Heidelberg 1925, Locarno 1927, Helsingør 1929, Nizza 1932 mit einer breiten internationalen Beteiligung statt. In diesem Rahmen finden sich auch Namen wie Martin Buber, Ovide Decroly, John Dewey, Maria Montessori, Helen Parkhurst, Hanna Meuter, Jean Piaget und Peter Petersen.[92]
1934 emigrierten Paul und Edith Geheeb mit ca. 25 Schülern und einigen Mitarbeitern in die Schweiz und gründeten dort die Ecole d’Humanité. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Unterrichtssystem der Schule mehrfach reformiert. 1963 wurde sie UNESCO-Projektschule. Die Schule war Mitglied im Schulverbund Blick über den Zaun.
Die Odenwaldschule war die erste koedukative (Internats)-Schule Deutschlands. Geheeb, der bei Johannes Trüper ein gemischtes (heilpädagogisches) Internat erlebt und 1899/1900 in Wyk auf Föhr weitere Erfahrungen mit der Koedukation gemacht hatte, empfand die in den damaligen staatlichen und nicht-staatlichen Schulen vorherrschende Trennung der Geschlechter als zu tiefst unpädagogische Reduktion der natürlichen Welt.
Die Odenwaldschule war eine integrierte Gesamtschule. Es war möglich, eine Schreiner- oder Schlosserausbildung mit staatlichen Abschlüssen neben dem Fachabitur oder Vollabitur zu durchlaufen; auch die Ausbildungen zum Informationstechnischen Assistenten (ITA) oder zum Chemisch-Technischen Assistenten (CTA) waren neben dem Abitur möglich.
Im Jahr 1998 wurden Berichte ehemaliger Schüler öffentlich bekannt, nach denen in den 1970ern bis in die 1980er Jahre der damalige Schuldirektor Gerold Becker mehrere Schüler sexuell missbraucht hatte. Andreas Huckele, ein ehemaliger Schüler, der die Odenwaldschule von 1981 bis 1988 besuchte, hatte sich im Juni 1998 in zwei Briefen an Rektor Wolfgang Harder gewandt. 1998 trafen sich Missbrauchsopfer, der damalige Direktor Harder und der damalige SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Conradi als Vize-Vorsitzender des Trägervereins und vereinbarten eine Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, die jedoch nicht stattfand.[93] Im September 2010 gründete sich der Opferverein Glasbrechen mit dem Ziel, Menschen zu helfen, die an der Odenwaldschule sexuelle, körperliche und seelische Gewalt erfahren haben. Im Juli 2011 gab die damalige Schulleiterin Kaufmann ihr Amt ab mit der Aufgabe, sich seitdem nur noch um die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zu kümmern. Ohne mediale Präsenz gründeten im Juli 2011 der Verein Odenwaldschule e. V. sowie die Altschülervereinigung und Förderkreis der Odenwaldschule e. V. die Stiftung „Brücken bauen“. Laut Satzung soll die Stiftung vornehmlich die Durchführung und Unterstützung von Hilfsmaßnahmen für Menschen leiten, die an der Odenwaldschule durch sexualisierte Gewalt körperliche und seelische Verletzung erlitten haben.
Die Lehrerwohnung eines seit 2011 unterrichtenden Lehrers wurde am 9. April 2014 von Ermittlungsbehörden durchsucht. Der Lehrer gab zu, vor seiner Anstellung an der Odenwaldschule Kinderpornos aus dem Internet heruntergeladen zu haben. Ihm wurde von der Schulleitung sofort gekündigt. Der Landrat Matthias Wilkes kritisierte die Schulleitung, da diese die versprochene Transparenz nicht eingehalten habe. Nach diesem Vorfall kündigte Schulleiter Däschler-Seiler seinen Rücktritt im Juni 2014 an. Der Trägerverein entließ die komplette Schulleitung im Juli 2014.
Im Februar 2015 stellte Gerhard Herbert als Vorsitzender des Trägervereins ein neues Leitungsteam aus Internatsleiterin Sonya Mayoufi und Geschäftsführer Marcus Halfen-Kieper vor. Das neue Leitungsteam versuchte, Vertrauen in die Odenwaldschule aufzubauen und dem Organisationsversagen der letzten Jahre ein Ende zu setzen. Zudem sollte die Trägerschaft der Schule auf eine Stiftung und eine gemeinützige GmbH übertragen werden. Ein neues Leitungsteam sollte nach Erteilung der Betriebserlaubnis die Geschäftsführung der gGmbH übernehmen, allerdings wurde das Team im Streit am 27. Juli 2015 vom Trägerverein entlassen.
Der Trägerverein gab am 25. April 2015 bekannt, dass es ihm nicht gelungen sei, die Finanzierung für die nächsten Jahre zu sichern, nachdem viel Vertrauen bei Banken und Ehemaligen verspielt worden sei. Das bedeutet das endgültige Aus für die Schule. Die bis zum neuen Schuljahr 2015/16 verbleibende Zeit werde gebraucht, um den Schulbetrieb geregelt abzuwickeln und die Schüler in anderen Schulen unterzubringen, sagte Vize-Landrat Schimpf. „Die Schule steht, wo sie nun steht, durch eigene Fehler, durch die eigenen Strukturen, durch Wegsehen und Wegducken, durch eigenes Nichthandeln“, erklärte der Geschäftsführer des Leitungsteams, Marcus Halfen-Kieper. „Wir können und sollten weder den Medien noch den Aufsichtsbehörden oder der Politik und schon gar nicht den Opfern sexualisierter Gewalt an der Schule die Verantwortung für die Situation zuzuschieben versuchen.“[94]
Eltern und Schüler kämpften dafür, die Schule zu erhalten. Am 30. Mai 2015 trat der Vorstand des Trägervereins zurück und übergab die Geschäfte bis zur Neuwahl am 17. Mai 2015 kommissarisch an das neue Leitungsteam. Über eine Fondslösung wollten Schule, Eltern und Altschüler Investoren zur Finanzierung der nächsten zwei Schuljahre gewinnen, die für das Erteilen der Betriebsgenehmigung nachgewiesen werden muss. Die fehlende Betriebserlaubnis blockierte die offensive Gewinnung neuer Schüler. Am 15. Mai 2015 verkündete die Schulleitung, dass die finanziellen Mittel für den Fortbestand der Schule aufgebracht seien. Am 16. Juni 2015 meldete der Trägerverein seine Zahlungsunfähigkeit, am 2. September 2015 wurde von der endgültigen Schließung der Schule berichtet.[95]
Die Schweizer Ecole d’Humanité wurde 1934 von Paul Geheeb und seiner Ehefrau Edith gegründet.[96] Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten in Deutschland emigrierten die Geheebs 1934 mit einigen Mitarbeitern und Schülern der Odenwaldschule in die Schweiz und gründeten hier die Ecole d’Humanité, zunächst in Versoix im Kanton Genf und 1946 dann an ihrem jetzigen Standort in Goldern-Hasliberg. Der Schulkomplex besteht aus 20 Familienhäusern und Chalets, in denen die meisten Schüler und Lehrer in einer Großfamilien ähnlichen Gemeinschaft zusammenleben. Einzelne Schüler und Lehrer wohnen auch außerhalb der Schule in den benachbarten Ortschaften.
In der Schule leben derzeit etwa 150 Schüler im Alter von 10 bis 20 Jahren.[97] Etwa die Hälfte der Schüler kommen aus der Schweiz, die übrigen aus derzeit etwa 25 verschiedenen Ländern, darunter haben viele Englisch als Muttersprache, etwa 20 Prozent der Schüler kommen aus den USA. Die Schule ist unterteilt in ein deutsch- und ein englischsprachiges System, in denen die jeweilige Sprache Unterrichtssprache ist.
Unterrichtet wird in Kleingruppen von etwa acht Schülern, die in etwa leistungshomogen sind, aber auch jahrgangsübergreifend sein können. Am Vormittag werden täglich drei gleiche Fächer in Einheiten von 60 bis 75 Minuten Länge über etwa sechs Wochen in Epochenform unterrichtet.[98] Am Nachmittag finden musisch-künstlerische, handwerkliche und sportliche Aktivitäten statt, die häufig besonderen Projekt- und Erlebnischarakter haben. Darunter sind viele alpine Sportaktivitäten. Die Schüler sind intensiv mitbestimmend am Schulgeschehen beteiligt. Sie vertreten ihre Interessen in richtungsweisenden Gremien und entscheiden selbst über die Wahl vieler Unterrichtsinhalte. Dabei spielte die Übernahme von Verantwortung in der Selbstverwaltung der Heime eine ebenso wichtige Rolle wie die Erfahrung sittlicher Vorbilder.
Die Landerziehungsheimbewegung besaß kulturkritische Voraussetzungen, die am Ende des 19. Jahrhunderts auch die Erziehungstheorie beherrschten. Die Großstadt wurde mit dekadenter Zivilisation gleichgesetzt, Kultur und Bildung ließen sich nur außerhalb verwirklichen. Viele Reformpädagogen plädierten aus diesem Grunde für die Errichtung pädagogischer Anstalten als Lebensformen auf dem Lande. Die Landerziehungsheime sollten die ideale Ganzheit von Schule und Lernen, Leben und Arbeiten in einer einzigen institutionellen Form verwirklichen. Landleben wurde gleichgesetzt mit natürlichem Leben; Leben in der Natur sei die Grundvoraussetzung für eine natürliche und positive Erziehung. Allen Formen der Landerziehungsheimbewegung war gemeinsam, dass sie nach den Prinzipien der Gemeinschaft, der Arbeit und des Lebensbezuges organisiert waren.
Cecil Reddie gründete im Oktober 1889 aus Protest gegen die traditionelle britische Public School das erste Landerziehungsheim in Abbotsholme bei Rochester/England. Er gilt als Begründer der internationalen Landerziehungsheimbewegung und besaß Vorbildcharakter für deutsche, französische und andere Landerziehungsheimgründungen in England. Reddie wandte sich vehement gegen eine Spezialisierung des Lernens; die Erziehung der jungen Menschen sollte möglichst alle Facetten des Wissensspektrums enthalten. Der Schulalltag sah morgens die Unterrichtsstunden und am Nachmittag die freieren Aktivitäten vor, zu denen neben Sport, Exkursionen, musischen Tätigkeiten auch praktische Arbeit auf dem Feld, in den Werkstätten oder im Garten zählten.
Lietz war ein Jahr lang Gastlehrer in Abbotsholme, wo er die pädagogischen Vorstellungen von Cecil Reddie kennen lernte und verinnerlichte. Er gilt als der Begründer der Landerziehungsheimbewegung in Deutschland. Im Jahre 1889 gründete er nach reiflicher Planung ohne staatliche Unterstützung ein Landerziehungsheim bei Ilsenburg im Harz. Diese Gründung zog weitere nach sich, so entstanden Heime in Schondorf am Ammersee (1905), die Freie Schulgemeinde Wickersdorf (1906), die Odenwaldschule (1910), Gandersheim (1923), Juist (1925), Laacher See (1928) usw., die direkt oder indirekt auf Lietz zurückgingen. Lietz nahm die zu seiner Zeit gängige Kritik innerhalb der internationalen Reformpädagogik an der Staatsschule und ihren Lehrmethoden wie der Prügelstrafe und der autoritären Erziehungsvorstellung auf. Die bloße Wissensvermittlung und die drillartige Erziehung in grauen Städten mit ihren schädlichen Verführungen stehen im Zentrum der Kritik von Lietz. Er möchte eine Verbindung von gutem Unterricht durch fähige und sowohl begeisterte als auch begeisternde Lehrer und einer Erziehung seiner Zöglinge zu guten Menschen in einer natürlichen und gesunden Umgebung. Dies sieht er verwirklicht in einer Einheitsschule auf dem Lande, in seinen Landerziehungsheimen. Jedes einzelne Kind soll in seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten entwickelt und gefördert werden. Dabei spielte die Übernahme von Verantwortung in der Selbstverwaltung der Heime eine ebenso wichtige Rolle wie die Erfahrung sittlicher Vorbilder. Nicht Kenntnisse, Wissen, Gelehrsamkeit, sondern Charakterbildung, nicht alleinige Ausbildung des Verstandes und Gedächtnisses, sondern Entwicklungen aller Seiten aller Kräfte waren seine Maxime. In Anlehnung an die Konzeption Georg Kerschensteiners baute er auch handwerkliche und körperliche Elemente in seine Unterrichtsmethodik ein. Georg Kerschensteiner war der Verfechter eines einheitlich aufgebauten Schulsystems, förderte den naturwissenschaftlichen Unterricht und rückte die Charakterbildung der Jugendlichen in den Mittelpunkt der Schulerziehung. Die Auswahl der Unterrichtsfächer war breit und abwechslungsreich. Neben dem obligatorischen Fächern (Deutsch, Mathematik, Religion, Geschichte, Sprachen) erteilte ein Arzt einmal wöchentlich Unterricht in Gesundheitslehre, auf dem Schuldach wurden astronomische Beobachtungen angestellt und im selbst gebauten Schwimmbassin übte man das Retten und Wiederbeleben von Wasserunfallopfern.
Als Gegenmodell hatte er die Absicht, „neue“ Schulen abseits der von ihm kritisierten großen Städte zu errichten, um Jugendlichen die Gelegenheit zu geben, in einer „primären“ Lebens- und Erfahrungswelt aufzuwachsen. Der normale Unterricht wurde so oft wie möglich im Freien abgehalten und stand meist in engem Zusammenhang mit der Werkstattarbeit, so dass die Schüler durch ihnen vertraute, praktische Abläufe die Theorie besser verstehen konnten.
Paul Geheeb unterrichtete einige Zeit in dem von Cecil Reddie gegründeten Abbotsholme, wo er sich vielseitige Anregungen für sein eigenes pädagogisches Denken holte.[99] Geheeb war ein früherer Vertreter der ganzheitlichen Erziehung in Deutschland. Die Forderung nach Ganzheitlichkeit will die gesamte Persönlichkeit des Lernenden in den Lernprozess einbringen und komplexe Unterrichtsstrukturen schaffen. Er war auch Mitglied des New Education Fellowship. Dies ist die älteste internationale Organisation, die seit 1921 bis heute die Reformpädagogik begleitet hat, und war während der 1920er Jahre ihr eigentliches Forum, das den internationalen Erfahrungsaustausch in breitem Umfang erst ermöglichte und intensivierte. Geheeb stärkte die Betonung der Lebensgemeinschaft zwischen Lehrern und Schülern, die auf dem Lande intensiver wahrgenommen werde als in der Großstadt. Im Jahre 1910 gründete Geheeb die Odenwaldschule in Oberhambach bei Heppenheim an der Bergstraße, die sich für die damalige Zeit zu einer viel beachteten Freien Schule entwickelte. Die Odenwaldschule war die erste koedukative (Internats)-Schule Deutschlands und verstand sich als ausführendes Organ einer staatsbürgerlichen ganzheitlichen Erziehung. Die Zöglinge der Odenwaldschule kamen aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen sozialen Schichten. Statt auf Unterordnung, Befehl und Gehorsam sollte das Verhältnis von Schülern und Lehrern auf gegenseitigem Respekt und auf Dialog beruhen. Jeder Versuch, Menschen nach einem bestimmten Plan zu erziehen, muss laut Geheeb scheitern. Echte Bildung ließe sich nicht herstellen und vermitteln, sondern sei das Ergebnis eigener Erlebnisse und eigenen Engagements.
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Fußnoten