e-Portfolio von Michael Lausberg
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Erziehung und Sittlichkeit bei Immanuel Kant

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Sittlichkeit und Erziehung

2.1 Kants Problemstellung: Der Mensch als praktisch-geselliges Wesen

2.2 Das Naturgesetz der reinen praktischen Vernunft

2.3 Die Kantische Moralphilosophie

3 Fazit

4 Literatur

1 Einleitung

„Kant hat durch sein Werk einen Schritt im Philosophieren getan, der weltgeschichtliche Bedeutung hat. Vielleicht ist seit Plato nichts geschehen, was in der herben Luft des Denkens und aus ihr wirkend so weitreichende Folgen haben müßte, nicht im Raum der Technik und Naturbeherrschung, sondern im Inneren des Menschen für seine Denkungsart, sein Seinsbewusstsein, seine Ideen, seine Antriebe und seinen guten Willen. (…) Kant ist ein Träger der Humanität der Aufklärung. Er ist nicht nur der große Kopf, sondern der wahrhaftige Mensch. Sein Ethos kennt nicht übersteigerte Handlungen, in denen Moral unwahrhaftig konstruiert oder pathetisch demonstriert wird, um dann sich im eigensüchtigen Alltag zu verstecken. Sein Ethos ist das Ethos gerade des Alltags und jeden Augenblicks. Ihn brauchen wir nicht als ein Fremdes bewundern. Mit ihm können wir leben. Ihm möchten wir folgen.“[1]

(Karl Jaspers)

Was Kant unter Erziehung verstanden hat, lässt sich in verschiedenartiger Weise explizieren. [2]

Zum ersten lässt sich aus den anthropologisch-pädagogisch-geschichtsphilosophischen Schriften ein Verständnis von Erziehung ablesen, dem Kant selbst ausführlich Ausdruck gegeben hat. Zum zweiten kann man aus der praktischen Philosophie erschließen, wie Kant die sittliche Erziehung aufgrund seiner Moralphilosophie gedacht haben muss, ohne dies mehr als beiläufig anzusprechen. Zum dritten äußert sich Kant über Erziehung in empirischen Sätzen, die noch nicht in einem modernen Sinne empirisch-wissenschaftlich abgesichert sind, z.B. in der Pädagogik, der Anthropologie und in der Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft. Zum vierten finden sich in Kants Lehre vom Schönen wichtige Hinweise auf den Beitrag einer ästhetischen zu einer moralischen Bildung. Das Problem, wie diese verschiedenen Aspekte der Erziehung in eine Einheit gebracht werden können, ist noch nicht gelöst. [3]

Die verschiedenartigen Äußerungen Kants zur Pädagogik widersprechen sich nicht. Es existieren Stellen im Kantischen Werk, die ihre ausgleichende harmonische Interpretation nahe legen. Sie lassen sich aber auch so interpretieren, dass sie in Spannung zueinander treten, weil ihr Zusammenhang problematisch wird. Der Autor wird diesen Interpretationsweg einschlagen. Der entscheidende Punkt ist: Es wird nicht vorausgesetzt, es gebe ein einheitliches Referenzphänomen, über das in sachlicher Übereinstimmung mit Kant mittels des Ausdruckes Erziehung gesprochen würde. Es werden vielmehr im Folgenden verschiedene Funktionsweisen des Wortes Erziehung herausgearbeitet, für die es nicht wichtig ist, ob dem Ausdruck Erziehung ein selbiger Gegenstand gesichert ist. Und das deswegen nicht, weil unter dem Wort Erziehung Verschiedenartiges verstanden wird. Dies Verschiedenartige hängt irgendwie zusammen. Aber die komplizierte Art und Weise seines Zusammenhanges kann allererst nach der Analyse der jeweiligen Funktionsweisen deutlich werden.

Die These des Autors lautet: Dasjenige Erziehungsverständnis Kants, das sich in den anthropologisch-pädagogisch-geschichtsphilosophischen Schriften äußert, ist durch teleologische-geschichtsphilosophische Gedanken bedingt, die für das 18. Jahrhundert eine gewisse positive Funktion besitzen, die aber im 21. Jahrhundert nicht repristiniert werden können. Unser heutiges Erziehungsverständnis ist zwar aus der Aufklärung erwachsen, aber es ihm auch entwachsen. Die Aufklärung hat die Probleme, die sich für die heutige Pädagogik eingestellt haben, nicht gesehen. Diese Situation erfordert gegen ein gewisses Erziehungsverständnis Front zu machen. Dies geschieht im Folgenden, in dem das Erziehungsverständnis, wie es sich in den anthropologisch-pädagogisch-geschichtsphilosophischen Schriften Kants findet, im Namen der Sittlichkeit und der sittlichen Erziehung destruiert wird. Diese Destruktion bringt ans Licht, dass die Denkweisen, in der in den anthropologisch-pädagogisch-geschichtsphilosophischen Werken von der Erziehung des Menschen, der Menschheit, der Menschengattung die Rede ist, von derjenigen, in der die praktische Philosophie vom Vernunftwesen Mensch und der Idee der Menschheit handelt, verschieden ist.

Im Rahmen dieser These sind die Satzzusammenhänge der interpretierten Textstücke, die empirischen Wissenschaften zugeordnet werden können, nicht wichtig. Man stößt auf derartige Satzzusammenhänge besonders bei der Analyse der Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft. Ihre Diskussion wird ein Licht auf Kants Stellung zu einer späteren Erziehungswissenschaft fallen lassen.[4]

2 Sittlichkeit und Erziehung

Es scheint, Kant begründet die sittliche Erziehung in der Autonomie des Menschen. Dieses Erziehungsverständnis setzt sich gegen zwei anders geartete Möglichkeiten ab. Gonsior hat diese beiden Möglichkeiten als Heteronomie und als Theonomie bezeichnet.[5] Sofern die Rede von der Autonomie des Menschen nur bedeutet, Kant lehne für den Menschen Heteronomie und Theonomie ab, ist ihr zuzustimmen. Wenn sie besagen soll, es bliebe neben diesen beiden Möglichkeiten nur die Autonomie des Menschen übrig, dann ist sie als problematisch zu kennzeichnen, weil sie die Art und Weise, wie Kants Autonomie denkt, verdunkelt.

Das oben Festgestellte sei gegen eine nahe liegende anthropologische Interpretation der Ethik Kants verdeutlicht. Nach Gonsior erfolgt bei Kant „die Erklärung des Autonomie des Menschen als Person“. [6] Dem Menschen hat es immer nur um seine Menschlichkeit zu gehen: „um die Wahrung seiner selbst als eines vernünftigen Willens“. [7] Einem bekannten Diktum Kants zufolge ist der Mensch Selbstzweck und darf daher niemals als Mittel gebraucht werden: „Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit.“ [8]

Gegen Sätze von dieser und ähnlicher Struktur ist zu sagen: Indem Kant den Menschen vor Heteronomie und Theonomie zu bewahren versucht, greift er, zwar auf den Menschen als Person, als vernünftigen Willen, als Persönlichkeit zurück; aber wenn man prüft, wie er die Einheit Mensch zusammengefügt denkt, dann stößt man auf Gedanken, die man im Rahmen einer Anthropologie nicht ausweisen kann. Das ist später durch die Analyse der Struktur dieser Gedanken zu verdeutlichen.

Vorab sei festgehalten: Ohne Angriff auf ein über dem Menschen aufgerichtetes Vernunftgesetz und die ihm zugehörige Freiheit ist die Kantische Bestimmung des Menschen nicht durchführbar. Man sollte das Vernunftgesetz nicht das des Menschen nennen, weil es so gedacht ist, dass von ihm her erhellt, was Menschsein besagt, dem alle Menschen gemäß sein sollen. [9] In der Denkweise, in der das bedacht wird, wird das Wort Mensch gar nicht so gebraucht, wie es im Alltag und in der Wissenschaft üblich ist. Soll die Bedeutung des Wortes Mensch bei Kant geklärt werden, so muss seine Philosophie analysiert werden. Ihre Darstellung des Menschen hat zwar einige Kontaktstellen mit den Darstellungsweisen von Alltag und Wissenschaft, aber durch die übliche pseudo-einheitliche Verwendung des Ausdrucks Mensch werden diese komplizierten Verhältnisse verdeckt.

Für den Begriff Autonomie gilt Ähnliches. Auch die Autonomie, von der Kant spricht, ist nicht die des Menschen. Sie besteht – radikal gesehen – nämlich in der Unterwerfung des Menschen unter das Vernunftgesetz, durch das sich Menschen vielmehr so bestimmen sollen, dass sie in der Unterworfenheit unter das Vernunftgesetz wahrhaft Mensch werden.

Wenn es nicht gelingen sollte, Kants Bestimmung des Menschen aus einer nicht-menschlichen Einheit von Vernunft, Freiheit und Willen zu rekonstruieren, dürfte kein angemessenes Verständnis Kants mehr zu erreichen sein. Sofern in der Gegenwart von vielen Forschern die Gedanken Kants zur Bestimmung des Menschseins preisgegeben worden sind – im Namen des Menschen und der Gesellschaft – ist ein partieller Verlust der Kantischen Gedanken schon eingetreten.

Deren Ergebnis ist: Einzelne Menschen sollen zur Selbstbestimmung fähig sein. Sie sollen sich als Einheit von Vernünftigkeit und Sinnlichkeit auffassen und diese Einheit gestalten. Ihre materiale Sinnlichkeit sollen sie mit formaler Vernünftigkeit durchdringen und darin zu sich selbst kommen, indem sie im Bewusstsein der Freiheit Achtung für das Gesetz und für sich selbst erfahren. Mittels des Wortes Mensch formuliert: Darin sollen sie in einem wertenden Sinne des Wortes Mensch sein. Diese sein zu sollen, ist jedem einzelnen Menschen zugedacht; und zwar grundsätzlich, ohne dass Rücksicht auf seine naturhafte und gesellschaftliche Bedürftigkeit genommen wird, „ wodurch der Lehrling (…) auf das Bewußtsein seiner Freiheit aufmerksam erhalten wird, und, obgleich diese Entsagung eine anfängliche Empfindung von Schmerz erregt, dennoch dadurch, daß sie jenen Lehrling dem Zwange selbst wahrer Bedürfnisse entzieht, ihm zugleich eine Befreiung von der mannigfaltigen Unzufriedenheit, darin ihn alle diese Bedürfnisse verflechten, angekündigt und das Gemüth für die Empfindung der Zufriedenheit aus anderen Quellen empfänglich gemacht wird.“ [10]

Mit diesen Vorbemerkungen ist man auf dem Feld angelangt, auf dem die Repräsentanten des Erziehungsbewusstseins um die Grundlagen der Erziehung kämpfen. Pädagogen, die unter den Voraussetzungen der Kantischen Gedanken tätig werden, wissen, dass sie darauf abzielen müssen, die Selbsttätigkeit der Einzelnen anzuregen, sie auf ihre Freiheit aufmerksam zu machen. Durch Selbsttätigkeit gemäß der vernünftigen, freien Willensbestimmung aber geraten die Menschen an die Grenze des erzieherischen Verhältnisses. Erziehung soll den Erziehenden und sich selber so verstehen, dass sie ihrer eigenen Grenze Rechnung trägt und diese in ihrem eigenen Tun zu berücksichtigen sucht. Diese Bestimmung des Erziehens in der heutigen Zeit von verschiedenen Seiten verdunkelt zu werden, indem man neue, kreativere Konzeptionen des Erziehers qua Lehrers entwirft.

Die Gedankengänge der praktischen Philosophie Kants sind von komplizierter Art. Das, was Erzieher von den Erziehenden gewöhnlich als praktisches Verhalten fordern können, pflegt keine Denkaufgabe zu sein, wie sie das Studium der praktischen Philosophie unter anderem ist. Und selbst die eventuell für Erziehende erforderliche Rechenschaftsablage über praktisches Verhalten braucht nicht aus den manchmal abstrakten Argumentationen der praktischen Philosophie zu bestehen. Dies hat Kant wie oben festgestellt selbst in der Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft ausgesprochen. Was von Erziehenden an praktischem Verhalten gefordert wird, ist wohl zumeist – Kantisch gesprochen – der gemeinen Vernunft unmittelbar verständlich. In welcher Weise Gedankengänge der praktischen Philosophie Kants zu nicht abstrakt reflektierenden Erziehenden in Beziehung gebracht werden können, ist ein Problem für sich. Dies Problem muss man vom Verständnis philosophischer Begriffe getrennt halten. Im Folgenden handelt es sich zunächst lediglich um deren Verständnis.

2.1 Kants Problemstellung: Der Mensch als praktisch-geselliges Wesen

Lessings Formel zur Kennzeichnung dessen, was die Sittlichkeit menschlichen Handelns ausmacht, lautet: Das Gute um seiner selbst willen tun. [11] Zu einem so gearteten Tun ist der Mensch als vernünftiges Wesen fähig. Für Lessing bleibt es weitgehend dabei, dass er den Sinn seiner Formel der Sittlichkeit lediglich durch die negative Abgrenzung gegenüber der traditionellen Theologie begreift. Das hat zur Folge, dass unbestimmt bleibt, was das Gute und das Um – seiner – selbstwillen – tun positiv besagen.

Was ist das Gute, das um seiner selbst willen geschehen soll? Was bedeutet es, etwas um seiner selbst willen zu tun? Die praktische Philosophie Kants ist es, in der Fragen dieser Art ihre Explikation erfahren und in das Ganze des philosophischen Denkens eingeordnet werden. [12]

Der Mensch kann sich theoretisch zur Welt verhalten. Er beansprucht in diesem Verhalten, das, was ist, zu erkennen.[13] Die Kritik der reinen Vernunft prüft diesen Anspruch hinsichtlich seiner Tragweite und seiner Grenzen. Sie untersucht die Frage, was kann ich wissen, indem sie prüft, ob und gegebenenfalls wie weit die Vernunft von sich aus, a priori, in der Lage ist, Erkenntnis zu leisten. Es ergibt sich in ihrem Verlauf, dass die reinen Elementarbegriffe des Verstandes zwar konstitutiv sind auf jede mögliche Erkenntnis, dies aber nur in ihrem Bezug auf sinnlich Erfahrbares. Allein für sich ist die reine Vernunft keiner Erkenntnis von Gegenständen fähig. [14] Ihr über mögliche Erfahrung hinausgehender Erkenntnisanspruch führt in den transzendental dialektischen Schein. Er bringt es nur zu Ideen, „die für unser theoretisches Erkenntnißvermögen überschwänglich, dabei aber doch nicht etwa unnütz oder entbehrlich sind, sondern als regulative Principien dienen: (…)“ [15]

Nun verhält sich jedoch der Mensch nicht nur theoretisch-erkennnend, sondern auch praktisch zur Welt. Und in dieser Weise des Verhaltens lebt er meistens; er gilt als begehrendes, handelndes Wesen. Er erstrebt Glück und Wohlergehen. In diesem weiten Sinne aber ist der Mensch praktisch als ein Wesen, dessen Verhalten nicht wie das des Tieres instinkthaft geregelt ist, sondern das Verstand, Vernunft hat. Vernünftigkeit tritt nicht nur im theoretischen Weltverhalten ins Spiel, sondern gehört auch zur Sphäre der menschlichen Praxis. Im theoretischen Gebrauch dient sie der Feststellung dessen, was ist, im praktischen Gebrauch der Beurteilung dessen, was für den Menschen gut ist oder sein soll.

Die Eigenart des menschlichen Begehrungsvermögens als eines durch Vernünftigkeit im bisherigen weiten Sinne des Wortes mit-bestimmten lässt sich in Kantischer Sprachweise folgendermaßen verdeutlichen: Menschen verfügen im Unterschied zu Tieren über das Vermögen nach Begriffen zu wirken. [16] Kant stellt in der „Kritik der praktischen Vernunft“ fest: „Mit dem praktischen Gebrauche der Vernunft verhält es sich schon anders. In diesem beschäftigt sich die Vernunft mit Bestimmungsgründen des Willens, welcher ein Vermögen ist, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen oder doch sich selbst zu Bewirkung derselben (…), d.i. seine Causalität, zu bestimmen.“ Kant spricht von vernünftigen Wesen, „ so fern sie überhaupt einen Willen, d.i. ein Vermögen haben, ihre Causalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen, mithin so fern sie die Handlungen nach Grundsätzen, folglich auch nach praktischen Principien a priori (…) fähig sind.“ [17]

In der „Kritik der Urteilskraft“ diagnostiziert Kant: „Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt: und Alles, was als durch einen Willen möglich (oder nothwendig) vorgestellt wird, heißt praktisch-möglich (oder nothwendig) zum Unterschiede von der physischen Möglichkeit der Nothwendigkeit einer Wirkung, wozu die Ursache nicht durch Begriffe (sondern wie bei der leblosen Materie durch Mechanism und bei Thieren durch Instinct) zur Causalität bestimmt wird. – Hier wird nun in Ansehung des Praktischen unbestimmt gelassen; ob der Begriff, der der Causalität des Willens die Regel giebt, ein Naturbegriff, oder ein Freiheitsbegriff sei.“ [18]

Die Unterscheidung der spezifischen Weise menschlicher Praxis und Willenskausalität gegenüber der Kausalität in der übrigen Natur bringt demnach die Eigenart des menschlichen Verhaltens, sofern es das Verhalten eines vernünftigen Wesens mit freiem Willen ist, noch gar nicht zum Ausdruck. [19] Dies bedeutet also: Menschliche Praxis kann in zweifacher Bestimmtheit auftreten; als durch die Natur bestimmte, wenn Menschen in der üblichen und vorherrschenden Weise überlegen und handeln, und als durch Kausalität aus Freiheit erfolgende. Das aber ist darum der Fall, weil der Mensch zugleich Natur- und Vernunftwesen ist, weil er den Bedingungen der Natur untersteht und doch zugleich kraft seiner Vernunft über sie hinausragt.[20]

Es ist in Anbetracht der Abstraktheit der Ausführungen Kants daran zu erinnern, dass der Mensch, den er sich vorstellt, gemeint ist als gesittetes Wesen in seiner geschichtlich-gesellschaftlichen Umwelt, in der er sittlich zu handeln hat: „Rousseau. Verfährt synthetisch u. fängt vom natürlichen Menschen an, ich verfahre analytisch u. fange vom gesitteten an.“ [21]

Wenn Kant vom Naturwesen Mensch spricht, so hat diese Rede also nichts mit der Vorstellung von einem vorgeschichtlichen Naturzustand des Menschen zu tun.

Allgemeine praktische Grundsätze können entsprechend dem Doppelcharakter des Menschen empirisch-sinnlich oder durch die Vernunft bedingt sein: „Die Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjectiven Gründen zum Prinzip macht, heißt seine Maxime.“ [22] Maximen sind ihrem subjektiv-besonderen Charakter gemäß nicht unbedingt allgemeingültig. Sofern Maximen als für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt werden, werden sie von Kant terminologisch als Gesetze erfasst. [23] Jede praktische Regel kann insofern ein „Produkt der Vernunft“ heißen, als sie „Handlung als Mittel zur Wirkung als Absicht vorschreibt“. [24] Als solche kann sie aber bei einem Sinnenwesen, dessen Handeln nicht nur vernünftigen Bestimmungsgründen untersteht, auch sinnlich – empirisch bedingt sein. Leitet sich die praktische Regel dagegen aus der Gesetzgebung der Vernunft her, ist sie nicht nur eine Regel der Geschicklichkeit und Klugheit, so schreibt sie dem Willen unbedingt vor, wie und was er zu wollen hat. Eine solche Regel hat den Charakter eines kategorischen Imperativs. Dieser drückt ein objektiv nötigendes Sollen aus. [25]

Aufgrund dieser Voraussetzungen ergibt sich die Kantische Fragestellung: Gibt es nur eine sinnlich – empirische bedingte praktische Vernunft oder ist es möglich, den Begriff einer reinen praktischen Vernunft zu entwerfen und ihm sogar objektive Realität zu verschaffen?

Soll dem Begriff einer durch die reine Vernunft bedingten Kausalität aus Freiheit Realität verschafft werden können, so muss auf die empirisch unwiderlegbare sittliche Selbsterfahrung des Menschen zurückgegriffen werden. Dem gegen das Drängen der Neigungen erfahrenen Sollen ordnen die Menschen eigenes Können zu: „Aber auch die Erfahrung bestätigt diese Ordnung der Begriffe in uns. Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgiebt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdann nicht seine Neigung bezwingen würde. Man darf nicht lange rathen, was er antworten würde. Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung derselben unverzögerlichten Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugniß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht trauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er utheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.“ [26] Diese Grunderfahrung des Sollens und Könnens gehört nach Kant zu aller Praxis im alltäglichen Leben. In ihr hat die praktische Philosophie ihre phänomenale Ausgangsbasis. [27]

Damit das praktische Vernunftgesetz in seiner positiven Eigenart in der rechten Weise in den Blick treten kann, muss die Analyse der Lebenssphäre des sinnlich – geselligen Menschenwesens in ihrer Gesamtheit noch ein Stück weitergeführt werden.

In der praktischen Philosophie ist der Mensch als Einheit von Sinnlichkeit und Vernünftigkeit, Begehren und Wollen thematisch; und zwar so, dass das vernünftige Wollen in die Herrschaft eingesetzt wird. Begehrend ist der Mensch auf etwas gerichtet, was er begehrt (die Materie des Begehrens). Seine Intention ist nicht, das Objekt rein so, wie es an sich selber ist, zu erfassen. Der letzte Grund, aus welchem das Subjekt begehrt, ist sein Glückbedürfnis: „Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstgenügsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist, und dieses Bedürfniß betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens, d.i. etwas, was sich auf ein subjectiv zu Grunde liegendes Gefühl der Lust oder Unlust bezieht, dadurch das, was er zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird.“ [28]

Das Glücksstreben ist demnach durch Mangelhaftigkeit bedingt. Der Mensch ist aufgrund seiner sinnlichen Bedürftigkeit mit seinem Dasein so, wie er es vorfindet, nicht zufrieden. Gleichzeitig aber bedarf er, wie es die Erfahrung lehrt, der Zufriedenheit. Was ihn aber nach seinem subjektiven Dafürhalten glücklich macht, ihm das Gefühl der Lust zu gewähren verspricht, das bestimmt er zur Materie seines Begehrungsvermögens. Kant zielt in philosophischer Radikalität auf die Totalität möglicher Lust im ganzen Leben ab: „Nun ist aber das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet, die Glücksseligkeit, (…) [29] Glückseligkeit ist der Titel für den letztlich erstrebten Endzustand allen naturhaften Begehrens.

Alle praktischen Grundsätze, denen das denkende Wesen folgt, die das der praktisch – sinnlichen Bedürftigkeit entspringende Begehren von etwas voraussetzen, sind durch dieses Begehren und das in ihm Begehrte bedingt. Sie können, weil der Verstand in ihnen in Abhängigkeit von der Bedürfnisstruktur steht, nach Kant nicht vernünftig heißen. Es ist in der heutigen Zeit normal, auch ein Verhalten nach solchen Grundsätzen vernünftig zu nennen. Im Gegensatz zu dieser heute geläufigen Sprechweise sind alle Grundsätze der genannten Art, in Kantischer Terminologie gesprochen, aus folgendem Grund nicht vernünftig: Das Verhältnis des Begehrens zu seiner Materie wird durch die Gefühle von Lust und Unlust vermittelt: „ Es kann aber von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde.“ [30]

Jede Begehrungsvorstellung ist daher sinnlich – empirisch, erfahrungsabhängig. Entsprechend sind auch die zugehörigen Grundsätze durch die Materie des Begehrens bedingt. Also sind sie selber auch empirisch und haben nicht den Charakter apriorisch – formaler Gültigkeit, wie sie die Vernunft verleihen würde. [31]

Da der höchste Maßstab für das alles Begehren leitende Gefühl die Glücksseligkeit ist, unterstehen alle materialen praktischen Prinzipien dem Prinzip der Glückseligkeit oder der Selbstliebe – im Gegensatz zur Vernünftigkeit. [32]

Auf die Kantische Problematik des Glücksseligkeitsbegriffes kann hier nicht näher eingegangen werden. Die mangelhafte Tauglichkeit des Glücksseligkeitsbegriffes zu einer allgemeinen und notwendigen Regel der Beurteilung menschlichen Handelns hebt Kant an vielen Stellen hervor: „Das Princip der Glücksseligkeit kann zwar Maximen, aber niemals solche angeben, die zu Gesetzen des Willens tauglich wären, selbst wenn man sich die allgemeine Glücksseligkeit zum Objecte machte. Denn weil dieser ihre Erkenntniß auf lauter Erfahrungsdatis beruht, weil jedes Urtheil darüber gar sehr von jedes seiner Meinung (…) abhängt, so kann es wohl generelle, aber niemals universelle Regeln, d. i. solche, die im Durchschnitte am öftersten zutreffen, nicht aber solche, die jederzeit und nothwendig gültig sein müssen, geben, mithin können keine praktischen Gesetze darauf gegründet werden. Eben darum weil hier ein Object der Willkür der Regel derselben zum Grunde gelegt und also vor dieser vorhergehen muß, so kann diese nicht worauf anders als auf das, was man emphielt, und also auf Erfahrung bezogen und darauf gegründet werden, und da muß die Verschiedenheit des Urtheils endlos sein. Dieses Princip schreibt also nicht allen vernünftigen Wesen eben dieselbe praktische Regeln vor, ob sie zwar unter einem gemeinsamen Titel, nämlich dem der Glücksseligkeit, stehen. Das moralische Gesetz wird aber nur darum als objectiv nothwendig gedacht, weil es für jedermann gelten soll, der Vernunft und Willen hat.“ [33]

Was Glücksseligkeit besagt, hängt davon ab, was einem einzelnen oder einer Gruppe das subjektive Interesse jeweils als erstrebenswert vorstellt. Das so genannte Prinzip der Glücksseligkeit hat also die Eigentümlichkeit, dass es das Zufällige und Besondere der bedürftigen Sinnenwesen zum uneingeschränkten Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens erhebt.

Die Unerlässlichkeit, mit der die subjektiv besonderten Sinnenwesen nach Glücksseligkeit streben, hat nicht den Charakter eines allgemeinverbindlichen Gesetzes. Die Selbstliebe ist sozusagen ein Gesetz, das den Menschen als Naturwesen betrifft, ein pathologisches Naturprinzip. In der praktischen Sphäre ist das in der sinnlichen Bedürftigkeit des Menschen verwurzelte Prinzip ein solches der zufälligen Besonderheit von begehrenden Einzelsubjekten und Gruppen. Das Naturhafte ist in der praktischen Sphäre das Ungeregelte, Chaotische. Es ist darauf zu achten, dass der Mensch diesem Naturgesetz nicht entkommen kann.

2.2 Das Naturgesetz der reinen praktischen Vernunft

Alle praktischen Grundsätze, die unter der Bedingung des Prinzips der Selbstliebe stehen, taugen hinsichtlich ihres Allgemeincharakters lediglich zu subjektiv – besonderen Maximen, nicht aber zu unbedingt allgemeingültigen Gesetzen. Kants Frage lautet nun: Wie lässt sich ein unbedingt allgemeingültiger Grundsatz für die Willensbestimmung und das aus ihr folgende Handeln finden? Ein solcher Grundsatz wäre empirisch unbedingt und damit ein Grundsatz reiner Vernunft.

Von vornherein ist klar: Sofern man unter dem Gesichtspunkt des Gefühls von Lust und Unlust gemäß dem Prinzip der Glücksseligkeit die Regeln der Willensbestimmung und des Verhaltens wähle, kann es keine objektiven, d.h. unbedingt für alle Menschen geltenden Gesetze geben. Durch den Gesichtspunkt von Lust und Unlust käme subjektiv Besonderes in die Gesetze hinein. Sie blieben material bedingt und taugten lediglich zu subjektiven Regeln für das menschliche Handeln, die durch den Bedürfnisgesichtspunkt von Einzelnen und Gruppen bedingt wären. Wie könnte man sich solche subjektiven Maximen als objektive Gesetze denken? Solange ihr materialer Gehalt das Streben bestimmt, ist dies nicht möglich.

Kann in den Maximen noch etwas außer ihrer Materie enthalten sein? „Nun bleibt von einem Gesetze, wenn man alle Materie, d.i. jeden Gegenstand des Willens, (…) davon absondert, nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung. Also kann ein vernünftiges Wissen sich seine subjectiv-praktischen Principien, d.i. Maximen, entweder gar nicht zugleich als allgemeine Gesetze denken, oder es muß annehmen, daß die bloße Form derselben, nach der jene zur allgemeinen Gesetzgebung schicken, sie für sich allein zum praktischen Gesetze mache.“ [34]

In der bloßen gesetzgebenden Form der subjektiven Maximen ist das gesuchte unbedingt Allgemeingültige, das objektiv Gesetzliche gefunden. Fungiert diese Form als Bestimmungsgrund des Willens, so ist praktische Vernunft nicht mehr empirisch bedingt, so tritt in der praktischen Sphäre die Vernunft als solche hervor. Durch sie wirkt reine Vernunft für den Willen in den ihr gemäß geformten Maximen gesetzgebend.

Alle empirischen Bestimmungsgründe des Willens betreffen den Menschen als geselliges Naturwesen. Durch sie gehört er in den Zusammenhang der Erscheinungen. Die in ihnen sich auswirkende Kausalität ist die der Natur. Bestimmt jedoch die allgemeine gesetzliche Form den Willen, so ist er aller Kausalität der Naturbegebenheiten entzogen. Seine Kausalität ist die der Freiheit geworden. [35] Damit ist der Zusammenhang von reinem Vernunftgesetz und freiem Willen hergestellt: Indem die gesetzgebende Form der Maximen zum Bestimmungsgrund des Willens wird, gilt der so bestimmte Wille als frei.

Die Problematik des Zusammenhangs zwischen Materie und Form kann hier nicht diskutiert werden. Jeder praktische Grundsatz hat seine materiale Bestimmtheit, aber nicht jede Materie lässt sich allgemein formen. Es bleibt die Aufgabe, zu prüfen, ob eine Maxime auch als allgemeines praktisches Gesetz gelten kann. In den Maximen liegt schon eine gewisse Einheit von Materie und Form vor, bevor sie an der von der Vernunft geforderten Form gemessen werden. Aber diese der Form der Vernunft in den Maximen vorausliegende Form spielt für die Formung der Materien der Maximen gemäß der Vernunftform keine Rolle.

Schreibt sich ein Subjekt die Erhebung zum Vernunftgesetz und die Möglichkeit einer Willensbestimmung durch es als Fähigkeit zu, so nimmt es sich als ein freies vernünftiges Wesen an.

Es ist im Gesetz das Sollen mitzudenken. Den Charakter des Sollens nimmt die Vernunft nur für ein sinnliches glücksbedürftiges Wesen an, das sie in seiner Einzelheit anspricht, weil, was sie von ihm fordert, in der Macht jedes Einzelnen steht und nur von jedem Einzelnen getan werden kann. Vom Vernunftgesetz wird man auf die Freiheit als Bedingung seiner Möglichkeiten geführt. Denn das Sollen wäre sinnlos ohne Voraussetzung des freien Könnens. [36] Die Freiheit ist ihrerseits für uns ganz und gar an das moralische Sollen verwiesen. Nur im Bezug auf das praktische Gesetz kann sie objektive Bedeutung gewinnen. Löst man den Gedanken der Freiheit aus diesem Bezug, so denkt man die Freiheit nur, ohne dass in einem solchen Denken mitgedacht würde, worin ihre Wirklichkeit, worin das Freisein bestände. Denkt man sie in diesem Bezug, so denkt man, worin Freiheit ihr Bestehen gewinnt, nämlich in der Befolgung des Sollens.

Es existieren unbestimmt viele Grundsätze als mögliche Themen für die praktische Vernunft. Der Wille kann auf verschiedener Weise in den Maximen durch die reine Vernunft bestimmt werde. Aber in allen so geformten Grundsätzen herrscht Einheit durch die allgemeine Form, der sie gemäß sind. Ihr Richtmaß ist gesetzliche Allgemeingültigkeit. Dieser Ausdruck zielt nicht darauf, dass jedes einzelne ethische Gesetz allgemeingültig ist, sondern auf die allgemeine Gesetzmäßigkeit, die in Ansehung aller ethisch-materialen Formen unbestimmt ist. Sie betrifft nur die Form des Wollens überhaupt. Kant bemerkte: „(…) daß, weil materiale Principien zum obersten Sittengesetz ganz untauglich sind (wie bewiesen worden), das formale praktische Prinzip der reinen Vernunft, nach welchem die bloße Form einer durch unsere Maximen möglichen allgemeinen Gesetzgebung den obersten und unmittelbaren Bestimmungsgrund des Willens ausmachen muß, das einzige mögliche sei, welches zu kategorischen Imperativen, d.i. praktischen Gesetzen (welche Handlungen zur Pflicht machen), und überhaupt zum Princip der Sittlichkeit sowohl in der Beurtheilung, als auch der Anwendung auf den menschlichen Willen in Bestimmung desselben tauglich ist.“[37]

Das Kriterium, dem alle Grundsätze im Falle der Herrschaft reiner Vernunft entsprechen müssen, ist daher ein einziges. Es kann als formale Formel des Sittengesetzes gelten. Als eine solche Formel lässt sich das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft in folgender Weise ausdrücken: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“[38] Dies bedeutet, dass materiale Handlungsmaximen Prinzipien für allgemeine Gesetzgebungen werden können. In der Formel des kategorischen Imperativs ist ausgesagt, dass gehandelt werden soll, wie es dem Begriff von Prinzipien einer allgemeinen Gesetzgebung gemäß ist. Genau gesprochen heißt das: Der Imperativ selber enthält noch kein Prinzip einer Gesetzgebung. Unter dieser Voraussetzung sind Maximen daraufhin zu prüfen, ob sie zu Prinzipien einer Gesetzgebung taugen. Ein Prinzip der Gesetzgebung muss gegenüber der Formalheit des Imperativs materialer Art sein. Sein Bezug auf eine Materie darf nicht so unbestimmt bleiben, wie der des Imperativs selber. Nennt man den Imperativ wie Kant Gesetz, das in der Form von möglichen Gesetzen besteht, indem er die Formung von Maximen gemäß Gesetzesform gebietet. Er ist dann als Prinzip von Gesetzgebung überhaupt zu bezeichnen, nicht dagegen als Prinzip einer Gesetzgebung unter anderen. Kant formuliert in der Anmerkung zu §7: „Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen. Denn der Gedanke a priori von einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung, (…), wird, (…), als Gesetz unbedingt geboten.“ [39]

Festzuhalten ist: Das Gesetz – „das einzige Factum der reinen Vernunft (…), die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt“ [40] - gebietet Maximen in Form zu bringen. Es selber ist keine Formung einer Maxime, die Materie aufweist. In ihr selber liegt nur, dass Gesetzgebung und ihr entsprechender Gehorsam sein soll. Dies Sollen realisiert sich nur im Bezug auf Maximen und Gesetze. Diese Interpretation lässt sich durch die nächste Anmerkung bestätigen. Hier spricht Kant davon, dass die Vernunft der Menschen bei ihren Handlungen über Gesetzmäßigkeiten urteile, indem sie „die Maxime des Willens (…) jederzeit an den reinen Willen halte, d.i. an sich selbst, indem sie sich a priori praktisch betrachtet.“ [41]

Nun wird ein Blick auf unseren Ausgangspunkt zurück geworfen. Die Ethik hat es mit der Frage nach dem Guten und Bösen zu tun. [42] Ist es die Beziehung des Menschen auf ein Gutes (bonum), die seinen sittlichen Zustand ausmache? Gibt es objektive Werte verschiedener Sphären, nach denen sich ein Mensch richten kann? Gut im strengen Sinne kann nach der Kritik der praktischen Vernunft nur eine bestimmte Weise des Wollens heißen; und zwar diejenige, in der das formale Sittengesetz Bestimmungsgrund der Maximen und ihres materialen Gehaltes ist. Der Charakter des Guten rührt niemals von einer Materie des Begehrungsvermögens her.

Es gibt also für die kritische Aufklärung keine Möglichkeit mehr, auf irgendein durch den Kosmos oder durch Gott vorgegebenes Gut zu rekurrieren, wenn festgestellt werden soll, was für den Menschen und was zugleich überhaupt gut ist. Was „Gutsein“ besagt, muss aufgrund von etwas, durch das man nur den Menschen bestimmen kann, verstanden werden. Das Kriterium für gut und böse liegt einzig und allein im vernünftigen Wollen. Jede Einschaltung religiöser Motivierungen und Erfahrungen würde dieses Kriterium verderben. Das vernünftige Wollen aber ist allen Möglichkeiten, die Menschen in ihrem eigenen Namen entwerten können, entzogen.

In den Strukturen, in denen sich das Reden und Denken der alltäglich – vorwissenschaftlichen und gebildeten gemeinen Vernunft vollzieht, kann die von Kant gedachte Bedeutung von „gut“ gar nicht wiedergegeben werden. Sie kann daher auch von der gemeinen Vernunft nicht unmittelbar verstanden werden, was nicht ausschließt, dass diese einen unmittelbaren Zugang zu ihr besitzt in subjektiven Zugangsmodi, die für den Anspruch des Denkens unbefriedigend sind. Wenn man der gemeinen Menschenvernunft ein unmittelbares Wissen um das Gute als reinen guten Willen zuspricht, so kann sie dieses Wissen vielleicht nicht angemessen darstellen. Das braucht sie auch nicht. Für sie und damit für die Sphäre der Erziehung ist es in erster Linie wichtig, dass sittlich gehandelt werde. Die rechte Erfassung des sittlichen Handelns ist für sie primär keine Aufgabe.

Es ist oben bereits auf den Zusammenhang von Sittengesetz und Freiheit hingewiesen worden. Das Sittengesetz bekundet sich im Menschen als ein Faktum der Vernunft, dessen gebietenden Anspruch er vernimmt. Löst man die Idee der Freiheit aus dem Bezug auf dieses vorgängige Faktum, so gelangt man nur zum Gedanken der Freiheit, ohne finden zu können, worin die objektive Realität der Freiheit besteht. Denkt man Freiheit in diesem Rückbezug auf das Sittengesetz, dann denkt man, worin Freiheit ihre Wirklichkeit allein bezeugen kann: in dem zum Sittengesetz gehörenden Bewusstsein des Könnens, das sich in der Befolgung des Sollens verwirklicht.

Die Faktizität des moralischen Gesetzes bedeutet seine Undeduzierbarkeit durch die theoretische Vernunft. An dieses undeduzierbare Wirkliche ist für uns unser Wissen um die Wirklichkeit der Freiheit gebunden: „Etwas anderes aber und ganz Widersinnisches tritt an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduction des moralischen Princips, nämlich daß es umgekehrt selbst zum Princip der Deduction eines unerforschlichen Vermögens dient, welches keine Erfahrung beweisen, die speculative Vernunft aber (um unter ihren kosmologischen Ideen das Unbedingte seiner Causalität nach zu finden, damit sie sich selbst nicht widerspreche) wenigstens als möglich annehmen musste, nämlich das der Freiheit, von der das moralische Gesetz, welches selbst keiner rechtfertigenden Gründe bedarf, nicht blos die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen.“ [43]

Bevor die pädagogischen Konsequenzen aus Kants Moralphilosophie gezogen werden, soll deren Darstellung durch einen kurzen Ausblick auf das Triebfedern – und Autonomieproblem abgeschlossen werden. Wie kommt es, dass das Vernunftgesetz mich nötigt, mich verpflichtet, mir sagt, dass ich soll?

Als Grund des Auftretens des Vernunftgesetzes als Imperativ gibt Kant an wichtigen Stellen die Sinnlichkeit des Menschen an. Als Naturwesen unterliegt der Mensch Triebfedern, die am Prinzip der Glücksseligkeit ausgerichtet sind. Gegen alle Triebfedern dieser Art muss das Vernunftgesetz selber als Triebfeder von eigener Art auftreten. Es muss dafür Sorge getragen werden, dass, wenn Sittlichkeit möglich sein soll, das Vernunftgesetz den Willen unmittelbar – ohne die Vermittlung sinnlicher Triebfedern – bestimmen kann. Der komplizierte Gedanke, in dem dies von Kant gezeigt wird, hat zur Voraussetzung, dass dies keineswegs immer so sein muss. Das Vernunftgesetz kann den Willen auch mittelbar bestimmen. Das geschieht dann z.B., wenn irgendein Gefühl der Lust oder Unlust Einfluss darauf hätte, dass der Mensch das moralische Gesetz zum Bestimmungsgrund seines Willens machte. Der Mensch handelte dann zwar gemäß dem moralischen Gesetze, aber nicht um des Gesetzes willen; es gäbe eine sinnliche Triebfeder, die das Gesetz erst überhaupt zum Bestimmungsgrund des Willens werden ließe. Soll eine Handlung sittlich sein, so müssen derartige Triebfedern ausgeschaltet bleiben.

Bestimmt das moralische Gesetz den Willen unmittelbar zur Tat, so handelt der Mensch unabhängig von allen sinnlichen Antrieben. Indem das geschieht, tritt er allem, was ihn als praktisches Sinnenwesen motivieren kann, entgegen. Da alle Antriebe mit dem Gefühl von Lust und Unlust verbunden sind, bewirkt ihre Abweisung durch das moralische Gesetz selber ein Gefühl: ein negatives Gefühl der Demütigung. Der Eigendünkel des Menschen wird hierdurch niedergeschlagen. Aber diese negative Auswirkung des moralischen Gesetzes gegenüber dem sinnlichen Gefühl ist nicht alles. Dem negativen Effekt entspricht gleichzeitig ein positives Empfinden des vernünftig handelnden Menschen: sich als Sinnenwesen demütigend, fühlt er Achtung vor dem Gesetz, dessen Nötigung er Folge leistet, indem er es zum Bestimmungsgrund seines Willens macht: „Also schlägt das moralische Gesetz den Eigendünkel nieder. Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellectuellen Causalität, d.i. der Freiheit, so ist es, indem es zum Gegensatze mit dem subjectiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung und, (…), mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist (…)“ [44]

So erweist sich das moralische Gesetz selber nicht nur als objektiver, sondern auch als subjektiver Bestimmungsgrad des Willens, als Triebfeder, „indem es auf die Sinnlichkeit des Subjects Einfluß hat und ein Gefühl bewirkt, welches dem Einflusse des Gesetzes auf den Willen förderlich ist.“ [45] Dieses Gefühl ist zwar durch sinnliche Gefühle bedingt, in seiner positiven Eigenart aber verursacht durch das übersinnliche moralische Gesetz selber. Daher darf genau genommen das Gefühl der Achtung für das Gesetz nicht als eine Triebfeder zur Sittlichkeit verstanden werden. Die Achtung ist vielmehr die „Sittlichkeit selbst, subjektiv als Treibfeder betrachtet, indem die reine praktische Vernunft dadurch, daß sie der Selbstliebe im Gegensatze mit ihr alle Ansprüche abschlägt, dem Gesetze, das jetzt allein Einfluß hat, Ansehen verschafft.“ [46]

Achtung ereignet sich also, indem im Menschen ein vernünftig-allgemeines Gebot und Sinnlichkeit aufeinander treffen; und zwar so, dass der Mensch sich selber auf beide Seiten der aufeinander treffenden Kräfte setze. Eine Handlung, die unter Ausschluss aller durch das sinnliche Gefühl vermittelten Antriebe geschieht, in der also als subjektives Warumwillen der Handlung nur die Achtung für das Gesetz fungiert, heißt eine Handlung aus Pflicht. [47] Derartig reine sittliche Handlungen dürften unter Menschen selten sein. Sie eindeutig auszumachen ist schlicht unmöglich. Selbst ausgesuchte Demonstrationsexempel können hier nur als vieldeutige Hinweise auf ihre Möglichkeit dienen.

Es lässt sich ein angemessener Zugang zum Begriff der Autonomie durch seine Abhabung gegen den Begriff der Heteronomie des Willens gewinnen: „Wenn (…) die Materie des Wollens, (…) in das praktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeit desselben hineinkommt, so wird daraus Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu folgen, und der Wille giebt sich nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze: (…)“ [48]

Indem Menschen in einem geläufigen Sinn des Wortes tun, was sie wollen, ist ihr Wille fremd – gesetzlich determiniert. Wird den Menschen, wie es in den westlichen Wohlstandsgesellschaften üblich ist, einiger Raum eingeräumt, den sie freizeitlich nach Lust und Laune ausfüllen können, dann ist ihr Verhalten entweder sittlich indifferent oder, da in die Sphäre des Sittlichen fallend und durch Heteronomie bestimmt, nicht sittlich.

Kant drückt sich öfter so aus, dass der Anschein entsteht, als gebe es für das menschliche Verhalten kaum eine Sphäre des sittlich indifferenten. Dann wäre das meiste von dem, was Menschen in westlichen Wohlstands- Freizeitgesellschaften machen, als Unfreiheit verurteilungswürdig; nicht etwa, weil diese Menschen dem Konsumzwang unterlägen, sondern weil sie ihr Verhalten nicht durch Maximen regelten, denen sie als Gesetzen gehorchten, indem sie sich als Sinnenwesen einschränkten.

Es ist offensichtlich, dass eine solche Freiheit und Selbstgesetzlichkeit von dem, was Kant mit den Begriffen Freiheit und Autonomie meint, differenziert. Leben Menschen in der geschilderten Weise, so ist von Kant her zu sagen, sie sind fremdbestimmt; sie folgen pathologischen Gesetzen, durch sie eventuell davon abgehalten werden, in Freiheit sie selbst zu werden.

Negativ gewendet bedeutet Freiheit die Unabhängigkeit von allen naturhaften Antriebsmöglichkeiten. Diesem negativen Begriff von Freiheit entspricht positiv die Gesetzgebung der Vernunft gemäß dem formalen Vernunftgesetz.[49]

Freiheit ist demnach weder Willkür noch Indifferenz, sondern streng gesetzliche Gebundenheit. Nur indem sich der Wille dem Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft unterwirft, ist er freier Wille. Diese durch Sollen und Nötigung vermittelte Unterwerfung des Willens unter das Gesetz ist Eigenart eines endlichen Willens, dessen Beziehung zum Vernunftgesetz nur subjektiv notwendig, zufällig ist. Kant verdeutlicht den endlichen reinen guten Willen oft in der Abhebung gegen einen vollkommenen guten heiligen Willen, für den es keine Nötigung und kein Sollen gibt. Das alles legt die Annahme nahe, dass die Endlichkeit des reinen Willens beim Menschen durch die Sinnlichkeit bedingt ist, und nicht zu einer ursprünglichen Seinsverfassung des Menschen gehört, die hinter die Unterscheidung von Vernunft und Sinnlichkeit zurückreicht. [50]

Bleibt der menschliche Wille abhängig von Naturbestimmungen, ist er unfrei, heteronom. Durch Heteronomie wird verhindert, dass ein Mensch sich zum Vernunftwesen macht und als ein solches wird – was er werden soll. Folgt er dem Grundgesetz der reinen Vernunft, so vollzieht sich Selbstgesetzgebung (Autonomie). Darin bestimmen sich Menschen zu Vernunftwesen. Im Gehorsam gegenüber den Gesetzen, in dem sich freies Wollen erfüllt, findet sie ihr Selbstsein als Person.

2.3 Die Kantische Moralphilosophie

Zum Abschluss der Analyse der Kritik der praktischen Vernunft sollen die entwickelten Kantischen Gedanken so akzentuiert werden, dass die Art und Weise ans Licht kommt, in der sie gedacht sind. Wenn man die Kantische Einheit von Autonomie und Gesetzesgehorsam mittels des Ausdruckes Mensch genau darstellen will, muss gesagt werden: Das Vernehmen des Gesetzes und seine Aneignung durch Menschen ereignen sich zwar nur, indem sich Menschen zum Vernunftgesetz erheben und sich ihm gemäß bestimmen, aber das Vernunftgesetz ist zugleich allen menschlichen Verfügungsmöglichkeiten entzogen. Es ist das den Menschen Bestimmende/Beherrschende. Das genannte moralische Ereignis ist dem Sich – zu - Sich –Verhalten vorbehalten, das sinnvoll nur vom Einzelnen ausgesagt werden kann. In einem solchen Verhalten tritt ein Einzelner aus allen inhaltlich - materialen Zusammenhängen, in denen er in Abhängigkeiten lebt, heraus und beurteilt solche Abhängigkeiten von einem Standpunkt der Unabhängigkeit heraus: „Eine solche Umkehr ist ein Akt der Freiheit, in dem diese sich allererst konstituiert – und kann daher dem Einzelnen nicht abgenommen werden.“ [51]

Zu ihr gibt es für einen wissenschaftlichen Beobachter, aber auch für einen Erzieher keinen unmittelbaren Zugang, was nicht besagt, dass aufgrund von Verhaltensäußerungen keine Rückschlüsse auf sittliches Handeln möglich wären. Das aber ändert nichts daran, dass die Sittlichkeit in Verhältnisse hineinverlagert wird, die nur im Selbstvollzug des Einzelnen bestehen und durch die er sich von jeder sozialen Außenbestimmtheit ablöst, um dieser einen neuen Sinn zu geben, der sich spontanem eigenem Ursprung verdankt und nicht in einem strikten Sinne pädagogisch erwirkt werden kann.

Erzieher haben es mit einem derartigen Verhalten auf Seiten der Erziehenden gewöhnlich nicht zu tun. Es ist kein Zufall gewesen dass die Kantische Idee Personen, die im Anschluss an sie Pädagogik als Wissenschaft etablieren wollten, Schwierigkeiten bereitet hat. Als ein Vorreiter der Problematik des Bezuges von Sittlichkeit und Erziehung kann Herbart bezeichnet werden. [52]

Es kann festgestellt werden: Sich dem Vernunftgesetz zu unterwerfen ist damit gleichbedeutend, sich der Idee seines Selbst zu unterwerfen.

Sein Selbst zu werden, ist jedem einzelnen Menschen durch das Vernunftgesetz abgefordert. Folgt ein einzelner Mensch dem Gesetz, so folgt er dem Gesetze seiner Selbst, - in dem nichts liegt, was einen einzelnen Menschen von einem anderen einzelnen Menschen unterscheidet – abgesehen davon, dass sich das Vernunftgesetz nur in der Selbsttätigkeit von Einzelnen als praktisch – nötigendes und zugleich Freiheit und Selbstsein gebendes zeigen kann. Unter dieser Voraussetzung gewinnt die Rede vom Allgemeinen einen neuen Sinn: Indem einzelne Menschen dem Vernunftgesetz folgen, bestimmen sie sich als allgemeines Selbst und folgen dem Gesetz eines jeden Selbst. Kant äußerte in den Schlussüberlegungen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten über den sittlich handelnden Menschen als Mitglied einer intelligiblen Welt: „ Diese bessere Person glaubt er aber zu sein, wenn er sich den Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt versetzt (…) Das moralische Sollen ist also eigenes nothwendige Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur so fern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet.“ [53]

Durch sittliche Selbstbestimmung erheben sich einzelne Menschen zur Würde der Menschheit, erfüllen sie die durch das Vernunftgesetz vorgeschriebene Bedeutung von Menschsein: „Der Tugendbegriff ist dagegen aus der Seele des Menschen genommen. Er hat ihn schon ganz, obzwar unentwickelt, in sich (…). In seiner Reinigkeit, in der Erweckung des Bewusstseins eines sonst von uns nie gemuthmaßten Vermögens, über die größten Hindernisse in uns Meister werden zu können, in der Würde der Menschheit, die der Mensch an seiner eignen Person und ihrer Bestimmung verehren muß, nach der er strebt, um sie zu erreichen, (…).“ [54]

Nur der Rückgang in die nicht objektivierbaren, unzugänglichen Verhältnisse der vernünftigen Selbstbestimmung ermöglicht es Kant, den Begriff der Sittlichkeit und des ihm gemäßen Menschseins zu fassen. Dieser Rückgang in die Innerlichkeit der Subjektivität steht keineswegs der Sachlage entgegen, dass sich das ethische Existieren nur im Heraustreten aus der Innerlichkeit realisiert, dass sich Sittlichkeit lediglich als sittliches Handeln des Menschen vollendet. Andernfalls bliebe sie machtlos. Sie wäre bloße Innerlichkeit, die im Gegensatz zur Äußerlichkeit verharrte. Die Vorwürfe dieser Art gegen die idealistische Ethik sind bekannt. [55]

Sie treffen jedoch ihre Intention nicht, ihr zufolge hat Vernunft für die Welt aufzukommen. Es gibt keinen anderen Maßstab für das Verhalten in der Welt und die Gestaltung der Welt als die Forderung der Vernunft.[56] Damit ist die Sphäre der Sittlichkeit selber unabhängig, autonom geworden: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. Wenigstens ist es seine eigene Schuld, wenn sich ein solches Bedürfniß an ihm vorfindet, dem aber alsdann auch durch nichts anders abgeholfen werden kann: weil, was nicht aus ihm selbst und seiner Freiheit entspringt, keinen Ersatz für den Mangel seiner Moralität abgiebt. – Sie bedarf also zum Behelf ihrer selbst (sowohl objectiv, was das Wollen, als subjectiv, was das Können betrifft) keinesweges der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug.“[57]

Es sind nicht Menschen, die sich Gesetze geben und Herren ihrer Gesetze sind. Vielmehr sind diejenigen, die sich dem Vernunftgesetz gemäß bestimmen, Menschen in einer Bedeutung des Wortes, die zu erfüllen sie sich absprechen, sofern sie selber auch unter der Hegemonie ihrer sinnlich – geselligen Naturhaftigkeit leben.

Nun soll die These von der Moralität als Selbstbestimmung des Einzelnen durch einige Überlegungen konzentriert werden, die eine Vielheit von Menschen in ihren Beziehungen zueinander voraussetzen.

Es wird angenommen, dass irgendwelche Menschen Handlungsmaximen gemäß dem Kriterium des Vernunftgesetzes beurteilen.[58] Ein positives Ergebnis ihrer Beurteilung vorausgesetzt, wüssten diese Menschen dann, wie im gegebenen Fall gehandelt werden müsste – von irgendwelchen Menschen. Es könnte der Fall eintreten, dass ein einziger Mensch begründeterweise für sehr viele wüsste, was diese zu tun hätten. Wenn diejenigen Menschen, für die ein Mensch wüsste, was zu tun wäre, durch ihn irgendwie zum Handeln bewogen würden, handelten sie dann sittlich? Die Antwort müsste man verneinen. Es ist hier zwar der Beurteilung von Maximen gemäß dem Vernunftgesetz, wie Kant sie fordert, Rechnung getragen, aber es sind andere wichtige Erfordernisse, die an das sittliche Handeln zu stellen sind, nicht erfüllt. In dem geschilderten Fall braucht auf Seiten der Handelnden keine moralische Gesinnung und keine Achtung für das Gesetz vorzuliegen. Diese aber können im sittlichen Bereich niemanden durch einen anderen abgenommen werden.

Die Anwendung von Beurteilungskriterien kann bis zu einem gewissen Grad objektiviert und intersubjektiv kontrolliert werden. Moralische Gesinnung, Achtung und das reine Wollen/Sollen selber sind von anderer Art. Zwar denkt Kant sie jedem einzelnen Menschen zu, aber sie sind trotzdem nur von jedem Einzelnen zu haben. Man kann in ihnen nicht mit jemandem übereinkommen wie in vernünftigen Beurteilungskriterien und ihrer Anwendung auf praktische Grundsätze. Sie können auch niemandem durch jemand anderes abgenommen werden. Nur in diesem Phänomen bezeugt sich die Tatsächlichkeit, die Wirklichkeit der Freiheit und der ihr zugehörigen Zweieinheit von Vernunft und Wille.

Es ist für Kants Philosophie charakteristisch, dass sie auf das Ganze gesehen, trotz der Zentralstellung des Problems der Wirklichkeit der Freiheit, die Differenz zwischen argumentativ zugänglichen und auf den Selbstvollzug und seine Interpretation hinweisenden Partien zu kurz kommen lässt.

Die Beurteilung von Maximen gemäß dem Vernunftgesetz muss bei allen Menschen gleich ausfallen. Durch sie erheben sich zum Gedanken allgemeiner Gesetze, die für alle Menschen verbindlich sein sollen. Sie hat, angewandt auf eine Vielheit von Menschen, den Charakter einer Forderung. Sofern Menschen die Beurteilung von Maximen gemäß dem Vernunftgesetz nicht vornehmen, tun sie nicht, was sie tun können und sollen als Voraussetzung dafür, dass von ihnen überhaupt sittlich gehandelt werden kann. Indem in der Beurteilung Allgemeingültigkeit des Wissens beansprucht wird, erhebt man sich in ihr zur Universalität des Menschlichen. Das Gewusste ist demnach von Intersubjektivitäten independent. Von seiner Einheit her bestimmt sich erst ein weitester normativer Begriff von Intersubjektivität.

Für die Gesamtstruktur des Sittlichen ist charakteristisch, dass das, was als gesetzmäßig Allgemeines gewusst wird, und die Selbstbestimmung durch einen einzelnen Menschen geeint werden müssen. Daher gilt: Selbst wenn aus der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit ein vollkommener vernünftiger Zustand menschlichen Zusammenlebens resultieren sollte, braucht dieser doch nicht sittlicher Art zu sein.

3 Fazit

Bei der Betrachtung der Erziehungstheorie Kant existiert kein einheitliches Referenzphänomen, über das in sachlicher Übereinstimmung mit Kant mittels des Begriffes Erziehung gesprochen wird. Kant hat seine praktische Philosophie nicht ausführlich in einen Bezug zu seiner Erziehungslehre gesetzt.

In seinen Stellungnahmen zur Erziehung äußerte sich ein Grundzug neuzeitlichen Denkens; sie rückten die Aufgabe einer Erziehung des Menschen durch Menschen zur Vollkommenheit als angestrebtes Projekt in den Blick. Es sollten alle Naturanlagen im Menschen entwickelt werden, damit sich das menschliche Geschlecht durch Fortschreiten in einer Reihe vieler Generationen zu seiner Bestimmung hocharbeiten konnte. Als dessen Voraussetzung sollte die Lehre von der Erziehung zu einer Wissenschaft entwickelt werden.

Laut Kant existierten drei Naturanlagen im Menschen: die technische, die pragmatische und die moralische. Die Erziehung bestand für ihn in der Entwicklung aller Naturanlagen. Die moralische Naturanlage bestand darin, dass der Mensch das Bewusstsein besitzt, gut oder böse, recht und unrecht zu handeln. Sie kann man als die Fähigkeit der praktischen Vernunft zur sittlichen Autonomie bezeichnen.

Als Grund des Auftretens des Vernunftgesetzes als Imperativ gibt Kant an wichtigen Stellen die Sinnlichkeit des Menschen an. Als Naturwesen unterliegt der Mensch Triebfedern, die am Prinzip der Glücksseligkeit ausgerichtet sind. Gegen alle Triebfedern dieser Art muss das Vernunftgesetz selber als Triebfeder von eigener Art auftreten. Es muss dafür Sorge getragen werden, dass, wenn Sittlichkeit möglich sein soll, das Vernunftgesetz den Willen unmittelbar – ohne die Vermittlung sinnlicher Triebfedern – bestimmen kann.

Die Erziehung wurde von Kant nicht auf einzelne Menschen, sondern auf die ganze Menschengattung bezogen. Er brachte die Vollkommenheit der Gattung vernünftiger Lebewesen mit der Entstehung einer auch äußerlich vollkommenen Staatsverfassung zusammen. Jedoch ist für den Anfang des 21. Jahrhunderts festzustellen, dass die Natur, die zur Welt des Menschen dazu gehört, auf der Erde weder einen Zustand der endgültigen Vollkommenheit noch des grenzenlosen Fortschritts duldet. Ein solcher Zustand kann Intellektuellen in der Aufklärung als Ideal vorgekommen sein. In der heutigen Zeit ist erkannt worden, dass dieser Zustand neue Probleme nach sich zieht und als ein Zustand der Unvollkommenheit erfahren werden kann.

Der Gedanke der Pflicht war für Kant „oberstes Lebensprinzip aller Moralität im Menschen“. Kant stellte sie als „kategorischen Imperativ“ der Neigung, dem Glücksstreben und anderen Antrieben gegenüber. Allein durch Anerkennung des Sittengesetzes, durch Sittlichkeit gewann der Mensch auch persönliche Freiheit, Würde und Persönlichkeit. Denn hier sprach nicht mehr das kleine partikulare Ich, sondern die Menschheit, die vernünftige Weltordnung aus ihm. Er vernahm und befolgte dabei das, was jedem Menschen zukommt und was von jedem Vernunftwesen und auch in jedem anerkannt werden musste.

Was Glücksseligkeit besagt, hängt davon ab, was einem einzelnen oder einer Gruppe das subjektive Interesse jeweils als erstrebenswert vorstellt. Das so genannte Prinzip der Glücksseligkeit hat also die Eigentümlichkeit, dass es das Zufällige und Besondere der bedürftigen Sinnenwesen zum uneingeschränkten Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens erhebt. Das Glücksstreben ist demnach durch Mangelhaftigkeit bedingt. Der Mensch ist aufgrund seiner sinnlichen Bedürftigkeit mit seinem Dasein so, wie er es vorfindet, nicht zufrieden. Gleichzeitig aber bedarf er, wie es die Erfahrung lehrt, der Zufriedenheit. Was ihn aber nach seinem subjektiven Dafürhalten glücklich macht, ihm das Gefühl der Lust zu gewähren verspricht, das bestimmt er zur Materie seines Begehrungsvermögens.

Diese Sittlichkeit war Aufgabe nicht nur des einzelnen, sondern ebenso der Gesamtheit. Alle Beziehungen sollten fortschreitend vermenschlicht und versittlicht werden. Kant sah die Geschichte noch ganz im aufklärerischen Sinne als linear fortschreitende Durchsetzung der inneren Selbstbestimmung der autonomen allgemeinen Vernunft an. Staat und Gesellschaft waren dabei Zucht- und Erziehungsmittel für den Menschen, ihr Ziel war aber der Rechtsstaat, in dem jeder Mensch als Mensch geachtet und wo seine Freiheit gesetzlich beachtet war.

Innerhalb der Gesellschaft musste der Mensch seiner „Natur“ gemäß leben können, nur eben einer Natur, die durch Kultur verwandelt worden ist. Kant hat dies in seiner Pädagogik systematisch formuliert: Der Mensch musste für seine gesellschaftliche Existenz diszipliniert, zivilisiert, gebildet und moralisiert werden. Dies konnte aber nur geschehen in einer Gesellschaft, die dafür die angemessenen Rahmenbedingungen bereitstellte: Recht und Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlfahrt.

Aus dieser Humanitätsidee ergaben sich von selbst positive Konsequenzen. Höchstes Ziel war die Erziehung zu der ganz und gar nicht ästhetisch-harmonisch, sondern streng gesetzlich-fordernd verstandenen Sittlichkeit. Der Mensch sollte so schnell wie möglich zum Handeln aus Pflicht, zur Herrschaft über die sinnliche Natur, zur sittlich autonomen Persönlichkeit gelangen. Wesentlich dabei war frühe Gewöhnung an Pflicht und Disziplin. Durch sittliche Selbstbestimmung erhoben sich einzelne Menschen zur Würde der Menschheit, sie erfüllten durch das Vernunftgesetz die Bedeutung von Menschsein.

In der praktischen Philosophie wurde der Mensch als Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft, Begehren und Wollen gekennzeichnet. Der letzte Grund, aus welchem der Mensch begehrte, war sein Glücksbedürfnis, das aus Mangelhaftigkeit und Unzufriedenheit ausgelöst wurde.

Für das Erziehungsbewusstsein sollte nicht nur moralisches Handeln, das durch Pädagogik erleichtert und vorbereitet wurde, von Interesse sein, sondern ebenfalls das dem moralische Handeln zugehörige Verständnis des Menschen.

Vernunft als letztes Beurteilungskriterium für die Verallgemeinerungsfähigkeit von Handlungsregeln war laut Kant für Konsensbildungen, die nicht nur sozialen Bedingungen unterliegen, Voraussetzung. Sie ist eine Instanz, die dem einzelnen Menschen zugesprochen wird.

Dasjenige Erziehungsverständnis Kants, das sich in den anthropologisch-pädagogisch-geschichtsphilosophischen Schriften äußert, ist durch teleologische-geschichtsphilosophische Gedanken bedingt, die für das 18. Jahrhundert eine gewisse positive Funktion besitzen, die aber im 21. Jahrhundert nicht repristiniert werden können. Unser heutiges Erziehungsverständnis ist zwar aus der Aufklärung erwachsen, aber es ihm auch entwachsen. Die Aufklärung hat die Probleme, die sich für die heutige Pädagogik eingestellt haben, nicht gesehen. Diese Situation erfordert gegen ein gewisses Erziehungsverständnis Front zu machen. Dies geschieht im Folgenden, in dem das Erziehungsverständnis, wie es sich in den anthropologisch-pädagogisch-geschichtsphilosophischen Schriften Kants findet, im Namen der Sittlichkeit und der sittlichen Erziehung destruiert wird.

Kommen bei einem Menschen nicht das Wissen um gesetzmäßig geformte Maximen mit moralischer Gesinnung und Achtung für das Gesetz zusammen, so kann kein sittliches Handeln zustande kommen. Diese Stücke sind nur im Selbstverhalten eines Einzelwesens wesentlich geeint. Die Art der Intersubjektivität, die dem Gesetzeswissen eignet, eignet der der Gesinnung und Achtung nicht. Sie kann in Gruppen zur Herrschaft kommen, ohne dass jedes Mitglied der Gruppe moralisch ist.

Aus den genannten Gründen kann innerhalb der sittlichen Sphäre nicht über den Menschen oder die Menschheit im Sinne der Gattung gehandelt werden. Denn Aussagen, in denen etwas über alle Menschen gesagt ist, sind von anderer Art als Aussagen, in denen die Bedeutung des Wortes Mensch darin liegen soll, dass ein einzelnes Wesen Selbstbestimmung übt, aufgrund derer er sich so verhält, dass es mit allen Menschen unter dem Gesetz, gemäß dem es sich jeweils verhält, zusammen leben könnte – und deswegen als Mensch gilt.

In der sittlichen Sphäre wird der Zusammenhang mit allen Menschen allererst durch die im Kantischen Sinne begriffene Selbstbestimmung des einzelnen Menschen hergestellt. Leistet ein einzelner Mensch das, so repräsentiert er die Menschheit, so ist er Mensch im moralischen Sinne des Wortes. Wenn man das Menschengeschlecht als Ganzes thematisiert, verschwindet das Selbstbestimmung übende Einzelwesen aus dem Gesichtsfeld. Statt seiner rückt das Ganze der Geschichte und sein Endziel ins Blickfeld. [59]

Es ist nicht behauptet worden, Kant habe die dargestellten Schwierigkeiten gesehen, die sich teilweise in seinem Umgang mit dem Wort Mensch verbergen. Nur die gewählte Interpretationsperspektive hat sie sichtbar werden lassen. Sie nötigt zu der Konsequenz: Die Eigenart des Sittlichen ist zunächst von allem, was über den Menschen im Sinne vieler Menschen oder der Menschengattung ausgemacht werden kann, zu unterscheiden. Die Betrachtung eines Menschen als eines Einzelwesens, das im moralischen Sinne des Wortes Mensch werden kann, und die menschheitlich/ geschichtsphilosophische/erziehungsphilosophische Betrachtung des Menschen müssen auseinander gehalten werden, da eine Gruppe von Menschen im strengen Sinne des Wortes nicht moralisch sein kann, es sei denn, alle ihre Mitglieder wären moralisch. Aber eben das dürfte aufgrund der Gesetzmäßigkeiten, die das soziale Leben beherrschen, ausgeschlossen sein.

Wenn man in der Nachfolge Kants dem vernünftigen Nachdenken genügend Macht über Interessen sowie Neigungen nicht-vernünftiger Art zuschreibt, dann legt sich eine solche pädagogische Ausdeutung Kants nahe. Sie stützt sich auf eine erziehungsphilosophische Vorentscheidung, die keiner empirischen Bestätigung fähig ist, weil sie die Erziehungswirklichkeit im Lichte einer idealen Möglichkeit sieht, deren Realisierbarkeit gefordert ist.

In der Konkretion der erzieherischen Situation verlieren die philosophischen Gedanken Kants die Eindeutigkeit, die sie auf einer hohen Abstraktionsebene haben. Das braucht nicht als Mangel angesehen zu werden, der behoben werden sollte. Wenn es um die Begründung sittlicher Erziehung geht, kommen Wertungsgesichtspunkte ins Spiel, die zu unterschiedlichen Auffassungen über das sittliche Erziehen führen. Solche Auffassungen sind begründete Entscheidungsresultate, die nicht in einer übergreifenden Theorie ausgeglichen werden können. Im Kampf um die richtige Gestaltung der sittlichen Erziehung gibt es keine Instanz, die von allen Repräsentanten des Erziehungsbewusstseins anerkannt würde. Ihre Gemeinsamkeiten können den Streit der Auffassungen nicht verhindern.

Es ist die bisher ein wenig äußerlich geschilderte missliche Situation der Grundlagen von Theorien der sittlichen Erziehung aus ihren inneren Gründen verständlich zu machen. Zu diesem Zweck wird auf die Kantische Moralphilosophie zurückgegriffen; sie wird als Reflexionsprodukt in ihrem Verhältnis zum sittlichen Handeln betrachtet.

Wenn man im Blick auf sie das Wort Mensch benutzt – und diese Sprechweise ist viel näher liegend und üblicher als die gerade analysierte Kantische – kann streng genommen nicht vom Menschen als moralischem Wesen gesprochen werde, Das meiste dessen, was sich an menschlicher Realität zeigt, gehört in den sozialen Abhängigkeitskontext hinein. Dies gilt auch für alle erzieherischen Bemühungen um Menschen. Diese Betrachtungsweise muss mit Nachdruck gegen Kant geltend gemacht werden, bei dem sie zu kurz kommt, der ihr am meisten in seiner pragmatischen Anthropologie Rechnung trägt.

Andererseits ist gegen die soziale Betrachtungsweise des Menschen jene bei Kant ausgeprägte Denkweise hervorzuheben, aufgrund derer Menschen als in sich ruhende, sozial exterritoriale Zentren angesehen werden. Ohne diese Bestimmung des Menschen kann nicht verstanden werden, was Moralität bei Kant bedeutet. Erziehung wird sich weder der einen noch der anderen Betrachtungsweise verschreiben dürfen.

In der Ethik Kants gewinnt das Wort Mensch eine moralisch werthafte Bedeutung, die für Menschen in einem empirisch – deskriptiven Sinne des Wortes – von Kant her gesehen – nur Potentialität besagt. Zugleich wird diese Potentialität im Rahmen der Kantischen Moralphilosophie als die den Menschen beherrschende Wirklichkeit gedacht, aufgrund derer dem Worte Mensch eine neue, die vernünftig – moralische Bedeutung gegeben wird. Diese wird mit der empirisch – deskriptiven Bedeutung von Mensch zusammengedacht, indem Menschen in dieser Bedeutung des Wortes als potentielle praktische Vernunftwesen und Persönlichkeiten bestimmt – und sogar in und trotz ihrer unvernünftigen Art zu leben als selbstzwecklich angesehen werden. [60]

In diesem Falle liegt eine Übertragung einer werthaften Bedeutung, die gar keinen unmittelbaren Bezug auf universelle empirische Qualität hat, auf eine solche vor – unkenntlich gemacht durch den unzulänglichen Satz: Der Mensch ist vernunftbegabt. Wichtig ist, dass sich Selbigkeit durch die verschiedenen Bedeutungen des Menschseins hindurch erhalten muss. Für sie hat der Mensch selber aufzukommen. [61]

4 Literatur

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Fußnoten

  1.  ↑ Zitiert aus Schultz, U.: Kant, 21. Auflage, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 167
  2.  ↑ Vgl. die genaue Aufgliederung der Erziehung durch deren „Einteilung“ in der von Groothoff unter Mitwirkung von Reimers besorgten Ausgabe von Kant. Groothoff, H.-H./Reimers, E.: Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihre Begründung, Paderborn 1963, S. 158ff
  3.  ↑ Eine ausführliche Diskussion aller Differenzierungen des pädagogischen Denken Kants und seiner Interpretationsmöglichkeiten finden sich bei Weisskopf, T.: Immanuel Kant und die Pädagogik, Zürich 1970, S. 87ff
  4.  ↑ Vgl. Holstein, H. (Hrsg.): I. Kant. Über Pädagogik, Bochum o.J., S. 11ff. Holstein weist darauf hin, dass einerseits die Erziehung vom empirischen Standpunkt aus vorgetragen wird, dass andererseits auch die Erziehung zur Menschheit Thema wird.
  5.  ↑ Gonsior, G.: Pädagogik als sittliches Handeln, Pforzheim 1999, S. 17
  6.  ↑ Ebd. S. 26
  7.  ↑ Ebd. S. 44
  8.  ↑ Ebd. Die herangezogenen Zitate sollen nicht dokumentieren, dass Gonsior Kant anthropologisch interpretiere. Sie sollen lediglich zeigen, wie gewisse Formulierungen der Kantische Philosophie eine missverständliche anthropologische Auffassungsweise nahe legen. Vgl. zu Gonsiors Kantauffassung Rainer Wilk: Philosophische Begründungen der Pädagogik, Berlin 1976 S. 171ff, 181ff. In seinem Buch „Vernunft und Wille“ kennzeichnet Robert Meiser das Vorhaben Kants als „Anthroponomie“. Meiser, R.: Vernunft und Wille, Köln 1991, S. 43
  9.  ↑ Vgl. Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Berlin 1968ff, Band IV: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (abgekürzt Grundlagen), S. 389, wo vom moralischen Gesetze gesagt wird, „daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in den Begriffen der reinen Vernunft, (…)“
  10.  ↑ Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 160f
  11.  ↑ Hildebrandt, Lessing. Biographie einer Emanzipation, a.a.O., S. 179
  12.  ↑ Dazu werden die Kritik der reinen Vernunft, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Religionsschrift herangezogen.
  13.  ↑ Gunkel, A.: Spontaneität und moralische Autonomie: Kants Philosophie der Freiheit, Bern 1989, S. 67
  14.  ↑ Vgl. Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Berlin 1968ff, Band V, Kritik der praktischen Vernunft, S. 136
  15.  ↑ Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Band V, Kritik der Urteilskraft, (Vorrede), S. 167
  16.  ↑ Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 15
  17.  ↑ Ebd. S. 32
  18.  ↑ Kant, Kritik der Urteilskraft, (Einleitung), S. 172
  19.  ↑ Vgl. hierzu die genauen Differenzierungen in der Metaphysik der Sitten, S. 213
  20.  ↑ Ebd. S. 213ff
  21.  ↑ Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Kants gesammelte Schriften. Bd. XX, 3.Abt. Handschriftlicher Nachlaß Bd.VII, Berlin 1942, S. 14
  22.  ↑ Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Band IV: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (abgekürzt Grundlegung), S. 225
  23.  ↑ Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 19
  24.  ↑ Ebd. S. 20
  25.  ↑ Ebd. S. 19
  26.  ↑ Ebd. S. 30
  27.  ↑ Krüger, G.: Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, 2. Auflage, Tübingen 1967, S. 63ff
  28.  ↑ Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 25 (Anmerkung II)
  29.  ↑ Ebd. S. 22
  30.  ↑ Ebd. S. 21
  31.  ↑ Ebd. S. 21f
  32.  ↑ Ebd.
  33.  ↑ Ebd. S. 36
  34.  ↑ Ebd. S. 27
  35.  ↑ Ebd. S. 28f ($ 5)
  36.  ↑ Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 29f
  37.  ↑ Ebd. S. 41. Zum Problem des Formalismus des kategorischen Imperativs vgl. Paton, H.J.: Der kategorische Imperativ, Berlin 1962
  38.  ↑ Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 30 (§ 7)
  39.  ↑ Ebd. S. 31 (§7)
  40.  ↑ Ebd. S. 31
  41.  ↑ Ebd. S. 32
  42.  ↑ Ebd. S. 57ff
  43.  ↑ Ebd. S. 47
  44.  ↑ Ebd. S. 73
  45.  ↑ Ebd. S. 75
  46.  ↑ Ebd. S. 76
  47.  ↑ Ebd. S. 80ff
  48.  ↑ Ebd. S. 33
  49.  ↑ Ebd. S. 33
  50.  ↑ Vgl. Heidegger, M.: Vom Wesen der menschlichen Freiheit, Frankfurt/M. 1982 (Gesamtausgabe Band 31) S. 280f
  51.  ↑ Groothoff, H.-H.: Einführung in die Erziehungswissenschaft, Ratingen 1975, S. 144
  52.  ↑ Vgl. Herbart, J.F.: Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung, in: Aus Herbarts Jugendschriften. Kleine Pädagogische Texte, Heft 22, Weinheim/Berlin o.J., S. 59ff
  53.  ↑ Kant, Grundlagen, Band.IV, S.454f
  54.  ↑ Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Band VI: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (abgekürzt Religion), S. 183
  55.  ↑ Z.B. Küppers, R.: Ethiklehre, Aachen 1993, S. 51ff
  56.  ↑ Wellmer, A.: Ethik und Dialog: Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt/M. 1986, S. 88
  57.  ↑ Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 3 (Vorrede zur ersten Auflage)
  58.  ↑ Niethammer, A.: Kants Vorlesungen über Pädagogik, Frankfurt/M. 1980, S. 62
  59.  ↑ Kant, Anthropologie, S. 326ff
  60.  ↑ Küppers, Ethiklehre, a.a.O., S. 184
  61.  ↑ Ebd. S. 186