e-Portfolio von Michael Lausberg
Besucherzäler

Antisemitismus in Köln

Abstract: Zwei Mitglieder der extrem rechten DRP beschmierten in der Weihnachtsnacht 1959 die Kölner Synagoge mit antisemitischen und neonazistischen Parolen. Die Täter machten nur das öffentlich, was ein erheblicher Teil der westdeutschen Bevölkerung dachte. Trotz eines offiziellen Philosemitismus der damaligen Bundesregierung unter Adenauer war Antisemitismus als Teil der nationalsozialistischen Ideologie keine Randerscheinung im Nachkriegsdeutschland. Eine den Zeitraum 1952-1965 umfassende Umfrage zu antisemitischen Einstellungsmustern zeigte, dass sich die negativen Einstellungen zu Juden in der BRD langsam zurückbildeten, aber immer noch in Teilen der Gesellschaft virulent waren. Die Frage: „Würden Sie sagen, es wäre besser (ist für Deutschland besser), keine Juden im Land zu haben?“ bejahten 1952 37% der Befragten, 1956 26%, 1958 22%, 1963 18% und 1965 19%.

Die Reaktionen der philosemitischen bundesdeutschen Öffentlichkeit auf die Schändungen in Köln waren geprägt von Schamgefühl und Betroffenheit. Der Zeitpunkt der Schändung besaß einen großen Symbolwert, da es in der „Heiligen Nacht“ der Christen passierte. Im Februar 1960 beschloss die Konferenz der Kultusminister der Länder, dass es mehr zeitgeschichtlichen Unterricht an den Schulen mit dem Schwerpunkt auf die nationalsozialistische Herrschaft geben müsse. Als politische Reaktion auf die antisemitischen Vorkommnisse verabschiedete der Deutsche Bundestag im April 1960 ein „Gesetz gegen Volksverhetzung“, was auch dem internationalen Druck auf die Bundesregierung geschuldet war.

In der Nachkriegszeit war der Antisemitismus bei einem Teil der westdeutschen Bevölkerung weiterhin unhinterfragt präsent und gehörte hinter vorgehaltener Hand zur politischen Kultur. Die neu entstandene BRD war aufgrund eigener Erwartungen und internationalem Druck von dem Diktum beseelt, dass sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges ein demokratisches Deutschland entwickelt hatte, das im scharfen Kontrast zur NS-Herrschaft aufgebaut war. Kontinuität durfte es nicht geben, wenn Deutschland wieder in den Kreis der westlichen demokratischen Staaten zurückkehren wollte.

Helmut Dubiel stellte mit Recht fest:[1] „Die Rede von einem ‚Bruch’, einer ‚Diskontinuität’ oder gar einer ‚Stunde Null’ im historischen Kontext ist falsch. Eine wirkliche Unterbrechung des historischen Flusses gibt es weder für den auf kollektive Gesamtgestalten gerichteten Blick des Historikers noch in der mikroskopischen Perspektive individuellen Erlebens. Wenn in der Folge von historischen Großereignissen wie Revolutionen und Kriegen die institutionelle Ordnung einer Gesellschaft zusammenbricht, leben zumeist die Bilder, Symbole und Mentalitäten, mittels derer die alte Ordnung die Menschen an sich gebunden hatte, fort. Die Rede von der ‚Stunde Null’ ist also ideologisch, weil sie suggeriert, dass mit der militärischen Zerschlagung der Dritten Reiches auch die Mentalitäten und Einstellungen verschwunden seien, auf die sich jenes hatte stützen können.“

Innerhalb des Bildungsbürgertums im Nachkriegsdeutschland gab es wenig Bereitschaft, sich der unmittelbaren NS-Vergangenheit zu stellen. Der Historiker Friedrich Meinecke weigerte sich von einer „spezifisch deutschen Schuld“ zu sprechen.[2] Sein Kollege Gerhard Ritter sah den Faschismus als einen Ausdruck jenes „modernen Massenmenschentums“ und „proletarischen Nationalgefühls“ an, das „überall in der Welt“ verbreitet wäre und in seiner Neigung zur „totalitären Diktatur“ auch den westlichen Demokratien gefährlich werden könnte.[3]

1947 sprach sich der Göttinger Ordinarius Siegfried Kaehler in einer Retrospektive auf den Nationalsozialismus für das „Recht auf das ‚errare humanum est’“ aus. Er betrachtete dieses angebliche Recht „als eines der wichtigsten Menschenrechte“ in dieser Zeit.[4]

Der US-amerikanische Journalist William L. Shirer kam im Sommer 1945 nach Berlin, um der Frage nachzugehen, ob die deutsche Nachkriegsgesellschaft aus den Folgen des 2. Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft ihre Lehren gezogen hatte. Sein Fazit fiel ernüchternd aus: „Sie haben keinerlei Schuldgefühl und bedauern lediglich, daß sie geschlagen worden sind und nun die Konsequenzen tragen müssen. Es tut ihnen nur um sich selbst leid, nicht etwa um all jene, die sie ermordet und gequält haben, die sie von dieser Erde entfernen wollten.“[5]

Der Erziehungswissenschaftler Hermann Nohl bemerkte nach dem Ende des 2.Weltkrieges Mentalitätsbestände des nationalsozialistischen Denkens unter seinen Studenten: „Sie selbst sind sich nur bewußt, in einem gesteigerten ethischen Enthusiasmus gelebt zu haben, der alle positiven Parolen des Nationalsozialismus ernst nahm in Zucht und Haltung, in der gläubigen Verbundenheit mit ihrem Volk und dem opferbereiten Dienst an der Gemeinschaft. So sind sie im Augenblick zwar fassungslos, aber wer mit ihnen arbeiten will, wird wissen müssen, daß die nationale Erregung latent ganz stark in ihnen lebt. Wo der nationale Ton angeschlagen wird, nehmen sie ihn sofort begeistert auf, sie leiden unter dem ständigen Beschimpfwerden ihres Volkes und sind in ihrem innersten Selbstgefühl verletzt.“ [6]

Das Klima an den deutschen Universitäten nach der Befreiung vom Nationalsozialismus beschrieb Wolfgang Abendroth wie folgt: „Die schlimmste Belastung, welche man an der Universität und unter Intellektuellen in jener Zeit mit sich herumtrug, war die, gegen den Faschismus gekämpft zu haben. Es wurde heimgezahlt, daß die wenigen Antifaschisten in der gerade vorangegangenen Zeit als Aushängeschilder gegenüber den Besatzungsmächten und als ‚Persilschein’-Schreiber im Entnazifizierungsverfahren benutzt werden mussten“.[7]

Weite Kreise der deutschen Nachkriegsgesellschaft konnten sich mit der Oder-Neiße-Grenze als Ostgrenze und der damit vorgenommenen Abtrennung großer Gebiete nicht abfinden. Die Totalitarismustheorie erhielt durch den „Kalten Krieg“ eine immer stärkere Prägung durch die DDR und die Sowjetunion.[8] In einer Umfrage Anfang der 1960er Jahre bewerteten die meisten Westdeutschen das SED-Regime negativer als den Nationalsozialismus.[9] Durch den schnell gesellschaftsfähig werdenden Antikommunismus wurde in der Nachkriegszeit ein neues Feindbild geschaffen, das schon im Nationalsozialismus vorhanden war. Die „bolschewistischen Untermenschen“ aus der NS-Zeit wurden zu den „bolschewistischen Untermenschen“ der Gegenwart.

Im Deutschen Bundestag wurde die NS-Vergangenheit in den 1950er Jahren nur in den seltensten Fällen zum Thema gemacht. Helmut Dubiel stellte fest: „Nur die legislativen Zwänge, die sich aus der Rechtsnachfolgerschaft gegenüber dem Dritten Reich ergaben, brachen gelegentlich in diese Mauer der Scham und der beschwiegenen Schuld.“[10] Wenn einmal die NS-Vergangenheit zur Sprache kam, wurde sie in relativierender Weise mit den Verbrechen des Stalinismus verglichen. Bundeskanzler Konrad Adenauer sprach sogar davon, dass durch die Entnazifizierung „viel Unglück und viel Unheil angerichtet worden ist.“ Weiterhin bemerkte Adenauer: „Der Krieg und auch die Wirren der Nachkriegszeit haben eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, daß man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis aufbringen muß. Es wird daher die Frage einer Amnestie von der Bundesregierung geprüft werden und es wird weiterhin die Frage geprüft werden, auch bei den Hohen Kommissaren dahingehend vorstellig zu werden, daß entsprechend für von alliierten Militärgerichten verhängte Strafen Amnestie gewährt wird.“[11]

Bei Adenauers Antrittsrede als neu gewählter Bundeskanzler im Oktober 1953 fand sich kein Wort des Bedauerns über die Opfer des Nationalsozialismus. Er zeigte stattdessen seine öffentliche Sympathie für verhaftete NS-Täter: „(…) daß alle Verurteilten, die nicht wirklich Verbrechen begangen haben, baldigst in Freiheit gesetzt werden und daß sie unverzüglich Milderungen ihrer Haft erfahren.“[12]

Der politische Konservatismus hielt trotzig am Nationalismus als Grundpfeiler der neu entstandenen BRD fest: „Während manche Linke meinen, dass der neuen Republik eine demokratische Legitimität nur in dem Maße zuwachsen kann, wie es mit der NS-Tradition gänzlich bricht, halten die Konservativen der CDU und DP am Phantasmata einer durch den Nationalsozialismus angeblich nicht beschädigten nationalen Identität fest und erhoffen einzig von dieser eine politisch-kulturelle Integration der BRD. Es ist eine Implikation dieser konservativen Strategie, die Abrechnung mit der eigenen totalitären Vergangenheit nur sehr zurückhaltend zu betreiben. Einige wenige Führungsfiguren der NSDAP sollten zwar zur Verantwortung gezogen werden, aber die weiter reichenden identitätsstiftenden Traditionen der Deutschen seien aus der Haftung für den Völkermord auszunehmen.“[13]

Der Abgeordnete Menzel (SPD) sprach als einer der wenigen die mangelnde öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit offen an: „Wir teilen gar nicht die Ansichten, daß etwa in Deutschland ein neuer Hitler vor der Tür steht. Aber das hindert doch nicht, daß wir, die wir für die politische Entwicklung in diesem Volk verantwortlich sind, die bittere und enttäuschende Feststellung machen müssen, daß uns die innenpolitische Entwicklung der letzten Jahre in Deutschland der Demokratie zumindest nicht näher gebracht hat. (…) Niemand kann wohl diese Entwicklung wundern, wenn sogar führende Männer des Staates schwarz-weiß-roten Veranstaltungen ihre telegraphischen Huldigungsgrüße schicken. Wie kann es kommen,, wie kann es die Regierung dulden, daß der Vertreter einer Regierungspartei sich auf einer solchen Kundgebung hinstellt und erklärt, es komme gar nicht darauf an, daß wir den Zweiten Weltkrieg verloren hätten, entscheidend sei doch vielmehr, daß wir in diesem Kampf gut gekämpft hätten. Das heißt doch nichts anderes, als den Versuch zu unternehmen, auch die hitlerischen Greuel des Krieges nachträglich in aller Öffentlichkeit zu legalisieren. (…) Gerade das Parlament hat die Verpflichtung, den Finger auf diese offene Wunde zu legen, um die Ordnung wiederherzustellen, die erschüttert scheint.“[14]

Auch im Landtag von Nordrhein-Westfalen kam es zu keiner wirklichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit. Insgesamt herrschte der Tenor vor, dass die deutsche Bevölkerung als „Verführte“ und „Betrogene“ gesehen wurde, die den Lügen „eines skrupellosen Diktators und seines Terrorregimes“ hilflos ausgeliefert war.[15] Die Zeit des Nationalsozialismus erschien vielen Abgeordneten als „nahezu übermächtige Zwangsherrschaft über das eigene Volk“, die „von den meisten Deutschen jedoch von Anfang an oder nach einer kurzen Zeit der Selbsttäuschung abgelehnt und von vielen auch bekämpft worden war.“ In der ersten Plenarsitzung des Jahres 1947 bemerkte Landtagspräsident Robert Lehr (CDU) an die Adresse der Alliierten: „Wir wollen nicht beurteilt werden nach den zwölf Jahren einer Tyrannei, die uns von gewissenlosen Volksverführern auferlegt (sic) wurde und die willensschwache und charakterlose Generäle zuließen. Wir wollen behandelt werden als ein Volk, das durch die Jahrhunderte seinen wertvollen Beitrag zur Kulturgeschichte der Menschheit (…) geleistet hat.“[16]

Durch die Gründung der BRD erreichte das gesellschaftspolitische roll-back gegen die Reeducation der Alliierten eine neue Stufe. Die strafrechtliche Verfolgung der NS-Verbrechen durch deutsche und alliierte Gerichte wurde von vielen Personen des öffentlichen Lebens kritisiert. Dabei taten sich besonders Kirchenvertreter wie der Kölner Kardinal Frings, der evangelische Theologe Dibelius und der Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Theophil Wurm, hervor. Der Begriff der „Siegerjustiz“ wurde nicht nur von extremen Rechten in diesem Zusammenhang verwandt. Dies bedeutete den Vorwurf, dass nicht die von den Deutschen begangenen Massenmorden, sondern die militärische Niederlage die Grundlage für die Strafverfahren abgeben würden. Der Vorwurf der „Siegerjustiz“ wurde von den Strafverteidigern der angeklagten Repräsentanten der NS-Führung öffentlichkeitswirksam benutzt, um den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen die Rechtmäßigkeit abzusprechen.[17]

Die Entnazifizierung führte nicht zu einer Aufarbeitung der Verstrickung der einzelnen Personen in das NS-Regime, sondern förderte Verdrängungsprozesse und die Verharmlosung der eigenen Verantwortung. Der größte Teil derjenigen Personen, die das NS-Regime aktiv unterstützt hatten, fragte nicht nach ihrem Schuldanteil. Der Hauptgeschäftsführer der Kölner Industrie- und Handelskammer, Bernhard Hilgermann, bemerkte in der Retrospektive: „Die meisten Deutschen glaubten, mit der Einstellung der Feindseligkeit ist alles Vergangene vergeben und vergessen: wie nach einem Boxkampf reicht man sich zu einem Freundschaftsakt die Hände; (…) Auch die Unternehmer fühlten sich völlig unbelastet, da sie nur Mitglied einer Partei gewesen waren, die zufällig NSDAP hieß.“ [18]

Von einer intensiven Auseinandersetzung der westdeutschen Bevölkerung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kann unter keinen Umständen gesprochen werden. In weiten Bevölkerungsteilen herrschten stattdessen eine Verdrängung der NS-Vergangenheit und eine Weigerung, sich dieser Vergangenheit zu stellen, vor. In den Nachkriegsjahren wandte sich die westdeutsche Bevölkerung der materiellen Seite des Wiederaufbaus zu und kehrte der Vergangenheit den Rücken zu. Vielen Westdeutschen ging es um die Abwehr einer Kollektivschuld, was die Ausbreitung von Entlastungsmechanismen auslöste.[19] Dies war in erster Linie das Schweigen über die Zeit vor 1945. Geschichtspolitisch breitete sich schnell die Legende von einem Trennungsstrich zwischen dem NS-Regime und der Bevölkerung heraus. Das nationalsozialistische Regime oder einzelne Repräsentanten des Systems wie Hitler oder Goebbels galten als Täter, die Bevölkerung nahm die Rolle des bedauernswerten Opfers ein. Diese Bewertung der Vergangenheit verhalf großen Teilen der Bevölkerung zur Abwehr der eigenen Schuld.

Das Buch von Alexander und Margarete Mitscherlich „Die Unfähigkeit zu trauern“, das 1967 erschien, erfasste genau diese Grundstimmung und verarbeitete sie literarisch.[20] Die durchgängige These dieses Werkes besagte, dass große Teile der westdeutschen Bevölkerung ihre Vergangenheit nicht aufgearbeitet hätten, weil sie nicht bereit gewesen wären, ihren eigenen Schuldanteil zu ermitteln. Das Ehepaar Mitscherlich behauptete, dass eine große Zahl der westdeutschen Bevölkerung sich mit der demokratischen Regierungsform nur wegen des „Wirtschaftswunders“ identifizierte: „Die Restitution der Wirtschaft war unser Lieblingskind; die Errichtung eines demokratischen Staatsgebäudes hingegen begann mit dem Oktroi der Sieger, und wir wissen bis heute nicht, welche Staatsform wir selbst spontan nach dem Kollaps der Naziherrschaft gewählt hätten; wahrscheinlich eine ähnlich gemildert autoritäre von Anfang an, wie sie sich heute aus den demokratischen Grundlagen entwickelt haben. Es ist nicht so, dass man den demokratischen Staatsgedanken ablehnte wie weitgehend während der Weimarer Republik. Man kann aber auch wenig mit ihm anfangen, (…)“[21]

Die große Mehrheit der Deutschen habe die nationalsozialistische Herrschaft „retrospektiv wie die Dazwischenkunft einer Infektionskrankheit in Kinderjahren“ empfunden.“[22] Die eigene Schuldabwehr verlief laut den Mitscherlichs folgendermaßen: „In der Pyramide der Verantwortung stellt sich das dann so dar, daß der ‚Führer’ durch den politischen Druck von außen zu seinen Entscheidungen gezwungen war, Das löste eine Befehlskette aus, der sich niemand zu entziehen vermochte; allenthalben herrschte – so vernimmt man es in retrospektiver Selbstrechtfertigung – ein alles entschuldender Befehlsnotstand. (…) Die Gefühle reichen nur noch zur Besetzung der eigenen Person, kaum zu Mitgefühlen irgendwelcher Art aus. Wenn irgendwo überhaupt ein bedauernswertes Opfer auftaucht, dann ist es meist niemand anderer als man selbst.“[23]

Auffallend war allerdings die Diskrepanz zwischen dem Anti-Antisemitismus der offiziellen Politik und dem Fortleben von Antisemitismus in weiten Kreisen der Bevölkerung. Dies zeigte sich, als Reparationsansprüche Israels zentrale politische Bedeutung erhielten. In weiten Teilen der deutschen Bevölkerung wurden dieser Dialogs- und Aufarbeitungsversuch und vor allem aber die pekuniären Forderungen abgelehnt.[24] Diese Ablehnung äußerte sich in Form traditioneller antijüdischer Vorurteile (Vorwurf der Geldgier und der Rachsucht), die sich durch die jüdischen Ansprüche „bestätigt“ sahen (Schuldumkehr).[25]

Zahlreiche nach dem 2. Weltkrieg geäußerte Vorurteile lassen sich als ein Antisemitismus „wegen Auschwitz“ beschreiben. Christhard Hoffmann bemerkte:[26] „Es gibt Anzeichen dafür, daß antijüdisches Denken in der Bundesrepublik heute seine Dynamik am ehesten aus der Bearbeitung der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit erhält, daß sich ein Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz ausbilden könnte. In einer nationalen deutschen Perspektive erscheinen ‚die Juden’ wiederum als Störenfriede, weil sie durch ihre Mahnung an die deutschen Verbrechen einer naiven und ungebrochenen Identifizierung mit der deutschen Vergangenheit und deutscher Kultur im Wege stehen. In einer solchen Sehweise ist es dann bis zur erneuten antithetischen Gegenüberstellung von ‚Juden’ und ‚Deutschen’ nur noch ein Schritt.“ In der Forschung wird daher von einem „sekundären Antisemitismus“ gesprochen: [27]„Man fühlt sich durch die Erinnerung an den Holocaust von ‚den Juden’ gestört, belästigt, behindert, wähnt sich gar selbst dauerhaft verfolgt und reagiert darauf mit antijüdischem Affekt. Es ist ein Antisemitismus, den es nicht trotz, sondern wegen Auschwitz gibt, weil die Täter und deren Erben permanent an ihre Untaten und zugleich an ihr Versagen erinnert werden.“

Meinungsumfragen bestätigten, dass die Einstellungen der deutschen Bevölkerung noch lange nach der unmittelbaren Nachkriegszeit von völkischen und neonazistischen Traditionen geprägt waren, die den Antisemitismus als zentrales Element einschlossen.[28] Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus führte im Dezember 1946 die amerikanische Militärregierung in ihrer Zone eine Meinungsumfrage über die Einstellung zur NS-Ideologie durch. Die Umfrage belegte, dass ein großer Teil der Deutschen immer noch rassistische und antisemitische Stereotypen verinnerlicht hatte. 40% der Befragten wurden als Antisemit_innen, 22% als Rassist_innen, 19% als Nationalist_innen charakterisiert.[29] Eine Umfrage, die in allen Teilen der BRD im Jahre 1949 durchgeführt wurde, ergab, dass ein knapp ein Viertel der deutschen Bevölkerung als Antisemit_innen einzustufen war.[30] Bei einer ähnlichen Umfrage drei Jahre später wurden bei einem Drittel der Bevölkerung antisemitische Vorurteile deutlich.[31] Dies zeigt, dass von einer geradlinigen Rückentwicklung antisemitischer Einstellungen in der BRD nicht gesprochen werden kann. Eine im Jahre 1950 durchgeführte Umfrage ergab, dass fast ein Fünftel der Westdeutschen die Ansicht vertraten, dass Juden an ihrer Verfolgung in der Zeit der Nationalsozialismus eine Mitschuld tragen würden.[32] Dabei zeigte sich, dass gerade die Generation, die im Nationalsozialismus sozialisiert wurde, sehr starke antijüdische Einstellungen zeigte.

In der westdeutschen Bevölkerung wurden die „Wiedergutmachungszahlungen“ an Israel massiv abgelehnt. Im August 1952 hielten 54% der Bundesbürger_innen die Zahlungen für überflüssig, weitere 24% für grundsätzlich richtig aber zu hoch, und nur 11% stimmten ihr zu. 21% der Befragten hatte keine Meinung.[33] Diese Ablehnung wurde an antisemitische Vorurteile wie der Vorwurf der Geldgier und der Rachsucht geknüpft. Durch die materielle „Wiedergutmachung“ sahen sich die Antisemit_innen in ihrer Einstellung bestätigt.

Eine den Zeitraum 1952-1965 umfassende Umfrage zu antisemitischen Einstellungsmustern zeigte, dass sich die negativen Einstellungen zu Juden in der BRD langsam zurückbildeten, aber immer noch in Teilen der Gesellschaft virulent waren. Die Frage: „Würden Sie sagen, es wäre besser (ist für Deutschland besser), keine Juden im Land zu haben?“ bejahten 1952 37% der Befragten, 1956 26%, 1958 22%, 1963 18% und 1965 19%.[34]

G.R. Boynton und Gerhard Loewenberg stellten im Zeitraum 1955-1967 folgende Frage: „Alles, was zwischen 1933 und 1939 aufgebaut worden war, und noch viel mehr wurde durch den Krieg vernichtet. Würden Sie sagen, daß Hitler ohne den Krieg einer der größten deutschen Staatsmänner gewesen wäre?“. 1955 bejahten 55% der Befragten die Frage, 1956 42,6%, 1959 41,2%, 1960 34,1%, 1961 29,7, 1962 37,2% 1963 35,3% und 1967 32,3%. Diese erschreckenden Zahlen belegen die neonationalsozialistischen Einstellungen in breiten Bevölkerungsteilen.[35]

Schon im Vorfeld der antisemitischen Schändungen in Köln kam es zu ähnlichen Vorkommnissen in Nordrhein-Westfalen. In der Nacht vom 16. auf den 17.1.1959 wurden die drei Eingangstüren der neuen Düsseldorfer Synagoge, die im September 1958 eingeweiht wurde, und die Gedenktafel der jüdischen Gemeinde mit Hakenkreuzen in weißer Lackfarbe entweiht.[36] Die Schändung der Düsseldorfer Synagoge stellte den Höhepunkt einer Häufung antisemitischer Vorfälle zwischen Oktober 1958 und Juli 1959 dar. Es kam in dieser Zeit in Nordrhein-Westfalen zu 67 antisemitischen und neonazistischen Delikten, von denen lediglich 17 aufgeklärt werden konnten.[37]

Am 20.9.1959 fand die feierliche Wiedereinweihung der Kölner Synagoge in der Roonstraße statt. Die neu eröffnete Kölner Synagoge sollte die Restitution der jüdischen Gemeinde symbolisieren. Neben zahlreichen prominenten Gästen war auch Bundeskanzler Adenauer erschienen, der damit seinen philosemitischen Kurs der politischen Öffentlichkeit zeigen wollte.

In der Weihnachtsnacht 1959 fuhren die neonazistischen Täter Arnold Strunk und Franz Josef Schönen aus Köln zum Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus am Hansaring. Strunk überpinselte mit schwarzer Lackfarbe die Inschrift „Dieses Mal erinnert an Deutschlands schandvollste Zeit 1933-1945“, während Schönen die Umgebung nach möglichen Passant_innen im Auge behielt. Etwa drei Stunden später fuhren die beiden Täter zur Synagoge auf der Roonstraße und brachten an einer zur Synagoge gehörenden Außenmauer in roter und weißer Lackfarbe die antisemitischen Parolen „Deutsche fordern: Juden raus“ und „Juden raus“ an und beschmierten einen Eingang der Synagoge mit Hakenkreuzen. Beide Täter waren zum Tatzeitpunkt Mitglieder der extrem rechten Deutschen Reichspartei (DRP). Sie konnten bereits einen Tag nach der Synagogenschändung festgenommen werden. Strunk erklärte bei seiner Vernehmung, er habe mit den Taten dagegen „protestieren“ wollen, „dass Juden in führende Stellungen der Bundesrepublik eindringen, da er sich davon nichts Gutes für das deutsche Volk verspreche“.[38]

Bei der weiteren Vernehmung stellte sich heraus, dass Strunk schon vor der Synagogenschändung für antisemitisch motivierte Taten verantwortlich war.[39] Am 14.11.1959 beschriftete er die Innenseite einer Toilettentür in der Gaststätte „Moulin rouge“ in Köln, die von einem jüdischen Betreiber gepachtet worden war, mit der antisemitischen Parole „Juden müssen aus Deutschland ausgewiesen werden, um einen besseren Weltfrieden zu erhalten“. Am 29.11.1959 schrieb er folgende Sätze auf die Toilettentür derselben Gaststätte: „Der Jude muß vernichtet werden. Alle Juden müssen Deutschland verlassen. Es droht Gefahr. Wir von der FDP sorgen dafür.“

Die beiden Schändungen wurden von den Tätern angekündigt. Bei einer Weihnachtsfeier der Kölner DRP prahlten die beiden in Gegenwart des Kreisvorsitzenden Ernst Custodis und anderen Mitgliedern, dass sie Hakenkreuze an die Kölner Synagoge malen wollten. Der Kreisvorsitzende Custodis wollte die Tatankündigung angeblich „nicht erst genommen haben“.[40] Im Verlaufe der Ermittlungen wurden sechs weitere Personen aus dem Umfeld der Kölner DRP festgenommen, darunter auch Custodis. Da die weiteren Ermittlungen keinen hinreichenden Tatverdacht ergaben, wurde der Haftbefehl gegen diese Personen wieder aufgehoben.

Die Kölner DRP war von Anfang an bemüht, nicht mit der Schändung in Verbindung gebracht zu werden. Am Abend des 26.12.1959 distanzierte sie sich formal von den Taten Strunks und Schönens und schloss diese aus der Partei aus. Einen Tag später wurde der Kölner Kreisverband vom Vorstand der DRP selbst aufgelöst.[41] Dies geschah aufgrund eines „Notstandsparagraphen“ in der Parteisatzung.

In einer Erklärung versuchte der Bundesvorstand der DRP, die Partei durch Ablenkungsmanöver vor der Verantwortung der Synagogenschändung zu schützen. Es wurde wiederholt auf angebliche DDR-Reisen der beiden Täter hingewiesen, die als „Provokateure“ und „mögliche SED-Agenten“ hingestellt wurden.[42] Auf einer Pressekonferenz am 30.12.1959 wiederholten DRP-Funktionäre die These von der kommunistischen Lenkung und bekannten sich formal zum Grundgesetz. Es wurde der Versuch unternommen, ein verfassungskonformes Bild der DRP zu zeichnen und neonazistische sowie antisemitische Äußerungen als „Zeichen der Uneinheitlichkeit einer jungen Partei“ sich nicht zurechnen zu lassen.[43]

Die Abgeordneten aller Fraktionen im Bundestag, Gewerkschaften und andere Institutionen aus dem In-und Ausland forderten nach der Tat ein Verbot der DRP. Diesen Forderungen sind keine Taten gefolgt. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums erklärte, dass „die DRP immer scharf beobachtet worden sei, aber bisher das Material zum Verbot nicht ausreiche.“[44]

Die Reaktionen der philosemitischen bundesdeutschen Öffentlichkeit auf die Schändungen in Köln waren geprägt von Schamgefühl und Betroffenheit. Der Zeitpunkt der Schändung besaß einen großen Symbolwert, da es in der „Heiligen Nacht“ der Christen passierte. Serup-Bilfeldt bemerkt zu Recht:[45] „Diese Resonanz ist weiterhin wohl durch die Wahl der Kölner Synagoge erhöht worden, die Bundeskanzler Adenauer erst wenige Monate vorher miteingeweiht hatte, so dass die Schmiererei als Angriff auf die Neuetablierung der Jüdischen Gemeinde in Köln und auf die philosemitische Haltung des westdeutschen Staates gesehen werden konnte.“

Am zweiten Weihnachtstag besuchte der nordrhein-westfälische Landtagspräsident Wilhelm Johnen den Kölner Rabbiner Zvi Asaria und erklärte der jüdischen Gemeinde seine Solidarität. Die Synagogengemeinde Köln erhielt zahlreiche Briefe und Solidaritätsbekundungen von prominenten Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben der BRD und antifaschistisch orientierten Menschen aus dem In- und Ausland.[46] Zahlreiche Staaten verurteilten öffentlich die antisemitischen und neonazistischen Vorfälle und fragten nach den gesellschaftspolitischen Hintergründen der Tat. Die DDR protestiert in einem Memorandum, das auch von jüdischen Schriftsteller_innen wie Arnold Zweig und Stefan Heym unterzeichnet wurde.[47] In London demonstrieren 15.000 Mitglieder des Verbandes jüdischer Veteran_innen gegen die antisemitischen Vorfälle. Auch vor dem deutschen Generalkonsulat in New York demonstrieren mehrere tausend Menschen. Allerdings gingen bei der jüdischen Gemeinde in Köln auch antisemitische Drohbriefe von anonymen Absender_innen ein.

In einer Erklärung des Rates der Stadt Köln am 28.1.1960 zu den Schändungen in der Weihnachtsnacht im Namen aller Fraktionen verkündete der damalige Oberbürgermeister Burauen:[48] „Der Rat der Stadt Köln verurteilt mit tiefer Empörung und schmerzlichem Mitempfinden die verwerflichen Vorgänge in der Weihnachtsnacht, in der die Synagoge und das jüdische Kulturzentrum in der Roonstrasse mit Hakenkreuzen und Inschriften nationalsozialistischen Inhalts beschmiert und das Ehrenmal für die Opfer des Terrors der Nazidiktatur (…) besudelt wurden.(…) Namens des Rates spreche ich der Synagogengemeinde und allen, die durch das frevlerische Tun geschmäht wurden, unser tiefes Bedauern aus. Damit verbinden wir den klaren Willen, die Schmach wieder gutzumachen, soweit das irgend in unseren Kräften steht.“

Bundeskanzler Adenauer war nach den antisemitischen Vorkommnissen mehr um das Ansehen der BRD im Ausland besorgt und versuchte, die Taten zu entpolitisieren. In einer Stellungnahme Mitte Januar 1960 sah er in den Nachahmungstaten „Flegeleien ohne politische Grundlage“ und empfahl der Bevölkerung, solch einem „Lümmel“, falls jemand bei der Tat ertappt werde, eine „Tracht Prügel“ zu verabreichen.[49]

In vielen Presseorganen wurde vor einer Renaissance des Antisemitismus gewarnt. Im Kölner Stadt-Anzeiger hieß es:[50] „Nicht getilgt ist die Schmach, die zwei junge Fanatiker über unsere Stadt brachten und die uns Christen nicht weniger beleidigt als die, die sie treffen wollten (…) Wir alle sollten noch wacher werden, dass sich nie wiederhole, was einmal geschah. Niemand soll die Tat vom Rathenauplatz (damit war die Synagogenschändung gemeint, M.L.) und vom Hansaring als einen Dummenjungenstreich bezeichnen dürfen. Und jeder in Köln soll wissen, dass niemand mit den Menschen dieser Stadt Gemeinschaft haben kann, der den Geist der Brüderlichkeit stört.“

Am 27.12.1959 gab die Synagogengemeinschaft Köln folgende Erklärung ab:[51] „Die Stimmen der Empörung über die Schändung unseres Gotteshauses in der Christnacht 1959 haben uns bewegt. In dieser schweren Stunde waren sie uns ein Trost. So viele haben uns ihre Anteilnahme bezeugt, dass wir nicht jedem antworten können. Wir danken auf diesem Weg für allen Beistand.“

Der damalige Vorsitzende des Direktoriums des Zentralrates der Juden in der BRD, Heinz Galinski, forderte, dass alle extrem rechten Organisationen und Parteien sowie frühere Nationalsozialist_innen, die führende Stellungen in der Verwaltung, der Justiz oder im Bildungswesen innehatten, von den Bundesregierung auf ihre demokratische Gesinnung überprüft werden sollten.[52] Galinski führte aus, dass die Schändungen von Köln niemanden überraschen dürften, „wenn durch ihre Vergangenheit belastete Persönlichkeiten die politische Bühne betreten und ganz offen nazistische Parolen verbreiten können und Organe wie die ‚Soldatenzeitung’, der ‚Reichsruf’ u.a. mit ausgesprochen antisemitischen und neonazistischen Tendenzen von jungen Menschen gelesen werden.“[53]

Der Kölner Rabbiner Zvi Asaria sah in den Vorfällen von Köln einen Indikator für eine Renafizierung in der BRD. In einem Interview mit der britischen Zeitung „Evening Standard“ im Januar 1960 sagte er:[54] „Solange die Deutschen damit beschäftigt waren, reich zu werden, hatten sie keine Zeit Unheil zu stiften. Aber wenn wieder einmal schwere Zeiten kämen, würde der Antisemitismus wieder hervorbrechen.“

Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Hermann Dufhues, forderte in mehreren Fernsehauftritten die zuständigen Richter auf, bei der Verurteilung der Täter Strunk und Schönen als „strafverschärfend den Schaden des deutschen Ansehens im Ausland im Auge zu behalten“.[55] Die „Basler Zeitung“ bemerkte dazu zutreffend:[56] „Befremdend wirkt auch der Hinweis, schon mit Rücksicht auf den deutschen Ruf im Auslande müsse bei diesen antisemitischen Tendenzen scharf durchgegriffen werden. Eigentlich sollte die Selbstachtung des deutschen Volkes im Jahre 1959 so weit restauriert sein, daß solchen Elementen auch ohne Schielen auf die ausländische Reaktion das Handwerk gelegt wird.“

Vor allem in konservativen Kreisen wurde die notwendige Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart verdrängt. Stattdessen wurde in verschwörungstheoretischer Absicht die These vertreten, dass die beiden Kölner Täter von östlichen Geheimdiensten beauftragt worden seien, um die Bundesrepublik als Hort des Antisemitismus darzustellen. Der bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß behauptete:[57] „Das System, nach dem hier vorgegangen wird, ist ebenso einfach wie brutal: Der KGB oder andere kommunistische Geheimdienste veranlassen – wie inzwischen unwiderlegbar bewiesen ist- Hakenkreuz-Schmierereien auf jüdischen Friedhöfen bei uns. DKP und SED schulen Subversanten, die rechtsradikale Miniorganisationen gründen und mit stupiden neonazistischen Sprüchen für weithin sichtbares öffentliches Ärgernis sorgen. Auch das ist bis in die letzten Einzelheiten bewiesen.“

Wer diese angeblichen Beweise aufgedeckt hat oder wo sie veröffentlicht wurden, bleibt jedoch Strauss’ Geheimnis. Dass seine Legendenbildung auf fruchtbaren Boden innerhalb der bundesrepublikanischen Bevölkerung traf, ist unbestritten. Eine Umfrage des Institut für Demoskopie im Januar 1960 ergab, dass 32 Prozent der Befragten an eine „Lenkung aus dem Osten“ glaubten, 40 Prozent die Schändungen für spontane Aktionen von „Halbstarken“ hielten und lediglich 16 Prozent in ihnen ein Hinweis für ein Wiedererwachen des Nationalsozialismus sahen.[58] Diese Legendenbildung wurde im Ausland kritisch gesehen. Die „Basler Zeitung“ schrieb dazu:[59] „(…) die wiederholt aus Regierungskreisen geäußerte Meinung, es handle sich hier vielfach um kommunistische Handstreiche zur Schändigung des westdeutschen Ansehens, ist nicht eben originell. Sie erinnert etwas zu sehr an die Technik der dreißiger Jahre, mit Hilfe des Kommunistenschrecks rechtsradikale Entgleisungen zu retouchieren.“

Bei dieser von Strauss‘ formulierten These geht die Meinung in der bundesrepublikanischen Forschung weit auseinander. Der Historiker Michael Wolffsohn stellte fest:[60] „Heute wissen wir: Der Pinsel der Schmierfinken wurde von Stasi, KGB und anderen kommunistischen Geheimdiensten gelenkt.“ Dagegen vertritt Werner Bergmann die These, dass der DDR-Geheimdienst nur in vereinzelten Fällen Anstifter der antisemitischen Vorfälle war.[61] Christoph Classen meinte, dass die Beweise nicht ausreichen, um eindeutig sagen zu können, dass die Stasi antisemitische Aktionen maßgeblich beeinflusst habe.[62]

Im Februar 1960 wurden die beiden Täter vom Landgericht Köln wegen Beschädigung öffentlicher Güter mit „teilweise staatsgefährdender Absicht und Beleidigung“ zu vierzehn (Strunk) bzw. zehn Monaten Gefängnis (Schönen) verurteilt. Außerdem werden ihnen die „bürgerlichen Ehrenrechte“ für zwei Jahre entzogen. Im Gerichtssaal zeigte sich der Hauptangeklagte Strunk als unverbesserlicher Judenhasser:[63] „Ich bin Antisemit! (…) Damit die germanische Rasse nicht vernichtet wird. (…) Die vermischen sich mit uns, und dann gehen wir Deutschen unter. Deshalb müssten die Juden endlich dahin gehen, wo sie hergekommen sind: nach Israel!“

Aufgrund der Tatsache, dass die meisten antisemitischen Taten in den zurückliegenden Jahren von Jugendlichen und jungen Erwachsenen begangen worden waren, wurden von staatlicher Seite aus die Aufklärungsmaßnahmen im Bereich der politischen Bildung und Forschung über die Verfolgung der Juden im „Dritten Reich“ und die Shoa intensiviert.[64] Die allgemeine Forschung und die offizielle Bildungspolitik konzentrierten sich bis Ende der 1950 bevorzugt auf andere Bereiche. Die Shoa wurde lediglich in einzelnen Quelleneditionen und kurzen Publikationen untersucht. Kwiet konstatierte mit Recht:[65] „Der Holocaust war zunächst kaum Gegenstand wissenschaftlicher Bemühungen, was nicht allein mit dem Mangel der Zugänglichkeit der Akten, die von den Alliierten beschlagnahmt worden waren, erklärt werden kann. Die Historiker in der BRD sind der Aufarbeitung dieses singulären Massenmordes über Jahre und Jahrzehnte ausgewichen.“ Nach der Kölner Synagogenschändung war diese Periode zu Ende; das Schicksal der Juden im „Dritten Reich“ wurde zu einem Teil des offiziellen Anti-Antisemitismus.[66]

Im Februar 1960 beschloss die Konferenz der Kultusminister der Länder, dass es mehr zeitgeschichtlichen Unterricht an den Schulen mit dem Schwerpunkt auf die nationalsozialistische Herrschaft geben müsse. Der Abgeordnete Karl Siemsen (SPD) schlug vor, dass Richter_innen oder Staatsanwält_innen, die bei der Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen beteiligt waren, in Schulen Einblicke in ihre Arbeit geben, um das Wissen der Schüler_innen über den Nationalsozialismus zu erweitern.[67]

Als politische Reaktion auf die antisemitischen Vorkommnisse verabschiedete der Deutsche Bundestag im April 1960 ein „Gesetz gegen Volksverhetzung“, was auch dem internationalen Druck auf die Bundesregierung geschuldet war. Zu den Maßnahmen der Bundesregierung gegen den Antisemitismus bemerkte die britische Wochenzeitschrift „New Statesman“ mit Recht:[68] „Die Bundesregierung mag energische Maßnahmen gegen die Antisemiten anordnen, aber von wem sollen sie in die Tat umgesetzt werden? Die Polizeichefs in Aachen, Bonn, Dortmund, Düsseldorf, Essen, Gelsenkirchen, Köln – um nur eine wenige zu nennen-hatten alle hohe Dienstränge in der SS. Und von den Richtern hatten mehr als 1000 ein ähnliches Amt unter Hitler inne. Mit der Rückkehr dieser Nazi-Satrapen ist der militante Nationalismus wiederum zum Zentrum der deutschen ‚Rechtsgläubigkeit’ geworden. Aber hieran trägt der Westen nur einen Teil der Schuld. (…) Wir haben das deutsche Raubtier in der Hoffnung wieder großgezogen, es als Wachhund ausbilden zu können. Dürfen wir uns dann beklagen, wenn die Naturgesetze sich als zu stark erweisen?“

Nach dem Prozess gegen die Kölner Täter und der schwindenden Aufmerksamkeit des Auslandes ließ der Handlungsdruck der Bundesregierung nach. Die Aufklärung über die Shoa und das jüdische Leben in Deutschland verlagerte sich mehr und mehr auf die Erziehung.

----

Fußnoten

  1.  ↑ Dubiel, H.: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München/Wien 1999, S. 67
  2.  ↑ Görtemaker, M.: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/Main 2005, S. 64
  3.  ↑ Ebd.
  4.  ↑ Bundesarchiv Koblenz, NI. Schieder, 1188/88, Brief Siegfried Kaelers an Theodor Schieder vom 21.04.1947
  5.  ↑ Zitiert aus Shirer, W. L.: Berliner Tagebuch. Das Ende. 1944-1945, Leipzig 1994, S. 177f
  6.  ↑ Zitiert aus Dudek,/Jaschke, Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik: zur Tradition einer besonderen politischen Kultur, a.a.O., S. 35
  7.  ↑ Zitiert aus Schobert, A.: Von Walser zu Finkelstein. Neue Etappen der Geschichtspolitik- Und die Rolle der Universitäten?, in: Studentischer Sprecherrat der Universität München (Hrsg.); Alte Herren-Neue Rechte. Rechte Normalität in Hochschule und Wissenschaft, Münster 2002, S. 33-54, hier S. 34
  8.  ↑ Wolfrum, E.: Die Suche nach dem „Ende der Nachkriegszeit“. Krieg und NS-Diktatur in öffentlichen Geschichtsbildern der „alten“ Bundesrepublik Deutschland, in: Cornelißen, C./Klinkhammer, L./Schwentker, W. (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan, 2. Auflage, Frankfurt/Main, S. 183-197, hier S. 187
  9.  ↑ Ebd., S. 188
  10.  ↑ Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, a.a.O., S. 14
  11.  ↑ Ebd., S. 43
  12.  ↑ Ebd., S. 44
  13.  ↑ Ebd., S. 63
  14.  ↑ Ebd., S. 65
  15.  ↑ Paul, Debatten über Nationalsozialismus und Rechtsextremismus im Landtag Nordrhein-Westfalen von 1946 bis 2000, a.a.O., S. 229
  16.  ↑ Ebd., S. 230
  17.  ↑ Weinke, A.: Die Nürnberger Prozesse, München 2006, S. 57
  18.  ↑ Hilgermann, B.: Der große Wandel. Erinnerungen aus den ersten Nachkriegsjahren. Kölner Wirtschaft unter der amerikanischen und britischen Militärverwaltung, Köln 1961, S. 29
  19.  ↑ Ebd., S. 190
  20.  ↑ Mitscherlich, A./Mitscherlich, M.: Die Unfähigkeit zu trauern, München 1967
  21.  ↑ Ebd., S. 19
  22.  ↑ Ebd., S. 25
  23.  ↑ Ebd., S. 36
  24.  ↑ Brochhagen, U.: Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Hamburg 1994, S. 42
  25.  ↑ Bergmann, W./Erb, R.: Wie antisemitisch sind die Deutschen? Meinungsumfragen 1945-1994, in: Benz, W.(Hrsg.): Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils, München 1995, S. 47-63, hier S. 51
  26.  ↑ Hoffmann, C.: Das Judentum als Antithese. Zur Tradition eines kulturellen Wertungsmusters, in: Bergmann, W./Erb, R. (Hrsg.): Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1990, S. 20-38, hier S. 35
  27.  ↑ Broder, H. M.: Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls, Frankfurt/M. 1986, S. 11
  28.  ↑ Die Entwicklung des Antisemitismus in der BRD wird in knapper Form dargestellt in Bergmann, W./Erb, R. (Hrsg.): Antisemitismus in Deutschland 1945-1996, in: Benz, W./Bergmann, W. (Hrsg.): Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Bonn 1997, S. 397-434 oder Rosen, K.-H.: Vorurteile im Verborgenen. Zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Strauss, H.A./Kampe, N. (Hrsg.): Antisemitismus, 2. Auflage, Frankfurt/Main/New York 1988, S: 256-279
  29.  ↑ Merritt, A./Merritt, R.L. (Hrsg.): Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS-Surveys 1945-1948, Urbana 1970, S. 146ff
  30.  ↑ Institut für Demoskopie Allensbach (Hrsg.): Ist Deutschland antisemitisch? Ein diagnostischer Beitrag zur Innenpolitik, Herbst 1949, Allensbach 1949, S. 39
  31.  ↑ Institut für Demoskopie Allensbach (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, Allensbach 1956, S. 128
  32.  ↑ Paul, Debatten über Nationalsozialismus und Rechtsextremismus im Landtag Nordrhein-Westfalen von 1946 bis 2000, a.a.O., S.101
  33.  ↑ Institut für Demoskopie Allensbach, Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, a.a.O., S. 130
  34.  ↑ Rosen, Vorurteile im Verborgenen. Zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Strauss/Kampe, Antisemitismus, a.a.O., S: 262
  35.  ↑ Boynton, G.R./Loewenberg, G.: The Decay of Support for Monarchy and the Hitler Regime in the Federal Republic of Germany, in: British Journal of Political Science 4 /1974, S. 472-485, hier S. 480
  36.  ↑ Rheinische Post vom 19.1.1959
  37.  ↑ Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, NW 296, Blatt 120
  38.  ↑ FAZ vom 28.12.1959
  39.  ↑ Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, NW 296, Blatt 124ff
  40.  ↑ Der Spiegel vom 6.1.1960, S. 20
  41.  ↑ FAZ vom 28.12.1959
  42.  ↑ Die Zeit vom 8.1.1960
  43.  ↑ Ebd.
  44.  ↑ FAZ vom 29.12.1959
  45.  ↑ Serup-Bilfeldt, K.: Zwischen Dom und Davidstern. Jüdisches Leben in Köln von den Anfängen bis heute, Köln 2001, S. 257
  46.  ↑ Zieher, J.: Im Schatten von Antisemitismus und Wiedergutmachung. Jüdisches Leben in Köln in den fünfziger Jahren; in: Dülffer, J. (Hsrg.): Köln in den 50er Jahren. Zwischen Tradition und Modernisierung; Köln 2001, S. 277-304, hier S. 300
  47.  ↑ Am 5.2.1960 erschien in Ost-Berlin ein Werk über die Synagogenschändung: Görschler, H./Reinhardt, H.: Die Schande von Köln und Bonn, Ost-Berlin 1960
  48.  ↑ Zieher, Im Schatten von Antisemitismus und Wiedergutmachung. Jüdisches Leben in Köln in den fünfziger Jahren; in: Dülffer, Köln in den 50er Jahren. Zwischen Tradition und Modernisierung; a.a.O., S. 302
  49.  ↑ Paul, Debatten über Nationalsozialismus und Rechtsextremismus im Landtag Nordrhein-Westfalen von 1946 bis 2000, a.a.O., S. 107
  50.  ↑ Kölner Stadt-Anzeiger vom 29.12.1959
  51.  ↑ Ebd., S. 261
  52.  ↑ FAZ vom 2.1.1960
  53.  ↑ Zitiert aus Bergmann, W.: Antisemitismus als politisches Ereignis. Die antisemitische Welle im Winter 1959/1960, in Ders./Erb, R. (Hrsg.): Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Berlin 1998, S. 253-273, hier S. 257
  54.  ↑ Zitiert aus Zimmermann, H. (Hrsg.): Geschichte der Juden im Rheinland und in Westfalen, Köln/Stuttgart/Berlin 1998, S. 281
  55.  ↑ Der Spiegel vom 13.1.1960, S. 16
  56.  ↑ Zitiert aus Zimmermann, Geschichte der Juden im Rheinland und in Westfalen, a.a.O., S. 281
  57.  ↑ Zitiert aus Der Spiegel vom 13.1.1960, S. 17
  58.  ↑ Paul, J.: Debatten über Nationalsozialismus und Rechtsextremismus im Landtag Nordrhein-Westfalen von 1946 bis 2000, Düsseldorf 2003, S.106
  59.  ↑ Zitiert aus Zimmermann, Geschichte der Juden im Rheinland und in Westfalen, a.a.O., S. 281
  60.  ↑ Wolffsohn, M.: Die Deutschland-Akte. Juden und Deutsche in Ost und West. Tatsachen und Legenden, München 1995, S. 19
  61.  ↑ Bergmann, W.: Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949-1989, Frankfurt am Main/New York 1997, S. 247
  62.  ↑ Classen, C.: Zum öffentlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit in der DDR. Das Beispiel des Radios, in: Schildt, A. u.a. (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 166-196, hier S. 178
  63.  ↑ www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2009/1224/194919892009/0005/index.html
  64.  ↑ Faulenbach, B.: Historische Tradition und politische Neuorientierung. Zur Geschichtswissenschaft nach der „deutschen Katastrophe“, in: Pehle, W.H./Sillem, P. (Hrsg.): Wissenschaft im geteilten Deutschland. Restauration oder Neubeginn nach 1945, S. 191-204, hier S. 203
  65.  ↑ Kwiet, K.: Die NS-Zeit in der westdeutschen Forschung 1945-1961, in: Schulin, E. (Hrsg.): Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1965), München 1989, S. 181-198, hier S. 196
  66.  ↑ Große Kracht, K.: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, S. 44f
  67.  ↑ PP 4, WP, 51. Sitzung vom 13.12.1960, S. 1835
  68.  ↑ New Statesman vom 27.1.1960, S. 5